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RICHARD FALCKENBERG
Kant und seine
Erkenntnislehre

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"Den Empiristen gilt das Denken als ein umgeformtes, sublimiertes Wahrnehmen, den Rationalisten das Wahrnehmen als ein verworrenes, weniger deutliches Denken. Jenen sind die Begriffe abgeblaßte Nachbilder der Empfindungen, diesen sind die Empfindungen noch nicht zur Klarheit gelangte Begriffe."

"Der vorkantische Denker begibt sich an sein Erkenntnisgeschäft, ohne sich vorher die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis vorzulegen. Er tritt an die Dinge heran im guten Glauben, daß der menschliche Geist fähig ist, sie zu erkennen, mit einem naiven Zutrauen zur Kraft der Vernunft, sich der Wahrheit zu bemächtigen. Naiv, unbefangen ist sein Zutrauen, weil es ihm gar nicht in den Sinn kommt, daß es ihn täuschen könnte."

Seit Jahrhunderten schwebte der Rechtsstreit zwischen Empirismus und Rationalismus und harrte noch immer der endgültigen Entscheidung. Sind alle unsere Vorstellungen ein Erfahrungserwerb oder sind sie (insgesamt oder teilweise) ein ursprüngliches Besitztum des Geistes? Werden sie von außen (durch Wahrnehmung) empfangen oder von innen (durch Selbsttätigkeit) hervorgebracht? Ist die Erkenntnis ein Produkt der Empfindung oder des reinen Denkens? Wer bis jetzt in diesem Streit seine Stimme erhoben hat, glich mehr einem Parteigänger oder Advokaten, als eine uninteressierten Richter. Er hatte weniger untersucht, als eine in seiner Schule überlieferte These verteidigt; er wollte nicht ein Ergebnis finden, sondern ein vorher feststehendes begründen, und neben sachlichen Argumenten waren auch volksrednerische nicht verschmäht worden. Jede der kämpfenden Schulen hatte Variationen auf ein gegebenes Thema geliefert, und wo schüchterne Versuche gemacht wurden, beide Melodien kontrapunktisch zu verbinden, da hatten sie keinen Anklang gefunden.

So viel war aus dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen für den unparteiischen Zuhörer klar geworden, daß jede von beiden Parteien übertriebene Ansprüche erhob und schließlich mit sich selbst in Widerspruch geriet. Ist es wahr, was der Empirismus behauptet, daß alle unsere Begriffe aus der Wahrnehmung stammen, so ist nicht nur eine Wissenschaft des Übersinnlichen, die er verwirft, sondern auch eine Wissenschaft von Erfahrungsgegenständen, um die er sich bemüht, unmöglich. Denn die Wahrnehmung belehrt uns nur über einzelne Fälle, sie kann niemals alle umfassen, sie gibt keine notwendige und allgemeine Einsicht, ein Wissen aber, das nicht apodiktisch [mit Sicherheit gewiß - wp] für jeden Urteilenden und für alle Fälle gilt, verdient diesen Namen gar nicht. Aus den Gründen, mit denen die Möglichkeit der Erkenntnis erwiesen werden soll, folgt gerade ihre Unmöglichkeit. Die Erfahrungsphilosophie hebt sich selbst auf und endet mit HUME im Skeptizismus und Probabilismus [Wahrscheinlichkeitslehre - wp] - Einem entgegengesetzten und doch auch wiederum verwandten Schicksal verfällt der Rationalismus, der löst sich in eine eklektische Popularphilosophie auf. Er glaubt, in der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen ein untrügliches Kriterium der Wahrheit und in der mathematischen Methode ein sicher leitendes Vorbild für die philosophische entdeckt zu haben. Er irrt sich in beiden Punkten. Jenes Kriterium ist unzulänglich, denn aus gleich klaren und deutlichen Begriffen haben SPINOZA und LEIBNIZ ihre entgegengesetzten Theorien erbaut, jener die All-Einslehre, dieser die Monadenlehre: an jenem Maßstab gemessen ist der Individualismus ebenso wahr wie der Pantheismus [Gott in allen Dingen - wp]. Die Mathematik aber verdankt ihre unbestrittene Geltung und einleuchtende Kraft nicht der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Begriffe, sondern dem Umstand, daß sich dieselben in der Anschauung konstruieren lassen. Man übersah den Unterschied zwischen Mathematik und Metaphysik, der darin besteht, daß das mathematische Denken seine Begriffe in Anschauungen zu verwandeln, seine Gegenstände zu erzeugen oder sinnlich darzustellen vermag, was das philosophische nicht imstande ist. Diesem müssen seine Objekte gegeben sein, und dem Menschengeist werden sie nicht anders gegeben, als durch sinnliche Anschauung. Die Metaphysik will eine Wissenschaft vom Wirklichen sein, aus dem Denken aber läßt sich kein Sein herausklauben, Wirklichkeit kann nicht aus Begriffen bewiesen, sondern nur empfunden werden. Indem der Rationalismus das Unempfindbare und Übersinnliche (das wahre Wesen der Dinge, das Weltganze, die Gottheit, die Unsterblichkeit) für das eigentliche Objekt der Philosophie erklärte, sah er im Verstand ein Erkenntnisvermögen, durch welches Gegenstände gegeben werden. In Wahrheit können durch Begriffe nie Gegenstände gegeben, sondern nur anderweitig (durch Anschauung) gegebene Gegenstände gedacht werden. Wohl gibt es Begriffe vom Übersinnlichen, aber es kann durch sie nichts erkannt, es kann unter sie nichts anschaulich Gegebenes subsumiert werden. Mit der obenerwähnten Verkennung des anschaulichen Elements der Mathematik verband sich noch als ein weiterer Irrtum die Verkennung ihres synthetischen Charakters. Die syllogistische Darstellungsmethode der euklidischen Geometrie verführte zu dem Glauben, als würden die spezielleren Lehrsätze aus den einfacheren und diese aus den Axiomen auf dem Weg einer begrifflichen Zergliederung gewonnen (1), während in der Mathematik tatsächlich der Fortschritt allein durch Anschauung geschieht, der Syllogismus aber nur erlangte Kenntnisse formulieren und verdeutlichen, nicht neue schaffen kann. Nach dem Muster der in dieser Weise falschverstandenen Mathematik wurde nun die Aufgabe der Philosophie dareingesetzt, aus inhaltsvollen obersten Grundsätzen die in ihnen schlummernden Erkenntnisse mittels logischer Analyse zu entwickeln. Wenn es nur metaphysische Axiome gäbe! Wenn wir nur nicht von wahrer Wissenschaft verlangen würden und verlangen müßten, daß sie unsere Erkenntnis vermehrt und nicht bloß analytisch verdeutlicht! War einmal die Klarheit und Deutlichkeit der Begriffe in einem rein formellen Sinn genommen, so konnte es nicht ausbleiben, daß sich schließlich bei erschlaffender Produktivität jenes Prinzip zu der Forderung eines bloßen Verdeutlichens und Aufklärens der im populären Bewußtsein vorhandenen metaphysischen Vorstellungen abschwächte. So verlor sich der Strom des Rationalismus in die seichten Gewässer der Aufklärung, welche bald den empiristischen Theorien, da sich diese ebenfalls durch klare und deutliche Begriffe zu legitimieren vermochten, eine gleich bereitwillige Aufnahme gewährte wie den Ergebnissen der rationalistischen Systeme.

Es war ziemlich leicht, einzusehen, daß jede der streitenden Parteien sich einer Einseitigkeit schuldig gemacht hat und daß man, um diese zu vermeiden, eine gewisse Mitte zwischen den Extremen halten muß; viel schwerer war es, die richtige Mitte zu treffen. Keiner der entgegengesetzten Standpunkte ist so richtig, wie seine Vertreter glauben, keiner so falsch, wie seine Gegner behaupten. Wo beginnt auf jeder Seite die fehlerhafte Einseitigkeit, wie weit reicht auf jeder die Berechtigung?

Der Streit dreht sich 1. um den Ursprung und die Geltungssphäre der menschlichen Erkenntnis. Der Rationalismus hat recht zu behaupten: einige Vorstellungen sind nicht sinnlichen Ursprungs. Soll Erkenntnis möglich sein, so dürfen nicht alle Begriffe aus der Wahrnehmung stammen, nämlich diejenigen nicht, durch welche Erkenntnis gemacht wird, weil andernfalls dem Wissen die strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit fehlen würde. Das einzige Organ einer allgemeingültigen Erkenntnis ist die Vernunft. Der Empirismus hat recht zu behaupten: nur das Erfahrbare ist erkennbar. Soll etwas erkennbar sein, so muß es als ein Wirkliches in der sinnlichen Anschauung gegeben sein. Das einzige Organ für Realität ist die Sinnlichkeit. Der Rationalismus urteilt richtig über den Ursprung der wichtigsten Klasse der Vorstellungen, der Empirismus richtig über die Geltungssphäre derselben. Beides läßt sich so vereinigen: einige (die die Erkenntnis bewirkenden) Begriffe stammen aus der Vernunft oder sind a priori, aber sie gelten nur für Gegenstände der Erfahrung. -

Der Streit betrifft 2. die Anwendung der deduktiven (syllogistischen) oder der induktiven Methode. Der Empirismus hatte in seinem Begründer BACON statt des sterilen syllogistischen Verfahrens das induktive empfohlen als das einzige, welches zu neuen Erfindungen anleitet. Er verlangt vor allem eine Erweiterung der Erkenntnis. Hiergegen hielt der Rationalismus an der deduktiven Methode fest, weil allein der Syllogismus ein für alle vernünftigen Wesen gültiges Wissen liefert. Er verlangt in erster Linie Allgemeinheit und Notwendigkeit der Erkenntnis. Die Induktion hat den Vorzug, die Erkenntnis zu erweitern, aber sie bringt es nur zu einer empirischen, komparativen, nicht zu einer strengen Allgemeinheit. Der Syllogismus hat den Vorzug, allgemeine und notwendige Erkenntnis zu geben, aber er kann unser Wissen nur verdeutlichen und befestigen, nicht vermehren. Wäre es nicht möglich, den beiderseitigen Forderungen gleichzeitig in der Weise gerecht zu werden, daß man die gewünschten Vorzüge vereinigt und die gefürchteten Nachteile vermeidet? Gibt es nicht Erkenntnisse, die unser Wissen bereichern (synthetisch sind), ohne empirisch zu sein, die allgemein und notwendig gelten (apriori sind), ohne analytisch zu sein? Aus diesen Überlegungen entspringt die Hauptfrage der "Kritik der reinen Vernunft": wie sind synthetische Urteile apriori möglich?

Die Erfahrungsphilosophie hatte die Sinnlichkeit über- und den Verstand unterschätzt, indem sie in der Wahrnehmungsfähigkeit die Quelle aller Erkenntnis erblickte und das Denkvermögen zu einem fast ganz untätigen Empfänger der von außen anlangenden Botschaften herabsetzt. Nach ihr verdienen die Begriffe (Ideen) nur so weit Vertrauen, als sie sich durch ihre Abstammung aus Empfindungen (Eindrücken) legitimieren können. Sie übersieht den tätigen Charakter allen Erkennens. Bei den Rationalisten bemerken wir umgekehrt eine Unterschätzung der Sinne und Überschätzung des Verstandes. Sie meinten, daß sich der Sinnlichkeit nur die täuschende Außenseite der Dinge, der Vernunft hingegen ihr wahres unsinnliches Wesen darstellt. Was der Geist von den Dingen empfindet, ist trüglich, was er über sie denkt, ist wahr. Jene ist das Vermögen der verworrenen, dieser das Vermögen der deutlichen Erkenntnis. Die Sinnlichkeit ist mehr der Feind als der Diener der wahren Erkenntnis, die in der Entwicklung und Verdeutlichung angestammter gehaltvoller Begriffe und Grundsätze besteht. Diese Philosophen vergessen, daß wir durch Begriffszergliederung nie zu einem Wirklichen kommen, und daß die Sinnlichkeit für das Erkennen eine viel größere Bedeutung hat als nur die, ihm einen Anstoß zu liefern; daß sie es ist, welche dem Verstand die realen Gegenstände und damit den Inhalt der Erkenntnis verschafft. Zum Erkennen gehört außer der (formellen Verstandes-) Tätigkeit auch ein Leiden, ein Empfangen von Eindrücken. Weder die Sinnlichkeit allein noch der Verstand allein bringt Erkenntnis zuwege, es sind beide Erkenntnisvermögen dazu nötig, das aktive und das passive, das begreifende und das anschauende. Hier erhebt sich die Frage: wie unterscheiden sich Begriff und Anschauung, sinnliche und vernünftige Erkenntnis, und worauf beruth ihre Zusammengehörigkeit? -

Die beiden Hauptrichtungen der neueren Philosophie stimmen jedoch, ungeachtet ihrer Verschiedenheit nach Ausgangspunkt und Resultaten, in einigen Punkten überein. Wenn der Widerstreit und die Einseitigkeit der beiden Schulen den Gedanken nahelegt, ihre Standpunkte durcheinander zu ergänzen, so gab die Einsicht in die Unrichtigkeit ihrer gemeinsamen Überzeugungen die Veranlassung, über sie hinauszugehen und einen neuen höheren Standpunkt über beiden und zugleich über dem die Gegensätze zu verbinden suchenden Eklektizismus zu gründen. Die gemeinsamen Fehler betreffen zunächst das Wesen des Urteils und den Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand. Auf keiner Seite war das Eigentümliche des Urteils erkannt worden, daß es in einem tätigen Verknüpfen besteht. Die Rationalisten sahen im Urteilen allerdings eine Tätigkeit, aber nur die eines Bewußtmachens, eines bloßen Verdeutlichens und analytischen Folgerns, womit die Wissenschaft nicht vom Fleck kommt. Die Empiristen beschrieben es als ein Vergleichen und Unterscheiden, als ein bloßes Wahrnehmen und Anerkennen der zwischen den Ideen bereits bestehenden Beziehungen und Verbindungen, während in der Tat das Urteil die Verhältnisse und Verbindungen der Vorstellungen nicht vorfindet, sondern selbst erst stiftet. Dort fehlt das synthetische, hier das aktive Moment. Die mangelhafte Ansicht vom Urteil war einer der Gründe für die Entstehung der extremen Theorien über den Ursprung der Vorstellungen aus der Vernunft oder aus der Wahrnehmung. Der Rationalismus betrachtet auch inhaltliche Begriffe als angeboren, während nur die formellen es sind; der Empirismus betrachtet alle, auch die obersten formellen Begriffe (die Kategorien) als abstrahiert aus der Erfahrung, während Erfahrung nur den Inhalt der Erkenntnis, nicht aber dessen notwendige Verknüpfung liefert. Dort werden zu viele, hier zu wenige als ursprüngliches Verstandesbesitztum angesehen. Die Frage "welche Begriffe sind angeboren" kann nur entschieden werden durch die Beantwortung der anderen: welches sind die Begriffe, durch welche das Urteilsvermögen die aus der Erfahrung gewonnenen Vorstellungen verknüpft? Diese Verknüpfungsbegriffe, diese formellen Instrumente der Synthese sind apriori.

Noch größer ist die Übereinstimmung beider Schulen, trotz des scheinbar schroffen Gegensatzes, hinsichtlich des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand. Den Empiristen gilt das Denken als ein umgeformtes, sublimiertes Wahrnehmen, den Rationalisten das Wahrnehmen als ein verworrenes, weniger deutliches Denken. Jenen sind die Begriffe abgeblaßte Nachbilder der Empfindungen, diesen sind die Empfindungen noch nicht zur Klarheit gelangte Begriffe; der Unterschied ist kaum größer, als wenn der eine das Eis gefrorenes Wasser, der andere vielmehr das Wasser geschmolzenes Eis genannt haben will. Beide ordnen Anschauen und Denken in eine Reihe und lassen das eine aus dem andern durch Abschwächung oder Steigerung hervorgehen. Beide machen denselben Fehler, dort einen Gradunterschied zu sehen, wo ein Artunterschied stattfindet. Da kann nur ein energischer Dualismus helfen. Sinnlichkeit und Verstand sind nicht ein und dieselbe Erkenntniskraft auf verschiedenen Stufen, sondern zwei heterogene Erkenntnisvermögen. Empfinden und Denken sind nicht graduell, sondern spezifisch verschieden. Wie DESCARTES mit dem metaphysischen Dualismus von Anschauung und Denken, so beginnt KANT mit dem erkenntnistheoretischen Dualismus von Anschauen und Denken.

Viel schwerer wiegend jedoch als die genannten Irrtümer war eine Unterlassungssünde, deren sich beide Parteien gleichmäßig schuldig gemacht haben und deren Erkenntnis und Vermeidung in KANTs eigenen Augen den auszeichnenden Charakter seiner Philosophie und ihren prinzipiellen Fortschritt über die bisherige begründet. Der vorkantische Denker begibt sich an sein Erkenntnisgeschäft, ohne sich vorher die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis vorzulegen. Er tritt an die Dinge heran im guten Glauben, daß der menschliche Geist fähig ist, sie zu erkennen, mit einem naiven Zutrauen zur Kraft der Vernunft, sich der Wahrheit zu bemächtigen. Naiv, unbefangen ist sein Zutrauen, weil es ihm gar nicht in den Sinn kommt, daß es ihn täuschen könnte. Gleichviel, ob und wieweit dieser Glaube an die menschliche Erkenntnisfähigkeit und die Erkennbarkeit der Dinge berechtigt sein mag, jedenfalls ist er ungeprüft, und wenn ein Skeptiker daherkommt mit seinen Einwürfen, so steht der Dogmatiker wehrlos da. Alle bisherige Philosophie, sofern sie nicht skeptisch war, ist nach KANTs Ausdruck dogmatisch, d. h. es steht ihr ohne vorgängige Prüfung wie ein Glaubenssatz fest, daß wir die Gegenstände, die wir zu erkennen wünschen, auch zu erkennen vermögen. Sie fragt nicht, wie dies möglich ist; sie fragt nicht, was Erkenntnis heißt, was man von ihr verlangen darf und muß, und durch welche Mittel unsere Vernunft solchen Ansprüchen zu genügen imstande ist. Sie läßt das menschliche Erkenntnisvermögen und seine Tragweite ununtersucht. Der Skeptiker verfährt nicht gründlicher. Er bezweifelt und verneint die Erkenntnisfähigkeit ebenso unkritisch, wie der Dogmatiker sie geglaubt und vorausgesetzt hatte. Er richtet seinen Scharfsinn gegen die Aufstellungen der dogmatischen Philosophie, statt ihn auf die Grundfrage nach der Möglichkeit der Erkenntnis zu richten. Das menschliche Erkenntnisvermögen, dem der Dogmatiker mit einem unmotivierten Vertrauen, der Skeptiker mit ebenso unmotiviertem Mißtrauen entgegengetreten war, will der kritische Philosoph einer eingehenden Prüfung unterwerfen. Darum bezeichnet KANT seinen Standpunkt als "Kritizismus", sein Unternehmen als eine "Kritik der Vernunft". Statt zu behaupten und zu leugnen, untersucht er: wie kommt Erkenntnis zustande, aus welchen Faktoren setzt sie sich zusammen, wieweit reicht sie? Er forscht nach dem Ursprung und Umfang der Erkenntnis, nach ihren Quellen und ihren Grenzen, nach ihren Existenz- und Rechtsgründen. Die Vernunftkritik sieht sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt, deren zweite nicht gelöst werden kann, bevor die erste es ist. Die Untersuchung der Abkunft der Erkenntnis muß der ihrer Ausdehnung vorangehen. Erst wenn die Bedingungen der Erkenntnis feststehen, läßt sich ausmachen, welche Gegenstände ihr erreichbar sind. Ihr Umfang kann sich nur aus ihrem Ursprung ergeben.

Ob der kritische Philosoph dem Skeptiker oder dem Dogmatiker näher steht, ist eine ziemlich müßige Frage. Er unterscheidet sich von beiden spezifisch, dadurch, daß er die Vernunft zur Selbstbesinnung, zur methodischen Prüfung ihrer Erkenntnisfähigkeit aufruft und anleitet. Wo jener blind vertraut, dieser beargwöhnt und negiert hatte, da untersucht er; sie unterließen, er erhebt die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis. Das kritische Problem hat nicht den Sinn: gibt es ein Erkenntnisvermögen?, sondern den: aus welchen Kräften besteht es? sind alle Gegenstände erkennbar, die man dafür gehalten hat? KANT fragt nicht, ob, sondern wie und wodurch Erkenntnis möglich ist. Daß Erkennen möglich ist, muß jeder voraussetzen, der sich zu wissenschaftlichem Nachdenken anschickt, und die von heuten Erkenntnistheoretikern aufgestellte Forderung eines absolut voraussetzungslosen Anfangs des Philosophierens ist schlechterdings unerfüllbar. Ja noch Spezielleres mußte KANT, um seine Untersuchung nur beginnen zu können, voraussetzen: daß eine Erkennen des Erkennens möglich ist, daß es eine kritische, sich selbst untersuchende Vernunft gibt, konnte am Anfang nur Sache des Glaubens sein. Das hätte eine nachträgliche detaillierte Auskunft über das Wie dieser Selbsterkenntnis, über das Organ der kritischen Philosophie nicht ausgeschlossen. KANT ist sie schuldig geblieben, und diese Lücke hat später einen lebhaften Streit über Charaker und Methode der Vernunftkritik hervorgerufen. In diesem Punkt ist KANT, wenn man sich so ausdrücken will, Dogmatiker geblieben.

Er selbst fühlt sich als den Vollender des Skeptizismus; wesentlich doch deshalb, weil er durch HUMEs Untersuchungen über die Kausalität den stärksten Antrieb zur Ausbildung seiner Erkenntniskritik empfangen hatte. Aufgewachsen im dogmatischen Rationalismus der wolffischen Schule, der er noch als Lehrer und Schriftsteller eine geraume Zeit, wenn auch mit selbständigem Geist forschend (etwa bis 1760) treu blieb, wurde er durch den Einfluß der englischen Philosophie allmählich auf die Seite der empiristischen Skepsis hinübergezogen, trat sodann - wohl infolge der Lektüre der 1765 veröffentlichten "Neuen Versuche" des LEIBNIZ - auf rationalistischen Boden zurück, um endlich, nach erneuter Einwirkung des Empirismus (2), jenen in der "Kritik der reinen Vernunft" 1781 fixierten Standpunkt einzunehmen, der freilich, wie er selbst die Spuren vergangener Umwandlungen erkennen läßt, auch in der Folge noch weitere, wenn auch weniger erhebliche Verschiebungen erfahren hat.

Es ist von höchstem Interesse, in den der vorkritischen Periode KANTs angehörenden Schriften dem Werden und Wachsen der kritischen Grundgedanken nachzuspüren. Hier können indessen nur die Themata seines Nachdenkens angegeben und einige der frappantesten Vorausnahmen und Anbahnungen der epochemachenden Wendung hervorgehoben werden. Schon das Erstlingswerk "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte", 1747 bekundet die schiedrichterliche Natur des Autors. Wenn Männer von Gründlichkeit und Scharfsinn, heißt es dort, ganz gegeneinanderlaufende Meinungen behaupten, so muß man seine Aufmerksamkeit am meisten auf einen gewissen Mittelsatz richten, der beiden Parteien in gewissem Maß Recht läßt. Es handelt sich um die Streitfrage, ob die Größer der bewegenden Kraft nach cartesianischer Ansicht dem Produkt der Masse in die Geschwindigkeit, oder nach der Theorie des LEIBNIZ dem Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit gleichzusetzen ist. Die unbefriedigende Lösung der Frage - der Satz des DESCARTES gelte für die toten, der des LEIBNIZ für die lebendigen Kräfte - zog KANT den Spott LESSINGs zu, er begebe sich an die Schätzung der lebendigen Kräfte, ohne die eigenen geprüft zu haben. Eine ähnliche Vermittlungstendenz - diesmal gilt es eine Synthese von LEIBNIZ und NEWTON - verraten die Habilitationsschrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio, 1775 und die Dissertation Monadologia physica, 1756. Die erstere unterscheidet Sachgrund und Erkenntnisgrund, verwirft den ontologischen Beweis und verteidigt mit leibnizischen Gründen gegen CRUSIUS den Determinismus. In der "physischen Monadologie" (3) bekennt sich KANT zu einem der Atomistik noch nicht feindliche Dynamismus und läßt die Monaden oder Elemente des Körpers unbeschadet ihrer Einfachheit den Raum erfüllen. Eine Reihe von Arbeiten ist naturwissenschaftlicher Thematik gewidmet: der verlangsamenden Wirkung von Ebbe und Flut auf die Erdumdrehung, dem Verhalten der Erde, dem Feuer (Inauguraldissertation), den Erderschütterungen, der Theorie vom Wind. Die bedeutendste unter denselben, die lange Zeit unbeachtet gebliebene, FRIEDRICH II. gewidmete "Allgemeine Naturgeschichte der Theorie des Himmels", 1775, entwickelt die (vier Jahrzehnte später von LAPLACE, ohne Kenntnis des kantischen Werkes, ausgeführte) Hypothese von der mechanischen Entstehung des Weltgebäudes und der Planetenbewegung. Die einfachen Voraussetzungen derselben sind die beiden Kräfte der Materie, die der Attraktion und der Repulsion, und ihr chaotischer Urzustand, ein Weltnebel mit Elementen von verschiedener Dichte. Bemerkenswert ist das Eingeständnis, daß die mechanische Erklärung an zwei Punkten ihre Schranke findet: bei der Entstehung des Organischen und bei der Entstehung der Materie muß sie Halt machen. Die mechanische Kosmogonie ist weit entfernt, die Schöpfung zu leugnen; im Gegenteil, der Nachweis, daß aus dem gesetzmäßigen Wirken der materiellen Kräfte, ohne göttliche Eingriffe, dieses wohlgeordnete und zweckmäßige Universum hervorgehen mußte, kann uns nur in der Annahme einer höchsten Intelligenz als Urheber des Stoffes und seiner Gesetze bestärken; sie ist gerade deswegen unentbehrlich, weil die Natur selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.

Die empiristische Phase wird durch die Schriften der sechziger Jahre repräsentiert. "Die falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren", 1762 erklärt die erste Schlußfigur für die einzig natürliche, die übrigen für überflüssig und der Zurückführung auf jene bedürftig. Im "Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes", 1762, welcher in der 7. Betrachtung der zweiten Abteilung die in der "Naturgeschichte des Himmels" vorgetragene Kosmogonie rekapituliert, sind die Erörterungen über das Sein ("Dasein" ist absolute Setzung, nicht ein die Summe der Merkmale vermehrendes, sondern ein bloß beziehungsweise gesetztes Prädikat) und die den späteren Standpunkt vorandeutenden Schlußworte "es ist durchaus nötig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge, es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriere" beachtenswerter, als der Beweisgrund selbst. Er lautet: alle Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche als Bestimmung oder Folge gegeben ist. Dasjenige Wirkliche, durch dessen Aufhebung alle Möglichkeit aufgehoben sein würde, ist schlechterdings notwendig. Es existiert demnach ein schlechthin notwendiges Wesen als letzter Realgrund aller Möglichkeit, dasselbe ist einig, einfach, unveränderlich, ewig, das allerrealste Wesen und Geist. -

Die Preisschrift "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral", 1764 zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen mathematischer und metaphysischer Erkenntnis und warnt die Philosophie vor der schädlichen Nachahmung der geometrischen Methode, statt deren sie sich vielmehr dasjenige Verfahren zum Vorbild nehmen soll, welches NEWTON in die Naturwissenschaft eingeführt hat. Den Gegenstand der Mathematik macht die Größe aus, den der Philosophie bilden Qualitäten; jener ist leicht und einfach, dieser schwer und verwickelt: wieviel faßlich ist der Begriff der Trillion als die philosophische Idee der Freiheit, welche die Weltweisen bis jetzt noch nicht haben verständlich machen können. In der Mathematik wird das Allgemeine unter den Zeichen in concreto, in der Philosophie durch die Zeichen in abstracto betrachtet, jene entwirft ihr Objekt in sinnlicher Anschauung, dieser wird das ihre gegeben, und zwar als verworrener Begriff, der zergliedert sein will. Somit darf wohl die Mathematik mit Definitionen anfangen, da der Begriff, dem die Erklärung gilt, allererst durch die Definition entspringt, während die Philosophie die ihrigen erst suchen muß: in jener ist die Definition das Erste, in dieser fast jederzeit das Letzte; dort wird synthetisch, hier analytisch verfahren. Das Geschäft der Mathematik ist, klare und sichere Begriffe von Größen zu verknüpfen und zu vergleichen, um hieraus Folgerungen zu ziehen; das der Weltweisheit, als verworren gegebene Begriffe zu zergliedern, sie ausführlich und bestimmt zu machen. Zu ungunsten der letzteren kommt noch hinzu, daß jene nur wenige, diese ungemein viele unauflösliche Begriffe und unerweisliche Sätze hat.
    "Die philosophischen Erkenntnisse ... sind wie Meteore, deren Glanz nichts für ihre Dauer verspricht. Sie verschwinden, aber die Mathematik bleibt. Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerst unter allen menschlichen Einsichten, allein es ist noch niemals eine geschrieben worden";
denn man darf nicht so gutmütig sein, alles "Weltweisheit zu nennen, was in den Büchern steht, welche diesen Titel führen". In den Schlußparagraphen über die ersten Gründe der Moral blickt durch den Schleier der englischen Theorie vom moralischen Gefühl bereits das strenge Antlitz des kategorischen Imperativs hindurch. Der "Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen", 1763 unterscheidet - gegen CRUSIUS - von der logischen Entgegensetzung, dem Widerspruch oder der bloßen Verneinung (a und non-a, Lust und Abwesenheit von Lust, Vermögen und Mangel an Vermögen) die auf bloß logischem Weg nicht erklärbare reale Entgegensetzung (+ a und - a, Lust und Unlust, Kapital und Schulden, Anziehung und Zurückstoßung; bei der Realpugnanz [sachlicher Widerspruch - wp] sind beide Bestimmungen positiv, nur in entgegengesetzter Richtung) und parallel damit vom logischen Grund den Realgrund. Gegen Schluß taucht das Kausalproblem auf: "wie soll ich es verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes sein soll?" Die - zur Lektüre zu empfehlenden - höchst anmutigen "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", 1764, wesentlich psychologischen Inhalts, stellen den gutherzigen Trieben das Handeln aus allgemeinem Grundsatz als allein wahrhaft sittlich gegenüber.

Mit der - an EMANUEL von SWEDENBORGs (1688-1772) "Arcana coelestia" anknüpfenden - Satire "Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik", 1766, welche ihren geistreichen Spott gleicherweise über die Geisterseherei wie über die vermeintliche Wissenschaft vom Übersinnlichen ausschüttet, erreicht die empiristische Phase ihren skeptischen Abschluß. Der neuen Aufgabe einer Lehre von den Grenzen der menschlichen Vernunft ist sich KANT hier schon klar bewußt, auch dessen, daß dieselbe von einer Erörterung des Raumproblems aus in Angriff zu nehmen ist. Schon früh und zu wiederholten Malen hatte das letztere sein Nachdenken beschäftigt (4), und dieser Teil des kritischen Gesamtproblems war es auch, der zuerst seine definitive Erledigung gefunden hat. Die Kritik der Sinnlichkeit, die neue Lehre von Raum und Zeit, wird in der zum Antritt der ordentlichen Professur geschriebenen lateinischen Dissertation "Über Form und Prinzipien der sinnlichen und der intelligiblen Welt", 1770 (deutsche Übersetzung in Kants "Vermischten Schriften", hg. von Tieftrunk, 1799), welche die vorkritische Periode schließt, in annähernd gleicher Gestalt vorgetragen wie in der "Kritik der reinen Vernunft", während die Kritik des Verstandes und der Vernunft, die Lehre von den Kategorien und den Ideen und ihrem Geltungsbereich, zu ihrer Vollendung noch einer mehrjährigen Denkarbeit bedurfte. Denn jene Abhandlung "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis läßt noch die Erkennbarkeit der Dinge-ansich und Gottes unbeanstandet, zeigt somit, daß ihr Verfasser den in den "Träumen eines Geistersehers" vertretenen Skeptizismus verlassen und sich - wahrscheinlich, nach WINDELBANDs gegründeter Vermutung, infolge der Lektüre von LEIBNIZ' "Nouveaux essais" - von Neuem dem rationalistischen Dogmatismus zugewandt hat, zu dessen endgültiger Überwindung ein abermaliger Schwenk in Richtung des skeptischen Empirismus nötig war. Für die Kenntnis des Verlaufs der letzteren sind die Briefe an Marcus Herz fast die einzige, überdies nicht sehr ergiebige Quelle.

Die "Kritik der reinen Vernunft" (5) erschien 1781, sehr viel später, als KANT bei der Inangriffnahme eines Werkes über "Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" gefhofft hatte; in zweiter, veränderter (6) Auflage 1787. Nachdem die "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", 1783 der kritischen Erkenntnislehre eine populäre Form gegeben hat, folgte derselben in der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten", 1785 und der "Kritik der praktischen Vernunft", 1788 die kritische Moralphilosophie, n der "Kritik der Urteilskraft", 1790 (Ausgabe von Karl Vorländer mit Register 1902) die kritische Ästhetik und Teleologie, in der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (7), 1793 (bestehend aus vier Abhandlungen, deren erste "Vor radikalen Bösen" bereits 1792 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen war) die kritische Religionsphilosophie. Dem Ausbau des Systems sind die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft", 1786 und die "Metaphysik der Sitten" (in zwei Teilen: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre und Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre) 1797 gewidmet. Das Jahr 1798 brachte noch zwei größere Werke: den "Streit der Fakultäten" und die "Anthroplogie. Von den Rezensionen mag die über HERDERs "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit erwähnt sein, von den kleineren Aufsätzen die "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", die Beantwortung der Frage: "Was ist Aufklärung?", 1784; "Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte"; "Was heißt: sich im Denken orientieren?", 1786; "Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie", 1788; "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" (gegen Eberhard), 1790; "Über die Fortschritte der Metaphysik seit Wolffs Zeiten"; "Über Philosophie überhaupt"; "Das Ende aller Dinge", 1794; "Zum ewigen Frieden", 1795; "Kants Logik"
hat JÄSCHE 1800, seine "Physische Geographie" und seine "Anmerkungen über die Pädagogik" FRIEDRICH THEODOR RINK 1803, seine "Vorlesungen über philosophische Religionslehre" (1817, zweite Auflage 1830) und "Über Metaphysik", 1821, (hierüber BENNO ERDMANN in den "Philosophischen Monatsheften", (Eine unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte Kants) Bd. 19, 1883, Seite 129f und "Mitteilungen über Kants metaphysischen Standpunkt in der Zeit um 1774", Bd. 20, 1884, Seite 65f, MAX HEINZE Vorlesungen Kants über Metaphysik, 1894) PÖLITZ herausgegeben. Die (früher einmal in Aussicht gestellte) Herausgabe eines im Besitz des Hamburger Pastors ALBRECHT KRAUSE befindlichen Manuskripts aus KANTs letzten Jahren, welches den Übergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik behandelt, würde, nach den von REICKE in der "Altpreußischen Monatsschrift 1882-84 und den von KRAUSE selbst (8) gegebenen Proben zu urteilen, schwerlich die von Einigen gehegten Erwartungen erfüllen. BENNO ERDMANN hat "Nachträge zu Kants Kr. d. r. V. aus Kants Nachlaß", 1881 und "Reflexioenen Kants zur kritischen Philosophie aus handschriftlichen Aufzeichnungen" herausgegeben; das erste Heft des ersten Bandes (Reflexionen zur Anthropologie) ist 1882, der zweite Band (Reflexionen zur Kr. d. r. V., aus Kants Handexemplar von Baumgartens Metaphysik, mit einer entwicklungsgeschichtlichen Einleitung des Herausgebers) 1884 erschienen. Über die von RUDOLF REICKE herausgegeben "Losen Blätter aus Kants Nachlaß", 1899, zweites Heft 1895 siehe VAIHINGER in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Bd. 96 (1889 und ADICKES in den Kant-Studien, Bd. 1, ("Mitteilungen aus dem kantischen Nachlaß"), Seite 232f (1896). Eine französische Übersetzung mehrerer kantischer Werke hat CLAUDE-JOSEPH TISSOT, eine englische der "Kritik der reinen Vernunft" MAX MÜLLER 1881 (zweite Auflage 1896) veranstaltet.

Die beste Gesamtausgabe der Werke KANTs ist die chronologisch geordnete und vorzüglich ausgestattet zweite von HARTENSTEIN in acht Bänden 1867-1868. Gleichzeitig mit der ersten Ausgabe von HARTENSTEIN in zehn Bänden 1838f war die zwölfbändige von KARL ROSENKRANZ und FRIEDRICH WILHELM SCHUBERT erschienen (in den letzten Bänden eine Biographie KANTs von SCHUBERT und eine "Geschichte der kantischen Philosophie" von ROSENKRANZ (1842). Die Ausgabe von KEHRBACH der Hauptschriften in Reclams Universalbibliothek mit der Paginierung der Original- und Gesamtausgeben (seit 1877) ist empfehlenswerter als die von KIRCHMANN der sämlichen Werke in der "Philosophischen Bibliothek". Die neue KANT-Ausgabe der Berliner Akademie glieder sich in vier Abteilungen: Druckschriften (DILTHEY), Briefwechsel (REICKE), handschriftlicher Nachlaß (ADICKES) und Vorlesungen (HEINZE). Sie ist mit der zweiten Abteilung (Briefwechsel, 3 Bände, 1900-1902) eröffnet worden; vgl. VAIHINGER, "Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel", in den Kant-Studien, Bd. 5, Heft 1; KARL VORLÄNDER, "Kants Briefwechsel bis 1788" in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 117, Seite 94f; FRIEDRICH ALFRED SCHMID, "Kant im Spiegel seiner Briefe" in den Kant-Studien, Bd. 9, Seite 307f. 1902 folgte der erste Band der "Werke": die vorkritischen Schriften bis 1756 (vgl. Ernst von Aster, "Die neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band", Kant-Studien, Bd. 9, Seite 321f), 1904 der vierte Band.

Unter den Werken über KANT nehmen die Darstellungen von KUNO FISCHER (9) und von FRIEDRICH PAULSEN (10) (Frommans Klassiker, Bd. 7, 1898, neue Auflage 1899) die erste Stelle ein. Die Schriften von LIEBMANN, COHEN, STADLER, RIEHL, VOLKELT u. a. werden später gelegentlich der neuen KANT-Bewegung genannt werden; VAIHINGERs gründlicher "Kommentar" ist weiter oben angeführt worden. Hier seien aus der ins Unübersehbare angewachsenen KANT-Literatur nur einige der wichtigeren Monographie und Aufsätzt aufgezählt. [. . . ] (11)

Minder ereignisreich und wechselvoll als KANTs philosophische Entwicklung (12) ist sein äußeres Leben verlaufen. Als Sohn des aus eine schottischen Familie stammenden Riemers JOHANN GEORG KANT (im gleichen Jahr mit KLOPSTOCK) am 22. April 1724 in Königsberg geboren, in Haus und Schule unter strenger und frommer Zucht erwachsen, auf der dortigen Universität gebildet, von 1746 an neun Jahre hindurch Hauslehrer, seit 1755 als Dozent, seit 1770 als ordentlicher Professor, sechs Jahre lang zugleich Unterbibliothekar in Königsberg tätig, hat IMMANUEL KANT seine Vaterstadt selten, seine heimatliche Provinz niemals verlassen. Die Anschaulichkeit, durch welche sich die besonders beliebten Vorlesungen KANTs über physische Geographie und über Anthropologie auszeichneten, verdankten sie dem fleißigen Studium von Reisebeschreibungen und einer ungewöhnlich scharfen Beobachtungsgabe, die aus dem Naheliegenden eine reiche Welt- und Menschenkenntnis zu schöpfen wußte. Nachdem er sich im Herbst 1796 vom Katheder zurückgezogen hatte, machte die Altersschwäche am 12. Februar 1804 seinem bis ins Kleinste durch Grundsätze geregelten Leben ein Ende. Als Charakter von peinlicher Pflichttreue, Pünktlichkeit und Wahrheitsliebe, als Gesellschafter liebenswürdig, geistvoll und witzig, gehört KANT als Denker mehr zu den scharfsinnigen als zu den tiefsinnigen Köpfen. In seiner umfassenden Begabung ist die Tendenz der Vereinigung und das Vermögen der Intuition (wie namentlich die Kritik der Urteilskraft beweist) in beträchtlichem, aber doch nicht in gleichem Maße vertreten wie die Kraft des strengen Sonderns und subtilen Unterscheidens, und wenn mit Recht der Trieb der Vermittlung als wesentliches Merkmal des kantischen Philosophierens angesehen wird, so muß man sich doch zugleich gegenwärtig halten, daß der Synthese allenthalben eine gewaltige analytische Arbeit vorausgegangen ist, und daß diese auch nach vollzogener Vermittlung noch kräftig nachwirkt. So wurde KANT der energische Vertreter einer qualitativen Weltanschauung gegenüber der quantitativen des LEIBNIZ für welche letztere die Gegensätze (z. B. Empfinden und Denken, Fühlen und Erkennen, Gut und Böse, Pflicht und Neigung) zu bloßen Gradunterschieden verblassen.

Im Eingang des Kapitels ist angedeutet worden, wie sich am Widerstreit der rationalistischen (dogmatischen) und der empiristischen (skeptischen) Philosophie das neue Erkenntnisideal bildete, unter dessen Ägide KANT eine Reform der Philosophie herbeigeführt hat. Es verbindet das Ideal der Erweiterung des Wissens bei BACON mnit dem cartesianischen der Sicherheit desselben. Erweiternd sind nur die synthetischen Urteile, während die analytischen bloße Erläuterungsurteile sind (13). Vollkommen sicher, absolut allgemein und notwendig gültig sind nur die apriorischen, während die aposteriorischen bloß subjektiv gültig sind, der Notwendigkeit entbehren und höchstens komparative Allgemeinheit gewähren (14). Alle analytischen Urteile sind apriori, alle empirischen oder aposteriorischen sind synthetisch. Zwischen beiden liegen die gesuchten. Gibt es synthetische Urteil apriori, und wie sind sie möglich?

Bei zwei Wissenschaften handelt es sich um das Wie, bei einer dritten um das Ob der Möglichkeit solcher Urteile, die zugleich erweiternd und schlechthin allgemein und notwendig sind. Die ersten beiden Wissenschaften sind reine Mathematik und reine Naturwissenschaft, von denen jene durch ihre Evidenz, diese durch stets mögliche Bestätigung in der Erfahrung gegen Zweifel an ihrer Berechtigung geschützt ist, überdies die eine wie die andere auf den stetigen Gang ihrer Entwicklung hinweisen darf. Das alles ist bei der dritten, der Metaphysik als Wissenschaft vom Übersinnlichen, zu ihrem großen Nachteil nicht vorhanden. Empirische Bestätigung ist einer vermeintlichen Erkenntnis des Unerfahrbaren von vornherein versagt; an Evidenz fehlt es ihr so sehr, daß kaum ein Satz zu finden ist, den alle Metaphysiker zugestanden, geschweige daß es ein dem EUKLID zur Seite zu stellendes metaphysisches Lehrbuch gäbe; einen kontinuierlichen Fortschritt zeigt sie so wenig, daß vielmehr der Nachfolger allemal das umstürzt, was der Vorgänger gelehrt hatte. Für die Metaphysik, die als Naturanlage freilich wirklich ist, fragt es sich demnach nicht bloß, wie bei den beiden anderen Wissenschaften, um den Grund ihrer Berechtigung, sondern um die Berechtigung selbst. Mathematik und reine Physik fällen synthetische Urteile a priori, die Metaphysik desgleichen. Die Sätze der ersteren sind unbestrittene Erkenntnisse, die der letzteren nicht. Dort ist zu untersuchen: warum sind sie dazu befugt? hier: ist sie dazu befugt?

So zerlegt sich die Hauptfrage: "wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" in die Unterfragen: wie ist reine Mathematik, wie reine Naturwissenschaft, wie Metaphysik (und zwar: wie ist Metaphysik überhaupt - und: wie ist Metaphysik als Wissenschaft) möglich? Auf die erster Frage antwortet die transzendentale Ästhetik (die Kritik der Sinnlichkeit oder des Anschauungsvermögens), auf die zweite die transzendentale Analytik (die Kritik des Verstandes), auf die dritte die transzendentale Dialektik (die Kritik der "Vernunft" im engeren Sinn) und die transzendentale Methodenlehre. Analytik und Dialektik sind die beiden Teile der transzendentalen "Logik" (Kritik des Denkvermögens), welche mit der Ästhetik zusammen die transzendentale "Elementarlehre" bildet im Gegensatz zur Methodenlehre. Nach dieser subordinierenden Einteilung glieder sich die "Kritik der reinen Vernunft", während die "Prolegomena" in obengedachter Weise die vier Teile einander koordinieren.

Nehmen wir die Antworten voraus. Reine Mathematik ist möglich, weil es reine oder apriorische Anschauungen (Raum und Zeit), reine Naturwissenschaft oder Metaphysik der Erscheinungen, weil es apriorische Begriffe (Kategorien) und Grundsätze des reinen Verstandes gibt. Metaphysik als vermeintliche Wissenschaft vom Übersinnlichen war als mißglückter Versuch möglich, weil es Ideen oder Vernunftbegriffe gibt, die über die Erfahrung hinausweisen und den Schein bei sich führen, als würden durch sie erkennbare Objekte gegeben; als Wissenschaft ist sie nicht möglich, weil die Kategorien nur eine Anwendung innerhalb der Erfahrung erlauben, die durch die Ideen gedachten Gegenstände aber nicht sinnlich gegeben werden können und alle angemaßte Erkenntnis derselben sich in unauflösliche Widersprüche (Antinomien) verstrickt. Dagegen ist eine Wissenschaft möglich und notwendig, die den richtigen Gebrauch der Kategorien, welche nur auf Erscheinungen, und der Ideen, welche nur auf unsere Erkenntnis der Dinge (und unser Wollen) angewandt werden dürfen, lehrt und den Ursprung wie die Grenzen unserer Erkenntnis feststellt, eine Transzendentalphilosophie. Hinsichtlich der Metaphysik (Erkenntnis aus reiner Vernunft) lautet demnach das Resultat: Verwerfung der transzendenten (die Erfahrung überfliegenden), Anerkennung und Aufbau der immanenten (sich in den Grenzen möglicher Erfahrung haltenden) Metaphysik. Sie ist nicht möglich als Metaphysik der Dinge-ansich, sie ist möglich als Metaphysik der Natur (des Inbegriffs der Erscheinungen), und als Metaphysik der Erkenntnis (Vernunftkritik).

Das Interesse der Vernunft erschöpft sich jedoch nicht in der Frage: "was können wir wissen?", sondern umfaßt noch zwei weitere: "was sollen wir tun?" und "was dürfen wir hoffen?" So kommt zur Metaphysik der Natur eine Metaphysik der Sitten und zur Kritik der theoretischen Vernunft eine Kritik der praktischen Vernunft oder des Willens nebst einiger Kritik des religiösen Glaubens hinzu. Denn wenn uns ein "Wissen" vom Übersinnlichen versagt ist, so fehlt es doch nicht an "praktischen" Gründen für eine hinlänglich sichere "Überzeugung" hinsichtlich der Gottheit, der Freiheit, der Unsterblichkeit.

Nachdem KANT die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori von der Erkenntnis der Natur auf die unserer Pflichten übertragen hat, stellt er sie drittens für unsere Beurteilung der subjektiven und objektiven Zweckmäßigkeit der Dinge oder ihrer Schönheit und Vollkommenheit und fügt zur Kritik des Verstandes und des Willens die der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft hinzu.

Hiernach zerfällt die kantische Philosophie in einen theoretischen, einen praktischen (inklusive religiongsphilosophischen) und einen ästhetisch-teleologischen Teil. -

Bevor wir zur Darstellung des ersten schreiten, sind einige Vorbemerkungen über das, was KANT bei seinem kritischen Geschäft voraussetzt, und über die Methode, die er bei demselben befolgt, unerläßlich.

Die Voraussetzungen sind teils psychologischer, teils (wie die Klassifikation der Urteils- und Schlußformen, die doppelte Einteilung der Urteile) formal- oder transzendental-logischer, teils (wie das Ding-ansich) metaphysischer Art. Die ersteren entnimmt KANT der Psychologie seiner Zeit, indem er WOLFFs Einteilung der Seelenvermögen mit der von TETENS kombiniert und so sechs Vermögen gewinnt: ein niederes (sinnliches) und ein höheres (geistiges) Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögen; oder: Sinnlichkeit (die Fähigkeit, durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, Vorstellungen zu empfangen), Verstand (das Vermögen, selbsttätig Vorstellungen hervorzubringen und solche zu verknüpfen); sinnliches Gefühl der Lust und Unlust, Geschmack; Begierde, Wille. Der Verstand im weiteren Sinne = oberes Erkenntnisvermögen zerfällt weiter in Verstand im engeren Sinne (Vermögen der Begriffe), Urteilskraft (Vermögen des Urteilens) und Vernunft (Vermögen des Schließens), von denen der erste dem Erkenntnisvermögen, bzw. der Natur, die zweite dem Geschmack, die dritte dem Willen Gesetze gibt.

Die wichtigste von den Grundannahmen betrifft das Verhältnis, das Wesen und die Aufgabe der beiden Erkenntnisvermögen. Sie unterscheiden sich nicht graduell durch geringere oder größere Deutlichkeit - denn es gibt sinnliche Vorstellungen, welche deutlich, und intellektuelle, welche es nicht sind -, sondern spezifisch: Sinnlichkeit ist das Vermögen der Anschauungen, Verstand das Vermögen der Begriffe. Anschauungen sind Einzelvorstellungen, Begriffe Allgemeinvorstellungen; jene beziehen sich unmittelbar, diese nur mittelbar (durch Vermittlung anderer Vorstellungen) auf ihren Gegenstand. Beim Anschauen verhält sich das Gemüt rezeptiv, beim Begreifen spontan. "Durch Anschauungen werden uns Gegenstände gegeben, durch Begriffe werden sie gedacht." Hieraus ergibt sich, daß keines der beiden Vermögen für sich zur Gewinnung von Erkenntnissen ausreicht, denn Erkennen ist objektives Denken, Bestimmen von Gegenständen, einheitliches Zusammenfassen oder Bearbeiten eines gegebenen Mannigfaltigen, Formen eines Stoffes, Empiristen wie Rationalisten täuschten sich über die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand. Die Sinnlichkeit liefert die einheitliche Form, der er von sich aus keinen Inhalt zu geben vermag. "Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (formlos, unverständlich), "Begriffe ohne Anschauungen sind leer" (inhaltslos). Dort fehlen Form und Ordnung, hier der zu formende Stoff, die Anwendungsgegenstände. Die beiden Vermögen sind aufeinander angewiesen, nur aus ihrer Vereinigung kann Erkenntnis entspringen.

Eine gewisse Formung findet allerdings schon innerhalb der Sinnlichkeit statt, indem das Chaos der Empfindungen in die dem anschauenden Subjekt ursprünglich angehörenden "Anschauungsformen" Raum und Zeit eingegliedert wird; doch reicht dieselbe, ohne Hinzutritt des Verstandes, nicht zur Erzeugung von Wissenschaft aus. Im Hinblick auf die Apriorität von Raum und Zeit darf man, unbeschadet ihrer Anschaulichkeit (sie sind unmittelbare Einzelvorstellungen), die reine Sinnlichkeit zum oberen Erkenntnisvermögen rechnen und von einer anschauenden Vernunft reden.

Die Formen des Anschauens und Denkens stammen von innen, liegen im Gemüt a priori bereit, jedoch nicht als fertige Vorstellungen. Sie sind Funktionen, notwendige Handlungen der Seele, zu deren Vollziehung sie zwar eines Anreizes von außen, durch Empfindungen, bedarf, die sie aber, auf diese Anregung hin, selbsttätig hervorbringt. Der äußere Anstoß gibt ihr nur die Gelegenheit zu Produktionen, deren Grund und Gesetz in ihrer eigenen Natur liegen. In diesem Sinn nennt KANT sie "ursprünglich erworben" und erklärt in der Einleitung der Kr. d. r. V., daß, wenngleich ohne Zweifel "alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung (sinnlichen Eindrücken) anhebt, so doch nicht alle aus der Erfahrung entspringt". Eine Vorstellung oder eine Erkenntnis ist a priori (15) bedeutet nicht: sie geht der Erfahrung zeitlich vorher, sondern: sie ist (abgesehen von oben erwähnter, bloß veranlassender, nicht bewirkender Anreizung durch Eindrücke) unabhängig von aller Erfahrung, sie wird nicht aus ihr geschöpft, erborgt.

Der Stoff des Anschauens und Denkens wird der Seele gegeben, von ihr empfangen, er entsteht durch die Einwirkung der Gegenstände auf die Sinne und ist jederzeit empirisch. Die Anschauung ist das einzige Organ für Wirklichkeit, in der Empfindung gibt sich unmittelbar die Gegenwart eines realen Objekts als Ursache derselben kund. Als der transzendentale Idealismus KANTs von einem Rezensenten mit dem empirischen von BERKELEY, welcher die Existenz der Außenwelt leugnet, auf eine Stufe gestellt wurde, hat er ausdrücklich versichert, es sei ihm niemals in den Sinn gekommen, die Realität äußerer Dinge zu bezweifeln. Auch hat er sich, nachdem sich ihm das Dasein wirklicher, die Sinnlichkeit affizierender Dinge aus einer Grundlage der Untersuchung in einen Gegenstand derselben verwandelt hatte, bemüht, diese anfänglich unbefangen dem Realismus des vorwissenschaftlichen Bewußtseins entlehnte Annahme durch Beweise zu stützen, freilich ohne daß ihm dies in befriedigender Weise gelungen wäre (16).

Auf der Basis der Unzertrennlichkeit von Sinnlichkeit und Verstand erfährt nun das Erkenntnisideal einer durch apriorische Mittel zu erreichenden Erweiterung des Wissen (Seite 294) eine bemerkenswerte Ergänzung dahin, daß die so gewonnene Vernunftsynthese die Erkenntnis eines Wirklichen sein oder auf Anschauungsmaterial Anwendung finden muß. Zu der Frage: "wie sind synthetische Urteile apriori möglich" gesellt sich die gleichberechtigte anderen: "wie werden sie objektiv gültig oder auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar." Der Grundsatz, aus dem ihre Gültigkeit bewiesen wird: sie sind deshalb auf Erfahrungsgegenstände anwendbar, weil ohne sie Erfahrung nicht möglich wäre, weil sie Bedingungen der Erfahrung sind - dieser Grundsatz gehört wie das Kriterium der Apriorität (strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit) zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen (17) der "Kritik".

Indem die "Kritik" die Bedingungen der Erfahrung untersucht, verfährt sie nach einer Methode, die sie selbst als transzendentale bezeichnet. Wo bisher die metaphysische Methode eingeschlagen wurde, da war ihr Objekt das Übersinnliche: wo bisher die Erkenntnis zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurde, da geschah es nach empirischer, psychologischer Methode. KANT durfte sich als den Schöpfer der Erkenntnistheorie fühlen, weil er ihr en transzendentalen Gesichtspunkt angewiesen hat. Die Erkenntnis ist ein Gegenstand der Erfahrung, nicht so ihre Bedingungen. Es gilt, die Erkenntnis zu erklären, nicht bloß psychologisch zu beschreiben; es gilt, eine neue Erkenntniswissenschaft aus Grundsätzen, aus reiner Vernunft zu gründen. Was jenseits der Erfahrung liegt, ist unserem Wissen verschlossen, was diesseits derselben liegt, ist noch ununtersucht, aber der Untersuchung fähig, würdig und dringend bedürftig. Die "Kritik" verbietet den transzendenten (die Erfahrung überschreitenden) Gebrauch der Vernunft, sie gestattet, fordert und übt selbst den transzendentalen (18) Vernunftgebrauch, der ein Erfahrungsobjekt, die Erkenntnis, aus seinen nicht empirisch gegebenen Bedingungen erklärt.

Zwischen dem empiristischen Resultat der Vernunftkritik (Beschränkung der Erkenntnis auf Erfahrungsgegenstände) und dem rationalistischen (metaphysischen, nicht empirisch verfahrenden) Beweis desselben scheint ein Widerspruch zu bestehen und besteht wirklich ein erheblicher Gegensatz. KANT beweist auf metaphysischem Weg, daß es keine Metaphysik geben kann. Der Widerstreit löst sich durch die angebenge Unterscheidung des Jenseits und Diesseits der Erfahrung. Verboten ist diejenige Metaphysik, welche nach der objektiven Seite das Erfahrungsgebiet überfliegt, erlaubt und unentbehrlich diejenige reine Vernunfterkenntnis, welche aus Prinzipien die im Subjekt liegenden Gründe der Erfahrungserkenntnis entwickelt. In der Schule KANTs aber wurden die zusammengehörigen Bestandteile - empiristisches Ergebnis und transzendentale oder metaphysische, eigentlich pro-physische Methode - getrennt und der eine auf Kosten des anderen betont, bevorzugt und weiter ausgebildet. Die Empiristen halten sich an das Ergebnis mit Abschwächung oder gänzlicher Verkennung des Rationalismus der Methode: das Apriori, sagt FRIES, ist nicht auf apriorischem, sondern auf aposteriorischem Weg gefunden worden und konnte nicht anders gefunden werden. Die konstruktiven Denker, FICHTE und seine Nachfolger, adoptieren und setzen fort die metaphysische Methode mit Ablehnung des empiristischen Resultates: FICHTEs Absicht geht auf ein System notwendiger, unbewußter Vernunfthandlungen, zu denen er, unter Verwerfung des Dinges-ansich, auch die Empfindung zählt; nach SCHELLING ist die Natur selbst a priori, eine Bedingung des Bewußtseins. Auch unter den Heutigen währt, obwohl manche, den eigenen Standpunkt KANTs festhaltend, die Metaphysik der Erkenntnis und der Erscheinungen (den immanenten Rationalismus) für die einzig rechtmäßige erklären, in veränderter Form der Zwiespalt zwischen Endergebnis und Begründung fort, nämlich als Streit darüber, ob der "Hauptzweck" der "Kritik" in die Einschränkung der Erkenntnis auf mögliche Erfahrung oder in die Sicherung apriorischer Elemente zu setzen ist.

LITERATUR: Richard Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) Vgl. die (von Cohen, Kants vorkritische Schriften, Seite 14 zitierte) Stelle aus Mendelssohns preisgekrönter Abhandlung "Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften": es ist "kein Zweifel, daß in dem Begriff von der Ausdehnung alle geometrischen Wahrheiten eingewickelt anzutreffen sein müssen, die uns die Geometrie darin entwickeln lehrt."
    2) Vgl. Vaihingers von Scharfsinn, großem Fleiß und achtenswerter Objektivität zeugenden Kommentar zu Kants Kr. d. r. V., erster Band, Stuttgart 1881, Seite 48-49. Der zweite Band dieses (auf 4 Bände angelegten) Kommentars, der die transzendentale Ästhetik behandelt, ist 1892 erschienen. Er enthält lehrreicht Exkurse über die affizierenden Gegenstände, das Verhältnis des Apriori zum Angeborenen, "die möglichen Fälle" und den Streit zwischen Trendelenburg und Fischer, reine und angewandte Mathematik, die historische Entstehung der kantischen Raum- und Zeitlehre, Kant und Berkeley.
    3) Lotze (in seiner Rezension von Fechners Atomlehre 1855, Kleine Schriften III, Seite 225-228) ist "der Überzeugung, daß diese kantische Theorie von 1756 der wahre Abschluß der Atomistik ist, auf den wir zurückkommen müssen."
    4) Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758), Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum (1768), außerdem mehrere der oben angeführten Schriften.
    5) Ausgaben der Kr. d. r. V. von Benno Erdmann, fünfte Auflage 1900 (als Anhang dazu: Beiträge zur Geschichte und Revision des Textes), Adickes 1889 und Karl Vorländer (mit gutem Register) 1899.
    6) Über das Verhältnis der beiden Auflagen ist viel geschrieben und gestritten worden. Gegen Schopenhauer und Kuno Fischer muß festgehalten werden, daß die Veränderungen der zweiten Auflage in einer stärkeren Hervorhebung realistischer Elemente bestehen, die in der ersten zwar zurücktreten, aber doch schon vorhanden sind.
    7) An diese Veröffentlichung knüpfte sich ein Streit Kants mit der Zensur über das Recht freier Religionsforschung, worüber Dilthey im "Archiv für Geschichte der Philosophie", Bd. 3 (1890) Seite 418-450 handelt; Emil Fromm, Kant und die preußische Zensur, 1894; ders.: Zur Vorgeschichte der königlichen Kabinettsorder an Kant (Kant-Studien, Bd. 3) 1898. Reicke und Arnoldt in seinen Beiträgen haben nachgewiesen, daß Justus Christian Hennings, als Dekan der philosophischen Fakultät in Jena, das Imprimatur für Kants Werk erteilt hat.
    8) Abrecht Krause: I. Kant wider Kuno Fischer, zum ersten Mal mit Hilfe des verloren gewesenen kantischen Hauptwerkes verteidigt, 1884 (hiergegen Kuno Fischer: Das Streber- und Gründertum in der Literatur, 1884); ders.: Das nachgelassene Werk Kants, mit Belegen populär-wissenschaftlich dargestellt, 1888; ders.: Die letzten Gedanken Kants, der Transzendentalphilosophie höchster Standpunkt: von Gott, der Welt und dem Menschen, welcher beide verbindet, aus Kants hinterlassenem Manuskript 1902.
    9) Band 4 und 5 (früher 3 und 4) der "Geschichte der neueren Philosophie", vierte (Jubiläums-) Ausgabe 1897; außerdem "Kants Leben und die Grundlagen seiner Lehre", 1860. Vgl. Windelband, Kuno Fischer und sein Kant (Kant-Studien, Bd. 2, Heft 1) 1897.
    10) Dem Klassikerband hat Paulsen zwei Ergänzungsschriften folgen lassen: Kant der Philosoph des Protestantismus 1899, Kants Verhältnis zur Metaphysik 1900 (beide aus dem 4. Band der Kant-Studien); die erstere jetzt in der Philosophia militans, 5 Abhandlungen, gegen Klerikalismus und Naturalismus, 1901. Ferner "Zum hundertsten Todestag Kants" (Kant-Studien, Bd. 9) 1904.
    11) Ich übergehe die ausführliche Beschreibung weiterführender Literatur, um die Lesbarkeit des Textes nicht überzustrapazieren. Wer jedoch daran interessiert ist [die wichtigste befindet sich bereits auf "gleichsatz.de" oder wird bald dort erscheinen], überprüfe hier den Originaltext.
    12) Um die Erforschung der Entwicklung der kantischen Lehre haben sich besonders Friedrich Paulsen (Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, 1875), Alois Riehl (Der philosophische Kritizismus, Bd. 1, 1876, Benno Erdmann, Vaihinger, Windelband, Höffding (Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 7, 1894), Adickes (Kantstudien, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, 1895; "Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung und die beiden Pole seines Systems", Kant-Studien, Bd. 1, 1897) und Schurmann (Philosophical Review, Nr. 37 und 38) 1898 verdient gemacht. - Außer Hume und Leibniz haben Newton, Locke, Shaftesbury, Rousseau und Wolff bedeutenden Einfluß auf Kant gehabt.
    13) "Alle Körper sind ausgedehnt" ist ein analytisches, "alle Körper sind schwer" ein synthetisches Urteil. Das erstere verdeutlicht den Subjektbegriff, indem es eine darin bereits enthaltene, zur Definition gehörige Teilvorstellung heraushebt; das Prinzip desselben ist der Satz des Widerspruchs, ein nicht ausgedehnter Körper ist ein widerspruchsvoller Begriff. Das letztere dagegen geht aus dem Subjektbegriff heraus, legt ihm ein Prädikat bei, das darin noch nicht gedacht war, die Erfahrung ist es, die uns lehr, daß die Schwere mit dem Körper verbunden ist, was aus dem Begriff des Körpers nicht entnommen werden kann. Fast alle mathematischen Sätze sind synthetisch; hier ist es, wie gezeigt werden wird, nicht die Erfahrung, sondern die "reine Anschauung", welche uns über den Begriff hinauszugehen und ihm ein neues Merkmal beizulegen gestattet. Synthetisch ist z. B. das Urteil: "jede dreiseitige Figur ist dreiwinklig"; denn im Begriff des Dreiseitigen wird der des Winkels nicht gedacht.
    14) Die Scholastiker bezeichneten mit a priori die Erkenntnis aus den Ursachen (aus dem, was vorhergeht), mit a posteriori die aus den Wirkungen. Kant benutzt, nach Leibniz und Lamberts Vorgang, die Termini zum Ausdruck des Gegensatzes: Erkenntnis aus Vernunft - aus Erfahrung. Apriori ist ein ohne Beihilfe der Erfahrung gewonnenes Urteil, und zwar, wenn der Satz, aus dem es abgeleitet wurde, auch wiederum von Erfahrung unabhängig ist, absolut a priori, andernfalls relativ a priori.
    15) Apriorische und reine Vorstellung (Begriff, Anschauung) ist gleichbedeutend, dagegen tritt bei Urteil ein Unterschied ein. Das Urteil ist a priori, wenn die Verknüpfung unabhängig von der Erfahrung geschieht, gleichviel ob die verknüpften Begriffe a priori sind oder nicht; im ersten Fall ist das apriorische Urteil rein (mit gar nichts Empirischem vermischt), im zweiten gemischt.
    16) Die Aufgabe, die Existenz der Dinge ansich zu erhärten, verwandelt sich ihm unter der Hand in die andere, das Dasein äußerer Erscheinungen zu beweisen. Daß "die äußeren Gegenstände als Vorstellungen wirklich sind", hatte Berkeley nie bestritten.
    17) Vgl. Vaihinger, Kommentar I, Seite 425-430.
    18) Mit transzendental bezeichnet Kant die Erkenntnis (die Auffindung, den Nachweis) des Apriori und seiner Beziehung auf Erfahrungsgegenstände. Leider benutzt er das gleiche Wort oft genug nicht nur zur Bezeichnung des Apriori selbst, sondern auch als Synonym für transzendent. In allen drei Fällen bildet empirisch den Gegensatz, nämlich: empirisch-psychologische Untersuchung mittels Beobachtung im Unterschied von erkenntnistheoretischer aus Prinzipien, empirischer Ursprung im Unterschied vom Ursprung aus reiner Vernunft, empirischer Gebrauch im Unterschied von der Anwendung über die Erfahrungsgrenze hinaus.