![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | |||
Kant und seine Erkenntnislehre [2/2]
Erkenntnislehre 1. Die reinen Anschauungen transzendentale Ästhetik) Der erste Teil der Vernunftkritik, die transzendentale Ästhetik, legt dar, daß Raum und Zeit nicht etwas für sich Bestehendes, nicht wirkliche Wesen noch Eigenschaften oder Verhältnisse, die den Dingen ansich zukommen, auch wenn sie angeschaut werden, sondern Formen unserer Anschauung sind und ihren Grund ihn der subjektiven Beschaffenheit unseres, des menschlichen, Gemüts haben. Wenn man von der sinnlichen Anschauung alles, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, desgleichen alles, was zur Empfindung gehört, abtrennt, so bleiben jene beiden Anschauungsformen übrig, die, da sie auch abgesondert von aller Empfindung betrachtet werden können, reine Anschauungen heißen dürfen. Als subjektive (in der Natur des Subjekts liegende) Bedingungen, unter denen allein etwas für uns Gegenstand der Anschauung werden kann, gehen sie allen empirischen Anschauungen voran oder sind a priori. Raum und Zeit sind weder substantielle, alles Wirkliche in sich befassende Gefäße, noch den Dingen-ansich anhaftende Ordnungen, sondern Anschauungsformen. Alle unsere Vorstellungen sind nun ihrem Ursprung nach entweder rein oder empirisch, ihrer Art nach entweder Anschauungen oder Begriffe. Vier Beweise gibt KANT dafür, daß Raum und Zeit nicht empirisch und nicht Begriffe, sondern reine Anschauungen sind: 1. Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der von einer Erfahrung abgezogen wurde. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen der Erscheinungen, d. h. ihr Sein zur selben Zeit oder in verschiedenen Zeiten (woraus, wie manche meinen, die Vorstellung der Zeit abstrahiert wird) setzt bereits die Zeit voraus: ein Zugleich oder Nacheinander ist nur in der Zeit möglich. Ebensowenig ist der Raum aus den empirischen Raumverhältnissen der äußeren Erscheinungen, ihrem Außer- und Nebeneinander oder an verschiedenen Orten Sein, abstrahiert, denn ich kann mir kein Nebeneinander vorstellen, das nicht im Raum wäre. Also macht nicht die Erfahrung den Raum und die Zeit möglich, sondern Raum und Zeit machen allererst Erfahrung möglich, jener die äußere, diese die innere. Sie sind Voraussetzungen der Wahrnehmung, nicht Abstraktionsprodukte derselben. 2. Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung a priori. Man kann ganz wohl alle Erscheinungen aus ihr wegdenken, die Zeit selbst aber in Anbetracht der Erscheinungen überhaupt nicht aufheben: mann kann sich Zeit ohne Erscheinungen, aber nicht diese ohne jene denken. Das gleiche gilt hinsichtlich der äußeren Gegenstände vom Raum. Beide sind Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen. 3. Die Zeit ist kein diskursiver oder allgemeiner Begriff. Denn es gibt nur eine Zeit. Die verschiedenen Zeiten aber gehen der einen Zeit nicht als Bestandteile voraus, aus denen sie sich zusammensetzt, sondern sind lediglich Einschränkungen derselben; der Teil ist nur durch das Ganze möglich. Ebenso sind die vielen Räume nur Teile ein und desselben Raumes und können nur in ihm gedacht werden. Eine Vorstellung aber, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist eine Einzelvorstellung oder Anschauung. Wegen der Einzigkeit des Raumes und der Zeit also ist die Vorstellung derselben eine Anschauung. Die apriorische unmittelbare Anschauung des einen Raumes ist etwas ganz anderes als der empirische, von den verschiedenen Räumen abstrahierte Allgemeinbegriff der Räumlichkeit. 4. Die bestimmte Zeitgröße entsteht durch Einschränkung der einzigen, zugrunde liegenden Zeit. Daher muß diese ursprüngliche Zeit uneingeschränkt oder unendlich und die Vorstellung derselben kann nur eine Anschauung, nicht ei Begriff sein. Die Zeit enthält eine unendliche Menge von Vorstellungen (ihre Teile, die Zeiten) in sich, dies aber kommt niemals beim Gattungsbegriff vor, der zwar in einer unendlichen Menge von Vorstellungen (denen der gleichnamigen Individuen) als Teilvorstellung enthalten ist, folglich diese unter sich befaßt, aber nimmermehr sie in sich enthält. Der Allgemeinbegriff des Pferdes ist in jeder Einzelvorstellung eines Pferdes, der der Gerechtigkeit in jeder Vorstellung einer bestimmten gerechten Handlung als allgemeines Merkmal enthalten; die Zeit aber ist nicht in den Zeiten, sondern sie sind in ihr enthalten. Ebenso ist das Verhältnis des unendlichen Raumes zu den endlichen Räumen nicht das logische eines Begriffs zu seinen Exemplaren, sondern das anschauliche eines unbegrenzten Ganzen zu seinen begrenzten Teilen. Als fünften Beweis für die Anschaulichkeit des Raumes benutzen die "Prolegomena" eine bereits im Aufsatz Über den ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum auftretende Ausführung. Es gibt räumliche Unterschiede, die schlechterdings nicht dem Verstand, sondern nur der Anschauung faßlich sind: die von rechts und links, oben und unten, vorn und hinten. Es lassen sich keine logischen Merkmale angeben, durch die sich jeder Gegenstand von seinem Bild im Spiegel oder das rechte Ohr vom linken unterscheidet. Die vollständige Beschreibung einer rechten Hand muß in allen Stücken (Qualität, Proportion und Lage der Teile, Größe des Ganzen) auch für die linke gelten: trotz völlige Gleichheit aber können die Hände nicht zur Deckung gebracht werden. Dieser Unterschied der Richtung, der nur von einem bestimmten Standpunkt aus Sinn erhält, und jene Unmöglichkeit der Kongruenz des Gegenstandes (rechte Hand) mit seinem Spiegelbild (linke Hand) ist nur durch Anschauung zu verstehen, muß gesehen und gefühlt und kann nicht durch Begriffe klargemacht, daher niemals einem der Raumanschauung entbehrenden Wesen beigebracht werden. Der "metaphysischen" Erörterung des Raums und der Zeit, welche deren nichtempirischen und nicht-diskursiven Charakter, also ihre Apriorität und Anschaulichkeit zu beweisen hatte, läßt KANT in der "transzendentalen" Erörterung den Nachweis folgen, daß nur diese Erklärung von Raum und Zeit es begreiflich macht, wie aus ihnen synthetische Erkenntnisse a priori entspringen können. Die mathematischen Sätze sind solche. Der synthetische Charakter der geometrischen Erkenntnisse erklärt sich aus der Anschaulichkeit des Raumes, ihre Apodiktizität [sichere Gewißheit - wp] aus seine Apriorität, ihre objektive Realität oder Anwendbarkeit auf empirische Gegenstände daraus, daß der Raum die Bedingung der äußeren Wahrnehmung ist. Dasselbe gilt von der Arithmetik hinsichtlich der Zeit. Wäre der Raum ein bloßer Begriff, so ließe sich aus ihm kein Satz ziehen, der über den Begriff hinausgeht, unsere Erkenntnis seiner Eigenschaften erweitert. Die Möglichkeit der Erweiterung oder Synthese in der Mathematik beruth darauf, daß die Raumbegriffe jederzeit in der Anschauung dargestellt oder "konstruiert" werden können. Der geometrische Grundsatz, daß im Dreieck die Summe zweier Seiten größer ist als die dritte, wird aus der Anschauung abgeleitet, indem man das Dreieck in der Phantasie oder auf der Tafel zeichnet. Hier wird der Gegenstand durch die Erkenntnis, nicht vor ihr, gegeben. - Wären Raum und Zeit empirische Vorstellungen, so würde den aus ihnen gewonnenen Erkenntnissen die Notwendigkeit fehlen, durch die sie sich gerade auszeichnen. Während Erfahrung uns nur lehrt, daß etwas so oder so ist, nicht aber, daß es nicht anders sein kann, sind die Axiome (der Raum hat nur drei Dimensionen, die Zeit nur eine; zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich), ja sämtliche Sätze der Mathematik streng allgemein und apodiktisch gewiß; wir sind gänzlich der Mühe enthoben, alle Dreiecke der Welt nachzumessen, ob auch bei ihnen die Summe der Winkel gleich zwei Rechten ist, und brauchen nicht, wie bei Erfahrungsurteilen, die Beschränkung beizufügen: so viel bis jetzt wahrgenommen wurde, kommt keine Ausnahme von der Regel vor. Die Apriorität ist der Realgrund der strengen Notwendigkeit des Soseinmüssens, dieser der Erkenntnisgrund jener. Da nun die Notwendigkeit des geometrischen Urteils nur durch die Idealität des Raumes erklärt werden kann, so ist diese Theorie unzweifelhaft gewiß und nicht bloß eine wahrscheinliche Hypothese. - Die Gültigkeit der mathematischen Grundsätze für alle Wahrnehmungsgegenstände endlich gründet sich darauf, daß dieselben Regeln bestehen, unter denen allein uns Erfahrung möglich ist. Es sei noch hinzugefügt, daß die Begriffe der Veränderung und der Bewegung (Ortsveränderung) nur durch die Zeitvorstellung und in ihr möglich sind. Kein Begriff könnte die Möglichkeit einer Veränderung, das ist einer Verbindung kontradiktorisch-entgegengesetzter Prädikate in ein und demselben Ding begreiflich machen, was der Anschauung des Nacheinander leicht gelingt. Der Beweisführung folgen Schlüsse aus dem Bewiesenen und Erläuterungen. 1. Der Raum ist die Form des äußeren, die Zeit die des inneren Sinnes. Durch den äußeren Sinn werden uns äußere Gegenstände, durch den inneren Sinn unsere inneren Zustände gegeben. Da aber alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, doch ansich, als Bestimmungen des Gemüts, zum inneren Zustand gehören, so ist die Zeit die formale Bedingung aller Erscheinungen überhaupt, unmittelbar der inneren (der seelischen Vorgänge) und dadurch mittelbar auch der äußeren (1). 2. Die Gültigkeit der apriori erkennbaren Verhältnisse des Raums und der Zeit für alle Gegenstände möglicher Erfahrung ist gesichert, aber auch auf sie eingeschränkt: sie gelten für alle Erscheinungen (für alle Dinge, die jemals unseren Sinnen gegeben werden mögen), aber nur für sie, nicht für die Dinge, wie sie ansich sind. Sie haben "empirische Realität, aber zugleich transzendentale Idealität". Alle Dinge, als äußere Erscheinungen, sind nebeneinander im Raum, alle Erscheinungen überhaupt sind in der Zeit und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit; in Anbetracht aller Dinge, die uns sofern sie uns in der Erfahrung vorkommen können, sind Raum und Zeit objektiv, also empirisch wirklich. Absolute Realität aber (nehme man sie nun als subsistierend [ergänzend - wp] oder als inhärierend [innewohnend - wp]) haben sie nicht, denn abstrahiert man von unserer sinnlichen Anschauung, so verschwinden beide, außerhalb des Subjekts sind sie nichts. Nur aus dem Standpunkt des Menschen können wir vom Raum und von ausgedehnten, beweglichen, veränderlichen Dingen reden; denn von den Anschauungen anderer denkender Wesen können wir nicht wissen, ob sie an dieselben Bedingungen gebunden sind, welche unsere Anschauungen einschränken und für uns allgemein gültig sind. 3. Nichts, was im Raum angeschaut wird, ist eine Sache ansich. Was wir äußere Gegenstände nennen, sind nichts anderes, als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit, deren wahres Korrelat, das Ding-ansich, durch noch so tiefes Eindringen in die Erscheinung nicht erkannt werden kann; solche Eigenschaften, die den Dingen-ansich zukommen, können uns durch die Sinne niemals gegeben werden. Desgleichen ist nichts, was in der Zeit angeschaut wird, ein Ding-ansich, folglich schauen wir auch uns selbst nur an, wie wir uns erscheinen, nicht wie wir sind. Die bloß empirische Realität von Raum und Zeit, die Einschränkung ihrer Geltung auf Erscheinungen, läßt die Sicherheit der Erfahrungserkenntnis unangetastet - denn wir sind derselben ebenso gewiß, ob nun diese Formen den Dingen-ansich oder nur unserer Anschauung der Dinge notwendigerweise anhängen -, wohingegen die Behauptung ihrer absoluten Realität in lauter Ungereimtheiten verwickelt (nämlich zu der Annahme zweier unendlicher Undinge nötigt, welche da sind, ohne daß doch etwas Wirkliches ist, nur um alles Wirkliche in sich zu befassen, und von deren einem sogar unsere Existenz abhängig wäre), angesichts deren selbst die Entstehung einer so sonderbaren Ansicht wie BERKELEYs Idealismus ist, verständlich erscheint. Die kritische Theorie von Raum und Zeit ist so wenig mit der des BERKELEY identisch oder verwandt, daß sie vielmehr den besten und einzigen Schutz gegen dieselbe darbietet. Wer jenen Formen absolute oder transzendentale Realität beilegt, kann nicht vermeiden, daß dadurch alles, sogar unsere eigene Existenz, in lauter Schein verwandelt wird. Der Kritizist aber ist weit entfernt, die Körper zu bloßem Schein herabzusetzen: ihm sind die äußeren Erscheinungen ebenso wirklich wie die inneren, wirklich freilich nur als Erscheinungen, als (mögliche) Vorstellungen. Erscheinung ist nicht Schein. Der transzendentale Unterschied von Erscheinung und Ansich darf nicht mit dem im gewöhnlichen Leben und in der Physik üblichen verwechselt werden, wonach man den Regenbogen eine bloße Erscheinung (besser: Schein), den diesen Schein veranlassenden Sonnenregen aber die Sache ansich nennt als das, was in der allgemeinen Erfahrung unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen, in der Anschauung so und nicht anders bestimmt ist, oder was der Anschauung des Gegenstandes wesentlich anhängt und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt (im Gegensatz zu dem, was ihr nur zufälligerweise zukommt und nur für eine besondere Stellung oder Organisation dieses oder jenes Sinnes gültig ist). Desgleichen erscheint ein Gegenstand bei zunehmender Entfernung immer kleiner, während er ansich groß ist und bleibt. Das ist auch in der empirischen oder physischen Bedeutung des Ansich ganz richtig; in der transzendentalen jedoch sind auch die Regentropfen nebst ihrer Gestalt und Größe selbst wiederum bloß Erscheinungen, deren Ansich uns gänzlich unbekannt bleibt. Ferner wünscht KANT die Subjektivität der Anschauungsformen nicht mit derjenigen der Empfindungen auf eine Linie gestellt oder durch dieselbe erläutert zu sehen, wenn er auch die letztere, als längst feststehend, anerkennt. Die Empfindungen der Farben, der Töne, der Wärme kommen zwar darin mit der Vorstellung des Raumes überein, daß sie bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören und den Objekten nur im Verhältnis auf unsere Sinne beigelegt werden können. Aber der große Unterschied zwischen beiden ist der, daß jene Sinnesqualitäten bei verschiedenen Menschen verschieden sein können (die Farbe der Rose kann jedem Auge anders erscheinen) oder der Einstimmung mit jedem Menschensinn entbehren, daß sie nicht im gleichen und strengen Sinn apriori sind, somit keine von der Wahrnehmung unabhängige Erkenntnis der Gegenstände möglicher Erfahrung gewähren, und daß sie nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besonderen Organisation mit der Erscheinung verbunden sind, während der Raum als Bedingung äußerer Objekte notwendigerweise zur Erscheinung oder Anschauung derselben gehört. Durch den Raum ist es allein möglich, daß Dinge für uns äußere Gegenstände sind. Die Subjektivität der Empfindung ist eine individuelle, die des Raumes und der Zeit eine generelle oder allgemein menschliche; jene ist empirisch, individuell verschieden und zufällig, diese sind apriori und notwendig. Nicht die Empfindung, sondern nur der Raum ist eine conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] äußerer Anschauung. Raum und Zeit sind die einzigen apriorischen Elemente der Sinnlichkeit, alle übrigen sinnlichen Begriffe, selbst Bewegung und Veränderung, setzen Wahrnehmung voraus; das Bewegliche im Raum und die Sukzession der Eigenschaften eines Daseienden sind empirische Daten. Zur Bestätigung der Theorie, daß alle Sinnesobjekte bloße Erscheinungen sind, wird hervorgehoben, daß uns (den Willen und die Gefühle ausgenommen, die nicht Erkenntnisse sind) durch die Sinne nichts als Verhältnisvorstellungen gegeben werden, durch bloße Verhältnisse aber nicht eine Sache ansich erkannt wird. Die Erscheinung ist ein Inbegriff von lauter Relationen. Von einem Körper kennen wir nur die Ausdehnung, die Bewegung und die Gesetze dieser Bewegung oder die Kräfte (Anziehung, Zurückstoßung, Undurchdringlichkeit), all dies aber sind nur Beziehungen des Dings auf etwas von ihm Verschiedenes, also äußere Verhältnisse. Wo ist das Innere, das diesem Äußeren zugrunde liegt und dem Objekt ansich zukommt? In der Erscheinung ist ein solches nirgendwo anzutreffen, und soweit Beobachtung und Zergliederung der Natur fortschreiten mag (eine Aufgabe von unbegrenzten Aussichten!), so findet sie immer nur Raumteile, welche die Materie einnimmt, und Wirkungen, die sie ausübt, also lauter komparativ Innerliches, das selbst wiederum aus äußeren Verhältnissen besteht. Das schlechthin Innere der Materie ist eine bloße Grille, und wenn die Klage, das "Innere" der Dinge sei uns verborgen, bedeuten soll, daß wir nicht begreifen, was die uns erscheinenden Dinge ansich sein mögen, so ist sie unbillig und unvernünftig, denn sie verlangt, daß man ohne Sinne anschauen kann, verlangt, daß wir nicht Menschen sein sollen. Die transzendenten Fragen nach dem Ansicht der Dinge sind unbeantwortbar; kennen wir doch uns selber nur als Erscheinung. Erscheinung besteht selbst in einem bloßen Verhältnis von Etwas überhaupt zu den Sinnen. Daß der Erscheinung etwas entspricht, was, indem es unsere Sinnlichkeit affiziert, in uns Empfindung und hierdurch Erscheinung bewirkt, ist zweifellos. Schon das Wort und der Begriff "Erscheinung" zeigt eine Beziehung an auf etwas, was nicht Erscheinung ist, auf einen von der Sinnlichkeit unabhängigen Gegenstand. Was derselbe sein mag, bleibt uns verschlossen, denn Erkenntnis ist nicht ohne Anschauung möglich. Die Dinge-ansich sind unerkennbar. Gleichwohl ist der (übrigens ganz leere) Gedanke jenes "transzendentalen Gegenstandes", als eines unbestimmten Etwas = X, das den Erscheinungen zugrunde liegt, nicht nur zulässig, sondern unvermeidlich, als Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, nämlich auf das ihr allein zugängliche Feld der Erscheinungen. Mit der Schlußfolgerung
Daß sie bei KANT, namentlich in der ersten Auflage des Hauptwerks, deutliche Ansätze zu einem radikalen Idealismus finden, der nicht bloß die Erkennbarkeit, sondern auch die Existenz von Gegenständen außerhalb des Subjekts und seiner Vorstellungen bezweifelt oder leugnet und das Ding-ansich zu einem bloßen Gedanken in uns herabsetzt oder ganz aufhebt, ist leicht durch wörtliche Äußerungen zu belegen (z. B.: "die Vorstellung eines Gegenstandes als Ding überhaupt ist nicht bloß unzureichend, sondern ... unabhängig von empirischer Bedingung in sich widerstreitend"). Aber die betreffenden Wendungen bekunden nur ein momentanes Hinneigen zu jenem Standpunkt, nicht ein bindendes Bekenntnis desselben und werden überwogen durch solche, in denen der Idealismus mehr oder weniger energisch abgelehnt wird. Ein Doppeltes (1) ist es, was nach KANT außerhalb der Vorstellung des Individuums existiert:
2. die Erscheinungen "selbst" mit ihren erkennbaren immanenten Gesetzen und ihren räumlich-zeitlichen Verhältnissen, als möglichen Vorstellungen. Gegen die hier der Erscheinungswelt zugeschriebene Mittelstellung, nach der sie weniger ist als die Dinge-ansich und mehr ist als subjektive Vorstellung, scheinen die zahlreichen Stellen zu sprechen, welche, indem sie die Erscheinung zur bloßen Vorstellung erklären, nur für zwei Glieder (dort das Ding-ansich = das Unvorstellbare am Ding, hier das Ding-für-mich = meine Vorstellung des Dings) Raum lassen. In der Tat wird der Unterschied zwischen der Erscheinung "selbst" und der Vorstellung, die der einzelne von ihr bald hat, bald nicht hat, keineswegs überall mit wünschenswerter Deutlichkeit gestgehalten, und wo es nicht angeht, den "bloßen Vorstellungen in mir" das Vorgestellte und Vorstellbare oder mögliche Anschauungen zu substituieren, wird man ein Verlassen des an einigen Orten mit vollster Bestimmtheit eingenommenen Standpunktes zugeben müssen. Einen unzweideutigen Ausdruck findet der letztere u. a. in den "Analogien der Erfahrung" und der "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe", zweiter Abschnitt Nr. 4 (erste Auflage). An letzterer Stelle wird von ein und derselben allgemeinen Erfahrung gesprochen, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhang vorgestellt werden, und von der durchgängigen Affinität der Erscheinungen als dem Grund der Möglichkeit der Vorstellungsassoziationen. Die Affinität wird den Gegenständen der Sinne zugeschrieben, nicht den Vorstellungen, deren Assoziation erst die Folge der Affinität ist, noch auch den Dingen ansich, für die der Verstand nicht gesetzgebend sein kann. Auch das Verhältnis zwischen Ding-ansich und Erscheinung ist ein schwankends. Bald werden sie als einander völlig heterogen (das Nie-Anzuschauende hat eine der des Angeschauten und Anschaubaren entgegengesetzte Existenzweise), bald als einander analog (den anschaulichen Beschaffenheiten der Erscheinung korrespondieren nichtanschauliche Eigenschaften des Dings-ansich) angenommen. Jenes ist der Fall, wenn es heißt: die Erscheinungen sind in Raum und Zeit, die Dinge-ansich nicht, in jenen herrscht Naturkausalität, in diesen Freiheit, dort gibt es nur Bedingtes, hier Unbedingtes usw. (3) Ebenso oft aber werden Dinge-ansich und Erscheinungen als einander ähnlich, als zwei Seiten desselben Gegenstandes (4) gedacht, von denen die eine, gleich der Gegenerde der Pyhtagoräer, uns stets abgewandt bleibt, die andere uns zugekehrte aber sein wahres Wesen nicht erkennen läßt. Danach würde jedem einzelnen Ding, Zustand, Verhältnisse und Ereignisse der Erscheinungswelt eine analoge Wirklichkeit in der Sphäre des Ansich entsprechen: den ausgedehnten Rosen würden unausgedehnte Rosen ansich, ihrem Wachsen und Verblühen gewisse unzeitliche Akte, ihren Raumverhältnissen intelligible Beziehungen zugrunde liegen. Das ist ungefähr die Stellung der beiden Begriffe, die LOTZE teils selbst lehrt, teils KANT lehren läßt; auch HERBARTs "wieviel Schein, soviel Hindeutung auf ein Sein" ließe sich hier heranziehen. Was KANT, trotz der proklamierten Unerkennbarkeit der Dinge-ansich, beständig dazu antreibt, sich Gedanken über ihre Beschaffenheit zu machen, ist das moralische Interesse, dieses aber legt sein Gewicht bald auf die Schale ihrer Vergleichbarkeit mit der Erscheinung, bald auf die entgegengesetzte. Denn für die Ethik braucht KANT den intelligiblen Charakter oder den Menschen als Noumenon und muß ebensoviele Menschen ansich (konsequenterweise dann auch ganz allgemein ebensoviele Wesen ansich) annehmen, als es deren in der Erscheinung gibt. Aus praktischen Gründen aber muß man sich auch wiederum die Kausalität der Menschen ansich als eine ganz andere, der mechanischen in der Sinnenwelt entgegengesetzte vorstellen. Ebensowenig bleibt sich KANTs Urteil über den Wert der uns versagten Erkenntnis des Übersinnlichen gleich.
Ein Dreifaches (5) also ist zu unterscheiden: 1. die Dinge ansich, die niemals Gegenstand unserer Erkenntnis sein können, weil unsere Anschauungsformen für dieselben nicht gelten; 2. die Erscheinungen, die Dinge für uns, die Natur oder die Gesamtheit dessen, was Gegenstand unserer Erkenntnis entweder ist oder doch werden kann (hierzu gehören die etwaigen Mondbewohner, die alle Körper durchdringende magnetische Materie, die Kräfte der Attraktion und der Repulsion, obwohl die ersten noch nicht beobachtet wurden, die zweite wegen der Grobheit unserer Sinne, die dritten als Kräfte überhaupt nicht wahrnehmbar sind; die Natur umfaßt all das, dessen Dasein "mit unseren Wahrnehmungen in einer möglichen Erfahrung zusammenhängt". (6) 3. unsere Vorstellungen von den Erscheinungen, also das, was von den letzteren tatsächlich in das Bewußtsein des empirischen Individuums gelangt. Im Reich der Dinge-ansich gibt es gar keine Bewegung, sondern höchstens ein intelligibles Korrelat dieses Verhältnisses; in der Erscheinungswelt, der Welt der Physik, bewegt sich die Erde um die Sonne; in der Vorstellungssphäre bewegt sich die Sonne um die Erde. Allerdings wird, wie gesagt, bei KANT der Unterschied der Erscheinung nach Seiten des Noumenon oder nach Seiten der Vorstellung zuweilen ignoriert, wobei dann die Erscheinung entweder sich ganz und gar zur Vorstellung verflüchtigt (7) oder sich in eine von uns unabhängige gegenständliche und eine von uns abhängige Vorstellungshälfte spaltet, von denen jene in das Ding-ansich hineinfällt (8), diese sich in subjektive Zustände des Ich auflöst. Nachdem aufgrund der reinen Anschauungen die Möglichkeit und Rechtmäßigkeit synthetischer Urteile a priori für die reine Mathematik nachgewiesen hat, erhebt sich zweitens das Problem der Möglichkeit apriorischer Synthesen für die reine Naturwissenschaft oder die Frage: gibt es reine Begriffe? Und nachdem sie bejahend beantwortet wurde, die weitere: ist und wie ist die Anwendung derselben 1. auf Erscheinungen, 2. auf Dinge ansich möglich und gerechtfertigt? ![]()
1) Robert Reininger (Kants Lehre vom inneren Sinn, 1900) hat gezeigt, daß allein jene Koordination beider Sinne dem "transzendentalen" Idealismus entspricht, während diese Subordination des äußeren Sinnes unter den inneren, welche den äußeren Sinn zu einer Teilsphäre des inneren macht, einen (unklaren) "empirischen" Idealismus zur Folge hat, und daß auf dem Durcheinander dieser beiden Tendenzen die Widersprüche in Kants Theorie der Erfahrung beruhen. 2) Die gleiche Auffassung vertreten Ludwig Busse in dem Artikel über das Ding-ansich (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 102) und Friedrich Paulsen in seinem Kantbuch, Seite 145f. 3) In der gleichen Richtung bewegen sich die Vermutungen über einen einheitlichen Grund der materiellen und der denkenden Erscheinung und über die gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand. Dort Zweiheit, hier Einheit. 4) "Erscheinung, welche jederzeit zwei Seiten hat, die eine, da das Objekt ansich betrachtet wird (unangesehen die Art, dasselbe anzuschauen, dessen Beschaffenheit aber eben darum jederzeit problematisch bleibt), die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird, welche nicht im Gegenstand ansich, sondern im Subjekt, dem derselbe erscheint, gesucht werden muß, gleichwohl aber der Erscheinung dieses Gegenstandes wirklich und notwendig zukommt." "Dieses Prädikat" - d. h. Räumlichkeit und Ausdehnung - "wird den Dingen nur insofern beigelegt, als sie uns erscheinen." (Kr. d. r. V., Kehrbach, Seite 64, 65). 5) In ähnlicher Weise schiebt Eduard von Hartmann (Grundproblem der Erkenntnistheorie, Seite 114; ders.: "Vom Begriff der Kategorialfunktion", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 115, Seite 15-16) zwischen die subjektiv-ideale Sphäre der Wahrnehmungssubjekte mit ihrem Bewußtseinsinhalt und die metaphysische der Dinge-ansich mit ihren Kräften eine mittlere (physikalische) objektiv-reale Sphäre ein, ein räumliches System thelisch[auf ein Ziel bezogen - wp]-dynamischer Vorgänge (Kraftäußerungen). 6) "Uns ist wirklich nichts gegeben als die Wahrnehmung und der empirische Fortschritt von dieser zu anderen möglichen Wahrnehmungen." "Vor der Wahrnehmung eine Erscheinung ein wirkliches Ding nennen, bedeutet ..., daß wir im Fortgang der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen müssen." (Kehrbach, Seite 403) 7) Die Erscheinungen "sind insgesamt in mir", "existieren nur in unserer Sinnlichkeit als eine Modifikation derselben." "Im Raum ist nichts, als was in ihm wirklich vorgestellt wird." Erscheinungen "sind bloße Vorstellungen, die, wenn sie nicht in uns (in der Wahrnehmung) gegeben sind, überall nirgendwo angetroffen werden". (Kehrbach, Seite 117, 135, 137, 317) 8) Hier verfällt Kant selbst in die von ihm gerügte Verwechslung der physischen und der transzendentalen Bedeutung von Ansich. Er vergißt, daß das Ding, wenn es augenblicklich nicht von mir angeschaut oder vorgestellt wird, also nicht für mich als Individuum unmittelbar gegeben ist, doch für mich als Menschen noch vorhanden, mittelbar gegeben, d. h. bei künftiger Nachforschung auffindbar ist. Was außerhalb meines gegenwärtigen Bewußtseins ist, ist deshalb noch nicht außerhalb allen menschlichen Bewußtseins. Tatsächlich übersieht Kant mehrfach den Unterschied zwischen wirklicher und möglicher Anschauung, so daß ihm die "Gegenstände" der letzteren aus Raum und Zeit hinaus ins Ding-ansich hineinschlüpfen. Dem "transzendentalen Objekt können wir Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben und sagen, daß es vor aller Erfahrung ansich gegeben ist". In ihm "sind die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit gegeben". (Kehrbach, Seite 404) |