Tetens und KantKant-Dissertation | ||||
Brief an Marcus Herz [vom 21. 2. 1772]
Hochedler Herr, werter Freund! PLATO nahm ein geistiges ehemaliges Anschauen der Gottheit zum Urquell der reinen Verstandesbegriffe und Grundsätze an. MALEBRANCHE ein noch dauerndes immerwährendes Urwesen. Verschiedene Moralisten eben dieses in Anbetracht der ersten moralischen Gesetze CRUSIUS, gewisse eingepflanzte Regeln zu urteilen und Begriffe, die Gott schon so, wie sie sein müssen, um mit den Dingen zu harmonieren, in die menschliche Seele pflanzte, von welchen Systemen man die erstere den Influxum hyperphysicum [Einfluß des Übernatürlichen - wp], das letzte aber die Harmoniam praestabilitam intellectualem [voreingerichtete geistige Harmonie - wp] nennen könnte. Allein der Deus ex Machina [Überraschendes Eingreifen einer Gottheit - wp] ist in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unserer Erkenntnisse das Ungereimteste, was man nur wählen kann und hat außer dem betrüglichen Zirkel in der Schlußreihe unserer Erkenntnisse noch das Nachteilige, daß er jeder Grille oder andächtigem oder grüblerischem Hirngespinst Vorschub gibt. Indem ich auf solche Weise die Quellen der intellektualen Erkenntnis suchte, ohne die man die Natur und Grenzen der Metaphysik nicht bestimmen kann, brachte ich diese Wissenschaft in wesentlich unterschiedene Abteilungen und suchte die Transzendentalphilosophie, nämlich alle Begriffe der gänzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von Kategorien zu bringen, aber nicht wie ARISTOTELES, der sie so, wie er sie fand, in seinen zehn Prädikamenten aufs bloße Ungefähr nebeneinander setzte; sondern so, wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von selbst in Klassen einteilen. Ohne mich nun über die ganze Reihe der bis zum letzten Zweck fortgesetzten Untersuchung weitläufig hier zu erklären, kann ich sagen, daß es mir, was das Wesentliche meiner Absicht betrifft, gelungen ist, und ich jetzt imstande bin, eine Kritik der reinen Vernunft, welche die Natur der theoretischen sowohl als auch der praktischen Erkenntnis, sofern sie bloß intellektual ist, enthält, vorzulegen, wovon ich den ersten Teil, der die Quellen der Metaphysik, ihre Methode und Grenzen enthält, zuerst und darauf die reinen Prinzipien der Sittlichkeit ausarbeiten und was den ersteren betrifft, binnen etwas drei Monaten herausgeben werde. In einer Gemütsbeschäftigung von so zärtlicher Art ist nichts hinderlicher, als sich mit Nachdenken, das außerhalb dieses Feldes liegt, stark zu beschäftigen. Das Gemüt muß in den ruhigen oder auch glücklichen Augenblicken jederzeit und ununterbrochen zu irgendeiner zufälligen Bemerkung, die sich darbieten möchte, offen, obgleich nicht immer angestrengt sein. Die Aufmunterung und Zerstreuungen müssen die Kräfte desselben in der Geschmeidigkeit und Beweglichkeit erhalten, wodurch man instand gesetzt wird, den Gegenstand immer auf anderen Seiten zu erblicken, und seinen Gesichtskreis von einer mikroskopischen Beobachtung zu einer allgemeinen Aussicht zu erweitern, damit man alle erdenklichen Standpunkte nimmt, die wechselweise einer das optische Urteil des anderen verifiziert. Keine andere Ursache als diese, mein werter Freund, ist es gewesen, die meine Antworten auf Ihre mir so angenehmen Briefe zurückgehalten hat; denn Ihnen leere zu schreiben, schien von Ihnen nicht verlangt zu werden. Was Ihr mit Geschmack und tiefem Nachsinnen geschriebenes Werkchen betrifft, so hat es in vielen Stücken meine Erwartungen übertroffen. Ich kann mich aber aus schon angeführten Ursachen im Detail darüber nicht auslassen. Allein, mein Freund, die Wirkung, welche Unternehmungen von dieser Art in Anbetracht des Zustandes der Wissenschaften im gelehrten Publikum haben, ist so beschaffen, daß sie, wenn ich über den Plan, den ich zu meinen mir am wichtigsten scheinenden Arbeiten größtenteils fertig vor mir habe, wegen der Unpäßlichkeiten, die ihn vor der Ausführung zu unterbrechen drohen, besorgt zu werden anfange, mich oft dadurch trösten, daß sie ebensowohl vor den öffentlichen Nutzen verloren sein würden, wenn sie herauskämen, als wenn sie auf immer unbekannt blieben. Denn es gehört ein Schriftsteller von mehr Ansehen und Beredsamkeit dazu, um die Leser zu bewegen, daß sie sich bei seiner Schrift mit Nachdenken bemühen. Ich habe ihre Schrift in der Breslauer und nur seit kurzem in der Göttingische Zeitung rezensiert gefunden. Wenn das Publikum den Geist einer Schrift und die Hauptabsicht so beurteilt, so ist alle Bemühung verloren. Der Tadel selbst ist dem Verfasser angenehmer, wenn der Rezensent sich die Mühe genommen hat, das Wesentliche der Bemühung einzusehen, als das Lob bei flüchtiger Beurteilung. Der Göttingische Rezensent hält sich bei einigen Anwendungen des Lehrbegriffs auf, die ansich zufällig sind und in Anbetracht derer ich selbst einiges seitdem geändert habe, indessen, daß die Hauptabsicht dadurch nur noch mehr gewonnen hat. Ein Brief von MENDELSSOHN oder LAMBERT verschlägt mehr, den Verfasser auf die Prüfung seiner Lehren zurückzuführen, als zehn solche Beurteilungen mit leichter Feder. Der wackere Pastor SCHULTZ, der beste philosophische Kopf, den ich in unserer Gegend kenne, hat die Absicht des Lehrbegriffs gut eingesehen; ich wünsche, daß er sich auch mit Ihrem Werkchen beschäftigen möge. In seiner Beurteilung kommen zwei mißverstandene Deutungen des vor ihm liegenden Lehrbegriffs vor. Die erste ist: daß der Raum wohl vielleicht, anstatt die reine Form der sinnlichen Erscheinung zu sein, ein wahres intellektuales Anschauen und also etwas Objektives sein mag. Die klare Antwort ist diese: daß eben darum der Raum für nicht objektiv und also auch nicht intellektual ausgegeben werden kann, weil, wenn wir seine Vorstellung ganz zergliedern, wir darin weder eine Vorstellung der Dinge (als die nur im Raum sein können), noch eine wirkliche Verknüpfung (die ohne Dinge ohnehin nicht stattfinden kann), nämlich keine Wirkungen, keine Verhältnisse als Gründe gedenken, mithin gar keine Vorstellung von einer Sache oder etwas Wirklichem haben, was den Dingen inhäriert, und daß er daher nichts Objektives ist. Der zweite Mißverstand bringt ihn zu einem Einwurf, der mich in einiges Nachdenken gezogen hat, weil es scheint, daß er der wesentlichste ist, den man dem Lehrbegriff machen kann, der auch jedermann sehr natürlich beifallen muß, und den mir Herr LAMBERT gemacht hat. Er heißt so: Veränderungen sind etwas Wirkliches (laut dem Zeugnis des inneren Sinnes), nun sind sie nur unter der Voraussetzung der Zeit möglich; also ist die Zeit etwas Wirkliches, was den Bestimmungen der Dinge ansich anhängt. Warum (sagte ich zu mir selber) schließt man nicht diesem Argument parallel: Körper sind wirklich (laut dem Zeugnis der äußeren Sinne), nun sind Körper nur unter der Bedingung des Raumes möglich, also ist der Raum etwas Objektives und Reales, was den Dingen selber inhäriert. Die Ursache liegt darin, weil man wohl bemerkt, daß man in Anbetracht äußerer Dinge aus der Wirklichkeit der Vorstellungen, auf die der Gegenständen nicht schließen kann, beim inneren Sinn aber ist das Denken oder das Existieren des Gedankens und meiner selbst einerlei. Der Schlüssel zu dieser Schwierigkeit liegt hierin. Es ist kein Zweifel, daß ich nicht meinen eigenen Zustand unter der Form der Zeit gedenken sollte, und daß also die Form der inneren Sinnlichkeit mir nicht die Erscheinung von Veränderung gibt. Daß nun Veränderungen etwas Wirkliches sind, leugne ich ebensowenig, wie daß Körper etwas Wirkliches sind, obgleich ich darunter nur verstehe, daß etwas Wirkliches der Erscheinung korrespondiert. Ich kann nicht einmal sagen: die innere Erscheinung verändert sich, denn wodurch wollte ich diese Veränderung beobachten, wenn sie meinem inneren Sinn nicht erscheint. Wollte man sagen, daß hieraus folgt: alles in der Welt ist objektiv und ansich unveränderlich, so würde ich antworten: sie sind weder veränderlich noch unveränderlich, so wie BAUMGARTEN, Metaphysik, § 18 sagt: das absolut Unmögliche ist weder hypothetisch möglich noch unmöglich, denn es kann gar nicht unter irgendeiner Bedingung betrachtet werden; so auch: die Dinge der Welt sind objektiv oder ansich, weder in einerlei Zustnd in verschiedenen Zeiten, noch in verschiedenem Zustand, denn sie werden in diesem Verstand gar nicht in der Zeit vorgestellt. Doch hiervon genug. Es scheint, man findet kein Gehör mit bloßen negativen Sätzen, man muß an die Stelle dessen, was man niederreißt, aufbauen, oder zumindest, wenn man das Hirngespinst weggeschafft hat, die reine Verstandeseinsicht dogmatisch begreiflich machen und deren Grenzen zeichnen. Damit bin ich nun beschäftigt, und dies ist die Ursache, weswegen ich die Zwischenstunden, die mir meine sehr wandelbare Leibesbeschaffenheit zum Nachdenken erlaubt, oft wider meinen Vorsatz der Beantwortung freundschaftlicher Briefe entziehe, und mich dem Hang meiner Gedanken überlasse. Entsagen Sie dann also in Anbetracht meiner dem Recht der Wiedervergeltung, mich Ihrer Zuschriften darum entbehren zu lassen, weil Sie mich so nachlässig zu antworten finden. Ich mache auf Ihre immerwährende Neigung und Freundschaft gegen mich ebenso Rechnung, wie Sie sich der meinigen jederzeit versichtert halten können. Wollen Sie auch mit kurzen Antworten zufrieden sein, so sollen Sie dieselben künftig nicht vermissen. Zwischen uns muß die Versicherung eines redlichen Anteils, das einer am andern nimmt, die Stelle der Formalitäten ersetzen. Zum Zeichen Ihrer aufrichtigen Versöhnung erwarte ich nächstens Ihr mir sehr angenehmes Schreiben. Füllen Sie es ja mit Nachrichten an, woran Sie, der Sie sich im Sitz der Wissenschaften befinden, keinen Mangel haben werden, und vergeben Sie die Freiheit, womit ich darum ersuche. Grüßen sie Herrn MENDELSSOHN und Herrn LAMBERT, desgleichen Herrn SULZER und machen Sie meine Entschuldigung wegen der ähnlichen Ursache an diese Herren. Seien Sie beständig mein Freund, wie ich der Ihrige. Königsberg, d. 21. Febr. 1772 I. Kant. |