![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | ||||
Kants Kritizismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft [1/2]
V o r w o r t Die vorliegende Schrift ist aus einer Einleitung herausgewachsen, die meiner gleichzeitig erscheinenden Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft vorgedruckt werden sollte. Ich fand keine Form, aus derselben ein Ganzes zu machen, und doch die äußeren Grenzen einer solchen Abhandlung nicht zu überschreiten. Der Tatbestand der Lehre KANTs ist, falls diese Rekonstruktion desselben nicht in wesentlichen Punkten irrt, ein vielfach anderer, als die herrschenden Auffassungen erkennen lassen. Sein Kritizismus steht den gegenwärtig gegebenen Problemen und Lösungsrichtungen der Erkenntnistheorie ferner, als die zustimmende und abweisende Rückkehr zu ihm, die seit der Mitte des vorigen Jahrzehnts bestimmt erkennbar geworden ist, bisher wahrscheinlich gemacht hat. In dem Maße jedoch, als seine Lehre hiernach an sachlichen Beziehungen zu den philosophischen Aufgaben unserer Zeit verliert, gewinnt sie an innerem Zusammenhang und historischer Begreiflichkeit. Ich wage deshalb zu hoffen, daß dasjenige, was meine Auffassung von den anderen neuerdings verfochtenen trennt, besonders durch die intensivere Verwertung bedingt ist, die ich dem reichlich vorhandenen, aber nur selten beachteten Quellenmaterial der Entwicklungsgeschichte KANTs habe angedeihen lassen. - Die Zitate, die lediglich durch Ziffern bezeichnet sind, beziehen sich auf meine Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft. Die römischen und arabischen Ziffern gehen da, wo sie allein stehen, auf die Originalpaginierung des Vorworts und des Textes der zweiten Auflage. Da, wo sie verbunden sind, z. B. als (I, III) oder (II, 100) oder (III, 390), betreffen sie die Originalpaginierung des Vorworts, der transzendentalen Deduktion und der Kritik der rationalen Psychologie in der ersten Auflage, die in meinem Text der zweiten als erste, zweite und dritte Beilage angehängt sind. ![]() E I N L E I T U N G "Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zugrunde liegt. Allein in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich zu Anfang von seiner Wissenschaft gibt, sehr selten seiner Idee; denn diese liegt wie im Keim in der Vernunft, in welchem alle Teile noch sehr eingewickelt und nur der mikroskopischen Beobachtung kennbar verborgen liegen. Um deswillen muß man Wissenschaften, weil sie doch alle aus dem Gesichtspunkt eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht werden, nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigentümlichen Inhalt, die Artikulation (systematische Einheit) und die Grenzen der Wissenschaft nicht bestimmen können." - Kant Die Streitfrage, ob die zweite Auflage der Kr. d. r. V. wirklich als eine "hin und wieder verbesserte" und nicht vielmehr als eine vielfach verschlechterte anzusehen ist, d. h. ob die ursprüngliche Lehre KANTs in derselben unverändert geblieben ist oder jenem Bestand widersprechende Zusätze und Modifikationen erhalten hat, ist ihrer Lösung bisher nur um wenig näher gekommen. Der anfängliche Gegensatz der Auffassungen hat sich nicht viel verringert; Vermittlungsversuche sind nur vereinzelt aufgetreten. Die Behauptung, die zuerst den Streit errecht hat, daß nämlich KANT sein Werk durch die spätere Bearbeitung wider sein besseres Wissen aus feiger persönlicher Rücksichtnahme verunstaltet habe, wird allerdings gegenwärtig nicht mehr mit derselben Schärfe geltend gemacht, wie dies von SCHOPENHAUER und nach ihm von ROSENKRANZ, J. E. ERDMANN, KUNO FISCHER u. a. geschehen war. ROSENKRANZ und J. E. ERDMANN haben sogar, wohl unter dem Einfluß der Arbeiten von RUDOLF von RAUMER und ÜBERWEG, ihre früheren Ansichten gemildert. Dennoch ist das, was gegenwärtig sowohl von dieser Seite über das sachliche Verhältnis der beiden Auflagen als auch über die Motive KANTs ausgesagt wird, immer noch um vieles bestimmter und absprechender, als die ursprünglichen Andeutungen von JACOBI, J. G. FEDER und MICHELET. Die entgegengesetzte Auffassung überdies, welche ursprünglich auch für diejenigen, die sich wie REINHOLD eingehender mti dieser Frage beschäftigt hatten, die allein gültige war, wird gegenwärtig besonders von COHEN, aber auch von ÜBERWEG, ZELLER und RIEHL viel entschiedener vertreten,m als HARTENSTEIN getan hatte. Einen eigenartigen Vermittlungsversuch hat PAULSEN gemacht. Er nimmt an, daß KANT von der schiefen idealistischen Auffassung des Werks durch seine Zeitgenossen in dem Sinne in Mitleidenschaft gezogen wurde, daß er 1786 gelegentlich sein Werk geradezu verleugnet, und in der zweiten Auflage den Schwerpunkt des Systems von der rationalistischen Seite nach der idealistischen herüberrückt. Ursprünglich hat es sich für ihn nur um die Herstellung des Rationalismus gegen den Empirismus gehandelt; durch jene Verrückung in der zweiten Auflage soll sich deshalb Verwirrung über die ganze Kritik verbreitet haben. - Einen anderen Vermittlungsversuch hat THIELE vom Begriff der intellektuellen Anschauung aus durchgeführt. Die Problemstellung, welche einer eingehenderen Untersuchung der Frage zugrunde zu legen ist, ergibt sich aus dem Urteil, das KANT selbst über das Verhältnis der beiden Auflagen in der Vorrede zu der späteren (Seite XXXVIIf) ausgesprochen hat. Demzufolge liegen die Motive seiner "hin und wieder" vorgenommenen Veränderungen ausschließlich in dem Wunsch,
Beachtet man nun die Sicherheit, mit der KANT von der Unverändertheit und Unveränderlichkeit seines Systems überzeugt war (Seite XXXVII), und setzt man voraus, was nach den späteren Ausführungen keines besonderen Beweises bedarf und nie hätte bezweifelt werden sollen, daß nämlich KANT durch jene Erklärung über das Verhältnis beider Auflagen nicht hat täuschen wollen, so können die Folgerungen aus dieser Erklärung in die folgenden beiden Sätze zusammengezogen werden:
2) die Motive zu allen diesen Verbesserungen lagen in seinem Wunsch, die Schwierigkeiten, die man in der ersten Auflage gefunden hatte, und die Mißdeutungen, die aus denselben entsprungen waren, aufzuheben. Es ist deshalb nicht überflüssig, die Notwendigkeit dieses Erklärungsgrundes noch eingehender darzulegen. Mehrfach verwertet worden ist eine Bemerkung BOROWSKIs, des ersten Biographen KANTs, es sei "ganz zuverlässig, daß KANT außer den Erläuterungen, die sein gelehrter Kollege, der Hofprediger SCHULTZ, mit aller Beifall herausgab, die wenigsten seiner Erklärer ... ebensowenig die Schriften seiner Gegner gelesen oder auch nur beachtet" hat. Jedoch diese Behauptung ist, was die Zeit von 1781-1787 betrifft, direkt falsch, und hinsichtlich der Zeit nach 1787 vielfach ungenau. Denn die so bestimmten Erklärungen KANTs über die Beziehung seiner Verbesserungen zu den ihm bekannt gewordenen sachkundigen Interpretationen sind nicht bloß, wie man angenommen zu haben scheint, jene Entschuldigungen, hinter denen man wohl offenbar gewordene Mängel einer früheren Darstellung verbirgt; wir haben es in ihnen vielmehr mit fest umgrenzten Rückwirkungen zu tun. Es geht dies daraus hervor, daß die Versicherung KANTs (Seite XLI), jene unparteiischen Prüfer würden die Rücksicht, die er auch ihre Erinnerungen genommen habe, auch ohne daß er sie mit dem ihnen gebührenden Lob nenne, schon von selbst an ihren Stellen antreffen, durchaus dem Sachverhalt entspricht. Eine fast überflüssige Bestätigung ist es deshalb, die dieser Auffassung durch einen bisher verschollenen Brief KANTs an seinen Schüler, Professor BERING in Marburg, zuteil wird, den er zur Zeit des Beginns der Neubearbeitung seiner Kritik im April 1786 geschrieben hat. (1) In demselben heißt es:
Von allen diesen Gründen für die spätere Selbstabschließung war jedoch in der Zeit, von der wir handeln, noch keiner wirksam. Denn daß KANT gelegentlich seinem Kollegen und Freund KRAUS gesteht, er könne sich den Text SPINOZAs so wenig wie JACOBIs Auslegung desselben verständlich machen (7), bestätigt nur die ohnehin feststehende Tatsache, daß er sich in seine Gedanken viel fester eingelebt hatte, als er selbst sich jemals eingestehen konnte. Unsere erste Aufgabe muß es demnach sein, den Charakter der Zeit zu bestimmen, in der die Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht wurde. Die deutsche Philosophie hat wenig Ursache auf diese Zeit stolz zu sein. Die Signatur derselben bildete jener Eklektizismus [aus verschiedenen philosophischen Systemen wird das Passende ausgewählt - wp], der teils durch die allmähliche Zerbröckelung der Schule WOLFFs, teils durch Eindringen der empiristischen und materialistischen Doktrinen der englischen und französischen Philosophie bedingt war. Diese Zersetzung hatte begonnen mit der Ausbreitung jener Schule seit der Mitte der zwanziger Jahre. Die Übertragung der metaphysischen Theoreme in die Doktrinen der Einzelwissenschaften führte hier wie stets zu einer unmerklichen aber stetig wachsenden Variation derselben, anfangs bloß durch Zurückhaltung der allgemeineren Zusammenhänge, welche für die Erforschung des Besonderen stets nur wenig ergiebig sind, bald auch durch eine direkte inhaltliche Veränderung jener Theoreme selbst, zu welcher die fortschreitende Analyse der Tatsachen unausbleiblich führt. Zugleich waren besondere Ursachen wirksam, diese notwendige Anpassung zu beschleunigen und zu vergrößern. Die Abschleifung des spekulativeren Gehaltes von LEIBNIZ' Metaphysik übernahm der Pietismus, dessen Gefühlsmetaphysik durch die Lehre von der prästablierten [vorgefertigten - wp] Harmonie und die damit gesetzte Aufhebung der absoluten Freiheit empfindlich beleidigt war. (8) Jene inhaltliche Differenzierung ging aus von denjenigen Problemen der wolffischen Formulierung, die der philosophischen Reflexion die offenbarsten Mängel darboten. Diese aber lagen in der Doktrin, welche bei WOLFF am wenigsten zu einem selbständigen Dasein gekommen war, in der Erkenntnistheorie. WOLFFs Versuch, den Satz des zureichenden Grundes aus dem Satz des Widerspruchs abzuleiten, beweist nicht sowohl einen ungeschickten Formalismus, als vielmehr ein grobes Mißkennen des spezifischen Gegensatzes zwischen dem Empirismus und Rationalismus der Erkenntnistheorie, der eine solche oberflächliche Hineinnahme des ersteren in den letzteren unmöglich macht. Daher kommt es, daß der philosophisch bedeutsamste Gegner WOLFFs seinen Angriff gegen diese Formulierung und Ableitung des Satzes vom zureichenden Grunde richtet. Darin liegt zugleich der Grund für die geschichtliche Wirksamkeit der Metaphysik von CRUSIUS, deren religiöse Interessen übrigens zugleich auf den Pietismus zurückweisen. Jedoch die leibniz-wolffische Philosophie bot der Zeit des Neuen und Haltbaren zu viel, als daß diese allgemeine Zersetzung zugleich eine tiefgehende hätte werden können. Alle diese ersten Gegner derselben waren von den Gedanken, die sie bekämpften, viel zu sehr abhängig. Überdies war durch WOLFFs erkenntnistheoretische Vermischung der innere Gegensatz der leibnizischen Philosophie gegen die langsam eindringenden Einflüsse des englischen Empirismus wie des französischen Sensualismus und Materialismus so verdeckt, daß eine oberflächliche, eklektische Anpassung beider aneinander die notwendige Folge war. Aufgrund dieser Verschmelzung aber erlitt jener für sich schon wenig bestimmte Ausgangspunkt allmählich noch eine doppelte Verschiebung, einerseits zu Ungunsten der Metaphysik, andererseits zugunsten der Psychologie. Die metaphysischen Spekulationen, die schon durch den Anprall des Pietismus in den Hintergrund gedrängt waren und durch die fortdauernder Ausbreitung der Schule noch mehr an Gehalt und Einfluß verloren, traten unter dem Einfluß von LOCKEs Abneigung gegen die Metaphysik noch mehr zurück. Nur die religiösen Probleme, von denen der Anstoß zur Fortbildung ausgegangen war, und die durch LOCKEs überraschend inkonsequente Fassung der natürlichen Theologie als einer demonstrativen Wissenschaft an Ansehen gewannen, bildeten eine Ausnahme. In eben dem Grad aber, als jene Fragen zur Seite traten, erhielten die psychologischen Fragen, die durch WOLFFs unklare Vermischung herbeigezogen waren und durch LOCKEs psychologische Behandlung der Erkenntnistheorie andauernd fortwirkten, allgemeines Interesse und treibende Kraft. Dadurch ist es zugleich bedingt, daß BERKELEY und HUME in dieser Zeit neben LOCKE durch ihre theoretischen Lehren nur ganz vereinzelt und wenig intensiv, überdies ausschließlich polemisch wirksam wurden. Ihre Wege entfernten sich eben nicht weniger und weit und in derselben Richtung von der großen Heerstraße, wie die KANTs. Diese Eigentümlichkeiten des herrschenden Eklektizismus, das Zurücktreten der Metaphysik, in derm man noch ganz nach dem Schema von LEIBNIZ und WOLFF denkt, sowie die psychologische Abschwächung der erkenntnistheoretischen Probleme, welche die letzteren nicht selten ganz verschwinden läßt, sind jedoch nicht die einzigen, die in Betracht kommen. Ihnen koordiniert ist eine dritte, die von der Geschichte der Philosophie bisher fast ausschließlich gewürdigt worden ist, die anthropologisch-moralische Zwecksetzung der Philosophie als Glückseligkeitslehre. Man treibt Philosophie nicht um Wahrheit zu finden, sondern um die Glückseligkeit zu befördern. Die notwendige Folge aller wissenschaftlichen Arbeit wird zum speziellen Zweck der philosophischen Wissenschaft. Die Philosophie tritt in den Dienst der Aufklärung, ja sie wird das eigentliche Medium derselben. Die allgemeinste Ursache dieser eigenartigen Erscheinung lag in der Tendenz, die der wolffischen verflachenden Systematisierung der leibnizischen Gedanken ursprünglich schon innegewohnt und ihre beispiellose Verbreitung bis in die einzelnen Berufskreise hinein hervorgerufen hatte. Dieselbe nämlich gab den weitesten Kreisen der gebildeten Gesellschaft, was dieser seit der Reformation gefehlt hatte, wozu das Bedürfnis jedoch immer reger geworden war, den Unterbau einer unbestimmt verallgemeinerten metaphysischen Weltauffassung, wie eine solche jedem Einzelnen unerläßlich ist. Damit aber ist nicht nur der Grund der Verflachung dieses ganzen Eklektizismus zur Popularphilosophie gegeben, auch die anthropologisch-moralische Richtung desselben ist dadurch vorgezeichnet. Denn diese allein bietet das Mittel, allgemeine Theoreme weiten Kreisen verständlich zu machen. Die Menge bedarf sogar einer solchen praktischen Handhabe, um sich für diese Fragen überhaupt nur interessieren zu lassen. Die ganze Bewegung aber wurde verstärkt durch die Einflüsse der englischen und französischen Philosophie. Denn auch diese waren auf dem gleichen Weg mit der deutschen Spekulation, den das Jahrhundert der Aufklärung forderte. Der moralische Empirismus der Nachfolger LOCKEs wurde ein Vorbild, das gern, wenn auch nur selten mit Geschick nachgeahmt wurde. Die anthropoligische Richtung des Sensualismus und Materialismus endlich, die sich mit der metaphysischen Nivellierung der Individualität in diesen Systemen immer gut vertragen hat, wurde trotz aller Feindschaft der deutschen Philosophen gegen den letzteren stillschweigend anerkannt, weil sie mit den allgemeinen Interessen zusammentraf. Damit aber ist sowohl der einseitig praktische Zweck, wie auch die Bestimmung desselben als Glückseligkeit gegeben. Diese Zeit ist deshalb oft verkannt worden, teils weil es ihr an imponierenden Persönlichkeiten, an fruchtbaren, tiefgehenden Anregungen fehlt, teils auch weil dasjenige, was sie geleistet hat, die Vermittlung einer allgemeinen philosophischen Bildung in die große Masse der Zeitgenossen, uns gegenwärtig noch zu nahe liegt. Wir müßten weiter über sie hinausgelangt sein, um sie leicht würdigen zu können. Jedoch, was die Schriftsteller dieser Zeit uns geben - ich rede vom Durchschnitt ihrer Philosophen und vom Durchschnitt unseres jetzigen allgemeinen Wissens - erscheint uns im Ganzen weniger falsch und töricht, als selbstverständlich und langweilig. Es ist klar, daß eine solche Zeit keine abgeschlossenen philosophischen Schulen aufzuweisen vermag. Es gab noch solche, die sich Anhänger WOLFFs nannten und sich als Glieder seiner Schule fühlten, wie EBERHARD in Halle, FLATT in Tübingen; aber auch diese zeigen nicht bloß in ihren theologischen, sondern selbst in ihren philosophischen Arbeiten die Merkmale des Eklektizismus der Zeit. Nicht anders stand es um die einst zahlreiche und angesehene Schule von CRUSIUS. Nur war ihr direkter Einfluß geringer. Sie hatte keinen nennenswerten Anhänger mehr, obgleich sie besonders unter den philosophisch interessierten Theologen an Universität und Kirche manchen versteckten, auch einzelne offene Jünger besaß. Jene Gefühlsphilosophie endlich, wie sie besonders von HAMANN, HERDER und JACOBI ausgebildet wurde, war damals noch kein Faktor des allgemeinen geistigen Lebens; sie wurde es erst im Gegensatz zu KANT. Die Herrschaft über die Geister hatte daher überall jener oben charakterisierte Eklektizismus erworben. Auch dieser aber bildete nichts weniger als eine selbständige Schule. Innerhalb jenes weiten gemeinsamen Rahmens schwankte der Standpunkt der einzelnen zwischen den buntesten Verschmelzungen, die der Gegensatz zwischen LEIBNIZ, LOCKE, seinen Fortbildnern in England (abgesehen von BERKELEY und HUME) und den französischen Philosophen nur irgendwie zuließ. Nur zwei Parteien lassen sich bestimmter unterscheiden; auch diese aber nicht sowohl durch einen Gegensatz ihrer Ansichten, als vielmehr durch die Wahl ihrer Untersuchungsobjekte und durch die Darstellungsart, also gleichsam durch die Tendenz ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Es sind dies einerseits die Popularphilosophen im engeren Sinn, jene Philosophen "für die Welt", wie sie J. E. ERDMANN treffend genannt hat, die, wie GARVE, ENGEL, MENDELSSOHN ohne bestimmte Lehrtätigkeit der Aufgabe der Aufklärung obliegen, und deshalb in ihren Arbeiten fast ausschließlich durch die literarischen Bedürfnisse des großen Publikums bestimmt werden. Ihnen zur Seite steht der Eklektizismus der akademischen und Universitätsphilosophie. In einer Unzahl von Kompendien über alle möglichen Gegenstände der Philosophie und manche andere Gebiete äußert sich hier die Produktivität. Die Darstellungsformen der alten Schule sind geblieben, aber der Inhalt des Denkens reicht nicht mehr aus, sie zu füllen. Es sind Gerippe in prunkenden Gewändern. Nur wenige sind, die weit über das Niveau der Übrigen hervorragen: unter den Popularphilosophen MENDELSSOHN, unter den akademischen Eklektikern TETENS. Ihnen am nächsten kommen hier GARVE, dort PLATNER. Unter den anderen sind selbst diejenigen, die ihrer Zeit nicht wenig galten, wie FEDER und MEINERS, heute mit Recht vergessen. Für eine solche Zeit mußte die Kritik der reinen Vernunft zunächst ein vollkommen inkommensurables [unvergleichbares - wp] Buch sein. Keine der Voraussetzungen, mit denen man an die Lektüre philosophischer Schriften zu gehen gewohnt war, zeigte sich in derselben erfüllt. Psychologische oder anthropologische Erörterungen enthielt das Werk nirgends, obgleich mittelbar nicht wenige psychische Zusammenhänge durch dasselbe beleuchtet wurden. Der Rest von Metaphysik, den man besonders in theologischen Fragen sowie als selbstverständliche, unbezweifelte Grundlage der Spekulation beibehalten hatte, wurde mit schneidigen Waffen angegriffen. Trotzdem erhielt die Metaphysik in neuer Form eine ungleich hervorragendere Stellung, als man ihr einzuräumen pflegte. Die übliche praktische Zwecksetzung der Philosophie wurde ferner mit allem Nachdruck, wenn auch nur indirekt abgewiesen. An die Stelle der moralischen Glückseligkeitstheorie traten kurze, dunkle Andeutungen einer Ethik, die gegenüber dem sonstigen Inhalt des Werkes ebenso seltsam erschienen, wie jenes selbst gegenüber der herrschenden Spekulation. Dazu kam, daß die Rücksichtnahme auf die Interessen und die Vorstellungskreise des größeren Publikums, die man sorgfältig bisher in Rechnung gezogen hatte, hier vollständig fehlte. Es wurden sogar sowohl hinsichtlich der Auffassung des Einzelnen als auch hinsichtlich der Zusammenhaltung des Ganzen Ansprüche an die Leser erhoben, wie sie der Schulphilosophie seit DESCARTES und LEIBNIZ nicht mehr geboten waren. Es fehlte jedoch nicht bloß das Meiste von dem, was man gewohnt war zu finden; man fand auch manches, was man sehr ungewohnt war zu suchen. Die Untersuchung war ihrer Absicht nach rein erkenntnistheoretischer Natur. Ihr allgemeines Problem bildete jene Voraussetzung aller Erkenntnis, deren Sinn zu bestimmen man seit WOLFF nicht für nötig gehalten hatte, die Möglichkeit nämlich der Erfahrung selbst, sofern dieselbe durch die apriorischen Formen unseres Geistes bedingt ist. Ein umfassender, vielseitig verbundener und deshalb vieldeutiger Gedankenapparat aber war in Bewegung gesetzt, damit ein Ergebnis gewonnen wird, das man für selbstverständlich hielt, weil man niemals versucht hatte, es näher zu umgrenzen, daß nämlich ein die Erfahrung überschreitendes Wissen unmöglich ist. Es ist notwendig, dies näher zu begründen, so weit meine beschränkte Aufgabe es gestattet. ![]()
1) Der Brief ist abgedruckt im "Neuen Nekrolog für Deutsche" III, 1827, Art. XXXVIII. 2) Kants Werke, hg. von Hartenstein, 1869, Bd. VIII, Seite 735. 3) a. a. O, Seite 714 4) a. a. O, Seite 742f. Man vgl. Bd. IV, Seite 459f; Bd. V, Seite 8 und ähnliche. 5) a. a. O, Seite 739 6) a. a. O, Seite 741 7) Nach dem Brief von Hamann an Jacobi vom 28. September 1785 (Jacobis Werke, Bd. IV, Seite 82). 8) Näheres hierüber findet sich in meiner Schrift über "Martin Knutzen und seine Zeit", Leipzig 1876, Kapitel I, III, IV. |