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GUSTAV RADBRUCH
Über den Begriff der Kultur

"Die Einheit, welche der philosophische Kulturbegriff stiftet, vollzieht sich nicht im Reich der Werte - andererseits aber auch nicht in der Sphäre der Wirklichkeit, sondern auf dem Gebiet der künstlichen Konstruktion einer vorbildlichen Wirklichkeit. Der philosophische Kulturbegriff gehört derselben Region an wie etwa der Begriff des "Bewußtseins überhaupt", des Staatsvertrags oder des richtigen Rechts; er bezeichnet nicht eine Tatsache, auch nicht eine Idee, sondern ein Ideal."

"Der Charakter der Werte selbst liefert also keinen Anhaltspunkt für die Entscheidung der Frage, ob als ihr Substrat die Kulturpersönlichkeit oder das Kulturwerk zu denken sei, ja, er scheint sogar die Entscheidung im einen wie im anderen Sinn zu verbieten, da jedenfalls die Kulturpersönlichkeit ungeeignet ist dem Wahrheitswert, das Kulturwerk unfähig ist, dem Sittlichkeitswert zum Substrat zu dienen. Ist als Substrat der Kultur der Kulturmensch zu denken, so sind die Werke der Kunst und der Wissenschaft nur Kulturmittel, nur Nahrung für den Geist, nur das Reservoir, aus dem die individuelle Bildung, die Pflege des Geistes gespeist wird, Kulturzweck aber nur die ethische oder ästhetische Persönlichkeit. Ist dagegen Kultursubstrat das Kulturwerk, so ist in den Werken der Kunst und der Wissenschaft der Kulturzweck bereits erreicht und die ethische oder ästhetische Persönlichkeit wertvoll nur, insoweit sie als dienendes Glied zu dieser Welt der Wertobjektivationen beiträgt."

Dem Begriff der Kultur scheint im philosophischen System der kommenden Tage eine zentrale Stellung bestimmt zu sein. Innerhalb der verschiedensten Richtungen und der verschiedensten Gebiet der Philosophie taucht er auf: die historische Methodenlehre, die Ethik, die Rechtsphilosophie wollen sich an ihm orientieren; man hat geradezu der gesamten Philosophie die Kultur ihres Zeitalters zum Gegenstand ihrer Arbeit gegeben. Hinter so verbreiteter und bedeutsamer Anwendung des Kulturbegriffs ist aber seine Klärung, die Auseinanderstellung der verschiedenen Begriffe, die sich unter dem einheitlichen Namen der Kultur zuweilen unversehens durchkreuzen, auffällig zurückgeblieben. (1) Man wird deren drei unterscheiden müssen: den historischen, den geschichtsphilosophischen und den ethischen Kulturbegriff.

Die Entwicklung der Kulturbegriffe nahm ihren Ausgang vom historischen Kulturbegriff. Er verhält sich zu den philosophischen Kulturbegriffen, wie sich Kulturtatsachen zu Kulturwerten verhalten. Die Kultur eines Volkes oder einer Zeit, wie sie das Objekt der Kulturgeschichte und überhaupt der Geschichte bildet, umfaßt nicht nur die Tugenden, die Einsichten, den Geschmack dieses Volkes und dieses Zeitalters, sondern auch seine Laster, Irrtümer, Geschmacklosigkeiten, seine kulturfeindlichen und kulturhemmenden wie seine kulturfördernden Mächte; auch die Überkultur, die Unkultur, ja sogar die Kulturlosigkeit eines Naturvolks sind Kulturtatsachen. Kulturtatsache ist alles, was zu den Kulturwerten in irgendeiner, gleichviel ob freundlichen oder feindlichen, Beziehung steht. Die Kulturtatsachen weisen also zurück auf die Kulturwerte.

Aber das proteron te physei [das Ansich-Erste; wp] ist auch hier das hysteron pros hemas [das Spätere vor dem Früheren - wp]. Eben weil die Kulturtatsachen die Kulturwerte voraussetzen, können umgekehrt die Kulturwerte aus den Kulturtatsachen erschlossen werden; eben weil der Geschichte der Kultur eine Philosophie der Werte zugrunde liegt, kann die Geschichte ihrerseits zum Organon der Philosophie werden; und wenn die Philosophie unserer Tage die drei Werte, auf die sich alle Bewertung zurückführen läßt: Sittlichkeit, Wahrheit und Schönheit, als Kulturwerte zu bezeichnen liebt, so will sie damit zunächst nur an die geschichtliche Kultur als den Ausgangspunkt ihrer Auffindung programmatisch erinnern.

Sie scheint jedoch für den Begriff der Kultur, nicht nur in der Methode, sondern auch im System der Philosophie einen Platz zu beanspruchen. Die Bezeichnung der Werte als Kulturwerte will offenbar nicht nur zurückweisen auf das Seinsgebilde, durch dessen Analyse die Dreiheit der Werte gewonnen wurde, auf die Kultur im historischen Sinne, sondern auch hinweisen auf ein Wertgebilde, zu dem sich diese Dreiheit wieder zusammenfindet. Daß die Wertverwirklichungen zwar unterscheidbar, aber ungeschieden in der Kultur als Tatsache, der Kultur im historischen Sinne zusammenliegen, deutet darauf hin, daß sich auch die Werte entsprechend zusammenschließen verlangen: in der Kultur als einem Gesamtwert der Werte umfassenden Ideale, der Kultur im philosophischen Sinne. Und auch die Struktur des philosophischen Kulturbegriffs wird aus der Analogie des historischen Kulturbegriffs erschlossen werden können.

Eine Mehrheit von Wertverwirklichungen wird unter dem Namen der Kultur im historischen Sinne nur dann zusammengefaßt, wenn sie sich an demselben Substrat vollzieht, sei dies nun ein persönliches: der Kulturmensch, oder ein unpersönliches: ein nach der Nationalität oder dem Zeitalter seiner Produzenten abgegrenzter Komplex von Kulturwerken, die Kulturleistung eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Zeit oder, wie man statt dessen ungenau zu sagen pflegt: die Kulturnation oder das Kulturzeitalter selbst - auch auf dem Boden der ersten, personalistischen, Kulturauffassung redet man freilich von der Kultur einer Nation, aber dann meint man damit nicht die Kultursumme des sozialen Ganzen, sondern die Durchschnittskultur seiner Glieder; die Frage nach dem kulturellen Nationalreichtum geht für die personalistische Kulturauffassung auf die Kapitalverteilung, für die transpersonalistische nur auf die Kapitalmenge.

Daß also die Einheit der Kultur zunäscht eine Einheit ihres Substrates ist, dürfte nun, wie für die Kultur im historischen, so auch für die Kultur im philosophischen Sinne gelten. Ist Kultur im historischen Sinne der wirkliche Wertgehalt der historischen Kultursubjekte, so ist Kultur im philosophischen Sinne der vorbildliche Wertgehalt eines idealen Kultursubjekts, mag man dieses nun abstrakt als den Übermenschen, den Helden, das Genie, den Heiligen bezeichnen, oder im Interesse lebendigeren Fülle mit den konkreten Zügen eines historischen Kultursubjekts ausstatten: "Rembrandt als Erzieher", wahres Deutschtum. Im philosophischen Kulturbegriff wird also die Dreiheit der Werte zur Einheit gebracht, indem sie als an demselben idealen Substrat verwirklicht gedacht wird. Sie wird an einem gemeinsamen Substrat, nicht zu einem allumfassenden Wert zusammengebracht - der Abschluß des Wertsystems nach oben durch einen solchen allumfassenden Wert muß der Religionsphilosophie oder Metaphysik überlassen bleiben. Die Einheit, welche der philosophische Kulturbegriff zwischen der Dreiheit der Werte stiftet, vollzieht sich nicht im Reich der Werte - andererseits aber auch nicht in der Sphäre der Wirklichkeit, sondern auf dem Gebiet der künstlichen Konstruktion einer vorbildlichen Wirklichkeit. Der philosophische Kulturbegriff gehört derselben Region an wie etwa der Begriff des "Bewußtseins überhaupt", des Staatsvertrags oder des richtigen Rechts; er bezeichnet nicht eine Tatsache, auch nicht eine Idee, sondern ein Ideal.

Für die Konstruktion eines die Dreiheit der Werte ansich vereinigenden idealen Substrats entsteht nun aber eine Schwierigkeit. Die Werte sind nämlich zum Teil darauf angelegt in menschlichen Persönlichkeiten in Erfüllung zu gehen, zum Teil darauf zugeschnitten in sächlichen Leistungen niedergelegt zu werden; sie sind zum Teil im Leben personifizierbar, zum Teil in Werken objektivierbar. Nur objektivierbar ist der Wahrheitswert: in den Werken der Wissenschaft; nur personifizierbar der Sittlichkeitswert: im "guten Willen"; der Schönheitswert ist sowohl objektivierbar: im Kunstwerk, wie personifizierbar: in der "schönen Seele"; während endlich beim religiösen Wert der Streit der Konfessionen darum geht, ob er in "des Gesetzes Werken" objektivierbar oder "allein durch den Glauben" personifizierbar sei. Der Charakter der Werte selbst liefert also keinen Anhaltspunkt für die Entscheidung der Frage, ob als ihr Substrat die Kulturpersönlichkeit oder das Kulturwerk zu denken sei, ja, er scheint sogar die Entscheidung im einen wie im anderen Sinn zu verbieten, da jedenfalls die Kulturpersönlichkeit ungeeignet ist dem Wahrheitswert, das Kulturwerk unfähig ist, dem Sittlichkeitswert zum Substrat zu dienen.

Aber wenn danach auch nicht alle Werte als an demselben Substrat verwirklicht gedacht werden können, so können sie doch alle auf dasselbe Substrat bezogen werden: die Werte, zu deren Aufnahme ein Substrat unfähig ist, können zu denjenigen, deren Verwirklichung in ihm denkbar ist, in das Verhältnis von Kulturmitteln zu Kulturzwecken und dadurch in eine mittelbare Beziehung auch zum Substrat selbst gebracht werden. Ist als Substrat der Kultur der Kulturmensch zu denken, so sind die Werke der Kunst und der Wissenschaft nur Kulturmittel, nur nutrimentum spiritus [Nahrung für den Geist - wp], nur das Reservoir, aus dem die individuelle Bildung, die cultura animi [Pflege des Geistes - wp] gespeist wird, Kulturzweck aber nur die ethische oder ästhetische Persönlichkeit. Ist dagegen Kultursubstrat das Kulturwerk, so ist in den Werken der Kunst und der Wissenschaft der Kulturzweck bereits erreicht und die ethische oder ästhetische Persönlichkeit wertvoll nur, insoweit sie als dienendes Glied zu dieser Welt der Wertobjektivationen beiträgt. Desgleichen kann die Rechtsordnung, als welche sich nicht an der einzelnen Person, sondern am sozialen Ganzen verwirklicht, nur Kulturmittel sein, wenn die Persölichkeit, Kulturzweck nur sein, wenn das Kulturwerk das Kultursubstrat bildet. (2) Dort erfüllt sich der Kulturzweck erst in der subjektiven, hier schon in der objektiven Kultur. Dort ist der Kulturzweck erst erreicht, wenn jedes Individuum monadengleich die kulturelle Leistung des sozialen Ganzen abspiegelt, hier schon in diesen kulturellen Leistungen selbst, mögen sie sich auch über die zahlreichen Glieder des sozialen Ganzen verteilen. Dort ist Wertpersonifizierung, hier Wertobjektivierung, hier ist das, was einer leistet, dort das, was er ist, der Sinn des Lebens.

Aber hier ist nicht diesen Alternativen Kulturauffassung nachzugehen. Hier interessiert nur, daß in jedem der beiden Fälle die Einstellung der Werte in das System der Kultur, ihre Radizierung also auf ein einheitliches Substrat, ein gegliedertes "Reich", eine Hierarchie, eine Rangordnung der Werte voraussetzt, mag man nun die personifizierbaren Werte in den Dienst der objektivierbaren oder diese in den Dienst jener gestellt glauben. Es liegt nun aber im Wesen jener drei "letzten" Werte, daß sie alle in gleicher Weise unbedingt gelten wollen, und da jeder von ihnen seine Normen an ein anderes Vermögen der Vernunft richtet, kann der Anspruch jedes von ihnen auf den höchsten Rang, von jedem in einem anderen Gebiet erhoben, zu einem Rangstreit nicht führen. Da also die Rangordnung der Werte ihrem Inhalt nicht zu entnehmen ist, muß die Instanz, die ihnen ihren Rang anweist, in einer anderen, etwa religionsphilosophischen oder metaphysischen, Sphäre ihren Sitz haben. Die Zusammenfassung oder Dreiheit der Werte nach unten im Kulturbegriff ist also erst möglich nach vorgängigem Abschluß des Wertsystems nach oben durch eine Metaphysik. Der philosophische Kulturbegriff selbst aber hat nicht in der Metaphysik seine Stelle, er will die Dreiheit der Werte zusammenfassen, nicht zu einem transzendenten Reich der Werte, sondern zu einem Ideal und Vorbild menschlicher Wertverwirklichung. Ein solches Ideal und Vorbild hat aber notwendig eine doppelte Funktion: es wird für den theoretischen Betrachter zum Sinn des Lebens und dient so der historischen Begriffsbildung zur Orientierung; es wirf für den praktisch Wirkenden zum Ziel des Handelns und dient so der Ethihk zur Orientierung. Geschichtsphilosophie und Ethik also sind die Heimstätten der philosophischen Kulturbegriffe. Bevor nun der ethische gegenüber dem geschichtsphilosophischen Kulturbegriff abgegrenzt wird, ist noch ein gemeinsames Merkmal beider philosophischer Kulturbegriffe in Betrachtung zu nehmen.

In jeglichem Kulturbegriff denken wir uns ein Mehrerlei von Werten in einer gewissen Einheitlichkeit der Verwirklichung.  Eine  solche Einheitlichkeit hat sich als allen drei Kulturbegriffen gemeinsam bereits herausgestellt: überall dachten wir und im Begriff Kultur die Werte der drei Wertgattungen als an einem einheitlichen Substrat verwirklicht oder zu verwirklichen, mochte dieses nun das Kulturwerk oder die Kulturpersönlichkeit sei. Aber die Einheitlichkeit, die wir im Kulturbegriff postulieren, erschöpft sich offenbar nicht in dieser Einheit des Kultursubstrats. Wenn wir etwa in schmerzlichem Vergleich mit dem Zeitalter der Renaissance oder des deutschen Idealismus beklagen, daß wir keine Kultur haben, so meinen wir damit vielmehr, daß die Kultur der Einzelnen und der Nation einer alle Wertgebiete durchdringenden Einheitlichkeit des Stiles heute entbehre.

Der Aufnahme dieser Einheitlichkeit, dieser nationalen oder personalen Sonderbestimmtheit in den philosophischen Kulturbegriff scheint sich aber zunächst der Gedanke zu widersetzen, daß mit dem Wert der persönlichen oder nationalen Eigenart unverträglich sei. Es erscheint undenkbar, wie etwa eine wissenschaftliche Einsicht wahr und zugleich national eigentümlich sein solle. Aber jene Forderung gilt gar nicht dem Inhalt der Werte, sondern der Auswahl der Wertverwirklichungen. Unfähig die Totalität der Werte in sich aufzunehmen, soll das Kultursubjekt denen nachgehen, die sich mit dem bereits in ihm vorhandenen Bestand von Wertverwirklichungen zu einem harmonischen System zu verbinden geeignet sind. Wenn ein Mensch oder ein Volk die Totalität der Werte in sich vereinigen könnte, dann freilich wäre für die vereinheitlichende Verpersönlichung des individuellen Wertbestandes kein Raum, dann wäre schon mit der makroskosmischen Harmonie der Werte die mikrokosmische Harmonie der Persönlichkeit gegeben, in der sie sich verwirklichen. Jene Unvollkommenheit des Menschen dagegen bewirkt, daß in der philosophischen Werttheorie neben das transpersonale System der Werte noch das personale System ihrer vorbildlichen Verwirklichungen, der Kulturideal der Nationen und der Einzelnen treten kann. Aus welcher Region der im Kulturideal mitgedachte Wert der Eigenart und Harmonie der Wertverwirklichungen entspringen mag, diese Frage soll hier freilich nur gestellt, nicht beantwortet werden. Bestimmt für das Zusammen ethischer, logischer, ästhetischer noch logischer noch ästhetischer Natur sein. Vielleicht, daß die selbsteigene Harmonie des Reiches der Werte gegenüber dem Kultursubjekt, das dieses Reich nur im Auszug und in einem verkleinerten Maßstab darzustellen bestimmt ist, zur Forderung wird.

Aber es erhebt sich eine neue Schwierigkeit. Wie dem philosophischen, so innewoht nämlich auch dem historischen Kulturbegriff ist aber eine Kategorie des historischen Erkennens: ein Kultursubjekt historisch erkennen heißt nichts anderes als: seinen Wertgehalt in seiner Einheitlichkeit erfassen. Wenn also jedem Kultursubjekt die Einheitlichkeit seines Wertgehalts mit apriorischer Notwendigkeit zuzusprechen ist, so erscheint es sinnlos, daß sie im philosophischen Kulturbegriff noch außerdem gefordert wird. Es ist jedoch eine andere Einheitlichkeit, die das Ziel des historischen Kulturprozesses bildet, eine andere, die er mit jedem Schritt erreicht. Jene ist die Einheitlichkeit zu verwirklichender Kulturwerte, diese aber die Einheitlichkeit der Kulturtatsachen - Wertverwirklichungen wie Wertverfehlungen, Tugenden wie Laster, Wahrheiten wie Irrtümer, Schönheiten wie Geschmacklosigkeiten. Sie wird dem strebenden, wertenden Menschen als Einheitlichkeit nie erscheinen; den für ihn gibt es keine tiefere Kluft als die zwischen Wert und Unwert. Nur dem theoretischen Betrachter kann sich zwischen Wertverwirklichungen und Wertverfehlungen eine Harmonie erschließen; ihm stehen sie ja nicht als entgegengesetzt zu bewertende, sondern bloß als gleichermaßen auf Werte beziehbar gegenüber. Jede Generation muß deshalb sich selbst zerrissen und jeder folgenden als einheitlich erscheinen. Erst die über das abgeschlossene Leben sich erhebende Betrachtung gibt ihm die Form der Notwendigkeit - gelebt werden kann es nur in der Form der Freiheit, der Willkür, des Zufalls; was wir sind, können wir niemals haben. Und wenn unsere Zeit die Einheit der Kultur nicht nur erstreben, sondern sofort selbst erleben möchte, so ist das nur eine Teilerscheinung der bösen Zeitkrankheit, der Selbstbeobachtung, des unmöglichen Verlangens der Subjekte, sich zugleich als Objekte zu besitzen, zu leben und ihr Leben zugleich historisch, d. h. nicht ernst zu nehmen. Melancholischer Gedanke freilich, daß die Harmonie, die der nachgeborene Historiker einer Kultur wie eines einzelnen Menschenlebens, auch des verworrensten, in ihm entdeckt, dem der sie lebt, nie zum Besitz werden kann, daß ihm Chaos sein mußte, was sich uns zum Kosmos rundet! -

Es bleibt endlich noch der Übergang vom geschichtsphilosophischen zum ethischen Kulturbegriff zu vollziehen. Was die Geschichtsphilosophie als Sinn des Lebens aufgewiesen hat, wird für die Ethik zum Ziel des Handelns. Die Kultur, eben noch der Rahmen, in den die drei höchsten Werte eingespannt wurden, geht jetzt als Inhalt in einen von ihnen ein. Die bisher nur rein formal im Sinne der Pflichterfüllung verstandene Sittlichkeit wird jetzt inhaltlich als Kulturverwirklichung bestimmt. Wissenschaftliche Wahrheit und künstlerische Schönheit, bisher nur dem Denken und Fühlen als Ziele vorgeschrieben, werden jetzt auch als Aufgaben des Handelns proklamiert. Wissenschaft und Kunst, die logischen und ästhetischen Werte in einer interessanten nochmaligen Umkleidung mit Wertcharakter auch zu sittlichen Gütern zu machen - das ist die Funktion des ethischen Kulturbegriffs.

In den meisten Systemen der Ethik wird freilich der Kultur als sittlicher Aufgabe nicht gedacht. Auch heute noch nimmt sie in der Ethik meist die Stelle ein, welche ROUSSEAU ihr angewiesen hat. Man kann nämlich die Kultur nicht nur, wie es im ethischen Kulturbegriff geschieht, als Ideal und Ziel betrachten, sondern auch als Weg, und man kann in diesem Kulturprozeß wiederum den Fortschritt zum Ideal oder die Abkehr von der Natur mehr akzentuieren. Betrachtet man aber die Kultur lediglich als wertblinde Abkehr von der Natur, so entsteht das Problem der Rechtfertigung der Kultur und allein, um sich vor dem Richterstuhl der Sittlichkeit zu rechtfertigen, pflegt auch von der heutigen Ethik noch die Kultur zitiert zu werden. Man übersieht, daß man, sobald man den Kulturprozeß als wertblind betrachtet, jeden Unterschied von Natur und Kultur überhaupt zerstört, es sei denn, daß man mit ROUSSEAU nun die Natur ihrerseits im hellsten Glanz der Werthaftigkeit erstrahlen läßt - was nur eine Vertauschung der Ausdrücke bedeutet: denn dann ist die Natur ihrerseits nur ein bestimmtes Kulturideal, das Ideal einer künstlich primitiven, simplifizierten Kultur. Sollte der Unterschied von Natur und Kultur überhalten bleiben, so mußte die Kultur in ihrem Wertcharakter wieder hergestellt werden, um so dem bloßen Seinscharakter der Natur selbständig gegenübertreten zu können. Und so besteigt die Kultur als ethischer Wert nun selbst den Richterstuhl, vor dem sie als wertblinder Prozeß soeben noch ihre Rechtfertigung suchen mußte.

Das dürfte die Funktionen sein, welche dem Kulturbegriff insbesondere in WILHELM WINDELBANDs Philosophie zukommen. Doch sollten hier nicht sowohl Antworten gegeben, als Fragen gestellt werden. Möchten sie die Diskussion anzuregen sich geeignet erweisen!
LITERATUR - Gustav Radbruch, Über den Begriff der Kultur, Logos Bd. 2, Tübingen 1911-12