tb-1Kant und die Marburger SchuleDie beiden kantischen Schulen in Jena     
 
TRAUGOTT KONSTANTIN OESTERREICH
Die philosophischen Strömungen
der Gegenwart

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"Der breiteste Strom im erkenntnistheoretischen Denken der Gegenwart ist noch immer der  Neukantianismus.  Er ist um das Wiedererwachen philosophischer Produktion hochverdient und war der eigentliche geistige Erzieher dabei, aber seine hohen Geltungsansprüche befremden heute bereits. Denn auch er erscheint noch als ein Erzeugnis des naturalistischen Zeitalters. Es fehlt ihm die volle geistige Freiheit, da er sich von vornherein in einseitige Bindung zur exakten Naturwissenschaft begibt."

Unter Philosophie der Gegenwart sind alle jene Philosophien zu verstehen, die in der lebenden Generation noch unmittelbar wirksam sind, gleichgültig, ob ihre Urheber noch selbst zu den Lebenden zählen oder nicht. Allerdings darf ihre persönliche Existenz nicht allzu weit zurückliegen, damit das eigentliche "Aktualitätsgefühl" vorhanden ist, das die "gegenwärtige" Philosophie auszeichnet. Eine rein chronologische Bestimmung aber ist nicht möglich. Das größere Gewicht kommt der Frage zu, ob die Gedankenwelt selbst noch als unmittelbar "modern" empfunden wird. Zwischen HELMHOLTZ' und NIETZSCHEs Tod liegen nur vier Jahre (1896 - 1900) Dennoch erscheint die Gedankenwelt des ersteren bereits als durchaus vergangen, während die des anderen, der in Wahrheit sogar schon seit 1888 geistestot gewesen ist, noch unmittelbar gegenwärtige Philosophie ist. Die eine "lebt", die andere enthält so gewichtige, aus der modernen Diskussion bereits ausgeschiedene Bestandstücke, daß sie als "historisch geworden" empfunden wird. Die Unbestimmtheit, die auf diesem Weg in den Begriff "Philosophie der Gegenwart" hineinkommt, seine Abhängigkeit vom beurteilenden Individuum, ist nicht zu umgehen, da der objektive Zeitbegriff, der die "Gegenwart" auf die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft beschränkt, für jede Darstellung unbrauchbar ist.

Die Aufgabe einer Charakteristik der philosophischen Grundlage ist im Augenblick erschwert, daß während des Krieges eines Anzahl bedeutender Denker aus dem Kreis der Lebenden ausgeschieden sind und sich angesichts des teilweisen Stockens der philosophischen Produktion infolge äußerer Schwierigkeiten noch nicht völlig übersehen läßt, inwiefern Schwankungen in der philosophischen Geistesrichtung der lebenden Generation im Laufe der letzten sechs Jahre eingetreten sind. Doch scheinen solche bedeutsamer Art nicht vor sich gegangen zu sein, wie denn überhaupt die Entwicklung in der modernen Philosophie eine sehr langsame ist. Daß der Krieg dieselbe noch mehr verlangsamt hat, ist unverkennbar.

Die Lage ist heute in ihr im wesentlichen dieselbe wie vor Ausbruch der Weltkatastrophe. Wie sich die Dinge in den anderen Ländern gestaltet haben, entzieht sich zurzeit angesichts des vorläufigen (durch die Valuta bedingten) Fehlens der fremden Literatur noch großenteils unserer Beurteilung. Keinem Zweifel unterliegt, daß in Frankreich dieselbe Entwicklungshemmung im Krieg eingetreten ist. Wir befinden uns deshalb auch jetzt noch immer im Übergang zwischen der Philosophie des ausgehenden neunzehnten und der des neuen Jahrhunderts. Noch sind nicht alle Ideenkomplexe vom Ausgang des abgelaufenen Jahrhunderts von anderen abgelöst. Da es unzweckmäßig wäre, die aus dem neunzehnten Jahrhundert zu uns herüberreichenden und unter uns fortlebenden Gedankenwelten in der Formulierung von Schülern anstatt in Anknüpfung an die Lehrer wiederzugeben, werden auch diese älteren Richtungen durchgängig im Anschluß an ihre Schöpfer charakterisiert.

Das Schwergewicht wird entsprechend dem Charakter des ganzen Bandes auf die deutsche bzw. deutschsprachliche Philosophie gelegt werden, obwohl nicht gesagt werden kann, daß sie ein derartiges Übergewicht in der Welt besitzt, wie es etwa vor hundert Jahren der Fall war, als der deutsche Idealismus auf die ganze Umwelt zu wirken anhob. Es bestand vielmehr schon vor dem Krieg eine Koordination verschiedener Länder, vor allem nicht ein dominierendes Übergewicht des deutschen Denkens. Die wissenschaftliche Objektivität erfordert vielmehr die Feststellung, daß der größte internationale Einfluß von der französischen Philosophie ausging. Dem Einfluß BERGSONs, mag er nun berechtigt oder durchaus unberechtigt sein, kann kein anderer eines Lebenden zur Seite gestellt werden. Im übrigen ist vor dem Krieg die gegenseitige philosophische Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Kulturländern größer gewesen als seit langen Jahrzehnten. Es hatte sich allmählich wirklich eine Art echter Problemgemeinschaft entwickelt.

Auch zwischen Deutschland und Frankreich war eine ziemlich breite, geistige Berührungsfläche entstanden. Am ausgedehntesten von deutschen Denkern ist wohl der Einfluß NIETZSCHEs und EUCKENs geworden, da HAECKELs philosophische Schriften, deren Verbreitung wohl überhaupt durch keine anderen erreicht wird, nicht als wissenschaftliche Literatur angesehen werden können. Eigenartig ist der Einfluß, den sowohl WINDELBAND wie COHEN auf die russische (vorbolschewistische) Philosophie ausgeübt haben. Am geringsten war die gegenseitige Fühlung mit Italien.

Historisch höchst bemerkenswert ist die Tatsache, daß in der Gegenwart zum ersten Mal der amerikanische Kontinent eine tiefere philosophische Wirkung auf europäische Länder auszuüben vermocht hat. Während in den übrigen Ländern Amerikas das Leben noch so gut wie ganz auf wirtschaftliche Interessen eingestellt ist und das Bedürfnis nach gelehrten Forschern, wo ein solches bereits einzutreten beginnt, wie in Argentinien, aus dem Ausland gedeckt zu werden pflegt, hat sich in den Vereinigten Staaten im letzten Menschenalter die wissenschaftliche Kultur in einem solchen Umfang entwickelt, daß sie heute nicht mehr rein rezeptiv, sondern bereits gebender Art ist. Ja, sie besitzt nun auch eine eigene Philosophie, wenn auch nicht verschwiegen werden kann, daß dieselbe selbst bei ihren hervorragendsten Vertretern logisch doch noch wenig durchgebildeter Art ist und gegenüber europäischen Denkern in mancher Hinsicht derb und flach zugleich wirkt. Immerhin hat sie bei dem bisher bedeutendsten amerikanischen Philosophen, WILLIAM JAMES, neben Unzureichendem doch auch wertvolle neue Gedanken hervorgebracht. Er besonders hat auch auf europäische Länder eingewirkt, in erster Linie auf England, doch auch auf Frankreich und Deutschland. Seine philosophische Wirkung, zumal auf England, beruth freilich vorwiegend auf den weniger bedeutenden Teilen seiner Philosophie, dem Pragmatismus, einer gerade für Amerika hochcharakteristischen Denkweise. Es kann mit Genugtuung festgestellt werden, daß für diese Seite seines Denkens die deutsche wissenschaftliche Sphäre sich überwiegend nicht aufnahmefähig erwiesen hat.

Die größere Ausdehnung der geistigen Wechselbeziehungen zwischen den Hauptkulturländern datiert im wesentlichen erst vom Beginn des neuen Jahrhunderts. Seit dem Niedergang des deutschen Idealismus war die philosophische Entwicklung der verschiedenen Länder im wesentlichen ohne gegenseitige Berührung nebeneinnander hergegangen. Demgegenüber hatten sich in den letzten Jahren vor dem Krieg die gegenseitigen Beziehungen so gemehrt und vertieft, daß eine Art internationaler Problemgemeinschaft entstanden war. Höchst erfreulicherweise kann heute bereits gesagt werden, daß diese Wechselbeziehungen im Wiedersehen begriffen sind, so daß, wenn der internationale Bolschewismus nicht überhaupt die gesamte Kultur vernichtet oder in Deutschland durch die Politik der Entente ein Haß der Verzweiflung gezüchtet wird, die europäische Geistesgemeinschaft in absehbarer Zeit wiederhergestellt sein wird.

Das, was im vorstehend bezeichneten Sinn als gegenwärtige Philosophie zu verstehen ist, ist ein aus mannigfachen Schichten zusammengesetztes Gebilde. Die verschiedenen Richtungen sind nahezu ebensoviel Zeugen für Entwicklungsabschnitte der letzten Jahrzehnte. Die Entwicklung der Philosophie vollzieht sich ja überhaupt nicht in der Weise, daß einfach eine Richtung die andere ablöst, vielmehr erhalten sich, während neue Tendenzen auftreten, daneben ältere Gedankensysteme stets noch geraume Zeit weiter. Auch gibt es zu jeder Zeit verschiedene philosophische Grundrichtungen nebeneinander. Die Philosophie steht in dieser Hinsicht nicht allein, sie teilt dieses Schicksal vielmehr mit fast allen anderen Wissenschaften, höchstens mit Ausnahme der Mathematik, die aber auch nicht völlig frei von allen wissenschaftlichen Differenzen ist. Die Ursache liegt zuletzt in Mängeln der menschlichen Intelligenz, die nicht mit genügender Sicherheit Richtiges und Unrichtiges zu unterscheiden imstande ist. Daß es eine bestimmte Zahl von Systemrichtungen gibt und nicht unzählige, ist darin begründet, daß einmal auf manche Fragen nur eine gewisse Zahl von Antworten möglich ist und andererseits innerhalb der Menschheit gewisse Arten des Denkens immer wiederkehren: es gibt Typen auch des fehlervollen, obwohl subjektiv überzeugten Denkens, vor allem typische Verständnislosigkeit für bestimmte Gebiete, weshalb dann auch niemals die Vielfältigkeit der Systeme aufhören wird. Zeiten philosophischen Tiefstandes sind dadurch charakterisiert, daß die dem Rang nach tiefer stehenden Richtungen das Übergewicht haben. Von Zeiten philosophischer Blüte gilt umgekehrt, daß sich auch in der öffentlichen Geltung die absolut höher stehenden Denkrichtungen durchsetzen.

Vor einem bis zwei Jahrzehnten war die Lage in der Philosophie so unübersichtlich, daß man von einer "Anarchie der philosophischen Systeme" als dem charakteristischen Zug der Zeit gesprochen hat. Der überraschende Wandel, der seitdem eingetreten ist, hat eine auffallende Ordnung in das damals als Chaos erscheinende Gewoge der Meinungen gebracht. Die heutige Lage der Philosophie ist vielmehr gekennzeichnet durch eine starke Einheitlichkeit, wenn auch nicht im einzelnen, so doch in der Gesamttendenz. Es ist ganz auffallend, wie auch Richtungen, die ursprünglich den jetzt herrschenden jüngsten Tendenzen durchaus abgeneigt, mit innerer instinktiver Aversion gegenüberstanden, nun ihrerseits bestrebt sind, sich ihnen anzugleichen. Die höherstehenden Richtungen haben wieder die Oberhand.

Der Verlauf der philosophischen Entwicklung ist in der Gegenwart in allen Kulturländern in der Tendenz derselbe. Aber die Geschwindigkeit, mit der sie sich vollzieht, ist nicht überall die gleiche. Sie ist in Deutschland noch immer gehemmt durch die Nachwirkungen des Materialismus, der in unserer geistigen Stellung zur Welt noch nicht völlig überwunden ist. Immerhin ist die Regeneration des Denkens doch schon so lange im Gange, daß uns nirgends mehr ganz rudimentäre Anschauungen begegnen.

Charakteristisch für die Lage ist aber noch der Mangel an großen, alles umfassenden Systemen. Es gibt nur zwei Denker, die einen solchen Versuch in jüngster Zeit in größerem Umfang gewagt haben: EDUARD von HARTMANN und WUNDT. Der erste steht bereits auf der Scheidelinie zur Vergangenheit. Er ist mehr ein vorzeitiger Vorläufer der neuen Metaphysik, als daß seine Philosophie als lebend-gegenwärtige empfunden würde, denn seine Lebensauffassung gehört den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an. So bleibt als umfassende moderne Philosophie nur die WUNDTs übrig. Er allein hat in der Gegenwart etwas vom Systematik an sich. Dennoch hat er es zu keinem beherrschenden Einfluß gebracht. Heute kann sogar gesagt werden, daß seine Philosophie aktuelle Bedeutung zu einem Teil schon nicht mehr durch ihren Gedankengehalt besitz, sondern nur noch dadurch, daß ihr Urheber bis vor kurzen noch zu den Lebenden zählte. NIETZSCHEs Ideenkreis war zwar auch von umfassender Art, aber doch zu wenig fundiert in vielen Punkten und auch zu sprunghaft abgerissen, als daß er ein wirkliches System hätte schaffen können.

Dieser Mangel an systematischen Gesamtversuchen hängt zwar zusammen mit dem starken Wachstum der Einzelwissenschaften und der dadurch bedingten Schwierigkeit einer solchen Synthese. Mehr aber noch ist er bedingt durch das geringe Maß philosophischer Kraft in der älteren Generation, die die Gesamtaufgabe der Philosophie noch nicht wieder mit solcher Macht in sich lebendig empfunden hat, um derartige Versuche zu wagen. Es ist aber unverkennbar, wie das stärkere philosophische Bedürfnis der neuen Generation auf die ältere zurückwirkt und auch in ihr Strebungen wachgerufen hat, deren sie früher entbehrte.

Wir gehen in der Betrachtung aus von den philosophischen Richtungen älteren Typus und schließen mi den neuesten Wendungen des philosophischen Denkens. Angesichts des geringen zur Verfügung stehenden Raumes ist natürlich Vollständigkeit nicht möglich, sondern überall eine Beschränkung auf das Wichtigste unumgänglich. Insbesondere können die bisher im Hintergrund stehenden oder aus der Philosophie fast ausgeschiedenen Disziplinen, wie etwa die Rechtsphilosophie oder Ästhetik, keine eigentliche Berücksichtigung finden, sollte nicht der Abschnitt zu einer bloßen Aufzählung von Namen und Stichworten werden.

Die ältesten Schichten in der gegenwärtigen Philosophie stammen noch aus jener Zeit, als die Philosophie gegenüber der Minderschätzung, die ihr die Gebildeten namentlich in Deutschland entgegenbrachten und die in einer völligen Bezweiflung ihrer Existenzberechtigung gipfelte, es unternahm, ihr Dasein mit eigenen Aufgaben zu rechtfertigen und so langsam auch in einem Kreis von Jüngeren das für jede Art geistiger Arbeit unentbehrliche Bewußtsein ihres eigentümlichen Wertes wieder entstehen zu lassen. Mit den siebziger Jahren setzte diese neue Philosophie wie unvermittelt ein. Diese ältere, noch heute fortlebende Schicht in der gegenwärtigen Philosophie bezeichnet als die eigentliche Aufgabe der Philosophie die  Erkenntnistheorie Wenn alle Teile der Wirklichkeit an die Einzelwissenschaften aufgeteilt sind, so bleibt doch die Untersuchung der Wissenschaft selbst, ihrer logischen Tragweite wie ihres Verfahrens noch übrig. Das war der Weg, auf dem sich die Philosophie zunächst wieder ein Daseinsrecht zu verschaffen bemüht war. Und bis zum heutigen Tag nimmt die erkenntnistheoretische Produktion noch immer den meisten Raum ein.

Es sind aber auch jetzt in der Regel durchaus nicht alle Wissenschaften, die in den Bezirk einer erkenntnistheoretischen Analyse einbezogen werden. Vielfach beschränkt sie sich auf die Grundbegriffe der Physik und eventuell noch der Mathematik. Auf die organischen Disziplinen fällt ein Streiflicht, insofern die Verwendung teleologischer Gesichtspunkte bei ihnen diskutiert zu werden pflegt. Eine Sonderstellung nimmt die Geschichtswissenschaft ein, die von einzelnen Forschern zum Gegenstand eingehenderer Untersuchungen gemacht worden ist. Nur selten aber begegnet man einer erkenntnistheoretischen Untersuchung chemischer Begriffe, die übrigen Naturwissenschaften wie Mineralogie, Meteorologie, Geographie, Geologie, kommen fast nirgends zur Behandlung. Ebenso ergeht es meist der Psychologie, der Sprachwissenschaft, der Nationalökonomie, der Jurisprudenz. Nur WUNDT hat den Versuch gemacht, in seiner "Logik" den Rahmen so weit zu spannen, daß wenigstens ein gewisser Teil der genannten Disziplinen umfaßt wird. Es fehlt also noch viel an einer allgemeinen, wirklich die Totalität auch nur der wichtigeren Wissenschaften umfassenden Erkenntnislehre. Und auch das ist charakteristisch: die meisten Erkenntnistheoretiker sind mit ihren eigenen wissenschaftlichen Interessen wie ihrem Verständnis von vornherein entweder natur- oder geisteswissenschaftliche orientiert, so daß sie nicht zu einer tieferen Gesamtübersicht über das Erkennen überhaupt gelangen.

Die beiden erkenntnistheoretischen Denkrichtungen, die sich am Ausgang des 19. Jahrhunderts gegenüberstanden, bestehen auch jetzt noch fort: der  Neukantianismus  auf der einen Seite und der  Empiriokritizismus  auf der anderen. Aber aus beiden sind seit dem Anbrucht des neuen Jahrhunderts neue Triebe emporgeschossen: aus dem Neukantianismus wuchs ein neuer  kritischer Realismus  hervor, der zwar auch noch den Einfluß KANTs erkennen läßt, aber die dogmatischen Tendenzen des eigentlichen Neukantianismus abgestreift hat. Der Empiriokritizismus hat sich einerseits dem kritischen Realismus genähert, andererseits ist aus ihm eine  pragmatistische Bewegung  hervorgegangen, die sich schon lange unter der Oberfläche vorbereitet hatte.

Der breiteste Strom im erkenntnistheoretischen Denken der Gegenwart ist noch immer der  Neukantianismus.  Er ist um das Wiedererwachen philosophischer Produktion hochverdient und war der eigentliche geistige Erzieher dabei, aber seine hohen Geltungsansprüche befremden heute bereits. Denn auch er erscheint noch als ein Erzeugnis des naturalistischen Zeitalters. Es fehlt ihm die volle geistige Freiheit, da er sich von vornherein in einseitige Bindung zur exakten Naturwissenschaft begibt. Bei aller Vielgestaltigkeit im einzhelnen geht der Neukantianismus regelmäßig von der  exakten Physik  aus, welche er - und zwar zumeist in der Gestalt, die sie am Ausgang des vergangenen Jahrhunderts hatte - einfach als eine keiner weiteren Diskussion mehr bedürftige Tatsache hinnimmt, wie das auch KANT getan hat. In ihm erblickt er zwar nicht den Vollender, wohl aber den Inaugurator eines neuen abschließenden Abschnittes der philosophischen Entwicklung, dessen Gedankengebäude es lediglich konsequent auszugestalten und von inneren Unstimmigkeiten sowie noch erhalten gebliebenen Mängeln zu befreien gelte.

Im einzelnen glieder sich der Neukantianismus wieder in mehrere Unterströmungen, die untereinander in den wesentlichesten Punkten uneins sind und trotz bereits Jahrzehnte langen Streites nicht einmal darüber einig zu werden vermocht haben, welches KANTs eigene Meinung gewesen ist, und erst recht nicht in der Frage, in welcher Richtung des Kritizismus fortzubilden sei. Während die idealistische Bewegung vor hundert Jahren trotz des auch ihr eigenen subjektiven Glaubens, nur kantische Philosophie zu sein, doch ein außerordentliches Maß von (wenn auch vielfach anfechtbarer) über KANT hinausgehender philosophischer Produktivität entfaltete, haftet der moderne Neukantianismus viel enger an KANTs Schriften. Die neokritizistische Bewegung wird aus einem etwas größeren zeitlichen Abstand einmal ohne Zweifel als eine den - heute vielfach unterschätzten - LEIBNIZ-WOLFFschen Schulen des 18. Jahrhunderts analoge historische Bildung am Ausgang des 19. Jahrhunderts erscheinen. Wie damals ist auch diesmal wieder eine ganze Anzahl von bald deutlich, bald nur verhüllt angedeuteten Ideen des Genies zugunsten eines geschlossenen Lehrbildes ausgeschieden worden.

Allen neukantischen Schulen gemeinsam ist die Überzeugung, daß wir die Wirklichkeit nicht so zu erfassen imstande sind, wie der naive Realismus es meint, daß also die Welt der Farben und Töne nicht so, wie wir sie hören und sehen, unabhängig von uns besteht. Dieser Satz kann sogar als gemeinsame Überzeugng der meisten gegenwärtigen Denker, nicht nur der eigentlichen Neukantianer angesehen werden. Es ist freilich unrichtig, wenn er immer auf KANT zurückgeführt wird. Es geht diese Überzeugung vielmehr auf HUME, LOCKE, DESCARTES und GALILEI zurück. Sie ist nicht erst von KANT gebracht worden, wenn sich auch die weitere Übertragung dieser Ansicht seit ihm freilich vorwiegend an seinen Namen zu knüpfen pflegt.

Als eine zweite gemeinsame Überzeugung des ganzen Neukantianismus kann die Lehre angesehen werden, daß die Natur nicht ein Inhalt unserer sinnlichen Wahrnehmung, sondern in ganz wesentlichem Umfang ein Produkt des Denkens ist, und durch den systematischen Nachweis dafür hat sich der Kantianismus ein entschiedenes Verdienst erworben. Ferner nehmen alle Richtungen desselben an, daß beim Aufbau der Natur apriorische Faktoren eine ausschlaggebende Rolle spielen. In der Aufassung des Wesens des Apriori gehen die verschiedenen Schulen dagegen weit auseinander.

Die älteste Formulierung, die auf die Bedingtheit unseres Weltbildes durch unsere Sinnesorgane hinweist (HELMHOLTZ), findet sich in der Gegenwart kaum noch. Mehr schon eine zweite, nach der unsere Seele gewisse angeborene Funktionen besitzt, die deshalb auch von unserer Weltauffassung nicht loslösbar sind. Mit Bewußtsein hat ihr SIMMEL wiederholt Ausdruck verliehen, obschon sich neben ihr bei ihm auch die sogleich zu erörternde rein logische findet. Er hat die psychologische Auffassung dann vor allem in seiner Begründung einer Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften herangezogen (siehe unten). Zur grundsätzlichen, einschränkungslosen Anerkennung ist die psychologische Deutung des Apriori nur bei NELSON gelangt, der in Anlehnung an FRIES eine rein psychologische Interpretation KANTs fordert. Durch Selbstbesinnung sollen die konstitutiven apriorischen Sätze zu Bewußtsein gebracht werden. Es müßte sich dabei dann entweder um evidente Einsichten in bestimmte Sätze handeln oder um eine bloße Feststellung, daß unser Denken bei der Konstruktion der Natur bestimmte Prinzipien zugrunde legt. Der erste Fall, daß etwa das Kausalgesetz ein evidenter Satz wie der Satz des Widerspruchs ist, wurde schon von KANT abgelehnt; der zweite Fall würde nur ein faktisches Verhalten einzelner Menschen feststellen.

Der übrige Neukantianismus lehnt deshalb dem Grundsatz nach jede psychologische Deutung des Apriori ab und erklärt für die allein richtige Interpretation KANTs die logische.

Ihre konsequente Durchführung fand sie zuerst durch HERMANN COHEN (1842 - 1918), den Begründer der  Marburger Schule Unter den Lebenden sind ihre wichtigsten Vertreter seine Schüler PAUL NATORP und ERNST CASSIRER. Ohne daß von durchgängiger Konsequenz im einzelnen gesprochen werden kann, will diese Richtung des Neukantianismus dem Grundsatz nach überhaupt völlig absehen von den psychischen Erkenntnisakten, die sich im einzelnen Individuum abspielen. Sie geht vielmehr aus von dem als eine Objektivität eigener Art angesehenen und als solche ohne weitere Beschränkung hingenommenen geistigen Gebilde der exakten Wissenschaft, wie sie vor allem in der theoretischen Physik vorliegt.

Die Marburger Schule versteht unter Wissenschaft von vornherein im Grunde überhaupt nur die exakte Naturwissenschaft, die Physik. Ganz wie für KANT kommen auch für sie sämtliche anderen Wissenschaften nicht ernsthaft für die Ausgestaltung der Erkenntnistheorie in Betracht. Sie werden als durchaus unvollkommene Erkenntnisarten angesehen, die bei idealer Vollendung der Physik von selbst fortfallen würden. Die logische Struktur der Physik soll zergliedert und aufgehellt, nicht aber etwa ermittelt werden, wie das einzelne Individuum zu diesem Weltbild gelangt, ebensowenig, wie dasselbe geschichtlich entstanden ist. Damit ist dem Grundsatz nach ein völliges Absehen von aller Sinneserfahrung gegeben. In der Tat wird ihr von COHEN ausdrücklich der Charakter als legitimer Quelle der Erkenntnis abgestritten. Weiter ergibt sich als notwendige Konsequenz eine Umgestaltung des Realitätsbegriffs. Nicht, daß etwas unmittelbar durch Wahrnehmung erfahren wird, verleiht nach dieser Auffassung irgendeinem Sachverhalt den Charakter der Realität, sondern lediglich der Umstand, daß er innerhalb der mathematischen Naturwissenschaft eine Größe darstellt, die größer als Null ist. Ja COHEN rechnet zum Realen nicht nur die positiven, sondern auch die negativen und imaginären Zahlen, so daß damit jeder Unterschied zwischen realen und mathematischen Größen überhaupt aufgehoben ist ("real" dabei im gewöhnlichen Sinn verstanden).

Nicht ganz so weit geht die Auflösung und Identifizierung der Naturwissenschaft mit Mathematik bei NATORP und CASSIRER. Trotz grundsätzlichen Festhaltens an der rein logischen Deutung des Apriori dringt bei ihnen doch bereits ein psychologischer Faktor in die Theorie ein. Denn nichts anderes ist es, wenn NATORP betont, daß alle Wahrnehmung, die ja stets zugleich ein Urteil enthält, "Denkbestimmung" ist. Alle Wirklichkeit ist "Denkinhalt" und sei als solcher den Grundkategorien von Quantität, Qualität und Relation unterworfen. Die Loslösung des Realitätsbegriffs von der Wahrnehmung wird auch von NATORP durchgeführt, jedoch in etwas anderer Weise als von COHEN. Tatsache im Erkenntnissinn ist für NATORP erst etwas was im vollendet gedachten exakten Naturbild als Bestandteil enthalten wäre. Er hat ein viel stärkeres Gefühl als COHEN für die Unabgeschlossenheit der Erkenntnis. Die "Tatsache" ist deshalb in seinen Augen nur ein Ziel der Erkenntnis, aber nicht etwas nachweislich schon Vorhandenes, denn die Naturerkenntnis ist unabgeschlossen. Aber darin kommt auch er nicht von KANT los, daß nur ein Weltbild von geschlossener Naturkausalität ihm zulässig erscheint. Und als Konsequenz davon leugnet er sogar die Erkenntnisselbständigkeit der Psychologie. Sie soll nur eine Vorstufe sein. Denn als Verfahren der Wissenschaft besteht darin, daß das Material der Empfindungen in einer Weise intellektuell bearbeitet wird, daß unter teilweiser oder völliger Ausscheidung solcher oder auch hypothetischer Ergänzung, schließlich ein kausal geschlossenes, streng gesetzmäßiges Weltbild entsteht. Nur dieses Verfahren ist für ihn vollwertige Wissenschaft, jedes andere nur Vorstufe. Wenn irgendwo, so geht NATORP hier von der logischen Analyse zu konstruktiver Psychologie der Erkenntnis über. Noch eine Stufe weiter hat sich die Marburger Auffassung bei CASSIRER entwickelt. Auch er lehnt die Anerkennung der Wahrnehmung als letztes Kriterium für Realität (er sagt "Objektivität") ab. Objektiv ist auch für ihn nur, was sich innerhalb der naturwissenschaftlichen logischen Zusammenhänge in allen weiteren Experimenten behauptet, nicht das im Bewußtsein unmittelbar Gegebene. Er nimmt deshalb nach dem Maß der Festigkeit jenes Bestandes sogar Grade der Objektivität an.

Alle naturwissenschaftlichen Begriffe, wie Maße, Materie, Äther, Kraft, Atom usw. sind also nach der Marburger Auffassung keineswegs gedankliche Wiedergaben eines unabhängig von uns bestehenden Tatbestandes, der durch die Sinne unzureichend wahrgenommen wird, sondern lediglich gedankliche Hilfsmittel, um in das Gewirr der Erscheinungen irgendeine Ordnung hineinzubringen und schließlich in der Konstruktion zu einem lückenlos geschlossenen kausalen in mathematischen Formeln bestimmbaren Weltbild zu gelangen. Die einfache Wahrnehmungsfeststellung bloßer Bewußtseinsinhalt, die vom Naturzusammenhang überhaupt absieht, findet bei ihm keinerlei Anerkennung. Sie fällt für ihn eigentlich außerhalb aller Wissenschaft. Entsprechend der Tendenz, die Natur als rein logisches Gebilde anzusehen und als solches einer gedanklichen Analyse zu unterziehen, die Wahrnehmung dagegen überhaupt aus der erkenntnistheoretischen Betrachtung auszuscheiden, lehnt der Marburger Neukantianismus auch die Auffassung, daß hinter den Sinneswahrnehmungen eine objektive Wert von "Dingen ansich" steht, die in ihnen "erscheint", ab. Es gibt nur das Gewirr der Sinneserscheinungen einerseits und das logische Gebilde der Natur andererseits. Objektiv sind nur die Bestandteile des letzteren (in seiner idealen Vollendung). Und objektiv bedeutet auch dann nichts weiter, als daß eben der betreffende Faktor in diesem Weltbild auftritt.

Die erkenntnistheoretische Methode wird von der Marburger Schule im Prinzip auch auf die  Ethik  übertragen. Wie die Erkenntnislehre die logischen Bedingungen des Daseienden, der Realität untersucht, so hat die Ethik die Bedingungen des Sollens zu ermitteln. Die eigene Leistung COHENs und NATORPs liegt in der Erfüllung der kritischen Ethik mit positivem Inhalt, woran es gerade die Ethik der Gegenwart so oft fehlen läßt. Ihre geschichtliche Bedeutung beruth darin, daß sie die philosophischen Repräsentanten des deutschen Sozialismus sind, wobei von ihnen derselbe allerdings über das Niveau des materialistischen Eudämonismus der Partei weit emporgehoben wird. Die Begriffe der Pflicht einerseits und der Menschenwürde andererseits stehen im Mittelpunkt.

In einem gewissen Umfang verwandt ist mit der Marburger Schule die  badische  oder, wie sie auch genannt wird, die  südwestdeutsche  Schule. Begründet wurde diese Richtung durch WINDELBAND (1848 - 1915), in einem engen Anschluß an ihn fortgesetzt von RICKERT, dem wieder JONAS COHN nahesteht. Auch diese Schule verwirft die Annahme von Dingen ansich und die Auffassung des Erkennens als einer Art von Bemächtigung einer unabhängig von uns bestehenden Wirklichkeit. Das Problem, was dann unter "objektiv" und "real" zu verstehen ist, löst sie aber anders als die Marburger Schule. Sie sucht ein Kriterium für die Objektivität von Gedanken zu gewinnen, indem sie auf den Wertbegriff rekurriert. WINDELBAND findet den wesentlichen Unterschied des richtigen und des falschen Denkens darin, daß das erste normgemäß ist, während das zweite den Normen des Denkens zuwiderläuft. Denn wie es ein absolutes Sollen, eine Norm für das Handeln gibt, so bestehe eine solche Norm auch für das Denken. Richtig nennen wir ein Denken, das der absoluten Norm - KANT sprach von "Regel" - entspricht, falsch ein ihr zuwiderlaufendes. Irgendeine "Übereinstimmung" mit einer objektiven Wirklichkeit außerhalb unseres Bewußtseins kommt dabei nicht in Frage. Sie wäre uns auch gänzlich unfeststellbar, da wir niemals den Bezirk unseres Bewußtseins überschreiten können. Die Ermittlung dieses Normensystems ist Aufgabe der Erkenntnistheorie. Seine Prinzipien zeigen, wie schon FICHTE erkannt habe, eine teleologische Struktur. Ihr Ziel ist das allgemeingültige Denken. In der Wirklichkeit findet sich normgerechtes und normwidriges Denken durcheinander, ebenso wie gutes und schlechtes Handeln, wie Schönes und Unschönes. Währende die positiven Wissenschaften gegenüber den Normfragen gleichgültig sind und sich auf die reine Konstatierung dessen, was ist, beschränken, fällt der Philosophie gerade auf allen Gebieten die Ermittlung der Normen zu. Sie ist Werttheorie. Diese Gedanken werden auch von RICKERT geteilt. Er hat zu ihnen noch den weiteren hinzugefügt, daß alles Seiende ein Sein im Bewußtsein ist, wobei dieses Bewußtsein freilich nicht ein individuelles, sondern ein überpersönliches allgemeines, ein "Bewußtsein überhaupt" sein soll. Das Transzendenzproblem bezieht sich nach ihm nur auf dieses Bewußtsein überhaupt, nicht auf ein individuelles. Seiendes jenseits des individuellen Bewußtseins gebe es selbstverständlich; dagegen wird ein Sein jenseits allen Bewußtseins überhaupt von RICKERT verworfen. Dieses Bewußtsein überhaupt soll aber merkwürdigerweise nicht nur ein Begriff, sondern Wirklichkeit sein, auch nicht etwa nur die Summe der individuellen Bewußtseins. - Den Wertcharakter des Logischen behauptet auch MÜNSTERBERG (1863 - 1919).

Neben diesen antirealistischen Strömungen des deutschen Neukantianismus, welche die Bezugnahme auf die Dinge ansich verwerfen und dementsprechend eine völlige Umgestaltung des Wahrheitsbegriffs verlangen, steht noch eine  realistische  Richtung, die, wie KANT selbst es mindestens an zahlreichen Stellen seiner Schriften getan hat, an der Annahme von Dingen ansich und der Zurückführung der Wahrheit der Erkenntnis auf eine intellektuelle Ergreifung der Objekte wenigstens innerhalb gewisser Grenzen festhält. Der Hauptvertreter dieses realistischen Kritizismus ist ALOIS RIEHL. Auch RIEHL ist der Meinung, daß unsere Erkenntnis nicht einfach ein Ergebnis unserer Sinneswahrnehmung ist, sondern daß ebenso wichtig wie die sinnliche Wahrnehmung das Denken ist. Erst durch Verarbeitung der Sinneseindrücke entstehen die eigentlichen Wahrnehmungen, denn sie enthalten logisch stets viel mehr als den bloßen Sinneseindruck. Die Entstehung unserer Erfahrungen erfolgt nach Maßgabe bestimmter apriorischer Prinzipien, wie den Sätzen von der Erhaltung des Stoffes und der ausnahmslosen Kausalität, Sätze, die schon das frühe Altertum formuliert hat, und die auch dadurch in ihrem apriorischen, erfahrungsfreien Charakter erwiesen seien. Da diese Prinzipien für alle Erfahrung konstitutive Bedeutung haben - dieselbe wird ja nach ihrer Anleitung gedanklich aufgebaut -, so kann ihnen dieselbe niemals widersprechen. Ermittelt werden sollen sie durch logische Analyse der exakten Wissenschaft. Ganz im Gegensatz zur Marburger Schule hält aber RIEHL die gedankliche Schöpfung der Natur nicht für ein, man möchte sagen, frei in der Luft schwebendes Gebilde, sondern für eine Wiedergabe einer unabhängig von uns bestehenden objektiven Wirklichkeit. Die Sinnesempfindungen sind Zeichen für seine Existenz. Objektive Bedeutung haben aber nur der arithmetische und der logische Gehalt unserer Wahrnehmungen. Ihrer Qualität nach sind uns die Dinge ansich unbekannt. Da die Zeit keine objektive Geltung hat, sieht RIEHL - wie KANT - auch die psychischen Erlebnisse lediglich als Phänomene an, womit er nahezu allein steht. Die unvermeidliche Überschreitung der Sinneseindrücke vermittels apriorischer Kategorien wie Kausalität, Notwendigkeit, Allgemeinheit, Gesetzmäßigkeit wird auch von VOLKELT scharf betont.

Während RIEHL und VOLKELT, die beide keine Schulen begründet haben, noch durchaus als Neukantianer zu bezeichnen sind, bekennt sich auch eine andere, in letzter Zeit immer zahlreicher gewordene Gruppe von Denkern zum realistischen Standpunkt, unterscheidet sich jedoch deutlich von den Neukantianern im engeren Sinne dadurch, daß sie die Frage der apriorischen Faktoren stark zurücktreten läßt. Diese Bewegung ist deshalb viel freier von Dogmatismus, denn die angeblichen apriorischen Sätze des Neukantianismus sind großenteils nur dogmatische Hypothese. Vor allem erkennt diese Richtung wieder die Bedeutung der Wahrnehmung für die Erkenntnis in uneingeschränktem Maß an und verzichtet darauf, an die Stelle des gewöhnlichen Wirklichkeitsbegriffs einen völlig anderen zu setzen, neben dem dann doch jener erste ungewollt, aber unvermeidlich in Äquivokationen fortbesteht. Wohl aber stimmt sie dem Neukantianismus mit Recht darin zu, daß die wissenschaftliche Wirklichkeit erst durch den Verstand auf der Grundlage von Wahrnehmungen konstruiert wird.

Die umfangreichste Darstellung dieses modernen  kritischen Realismus  war von KÜLPE (1862 - 1916) zu erwarten. Er ist jedoch nur noch zur Veröffentlichung einer überaus eingehenden Kritik anders gerichteter erkenntnistheoretischer Strömungen, insbesondere des Marburger Neukantianismus, gekommen, einer außerordentlich sorgfältigen und, wie wohl gesagt werden kann, abschließenden Kritik. Von den weiteren in Aussicht genommenen drei Bänden, die in Form von Vorlesungen in der Handschrift abgeschlossen vorliegen, ist erst (soeben) der erste erschienen.

Die eingehendste positive Begründung und Darstellung des kritischen Realismus hat dann BECHER geliefert (in seiner Naturphilosohie). Es findet bei ihm ein vorsichtiges Abwägen der Probleme statt. Er bleibt deshalb an nicht wenigen Stellen vor einer Mehrheit von Möglichkeiten stehen, zwischen denen sich schlechterdings keine Entscheidung treffen läßt. So läßt er die Fragen, ob die objektive Welt qualitative Ähnlichkeit mit der Sinneswelt hat, ob die Wirklichkeit völlig euklidischer Natur und ob sie streng gesetzmäßiger Art ist, zuletzt offen. An der Substanz- und der Kausalitätsidee wird von ihm festgehalten, auch Eigenschaften, die den räumlichen und zeitlichen analog sind, werden den Dingen zugeschrieben.

Von weiteren philosophischen Forschern, die ebenfalls auf dem Boden des kritischen Realismus stehen, seien genannt: MEINONG, STUMPF, DÜRR, MESSER, STÖRRING, FRISCHEISEN-KÖHLER, OESTERREICH.

Die realistische Strömung darf jetzt wohl als die stärkste erkenntnistheoretische Strömung außerhalb des eigentlichen Neukantianismus bezeichnet werden. Sie ist im letzten Jahrzehnt dauernd gewachsen, und heute bekennen sich auch die meisten exakten Forscher, soweit sie sich mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt haben, zu ihr.

Der Neokritizismus ist keine auf Deutschland beschränkte Bewegung. Es gibt eine solche Bewegung in allen Ländern, in denen ein stärkeres philosophisches Leben herrscht, doch ist verständlicherweise KANTs Name nirgends sonst so autoritativ geworden wie in Deutschland. In Frankreich ist der Neukantianismus jetzt in der Philosophie von RENOUVIER (1815 - 1903) zu später Wirkung gelangt. Obschon derselben ebenfalls die Dinge ansich verwirft, nimmt er doch der Physik gegenüber eine viel unbefangenere Haltung ein als der deutsche Neokritizismus, indem er z. B. als erster der neueren französischen Denker an der Freiheit mit Entschiedenheit festhält. Der herrschende Standpunkt ist aber auch in Frankreich der kritische Realismus. Er besitzt zwei sowohl als positive Forscher wie als Erkenntnistheoretiker bedeutende Vertreter, die Physiker DUHEM (1861 - 1916) und POINCARÉ (1853 - 1912). Auch sie sind durch das Studium KANTs hindurchgegangen und haben ein starkes Bewußtsein von der Bedeutung, die dem Denken im naturwissenschaftlichen Weltbild zukommt. Selbstverständlich verkennen sie aber als in praktischer physikalischer Forschungsarbeit erfahrene Physiker nicht die Bedeutung der Sinneswahrnehmung. Im Gegensatz zu den deutschen Neukantianern, die den physikalischen Grundsätzen vielfach apriorischen Charakter zuschreiben, lehnt POINCARÉ diese Auffassung ausdrücklich ab und bezeichnet jene Grundsätze als durchaus willkürliche; sie könnten auch durch andere ersetzt werden. Die Tatsachen werden aber keineswegs erst durch das Denken geschaffen. Alles Denken bedeutet stets nur eine Verarbeitung der unmittelbaren Sinneserfahrung. Die wissenschaftliche Tatsache werde nie etwas anderes sein, als die rohe Tatsache in eine andere Sprache übersetzt. Dazu stehen ansich zahlreiche Wege offen. Der von der praktischen Forschung wirklich beschrittene ist vor den übrigen lediglich ausgezeichnet durch die Einfachheit der sich ergebenden Formeln. Ansich würde aber auch z. B. eine nichteuklidische Geometrie in der Physik zur Verwendung kommen können, nur würden die Naturgesetze dabei eine äußerst komplizierte Gestalt annehmen. Über die Feststellung von algebraischen Beziehungen innerhalb der realen Wirklichkeit kommt die Wissenschaft freilich nicht hinaus. - Auch auf  England  übte KANT in jüngerer Zeit eine starke Wirkung (CAIRD), doch ist es zur Entstehung eines eigentlichen Neukantianismus nicht gekommen. In  Italien  wurde der Neukantianismus durch CANTONI, TOCCO u. a. vertreten, hat jetzt aber seine Bedeutung eingebüßt. Besonders starken Einfluß hat die Marburger und erst recht die badische Schule auf  russische  Forscher gewonnen.

LITERATUR - Traugott Konstantin Oesterreich, Die philosophischen Strömungen der Gegenwart in Paul Hinneberg (Hg), Systematische Philosophie, Berlin und Leipzig 1921