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RUDOLF EUCKEN
Zum Begriff des Modernen

Dabei trägt die Sache in sich selbst eine eigentümliche Dialektik: was alt ist, war einst neu.

Der Begriff des Modernen bewegt und entzweit die Gemüter heute so sehr, daß einige Erörterungen und Aufklärung nicht zu umgehen ist. Eine Aufklärung fordert zunächst die Geschichte des Ausdrucks, über die sehr unklare, wenn nicht irrige Meinungen im Schwange sind.

Die Sache reicht natürlich weit über die Prägung des Ausdrucks zurück; wo immer das Eigentümliche der Gegenwart abgegrenzt werden sollte, da werden sich irgendwelche Bezeichnungen dafür gefunden haben.

In "modern" aber entstand ein beharrender Ausdruck; dessen Geschicke näher zu verfolgen sich lohnen dürfte. Das Wort (abgeleitet von 'modo' = eben, jetzt) wird besonders Verwendung finden, wenn Verschiebungen zum Bewußtsein kommen und die Menschen entzweien. Dann nennt sich der Freund des Neuen modern, um sich jenen überlegen zu zeigen, die schwerfällig am Alten haften; dem Gegner aber wird der Ausdruck zu einem Schmähwort, um einen Menschen zu kennzeichnen, der ohne Halt und ohne Ehrfurcht den Anregungen des Augenblicks folgt. Die Geschichte des Wortes zeigt, wann der Streit eines besondere Höhe erreichte, und welcher Punkt vornehmlich die Geister voneinander schied.

Der Ausdruck erscheint im Übergang vom Altertum zum Mittelalter bei dem Grammatiker PRISCIANUS, der im 6. Jahrhundert lehrte, und bei CASSIODORUS, dem Beamten THEODERICHs (gest. um 575). In den folgenden Jahrhunderten findet er sich hie und da. Zu einem eigentlichen Partei- und Streitwort wurde "modern" seit dem Ende des 11. Jahrhunderts, das aber auf dem Gebiete der Logik: es diente zur Bezeichnung der Nominalisten, d.h. solcher, welche den Begriffen des Denkens keine Selbständigkeit zuerkannten. "Moderne" heißen aber auch andere, auch einfach die Gelehrten der eigenen Zeit.

Einen bedeutenderen Gehalt und eine schärfere Zuspitzung erhielt die Sache, als seit JOHANNES von SALISBURY die Aristoteliker des 13. Jahrhunderts (also namentlich die großen Dominikaner, wie ALBERT der Große und THOMAS von AQUINO) Moderne genannt wurden, im Gegensatz der mehr durch PLATO und AUGUSTIN beherrschten Denkart, die der franziskanischen Theologie anhingen. Diese moderne Denkart galt den Gegners als eine Überflutung der Theologie durch dialektische Sorgen und Spitzfindigkeiten. Später überträgt sich der Begriff wie der Ausdruck Modernität auf OCKHAM und seine Schule, OCKHAMs Lehre blieb die "moderne" Theologie bis in LUTHERs Zeit, auch LUTHER hat sich zu ihr bekannt. Aber es findet sich das Wort auch in anderer Bedeutung. Brüder vom gemeinsamen Leben vertraten eine 'devotio moderna' und verstanden darunter eine solche, welche neben der äußeren Haltung stark die Innigkeit betonte.

Soviel zur Geschichte des Ausdrucks, nun einige Worte zur Sache! Daß der Begriff des Modernen soviel Bewegung und Streit hervorruft, kommt letztlich darauf zurück, daß es zum glücklichen Fortgang der Kulturarbeit sowohl eines Festhaltens des Alten als eines Aufbringens von Neuem bedarf. Wir würden schwerlich viel weiter kommen, wenn wir immer von neuem beginnen müßten, wenn unsere Arbeit nicht geeignete Werkzeuge und leichteste Bahnen zu sicherem Besitz gewänne, wenn nicht vieles, was zunächst die volle Anspannung bewußter Tätigkeit fordert, ins Unbewußte und Gewohnheitsmäßige sänke und damit freie Zeit für vordringendes Schaffen ließe.

Wie nützlich, ja unentbehrlich ist z.B. der Philosophie reiche Schatz von Begriffen und Kunstausdrücken, den die vereinte Arbeit von Jahrtausenden bereitet hat! Aber die Sache geht noch tiefer. Was an Wahrheit und überhaupt geistigem Gehalt erreicht ward, das konnte die Überzeugung und Hingebung der Menschen nur gewinnen, indem es sich über allen Wandel der Zeit hinaushob und alle Veränderungen abwies; soweit wir Wahres echter Art besitzen, stehen wir über dem Fluß der Zeit. Das rechtfertigte die Hochschätzung des Alten und die Forderung, die eigene Arbeit eng damit zu verketten, allen schroffen Bruch aber zu vermeiden.

Aber der Vertreter des Neuen hat dem manches entgegenzuhalten. Geistiges überträgt sich nicht so einfach von der einen Zeit zur anderen, wie äußere Dinge es tun; es will immer von neuem angeeignet und anerkannt sein, die Aneignung aber ergibt leicht eine Verschiebung. Auch wo der äußere Bestand derselbe bleibt, verschieben sich oft das Verhältnis und die Bewertung der einzelnen Teile, man sieht in dem Alten etwas anderes und macht etwas anderes an ihm zur Hauptsache. Dazu kommen neue Lagen und stellen neue Fragen; Kulturen leben sich aus, neue Völker erscheinen mit neuer seelischer Art; sollte das den Stand des Geisteslebens nicht berühren? Ist es ferner zweifellos, daß das überkommene Leben unantastbare Wahrheit hat, und daß der eingeschlagene Weg sicher zum Ziele führt?

Was an Verschiebungen erfolgt, mag zunächst innerhalb der gegebenen Welt zu liegen scheinen, ja die Veränderung wird lange Zeit hindurch in keiner Weise empfunden. Dann aber kommt ein Punkt, wo die Spannung übergroß wird und die Frische wie die Wahrhaftigkeit des Lebens eine Losreißung vom Alten fordert, wo die geistige Selbsterhaltung einen Bruch mit der Tradition und ein Schaffen aus unmittelbarer Gegenwart fordert. Ob und wann solche Umwälzungen nötig werden, darüber kann allein die Erfahrung der Geschichte belehren, sie zeigt sie aber jedem Unbefangenen deutlich genug. Denn eine solche Umwälzung, vielleicht die radikalste von allen, bildet das Eintreten des Christentums mit seiner von Grund auf neuen Schätzung der Dinge; das gute Recht einer solchen Umwälzung dürfen aber auch die Reformation und die neue Wissenschaft für sich in Anspruch nehmen.

Das römische Leben der Neuzeit hätte seine Kraft und seine Innerlichkeit nicht gefunden ohne ein selbständiges Neueinsetzen und ein Hervorheben ursprünglicher Kräfte, ebensowenig konnte die neue Wissenschaft allmählich aus der Scholastik entspringen. Das menschliche Leben bedarf gewiß einer Kontinuität, aber nicht minder bedarf es einer Diskontinuität, um in frischem Fluß zu bleiben und seinen Inhalt herauszuarbeiten. Nur das läßt sich fragen, ob dabei geistige Notwendigkeiten wirken und walten, oder ob nur ein menschliches Bedürfnis nach Abwechslung erscheint.

Freilich entspringt nicht alle Wandlung als solchen geistigen Notwendigkeiten, im menschlichen Dasein, namentlich im gesellschaftlichen Zusammenleben, wirkt auch ein mehr subjektives Müdewerden des Menschen am Alten, ein Bedürfnis nach Veränderung; besonders greifbar zeigt das die Tatsache der Mode. Dabei entfernen die Zeiten sich oft weit voneinander, die einen fühlen sich wohl, indem sie ruhig die alten Wege verfolgen, andere zeigen eine eigentümliche Unruhe, eine Unbehagen an allem Vorgefundenen, eine Vorliebe für alles, was sich an Neuem regt. Diese Verschiedenheit hängt sicherlich auch mit dem Stande des Lebens zusammen, jene Unruhe bezeugt eine Kluft zwischen inneren Notwendigkeiten und äußerem Besitz, aber solcher Lage bemächtigt sich leicht die Neuerungssucht des Menschen und neigt dazu, das Alte zu verwerfen, bloß weil es alt, das Neue zu feiern, bloß weil es neu ist.

Demnach gilt es zwischen Modernem echter und unechter Art zu scheiden, einem Modernen, das eine geistige Notwendigkeit enthält, und einem Modernen, das bloß menschlicher Lust und Laune entspringt. Grundverschieden sind die Wirkungen und Aussichten beider. Bewegungen, die nur ein Verlangen der Menschen nach Veränderung, eine Beweglichkeit der Stimmung erzeugt, mögen die Oberfläche noch so sehr erregen, sie dringen nicht durch bis zur Tiefe und gewinnen keine Kraft zu schaffen; derselbe Wind, der sie brachte, wird sie wieder verwehen, der rasche Wechsel aber, der leicht die Menschen von einem Extrem ins andere wirft, muß schließlich eine starke Ermüdung bewirken; nichtig wird das Leben eines Menschen wie einer Zeit, das an solchem Modernen haftet.

Völlig anders steht es, wenn ein Modernes echter Art eine Wendung des weltgeschichtlichen Lebens vertritt und ihrem Wahrheitsgehalt zur Anerkennung verhilft. Denn dann trägt sie in sich eine geistige Notwendigkeit, deren Durchdringen für die Dauer keine Widerstand zu verhindern vermag. In einem Modernen solcher Art wohnt eine wunderbare Kraft. Scheinbar vereinzelte und zerstreute Vorgänge weisen dann nach derselben Richtung, die neue Denkweise, der Geist der Zeit ergreift die verschiedensten Gebiete, findet einen Weg in die entlegendsten Winkel und übt auch an dem eine Wirkung, der sich als einen schroffen Gegner fühlt. Eingewurzelte Meinungen und selbstische Zwecke verlieren ihre Macht gegenüber einer solchen Bewegung.

Schwierigkeit macht lediglich, daß der nächste Anblick der Dinge oft Echtes und Unechtes zusammenwirft, daß der eine mit der Abweisung des Flachmodernen auch die geistige Bewegung der Zeiten glaubt verneinen zu dürfen, während der andere das Recht des Fortschrittsgedankens auch für das Erzeugnis flüchtigster Lage und Laune in Anspruch nimmt. Der Freund des Alten pflegt sich dann als Vertreter der Ordnung, der des Neuen als Vertreter der Freiheit zu fühlen, jener dünkt sich moralisch, dieser intellektuell überlegen, jener glaubt besonders das Recht der Gesellschaft, dieser das des Individuums zu wahren.

Dabei trägt die Sache in sich selbst eine eigentümliche Dialektik. Was alt ist, war einst neu; auch THOMAS von AQUINO galt einst als "modern"; was heute neu ist, wird ins Alter kommen und sich eines anderen erwehren müssen. Das Moderne, das aufstrebt, zieht einen guten Teil seiner Kraft aus seiner Angriffsstellung; im Siege büßt er diese ein und gerät in Nachteil gegen neue Bildungen. Wie schroffe Gegensätze aus einer solchen Lage entspringen, das hält uns die Gegenwart mit eindringlicher Klarheit vor.
LITERATUR - Rudolf Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart, Berlin/Leipzig 1928