ra-2tb-1P. SternJ. CohnW. Conrad    
 
JONAS COHN
Die Gefühlswirkung der Begriffe
- Ein Beitrag zur psychologischen Erfassung
der Geschichte der Philosophie -


"Das Unendliche als Ungeordnetes, Unbestimmtes, Unerkennbares wurde von den altgriechischen Denkern bis Aristoteles mit einer Nebenbestimmung des Wertlosen gedacht. Der siegesmutige Verstand jener kühnen Pfadfinder im Reich der Philosophie vergötterte gewissermaßen sich selbst und glaubte in dem, was er selbst am klarsten erfassen konnte, auch das wirklich Höchste zu erfassen. So wurde das Unerkennbare mit Mißtrauen betrachtet. Aber das Denken wurde bald an sich selber irre."

Man hat die Entwicklung des philosophischen Denkens einen dialektischen Prozeß genannt. Man wollte damit sagen, daß sich die Gedanken jedes Philosophen aus dem von ihm vorgefundenen Stand der Probleme mit logischer Notwendigkeit ergeben. So viel Wahres in dieser idealen Konstruktion liegt, so sehr sie als regulatives Prinzip dienen kann, wenn es sich darum handelt, das Bedeutsame und Fördernde aus den Gedanken eines Philosophen herauszuschälen, so wenig wird sie den Erscheinungen der philosophischen Entwicklung in ihrer ganzen Komplikation gerecht. Vielmehr zeigen sich in diesen Zusammenhängen außer den logischen noch mannigfaltige andere Motive wirksam, welche wir, ohne noch etwas über ihre mögliche Natur auszusagen, als  alogische  bezeichnen können. Diese Motive entspringen der Gesamtheit der denkenden Persönlichkeit in ihrer historischen und individuellen Bedingtheit. Eine besondere Seite dieser Motive soll uns im Folgenden beschäftigen.

Wir haben uns bisher und werden uns auch im weiteren Verlauf wesentlich mit den eigentlich philosophischen Problemen beschäftigen. Doch sei gleich von vornherein darauf hingewiesen, daß sich ganz ähnliche Verhältnisse auch in der Entwicklung der nicht philosophischen Wissenschaften aufweisen lassen, wenn auch nicht überall in gleicher Stärke.

Indem der Begriff gewisse einzelne Momente unserer Vorstellungen heraushebt und für sich betrachtet, verzichtet er als solcher auf die Möglichkeit, vorgestellt zu werden. Wenn wir mit Begriffen operieren wollen, so machen wir das in der Weise, daß wir dem Begriff eine bestimmte repräsentative Vorstellung unterschieben, in derselben aber die im Begriff nicht gesetzten, sondern nur zur Vorstellbarkeit nötigen Determinationen als unwesentlich behandeln und bei unseren Schlüssen nicht berücksichtigen. So verfährt zum Beispiel der Mathematik, wenn er Sätze, die vom Dreieck überhaupt gelten, an einem bestimmten Dreieck  ABC  beweist. Indessen kann als Repräsentant des Begriffs in unser Bewußtsein auch sein Zeichen eintreten. Ich erinnere an die Art, wie der Arithmetiker seine Buchstabensymbole benutzt. Je allgemeiner und abstrakter ein Begriff ist, desto mehr wird diese Repräsentation durch Zeichen statthaben. Als Zeichen dient nun in den weitaus meisten Fällen das durch die Sprache geprägte Wort. Dieses Wort soll nur das bezeichnen, was ich als seine Bedeutung fixiert habe. Man sagt häufig, dieses oder jenes folge aus einem Begriff, liege in einem Begriff. Sofern es sich hier nicht um Bestimmungen handelt, welche ich in der Tat bereits in den Begriff gelegt habe und nun nur aus gewissen Gründen besonders hervorhebe oder auf einen unter den Begriff subsumierten Fall anwende, ist dieser Ausdruck ungenau und, da er zu Irrtümern schwerwiegendster Art führen kann, verwerflich. Wenn ich z. B. ein Dreieck als eine von drei geraden Linien umschlossene ebene Figur definiert habe, so folgt der Satz, daß die Winkelsumme des Dreiecks zwei Rechte beträgt, nicht aus diesem Begriff allein, sondern erst unter Hinzunahme von anderen allgemeinen Bedingungen der Raumanschauung; nach dem gewöhnlichen Beweis unter Hinzunahme der Sätze von den parallelen Linien. Wenn ich das Wirbeltier als ein Tier mit innerem dorsalem [Rücken - wp] Skelett definiert habe, so folgt der Satz, daß jedes Wirbeltier ein dorsales Zentralnervensystem hat, nicht etwa aus dem Begriff des Wirbeltieres, sondern aus der Erfahrung, daß jene erst gesetzte Eigenschaft eines Tieres nie ohne diese zweite vorkommt. Durch solche Erfahrungen oder Deduktionen mehren wir den Gehalt unserer Begriffe; sie erst machen uns die Begriffe wertvoll für das Erkennen.

So stellt sich der Begriff als ideale Forderung im Zusammenhang eines wissenschaftlichen Systems dar. In seiner historischen Wirklichkeit entspricht er dieser idealen Forderung nicht. Der Name, welcher der Begriff repräsentiert, verbindet sich vielmehr mit allerlei schwer kontrollierbaren Nebenvorstellungen und Vorstellungsbeziehungen, er gewinnt infolgedessen auch eine Beziehung zum Gefühlsleben. Er erhält einen gefühlsmäßigen Wert, der, ohne dem Denkenden immer zu klar eingestandenem Bewußtsein zu kommen, doch in seinem Denken die bedeutendsten Folgen hat. Auch in einen klaren wissenschaftlichen Begriff kann ein Gefühlston aufgenommen sein, man denke an "schön", "gut" und andere Wertbegriffe, aber dann ist der Gefühlston gewissermaßen rationalisiert; dieser Fall soll im Folgenden nicht berücksichtigt werden. Man könnte wohl sagen, daß jenes komplexe Gebilde in seiner empirischen Getrübtheit nicht mehr den Namen  Begriff  verdient. Indessen wird es dann häufig schwer sein, in den Gedankenbildungen, wie sie uns überliefert sind, überhaupt reine Begriffe zu finden. Ich werde daher im Folgenden diesen empirisch getrübten Begriff ruhig als Begriff bezeichnen. Ein solcher Begriff ist dann gewissermaßen ein lebendes und sich veränderndes Gebilde. Eine der in der Lebensgeschichte dieses Gebildes waltenden Kräfte soll in dieser Arbeit betrachtet werden. Nicht die trotz ihrer Trivialität noch von manchen bestrittene Wahrheit, daß alogische Motive in der Geschichte der Philosophie wirken, soll bewiesen werden, vielmehr soll über die Natur einer Seite dieser Motive näheres ausgesagt werden. Dazu ist zuerst zu betrachten, wie Begriffe einen Gefühlston erlangen, dann ist die Entwicklungsgeschichte einer solchen Gefühlswertung zu verfolgen, endlich die Bedeutung, der Einfluß dieser Erscheinung zu untersuchen.

Ehe ich mich aber daran mache, die Gefühlsbeziehungen der Begriffe zu betrachten, möchte ich noch eine Forderung abwehren, die vielleicht an mich gestellt werden könnte, die Forderung nämlich, mich über meine Anschauung vom Verhältnis der Vorstellungen und Gefühle zu erklären. Es genügt hier, wenn ich auf einen allgemein anerkannten Tatbestand hinweise. Wenn eine Vorstellung einmal mit einem Gefühl verbunden war, so ruft die Reproduktion der Vorstellung häufig dieses Gefühl wieder hervor. Wenn ich ein näheres Eingehen auf Theorien hier abweise, so geschieht dies, weil das Folgende mit jeder möglichen Theorie bestehen kann.

Wenden wir uns nun dazu, zu untersuchen, in welcher Weise ein Begriff gefühlsmäßige Beziehungen erlangt. Dabei kommt zunächst sein Erkenntniswert in Betracht. Ein philosophisches Prinzip ist Erkenntnisquelle für all den Reichtum der Wirklichkeit oder soll es doch sein. Das Finden des Prinzips hat dem Denker Mühe gekostet und an das mühsam Errungene heftet sich unsere Zärtlichkeit. Soweit sich die Wertschätzungen hier auf die erkenntnismäßige Bedeutung des Begriffs beschränken, sind sie völlig berechtigt; aber sie führen leicht dazu, den Wert auf das durch den Begriff Bezeichnete zu übertragen. So werden ästhetisch-ethische Wertgefühle mit den philosophischen Prinzipien verbunden. Diese Verbindung ist keine ganz ursprüngliche. ARISTOTELES tadelt einmal die alten Naturphilosophen, weil sie ihre Prinzipien nicht für gut erklärt haben. Überhaupt müssen wir uns hüten, unsere überlieferten Wertbestimmungen auf die primitiven Denker zu übertragen. Man findet es z. B. öfters so dargestellt, als habe ANAXIMANDER seinem gestaltlosen unendlichen Urstoff eine pantheistische Vergötterung zuteil werden lassen. Wie falsch das ist, beweist jenes einzige Fragment, in welchem uns, wie es scheint, eigene Worte des milesischen Denkers aufbewahrt sind. Hier heißt es, daß die Einzeldinge in das Prinzip aufgehen müssen, um Strafe für ihre Ungerechtigkeit zu erleiden. Die Hineintragung eines positiven Gefühlswerts in das Prinzip allen Seins ist erst später erfolgt. Es scheint mir, als habe bei dieser Wertbestimmung die Liebe eine Rolle gespielt, mit welcher der Philosophe den fruchtbaren Ausgangspunkt seines Erkennens umfaßte. Dabei darf man nicht vergessen, daß dem griechischen Denker der besseren Zeit die Freude am Erkennen eine ungebrochene war. Wer sich das völlig zu Bewußtsein bringen will, der lese die begeisterten Verse, mit denen PARMENIDES den Begriff des Seins einführt. Diese freudige Zuversicht auf die siegende Macht der Erkenntnis erhob sich auch nach ihrer ersten Bekämpfung durch die Sophisten wieder in ungetrübtem Glanz. Hier sind die Wertverhältnisse sehr kompliziert. Das wahrhaft Wertvolle ist erkennbar, die Wertprinzipien sind im Grunde Prinzipien klarer Erkenntnis. Was sich dem Erkennen nicht unterwerfen läßt, ist verdächtig, erhält eine negative Gefühlswertung. So geht es dem Begriff  "unendlich".  Nur das Begrenzte vermögen wir zu erkennen. Die begrenzenden Prinzipien sind die Prinzipien der Ordnung und damit des Guten. Zuerst läßt sich diese Wertung bei den Pythagoreern nachweisen. Sie besteht aber dann bei PLATO und ARISTOTELES fort. Bei ARISTOTELES muß die Welt begrenzt sein, weil sie vollkommen ist, weil das Unbegrenzte als unvollkommen gedacht wird. Dieses Argument fühlt man, auch wo es nicht ausdrücklich aufgeführt wird, hinter den schwierigen Beweisführungen des Philosophen als treibende Kraft. So verwickelt sich der Erkenntniswert eines Begriffes mit anderen Werten zu einer schwer kontrollierbaren Gefühlswirkung. Ähnliches wie für den Begriff "unendlich" ließe sich zum Beispiel auch für den Begriff "einfach" nachweisen.

Im Verlaufe der Geschichte des menschlichen Denkens werden die Begriffe immer abstrakter und allgemeiner. Aber da die Namen der Begriffe dieselben bleiben, so spielen im Geiste der Denker die eigentlich ausgeschlossenen determinierenden Elemente weiter eine Rolle. Sie können ebenfalls zu eigentümlichen Gefühlsbetonungen führen. Hier wäre an das Verhalten einiger neuerer Biologen gegenüber dem Begriff "Entwicklung" zu erinnern. Man hat sich etwa der DARWINschen Selektionstheorie angeschlossen, man hat versucht, die organische Entwicklung mechanistisch zu erklären. Dadurch hat man den Begriff eines erstrebten Zieles aus dem Entwicklungsbegriff ausgeschlossen. Dann aber schleicht sich doch wieder der "Fortschritt" hinein, obwohl dieser Ausdruck nur da Sinn und Bedeutung besitzt, wo ein Ziel oder mindestens eine Richtung des Schreitens als wertvoll vorgestellt wird. Ist es hier ein ausdrücklich ausgeschlossenes Begriffsmoment, welches wieder hineingelegt wird, so ist in anderen Fällen ein Teil des unter dem Begriffsumfang Gedachten maßgebend. Wenn der philosophierende Botaniker ALEXANDER BRAUN sich in eingehender Untersuchung damit beschäftigte, festzustellen, was bei der Pflanze das Individuum sei, so war es sicherlich der Wert der menschlichen Individualität, welcher ihn leitete.

Solche Verhältnisse werden erleichtert durch die Namen der Begriffe. Diese Namen sind entweder schon vom gewöhnlichen Denken oder von der vorangehenden philosophischen Entwicklung mit einem reichen und in Folge des wechselnden Gebrauchs ungleichartigen Inhalt versehen worden. Selbst wenn genau bestimmt wird, welcher begrifflichen Beziehung der Name zu dienen hat, was bekanntlich durchaus nicht immer geschicht, so schleichen sich doch im Verlauf der Erörterungen sehr leicht die populären oder traditionellen Bedeutungen mit ein. Wie leicht sich gerade mit einer Bezeichnung eine gefühlsmäßige Wertung der bezeichneten Sache verbindet, ist bekannt. Man denke z. B. an "Schulmeister" und "Lehrer". So gewinnen in der philosophischen Sprache Bezeichnungen wie "früher", "höher", auch wenn sie sich auf eine Priorität im Erkennen beziehen, sehr leicht die Nebenbedeutung des Vorzüglicheren. Dabei kann entweder durch den Namen ein Gefühlselement in den Begriff hineinkommen oder der irgendwie schon mit Gefühlen verbundene Name kann einem Begriff mit der uneingestandenen Absicht beigelegt werden, ein bestimmtes Gefühl für ihn zu erwecken. Man denke an die philosophischen Parteibezeichnungen.

Nachdem ich versucht habe, einige Motive, welche bei den Gefühlswertungen der Begriffe maßgebend werden, zu entwickeln, sei es mir erlaubt, an einem bestimmten Beispiel die Schicksale einer solchen Gefühlsbetonung vorzuführen. Es wird kaum nötig sein, hervorzuheben, daß es mir hier wie überall in diesen Betrachtungen fernliegt, in den Gefühlsbestimmungen das einzige oder auch nur das wesentlichste Motiv der angeführten begrifflichen Bestimmungen zu suchen. Nur ist es mir natürlich nicht möglich, in diesem Zusammenhang auf die anderen treibenden Kräfte, insbesondere auf den, durch alle Verhüllungen hindurch sich offenbarenden, logischen Fortschritt des Gedankens einzugeben. Als Beispiel für die Schicksale einer Gefühlswertung wähle ich den Begriff unendlich. (1)

Es ist schon darauf hingewiesen worden, wie das Unendliche als Ungeordnetes, Unbestimmtes, Unerkennbares von den altgriechischen Denkern bis ARISTOTELES mit einer Nebenbestimmung des Wertlosen gedacht wurde. Der siegesmutige Verstand jener kühnen Pfadfinder im Reich der Philosophie vergötterte gewissermaßen sich selbst und glaubte in dem, was er selbst am klarsten erfassen konnte, auch das wirklich Höchste zu erfassen. So wurde das Unerkennbare mit Mißtrauen betrachtet. Aber das Denken wurde bald an sich selber irre. Die praktische Tendenz der späteren Schulen, die quietistische und rein negative Abzweckung des Skeptizismus zeigen den Wendepunkt. Die Denker mußten geneigt werden, das Höchste, Göttliche, dessen sie bei der Überzeugung ihrer Schwäche umso mehr bedurften, als unerkennbar zu setzen und wie könnte hierfür im Schatz der philosophischen Begriffe ein passenderer Ausdruck gefunden werden, als der des Unendlichen? Von den Neupythagoreern und PHILO vorbereitet, wird diese Lehre vom Göttlichen als einem Unendlichen bei PLOTIN mit voller Energie durchgeführt. Nun fand aber diese Umwertung nicht im bewußten Gegensatz zu PLATO und ARISTOTELES statt. Vielmehr wurde an einzelne verwandte Lehren dieser Denker angeknüpft. Auch blieb die alte Wertung neben der neuen bestehen. Es wird so eine doppelte Unendlichkeit aufgestellt, eine Unendlichkeit aus Mangel, welche der Materie verbleibt, und eine Unendlichkeit aus unbegreiflicher Erhabenheit, welche dem Göttlichen zukommt. Aber mehr und mehr gerät jene schlechte Unendlichkeit in Vergessenheit, die Unendlichkeit überhaupt, wo sie auch auftritt, wird schließlich als wertvoll empfunden. Diese Vorstellung von Gott als dem absolut unendlichen Wesen geht auf die Kirchenväter und durch diese auf das Mittelalter über. In der Blütezeit der Scholastik tritt nun aber wiederum der Beginn einer Wandlung ein. Man sucht sich verstandesmäßig dem Göttlichen zu nähern und man glaubt, gerade in jenem Begriff des Unendlichen einen Angriffspunkt für eine solche Erfassung zu haben. So lehrt THOMAS von AQUINO, daß alles so weit erkennbar ist, als es  actu,  d. h. in Wirklichkeit, nicht nur der Möglichkeit nach, existiert. Gottes Unendlichkeit ist daher das am meisten Erkennbare, wenn sie auch von einem endlichen Geist, dessen Schranken sie überschreitet, nicht adäquat erkannt werden kann. Die volle Unerkennbarkeit bleibt dann jener schlechten potentiellen Unendlichkeit der Materie.

Als nun die Philosophie die Bande der Tradition zu sprengen begann, da machte diese Rationalisierung des Unendlichen weitere Fortschritte. Die Mystik, welche damals mächtiger wurde als je, legte mehr und mehr den Nachdruck auf das Wissen der Dinge mittels des Unendlichen; die Unerkennbarkeit des Unendlichen trat dagegen zurück. In der Entwicklung des NICOLAUS CUSANUS kann man das verfolgen. In seinen späteren Schriften wird das Unendliche gleichzeitig Erkenntnisziel und Erkenntnismittel. Bei ihm beginnt auch eine andere Übertragung. Die Welt wird wieder als wertvoll empfunden uns so wird ihr auch das Prädikat des Wertvollen beigelegt. Schon dem Cusaner ist die Welt unendlich und zwar von wertvoller Unendlichkeit, wenn auch diese Bestimmung immer wieder abgeschwächt wird. Klarer tritt der Zusammenhang zwischen Unendlichkeit der Welt und Weltvergötterung in BRUNOs glühenden Schriften hervor. Gleichzeitig ist hier in der Rationalisierung des Unendlichen fortgeschritten. Vollendet wird diese Entwicklungsreihe durch SPINOZA; hier fällt im Unendlichen Gott und die Welt zusammen und zugleich ist das Unendliche das am tiefsten Erkannte. Während also im Altertum die Wandlungen im Vertrauen auf die Erkenntnis eine Umwertung des Unendlichen zur Folge hatten, wurde beim neuerwachten Vertrauen auf das Erkennen vielmehr das Unendliche mit beibehaltener Gefühlswertung rationalisiert. Es ist natürlich, daß bei veränderter Wertung der Begriff  unendlich  anfangs mehr der Unbegrenztheit räumlichen Fortgangs, nach der positiven Wertung mehr der unendlich wirkenden Kraft gegolten. Doch blieb damit die andere Bedeutung immerhin verbunden und gewann z. B. bei BRUNO wieder die Oberhand.

Da der Begriff, wie er in der Geschichte der Wissenschaften auftritt, ein komplexes Gebilde ist, aus mannigfachen Beziehungen und Eigenschaften sich zusammensetzt, so kann natürlich die Verschiedenheit der Gefühlswirkung nicht ohne Einfluß auf seine Gestaltung bleiben. Sie wird stets zur Hervorhebung der Seiten führen, die ihr jeweilig entgegenkommen. Wo aber bei allen diesen Änderungen die Überzeugung bestehen bleibt, daß es sich um die alten Begriffe handelt, da werden die widerstrebenden Seiten nicht vernichtet, sondern nur zurückgedrängt werden und man wird ruhig von der Umwertung und Umbildung des alten Begriffs reden dürfen.

Wenn wir uns die Bedeutung der Gefühlsbeziehungen philosophischer Begriffe klar machen, so treten sie uns zunächst als verwirrende Elemente entgegen. Aber sie können auch anregend wirken. Der Anstoß zu wichtigen Untersuchungsreihen kann von ihnen ausgehen. ALEXANDER BRAUNs schon erwähnte Wertschätzung des Individuums im Pflanzenreich durch eine Unterschiebung der vollen menschlichen Individualität führte diesen Forscher zu höchst wichtigen Untersuchungen über die Verzweigung der Pflanzen. An dem ungeheuren Eifer, mit welchem die neuere Biologie den Erscheinungen der Entwicklung nachgespürt hat, ist jene falsche Wertunterschiebung durch den Begriff des Fortschritts gewiß nicht ohne Einfluß geblieben. Ohne die traditionelle Wertschätzung des Unendlichen hätte NIKOLAUS von CUES kaum mit solchem Eifer sein Genie in den Dienst mathematischer Unendlichkeitsfragen gestellt, hätte BRUNO kaum mit so glühendem Feuer die neue Auffassung der Sternenwelt vertreten.

In den Wertungen der Begriffe kommen zudem Probleme, wenngleich in unklarer, fast verstohlener Art, zum Ausdruck, welche trotz ihrer ungeheuren Wichtigkeit nur selten oder nie mit der gebührenden Aufmerksamkeit gewürdigt worden sind. Nicht nur unserem ästhetischen und ethischen Schaffen und Urteilen liegen Wertschätzungen zugrunde, auch der Gang des Erkennens ist überall von ihnen geleitet. Man denke an die Forderung der Einfachheit erklärender Hypothese, an den alten Satz, daß die Prinzipien nicht ohne Not zu vervielfältigen sind. Alle Wertprinzipien nun hängen innig zusammen, sind als solche nur aufzuzeigen, nicht zu beweisen. Die Aufgabe besteht überall darin, sie zu vollen Deutlichkeit des wissenschaftlichen Bewußtseins zu erheben. Geschieht dies nicht, so derderben sie die reine Klarheit der wissenschaftlichen Konzeption, ohne dabei selbst zu ihrem vollen Recht zu gelangen. Ein Beispiel wird die Sache etwas klarer machen. Man hat die Seele gern als einfach gesetzt und diese Bezeichnung mit Emphase verteidigt. Im Hintergrunde schwebte dabei fast immer der Wunsch, aus der Einfachheit die Unzerstörbarkeit abzuleiten. Nur das Zusammengesetzte kann durch Auseinanderfallen seiner Teile aufgelöst werden, das Einfache bleibt als letztes Element stets unverändert. Man vergaß, daß dasjenige, was man erhalten wollte, denn doch gerade jener hochkomplizierte Zusammenhang geistiger Betätigungen war. Zu einem fast komischen Ausdruck gelangt die Verwechslung, wenn die Materialisten, um für die Sterblichkeit zu entschädigen, auf die Erhaltung von Kraft und Stoff hinweisen. Als ob uns an der Erhaltung der ungeformten Elemente irgendetwas gelegen sein könnte! Wenn man aus der Sehnsucht nach Unsterblichkeit die roheren Momente beiseite setzt, so bleibt der Mensch übrig, mit unserer Arbeit und Mühe, mit unserem Freuen und Leiden nicht ins Zwecklose zu versinken, sondern an unzerstörbaren Zusammenhängen Teil zu haben und mitzustreben. Es bleibt also, wenn man vom individuellen Lebensdurst absieht, der Wunsch nach ewiger Erhaltung der geistigen Werte bestehen. Ob dieser Wunsch Berechtigung besitzt, ob die Art dessen, was wir vom Weltzusammenhang wissen oder ahnen, für ihn Befriedigung hoffen läßt oder unser Sehnen unerbittlich vernichtet, das bleibt eine wichtige philosophische Frage. Bejahende und verneinende Antworten müssen hier in gleicher Weise diskutiert und geprüft werden. Nur soll man wagen, der eigenen Konsequenz ins Auge zu blicken und nicht Steine statt Brot geben. Die Einsicht in diese innere Natur unseres Sehnens nach Unsterblichkeit wird mehr und mehr auch den mystischen Bann lösen, mit dem selbst heute noch der Begriff "einfach" in der Psychologie umhüllt ist.

So greifen die Gefühlswerte überall mächtig in den Entwicklungsgang der Begriffe ein. Dieses Verhältnis macht die ohnehin wichtige Aufgabe einer klaren Darlegung der herrschenden Wertprinzipien für jede künftige Philosophie nur umso dringender. Die Tragweite der geschilderten Verbindungen erstreckt sich übrigens weit über die angeführten Beispiele hinaus. In der Geschichte der Begriffe "Freiheit" und zwar sowohl im ökonomischen und politischen, wie im moralischen Sinn genommen, "notwendig", "zufällig", "a priori", "Vernunft", "Erfahrung" usw. werden sich ähnliche Verhältnisse nachweisen lassen. Überall empfängt der Denker Worte und Begriffe mit einer gewissen Wertung versehen, überall wird er diese Wertung je nach seiner Kraft und Individualität fortleiten oder verändern.
LITERATUR - Jonas Cohn, Die Gefühlswirkung der Begriffe, Philosophische Studien, Bd. 12, Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Für die nähere Begründung des Folgenden möchte ich auf eine in Vorbereitung befindliche Arbeit über "die Geschichte des Unendlichkeitsproblems" verweisen.