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FELIX RAPPAPORT
Zur Logik des Wollens

"Die sogenannten Geisteswissenschaften sind Willenswissenschaften und die Unterscheidung zwischen  praktischer und theoretischer  Vernunft entfällt somit. Beides ist identisch, die Vernunft ist einheitlich und stellt den Bereich der Gesamtheit der Volitionen dar."

"Eine der Hauptursachen für die den Psychologismus kennzeichnende fälschliche Identifizierung der geistigen mit den psychischen Phänomenen ist die irrige Annahme, daß das Zwecksetzungsvermögen bereits dem Bewußtsein angehört. Der Wille als Zwecksetzung hat keinerlei Verwandtschaft mit dem Willen als psychischer Funktion und läßt sich daher nicht aus den  Komplikationen  desselben erklären."

"Der gemeinsame Schlüssel zur theoretischen Interpretation der Vernunftwissenschaften ist eine Art der Wertbegriffsbildung, welche auf der prinzipiellen Unterscheidung zwischen der Logik des Intellekts und der der Vernunft fußt. Zu den Klassen des teleologischen Willens gehören die Zwecksetzung, das Wünschen, das Begehren und das primäre Wollen - die Klassen des typischen (determinierten) Wollens sind der Affekt, die Leidenschaft, die Emotion und der Trieb."



§1.

Mehrfach sind im Verlauf der letzten Jahrzehnte die bereits seitens der Nachfolger KANTs und der Romantiker angebahnten Versuche, die logische Struktur des scheinbar irrationalen geistigen und geschichtlichen Geschehens zu finden, wieder aufgenommen worden. Einerseits von einem halb idealistischen, halb empiristischen Standpunkt aus (1), andererseits vom Psychologismus - TAINE - ist die Frage nach der Möglichkeit einer systematischen Interpretierung der "Kulturwissenschaften" und einer "Gliederung der Werte" (RICKERT) aufgeworfen worden. So wird vom Urheber der "Kulturhistorischen Methode" (LAMPRECHT) die These verkündet, daß die begriffliche und daher wissenschaftliche Darstellung in der Geschichte die idealisierende (pragmatische) abzulösen habe. Dieser Ansicht gegenüber muß wohl darauf hingewiesen werden, daß eine derartige begriffliche Interpretation in einem kantischen Sinn sich auf die "Erfahrung" beschränken und daher Vorstellungen (Objekte) zum Material haben muß, daß es sich jedoch in der Geschichte wie in allen Geisteswissenschaften nicht um Vorstellungen, sondern um  Volitionen  handelt.

Es muß ferner die Unhaltbarkeit der bisher in Schwang gehenden Anschauung, daß "die Bezeichnung Geisteswissenschaften die Unterscheidung zwischen Naturerscheinungen und geistigen Erscheinungen voraussetzt" (2), betont werden. Diese Bezeichnung betrifft vielmehr die  Unterscheidung zwischen Willensphänomenen und psychologischen Phänomenen  (wobei zu letzteren die sogenannten "Naturerscheinungen" gehören). Das Bewußtsein als die Einheit des psychologischen Subjekts, darf nicht mit dem Selbstbewußtsein, der Einheit des volitionalen (wertenden) Subjekts, in jener Weise identifiziert werden, wie dies auch seitens der idealistischen Richtungen - z. B. bei FICHTE - bisher stets der Fall war. Die sogenannten Geisteswissenschaften sind Willenswissenschaften und die Unterscheidung zwischen "praktischer und theoretischer" Vernunft entfällt somit. Beides ist identisch, die Vernunft ist einheitlich und stellt den Bereich der Gesamtheit der Volitionen dar.

Eine systematische Darstellung der Geisteswissenschaften dürfte sich daher erst dann ermöglichen, wenn die Grenze zwischen dem Bereich des Willens einerseits und demjenigen der formalen Logik andererseits deutlich gezogen worden ist. Obgleich sich das Vorhandensein dieser Grenze schon aus KANTs "Kritik" ergeben muß, ist sie doch bisher weder seitens des Idealismus, noch seitens des Psychologismus anerkannt worden. Auch der erstere hat zwischen  rationaler und intellektueller  Logik nicht unterschieden und nicht festgestellt, daß, sie die  transzendentale Analytik als formale Logik die Voraussetzungen der Naturwissenschaften enthält, jene der Geisteswissenschaften in einer transzendentalen Dialektik des Willens als Reallogik gesucht werden müssen. 

Von diesem Gesichtspunkt kann zwar der Behauptung des Positivismus, daß in geschichtlichen Erscheinungen Begrifflichkeit und Gesetzmäßigkeit waltet, zugestimmt werden, jedoch nicht jener, daß sie daraus durch induktive Abstraktion, also durch die Mittel des Intellekts gefunden werden könnte.


§ 2.

Wenn die Geisteswissenschaften sich bisher in einem Stadium der bloßen "Kodifikation" (3), nicht aber der Systematisierung befinden, so liegt das zunächst an der Unmöglichkeit, die Begriffsbildung im formalen Sinn auf den Boden der Willensphänomene zu übertragen. Wenn der Psychologismus die Begrifflichkeit und die Kausalität in das geistige Geschehen einführen zu können erklärt, so ist dies eine Identifizierung zweier in logischer Hinsicht verschiedener Erkenntnismittel, nämlich des Begriffs und des Typus. Der erstere involviert eine apriorische Synthese, während der letztere ein empirisches Denkmittel darstellt. In der Tat sind dann auch die Termini, welche die Geisteswissenschaften in ihrer jetzigen Betriebsart verwenden, keine Begriffe, sondern Typen. Die Literaturästhetik (Poetik) sowie die Jurisprudenz stellen bisher keine begrifflichen, sondern typisierende Komplexe volitionaler Phänomene dar. Wenn somit der Realpsychologismus LAMPRECHTs auch die politische Geschichte auf eine typisierende Basis unter Ausschaltung des Individuellen stellt, so ist dies noch keine Beschaffung einer begrifflichen Gesetzmäßigkeit, wie er behauptet. Diese anscheinend neue Strömung, welche die Geschichte und die Geisteswissenschaften als "angewandte Sozialpsychologie" interpretiert, entspringt, wie sich bei tieferem Eindringen bald zeigt, einer längst vorhandenen Willenstheorie, nämlich dem Determinismus. Die Annahme einer durchgängigen logischen Determiniertheit des Wollens ist die unausgesprochene Voraussetzung der TAINE- und LAMPRECHTschen Theorien. Der Realpsychologismus, zu dem insbesondere auch die "zergliedernde und beschreibende Psychologie" DILTHEYs gehört, welche von der primären Psychologie die Bewertungsphänomene und Zweckzusammenhänge trennt, ist somit zunächst keine gegen das Individuelle gerichtete methodologische, sondern eine gegen die Willensfreiheit gerichtete erkenntnistheoretische, bwz. metaphysische Doktrin. Eine für die Systematisierung der Geisteswissenschaften verwendbare Begriffsbildung läßt sich aber wohl nur mittels einer auch die indeterministischen Phänomene (Werte) einschließenden, also einer reallogizistischen Grundlage, nicht aber aufgrund einer bloßen Dynamik des Wollens herstellen.

Es ist also unrichtig, daß, wie ein Psychologist sagt, geisteswissenschaftliche "Theoreme aus Gleichförmigkeiten von Teilinhalten der Wirklichkeit abstrahiert werden können". Das Wesen des Theorems liegt in seiner Allgemeigültigkeit, welche der bloßen Induktion nicht entspringen kann. Der Begriff in der Geisteswissenschaft ist die Abbreviatur eines Theorems, wobei letzteres den Wert voraussetzt. Die Werte können jedoch nicht als "Teilinhalte der Wirklichkeit" im Sinne des Determinismus aufgefaßt werden. Die Begriffsbildung innerhalb der Geisteswissenschaften muß ebenso für den Bereich des freien, wie das des determinierten Wollens ihres Gültigkeit bewähren. Hierdurch unterscheidet sie sich von der Typenbildung (RICKERT). Wie in der formalen Logik (bei KANT) zwischen "reinen und empirischen" Begriffen unterschieden wird, existiert dieser Gegensatz auch in der Reallogik. es ist zwischen jener Abstraktionsart, bei welcher aufgrund der Induktion Gattungstypen gebildet werden, und derjenigen zu unterscheiden, bei welcher die abstrahierten  Allgemeinheiten zugleich als Ursachen des Besonderen aufzufassen sind.  Hierin liegt der Unterschied zwischen Begriffs- und Typenbildung, der vom Psychologismus verkannt wurde.

So ist auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften der Bereich des Kausalen auf die Mechanik eingeschränkt, während die Vorgänge in der Biologie eine bloß empirische - nicht logische - Gesetzmäßigkeit aufweisen. In der mathematischen Naturwissenschaft werden die Vorgänge aus den Begriffen, in der Biologie dagegen die Begriffe aus den Vorgängen hergeleitet. Das Kausalprinzip als Methode des Erkennens wird aber bei KANT mit der ersteren Art der Synthese identifiziert. Folglich ist es zumindest vom kantischen Standpunkt aus nicht zutreffend, daß LAMPRECHT, wie er behauptet, "die absolute Kausalität auf das geistige Gebiet" übertragen hat. In der Kausalität ist nicht die bloße Notwendigkeit der Sukzession wie bei HUME, sondern die im obigen Sinne begriffliche Notwendigkeit gedacht und sie involviert das Moment der transzendentalen apriorischen Synthese.


§ 3.

Dieser Gegensatz zwischen apriorischer und empirischer Synthese führt in methodologischer Hinsicht zur Trennung der theoretischen von den nur dynamischen Geisteswissenschaften, je nachdem die Faktoren des Geschehens begriffliche oder typische sind. Zu diesen letzteren zählen jene Fächer, in denen das Geschehen nicht teleologisch bestimmt ist und daher die Vorgänge ohne logische Bestimmbarkeit, wie die Ethnologie, Anthropologie, Soziologie und Nationalökonomie. Es trifft aber nur für diese Fächer zu, daß die Psychologie die Basis des geistigen Geschehens bildet. Daher kann nicht das geschichtliche Geschehen in seiner Gesamtheit auf diese dynamisch-soziologische Grundlage im Sinne eines TAINE'schen Monismus gestellt werden (4) und die Geschichte nicht in der "historischen Ethnologie" - wie LAMPRECHT erklärt - aufgehen, da es sich hier um unaufhebbare logische Gegensätze handelt. Diejenigen Abhängigkeitsverhältnisse, in denen in bewußtes Wollen zum Ausdruck kommt - also die ethischen und juristischen - beruhen auf apriorischen transzendentalen Begriffen, welche zugleich die Ursachen der Vorgänge sind, im Gegensatz zu denjenigen, aus welchen die Typen empirisch abgeleitet werden. Die Kulturwissenschaften sind daher nicht "angewandte Sozialpsychologie" (5). Die Geschichtsschreibung im älteren "pragmatischen" Sinn ist vielmehr eine den juristischen Fächern nahestehende Wissenschaft, sie ist Rechtsgeschichtsschreibung; staatsrechtliche oder politisch-historische Begriffe sind vom ethnologischen oder soziologischen Standpunkt aus nicht interpretierbar, weil sie eine andere Willensgattung voraussetzen, als die deterministische. Es handelt sich also in der Kulturgeschichtsschreibung nicht, wie LAMPRECHT sagt, um den Gegensatz von "Kausalität und Transzendenz", sondern um jenen zwischen  deterministischen und teleologischen  Volitionsphänomenen. Das "Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit des Wollens", das SIGWART als das Problem der Metaphysik bezeichnet, ist auch die Achse des Problems der Reallogik und somit der Methodik der Kulturwissenschaften.


§ 4.

Die Basierung des geistigen Geschehens auf sozialpsychologische Grundlagen geht also von der deterministischen Interpretierung der Volitionsphänomene aus, wie andererseits die pragmatisch-individualisierende Darstellung auf einem Indeterminismus fußt. Die Systematisierung der geistigen Phänomene in ihrer Gesamtheit läßt sich jedoch weder vom einen noch vom andern Gesichtspunkt aus durchführen. Wenn seitens eines Sozialmonismus die Ausschaltung der Individualisierung zugunsten der Typisierung proklamiert wird, weil erstere sich nicht kausal darstellen läßt, so ist demgegenüber darauf hinzuweisen, daß der Kausalitätsbegriff im Bereich des Willens nicht mit dem Begriff der Determiniertheit identisch ist. Es gibt vielmehr auch eine individuelle Kausalität (6). Schon äußerlich lassen sich in der Geschichte zwei Arten der Sukzession unterscheiden. Die geistigen Phänomene resultieren entweder aus gleichzeitigen Einflüssen im Sinne der TAINE'schen Gesamtzustände - "Totaldispositionen" - also aus heterogenen Volitionen, wie etwa die Änderungen der Sitten, die Sprachentwicklung und die ökonomischen und ethnologischen Prozesse. Dieser Evolutionsbewegung gegenüber läßt sich eine andere Art der Progression feststellen, der gemäß die Phänomene aus homogenen, vorhergehenden Quellen entstehen, also nicht kontinuierlich, sondern in Stufen, wie die juristischen und politischen Phänomene. So ist es ersichtlich, daß z. B. die Entwicklung des römischen Rechts eine derartige Progression homogener Volitionen darstellt, insofern die hierbei dominierenden Tendenzen gleichbleibend stets nur aus ihren eigenen Antezedenzien, nicht aber aus gleichzeitigen heterogenen Elementen, also nicht aus Totaldispositionen oder sozialpsychologischen Momenten (etwa im Sinne der Theorie SAVIGNYs) hergeleitet werden können, weil sich sonst eine Änderung der Gesamttendenz ergeben hätte, die nicht eingetreten ist. Es ist dies ein hinlänglicher Beweis gegen die von TAINE usw. behauptete Möglichkeit, das Individuelle aus der Kulturgeschichte auszuschalten. Das Wesen der Individualisierung besteht zunächst nicht in der "Wertbeziehung" (7), sondern in der Erklärung der Volitionsphänomene aus homogenen Ursprüngen. Diese Darstellungsmethode ist die eigentliche Wurzel der Historizität. Hieraus erklärt es sich auch, weshalb die pragmatische Darstellung nur staatsrechtliche (politische) Vorgänge als historisch wesentlich bewertet, insofern dieselbe eine homogene Progression von Volitionen darstellen. Die Homogenität ist das Kriterium des Geschichtsbegriffs im klassischen Sinn. Die pragmatisch-historische Denkungsart beruth darauf, daß gewisse Momente des Geschehens (Wollens) als konstant den anderen, variablem Momenten entgegengesetzt werden. Sie ist individualisierend, weil das Individuelle sich ebenfalls in homogenen Volitionsverknüpfungen ausdrückt. Das Wort historisch bedeutet also eine logizistische Tendenz, und zwar die der positivistischen Kausalitätsauffassung entgegengesetzte. Die Ansicht LAMPRECHTs, daß diese letztere die wissenschaftliche Interpretation des gesamten geschichtlichen Geschehens ermöglicht, ist somit unzutreffend und die "Kulturzeitalter"-Theorie kann nicht als Beweis für die nur relative Geltung der Geisteswissenschaften angeführt werden.

Es läßt sich demnach eine objektivistische von einer subjektivistischen Kausalverknüpfung unterscheiden. Die erstere verknüpft heterogene, die letztere homogene Volitionen. In den Geisteswissenschaften verschlingen sich diese beiden logischen Tendenzen fortwährend. Wenn also MÜNSTERBERG erklärt, dieselben hätte es nur mit subjektivistischen "Akten, die zur Welt der Freiheit gehören", zu tun, während alles Objektivistische in die Psychologie gehört, so ist dies ein ebenso irriger Standpunkt wie der entgegengesetzte LAMPRECHTs. Es gilt innerhalb des Bereichs der Volitionen sowohl die subjektivierende wie auch die objektivierende Interpretation; letztere bezieht sich nicht nur auf das psychologische Geschehen. Die Geschichte umfaßt Individualismus und Allgemeinheit (Kausalität), da das Individuelle im Geschehen ebenso zur Geschichte gehört, wie das Allgemeine. Der Bereich des Wollens stellt somit nicht ein einheitliches Stoffgebiet dar, sondern eine Kreuzung zweier Methoden der Wissenschaftlichkeit.


§ 5.

Der kulturtheoretische Gegensatz des Individuellen und Allgemein-Typischen ist derselbe wie jener der Zwecksetzung und des Affekts in der Psychologie. Die Affekte sind nicht in der bisherigen Art aus Gefühlen und primären psychischen Elementen zu erklären, sondern sie stellen dynamische Volitionen dar. Der eigentliche Sinn der DILTHEYschen Realpsychologie würde in der Begründung einer von der Psychologie im engeren Sinn getrennten  Affektologie  liegen. Aus dieser letzteren sind die anthropologischen Grundlagen des geistigen Geschehens, im Sinne des Positivismus, herzuleiten. In der Tat ist die Annahme, "daß das geschichtliche Leben nach ebenso allgemeinen Gesetzen verläuft wie das Naturgeschehen (8), bereits von der Philosophie des 17. Jahrhunderts vorbereitet worden, die in der "Mechanik der Affekte" den Schlüssel zur Behandlung der geisteswissenschaftlichen Probleme finden zu können glaubte. So leitet bereits HOBBES alle menschlichen Handlungen aus der ausschließlichen Triebkraft der Affekte" (9) her und betrachtet als Aufgabe der Anthropologie die Aufstellung von Gesetzen und die Darlegung des "ursächlichen Zusammenhangs" des geistigen Geschehens. Diese Anthropologie ist die - wenn auch nicht bewußte - Quelle des modernen Psychologismus, der gleichfalls das teleologische Prinzip aus der Interpretation der kulturellen Zusammenhänge eliminieren will. Die typisierende Geschichtsauffassung im TAINE- und LAMPRECHTschen Sinn setzt die anthropologistische Auffassung des geistigen Geschehens und dessen Herleitung aus Gemütszuständen voraus. Die Philosophie TAINEs, die die Geschichte auf einen "universellen Determinismus metaphysischer Natur" (10) basierte, sowie die "Kulturzeitalter-Theorie" LAMPRECHTs und die "zergliedernde und beschreibende Psychollogie" DILTHEYs sind als Produkte eines Neospinozismus aufzufassen.

Auf dieser Weltanschauung beruth auch die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung, nach der "die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedingt" (11). Die methodische Identität zwischen dieser Theorie vom "naturgesetzlichen Weitertreiben der Phänomene" (12), welche also das kausale (typische) Geschehen als das allein reale im Gegensatz zum teleologischen auffaßt, mit der COMTE-LAMPRECHTschen Theorie ist leicht wahrnehmbar.


§ 6.

Der Begriff der Individualität hat diese Fähigkeit, homogene Volitionen zu verknüpfen, zu seinem eigentlichen Inhalt; hierauf beruth das Selbst (das sogenannte "Selbstbewußtsein"). Die fundamentale Tatsache desselben ist die Entstehung von Volitionen aufgrund homogener Antezedentien [Voraussetzungen - wp]. Die teleologischen Phänomene sind auf diese Fähigkeit basiert, welche die Zwecksetzung logisch basiert und eine Form derselben. Der Zweck ist bisher als "eine von jemand zu bewirkende Handlung" (13) definiert und als "ursachlose" von der "unausweichlichen kausalen" Handlung unterschieden worden; jedoch ist das eine unwissenschaftliche äußerliche Auffassung. Die logische Bedeutung und der Unterschied der Zwecksetzung von der Bewirkung liegt vielmehr darin, daß er ein Wollen aufgrund eindeutiger - und daher vorauserkennbarer - Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Stadien des Willensprozesses vom Resultat derselben darstellt. Der Bewirkung dagegen fehlt die Eindeutigkeit, welche nur eine Umformung der Homogenität der Volitionen ist. Eindeutig kann eine Volition nur durch eine ihr homogene Volition bedingt sein, während die Heterogenität des Motivs notwendig zur Mehrdeutigkeit führt, die Zwecksetzung also ausschließt. Das Mittel entsteht so in logischer Hinsicht als Bedingung. Die Spontaneität, Initiative, die im Wollen des Zwecks gedacht ist, begründet sich aus der Homogenität der antezdierenden Volition, die, weil mit der folgenden verschmelzend, dieselbe als unabhängig (spontan) erscheinen läßt. Somit bedeutet der Begriff der Freiheit des Wollens allerdings nicht Ursachlosigkeit, sondern eine Begründung desselben aus und in ihm homogenen Ursprüngen, also ein individualisiertes Wollen. Alles Handeln nach Prinzipien oder Werten, alles Teleologische läßt sich leicht als Funktion dieser homogenen Volitionsverknüpfungsarten erkennen. Die Gleichartigkeit des Wollens wird hierbei zur Einheitlichkeit des Selbstbewußtseins als des Vermögens der Zwecksetzung (14).


§ 7.

Dieses eindeutige Abhängigkeitsverhältnis läßt sich als besondere logische Form und Bedingung dem Motiv entgegensetzen. Die Bedingung wird somit zu einer der Kategorien der Modalität des Wollens; auf diesem Kategoriengegensatz beruth die Struktur aller Geisteswissenschaften. Das freie (historische) Wollen ergibt sich aus der Bedingung als Kategorie und dieselbe ist, wie auch JHERING betont, "als Zweck die Grundlage der Jurisprudenz". HEGEL bezeichnet das Recht als Objektivierung des "freien", d. h. bedingten Wollens. Treffend bemerkt ein Philosoph, daß "der reine Wille der bedingte" (15) sei. Mit der Mittelbedingtheit ist jene Vorherbestimmbarkeit der Stadien des Willensprozesses verknüpft, die die Erschließbarkeit, die Syllogistik, involviert. Die Zwecksetzung ist nichts anderes als die Fähigkeit, nach Bedingungen zu wollen, und sie drückt lediglich eine Vorherbestimmbarkeit des Willensprozesses aus, die dann zur Initiative umgedeutet wird. Das Phänomen des Individuellen (Persönlichen) berutht auf dem bedingten Wollen und der Zwecksetzung, also der Vorherbestimmbarkeit ohne Notwendigkeit, wie andererseits im affektologischen (dynamischen) Wollen sich eine Notwendigkeit ohne Vorherbestimmbarkeit ausdrückt. Das Kulturell-Individuelle im Sine der pragmatischen Darstellungsmethode ist somit in einer Kategorie der Vernunft begründet und kann daher nicht im Sinne des Positivismus zugunsten der Typisierung ausgeschaltet werden. Diese Herleitung des Wollens aus eine dualistischen System von Kategorien der Vernunft ermöglicht die erkenntnistheoretische Auffassung des geistigen Geschehens, jene "Kritik der historischen Vernunft" (16) als rationale oder Reallogik, welche der Realpsychologismus bisher vergeblich herzustellen versuchte, indem sie auch die Gleichförmigkeiten des scheinbar Irrationalen (Persönlichen) darstellbar macht.


§ 8.

Jene "Begrifflichkeit und Kausalität", die - wie oben dargelegt - sich durch die Typisierung der positivistischen Methode nicht erzielen läßt, ergibt sich also aus der Basierung des geschichtlichen Geschehens  auf die Kategorien des Wollens.  Die letzteren treten als die dominierenden Merkmale der Vernunftbegriffe auf. Infolge des Mangels an einer Reallogik war bisher die Definition der in den Geisteswissenschaften auftretenden Termini unmöglich; sie blieben mehrdeutig oder - wie ein Autor sagt - "Anweisungen, die jeder nach seinem Belieben ausfüllt" (17). Die Inhaltsbestimmung, also die Unterscheidung zwischen dominierenden und akzidentiellen Merkmalen, läßt sich im Bereich des Volitionalen durch die Mittel der induzierenden Abstraktion nicht durchführen, und dies verleiht der Terminologie den Charakter des Metaphorischen, insofern sich in demselben objektivistische und subjektivistische Merkmale verschmelzen. Diese Unbestimmtheit und Undefinierbarkeit der Termini ist es, die bisher eine einheitliche Darstellung der Geisteswissenschaften verhindert hat. Insbesondere auch auf ethisch-logischem und auf literaturgeschichtlichem Gebiet ist diese Undefinierbarkeit der Begriffe wahrnehmbar. Es handelt sich darum, die Terminologie derartig auf eine logische Grundlage zu stellen, daß die Wandlung des Begriffsinhaltes der Termini - wie dies bisher der Fall war - mit sich führt. Das eigentliche Fundament der Geisteswissenschaften liegt in der Möglichkeit einer Begriffsbildung, welche nicht die psychologischen, formalen, sondern die in logischer Hinsicht realen Elemente der Volitionsbegriffe als dominierende Merkmale (Inhalte) verwendet, was sodann eine eindeutige Definition gestattet. Es handelt sich also darum, eine transzendentale Begriffsbildung anstelle der bisherigen empirischen zu setzen, so daß auch das Besondere, Individuelle begrifflich interpretierbar wird. Die Vernunftbegriffe involvieren bereits Ansichten und Gesichtspunkte und können eine eindeutige Definierbarkeit nur dadurch erhalten, daß die letzteren mit den Modalitäten des Wollens identifiziert und als dominierende Merkmale der Begriffsbildung zugrunde gelegt werden. Auf dieser Basis läßt sich auch jene von DILTHEY vermißte, "allen Geisteswissenschaften gemeinsame Terminologie", die eine Voraussetzung der Systematisierung derselben ist, herstellen.


§ 9.

Die bisherige Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme hat eine dualistische Methode der Begriffsbildung verwendet, indem sie neben den durch Abstraktion empirisch gefundenen Typen eine Wertungsbildung aus der Einheit des Selbstbewußtseins annahm. Insbesondere die Terminologie der Ethik und der Jurisprudenz weist diese Duplizität der Begriffsbildung auf. Die Einheit des Selbst ersetzt hierbei das fehlende inhaltliche (dominierende) Merkmal. Zutreffend spricht ein Rechtsphilosoph (18) von der Unterscheidung zwischen "Form und Stoff" (politischer und ökonomischer Regelung) im sozialen Leben. In der Tat ist bei allen geistigen Phänomenen ein formales und ein stoffliches Moment zu unterscheiden. Beide müßten jedoch, um zu einem einheitlichen Begriff - anstelle des äußerlichen Vernüpfung von Typen und Werten - zu werden, auf derselben Erkenntnisgrundlage beruhen, worin das eigentliche Zentrum der Begriffsbildung liegt. Es läßt sich zu diesem Zweck auf ein von der modernen Psychologie aufgegebenes Denkmittel, den Eigenschaftsbegriff, zurückgreifen. Dieser Begriff stellt eine Synthese aus Wertung und Affekt, freiem und determiniertem Wollen dar und vereinigt somit Bewußtheit und Notwendigkeit.  Die Vernunft ist als ein System von den Kategorien gemäß geordneten Eigenschaften als ihren Stammbegriffen, zusammengesetzt zu denken, deren Betätigung (Funktionen) die ethischen (politisch-juristischen) und die literarischen Phänomene sind.  Die Vernunft wird so, ebenso wie der Intellekt aus den Kategorien zusammengesetzt ist, zu einer Pluralität von Erkenntnisvermögen, denen die Begriffsbildung auf geistig-geschichtlichem Gebiet entspringt. Nur durch diese Interpretierungsart ist es möglich, zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften zu gelangen, die das typisierende mit dem teleologischen Moment vereingt.

Der Irrtum der bisherigen wertbeziehenden (pragmatischen) Darstellungsart lag darin, daß das Einflußgebiet der Wertungen als das gesamte Wollen umfassend gedacht wurde.  Werte sind nicht für das gesamte Gebiet des Selbstbewußtseins gültig,  sondern nur für das besondere einer der Eigenschaften, als rationaler Erkenntnisvermögen. Hieraus ergibt sich, daß die einander entgegengesetzten Tendenzen auf moraltheoretischem und literaturästhetischem Gebiet nicht als einander ausschließend, sondern als notwendige Formen der Kategorienpolarität aufgefaßt werden müssen. Hierin liegt die "Lösung des Problems der Philosophie, die teleologische Beziehung zu rationalisieren" (19). Die letzte Stufe, zu der die Abstraktion vom kulturgeschichtlich Gegebenen gelangen kann, ist somit nicht mehr ein psychischer "Gesamtzustad" im Sinne des LAMPRECHTschen "Kulturzeitalters", sondern einer der Stammbegriffe der Vernunft. Die Kulturgeschichte zeigt im allgemeinen in ihrem Verlauf, daß infolge des dialektischen Gegensatzes zwischen den beiden heteronomen Willensgruppen sich die auf den autonomen Volitionen beruhenden Phänomene bilden. In diesem Sinne ergibt sich allerdings die logische Struktur der Geisteswissenschaften aus der kulturgeschichtlichen Entwicklung, nicht aber in einem psychologistischen Sinn. Die Reallogik wird so zur Charakterologie und die Geschichte zu einer  Phänomenologie des Wollens,  wenn auch nicht im Sinne des Hegelianismus, dessen Versuche, die dialektische Selbstbewegung des Begriffs darzustellen, am Mangel einer reallogischen Basis und einer Trennung zwischen der Begriffsbildung auf dem Gebiet des Wollens und dem des Bewußtseins ("Sein-Werden"), der Verwechslung zwischen dem Bereich des Ich und dem des Bewußtseins scheitern mußten.

Die hier dargelegte Theorie ist keine idealistische, sondern ein transzendentaler Realismus und kann daher als neukantisch bezeichnet werden. - Das realistische Moment liegt hierbei in der Trennung des teleologischen Moments von der Einheit des Selbst und der Auffassung des Werts als dem Begriff immanent. Mittels dieser Begrifflichkeit und Immanenz der Werte läßt sich die Frage, ob die Geisteswissenschaften lediglich ein historisch wirksames oder unabhängig davon ansich bewertbares normatives Geschehen und Zusammenhängen behandeln, dahin beantworten, daß vom Standpunkt der hier dargelegten Interpretationsart beides identisch wird, da der Unterschied zwischen Wertbeziehung und konkreter Wertung - wie RICKERT (20) ihn betont - wegfällt, sobald die Werte selbst zu Begriffen werden.

Die höhere oder niedrigere Bewertbarkeit eines Phänomens - worauf der Begriff des Fortschreitens beruth - richtet sich in diesem System lediglich nach dem Verhältnis, das dasselbe zur Autonomie des Willens annimmt. Die Geisteswissenschaften werden also auf die Basis eines Systems autonom-heteronomer Volitionen gestellt, als den "allgemeingültigen Formen des Wertens" (SPRANGER).


§ 10.

Alle kulturellen Vorgänge lassen sich dahin bestimmen, daß bei ihnen ein typisches Moment - die Gattung - von einem teleologischen Moment - der Richtung - unterschieden wird. Im Begriff der Richtung wird ein rein teleologisches, auf rein homogenen Volitionsverknüpfungen beruhendes Wollen gedacht. Die individualistische (wertbeziehende) Interpretation betont vornehmlich den Richtungs-, die positivistische den Gattungsgedanken. So bemerkt SPRANGER: "Die deutlich erkennbare spezifische Richtung oder Tendenz charakterisiert die historische Idee bei RANKE, HUMBOLDT usw.". "Die Idee spielt weniger bei der Typenbildung, als bei der Darstellung der eigentlichen historischen Bewegungen eine Rolle." Die politische und Literaturgeschichte des Individualismus hat allerdings bisher stets den Richtungsgedanken auf Ideen gestützt, d. h. die Programme aus der Geschichte der Philosophie - Idealismus und Spinozismus - in das Gebiet der theoretischen Geisteswissenschaften (21) hineingetragen. Die letzteren verlieren hierdruch die Fähigkeit einer ihren eigenen Werten entsprechenden Begriffsbildung. Infolgedessen ist es unmöglich geworden, das Richtungsprinzip mit der Kausalität des Geschehens zu vereinigen, was dann zum Versuch der gänzlichen Beseitigung desselben seitens des Psychologismus, der Ansicht, daß "die Ideen die historische Kausalität zerstören" (22), führen mußte. Unter jenem (RICKERTschen) "Kulturwert als dem geschichtlich Allgemeinen", dem Prinzip der individualisierenden Begriffsbildung kann sich, näher besehen, lediglich die Einführung der philosophischen Wert- und Systembildung in die kulturgeschichtliche Sphäre verstehen lassen.

Die literarischen, sowie die ethisch-politischen Phänomene sind somit in der pragmatischen Darstellungsart in eine Abhängigkeit von der Geschichte der Philosophie gebracht, welche die Systematisierung der Geisteswissenschaften verhindert. Das Wollen ist aus Ideen und Weltanschauungen nicht deduzierbar, und die philosophischen Systembildungen einer bestimmten Epoche können daher nicht im Sinne der individualisierenden Geschichtsschreibung als Motoren des geschichtlichen Geschehens verwendet werden. Dagegen läßt sich nachweisen, daß dieselben Interpretationstendenzen, die der philosophischen Systembildung zugrundeliegen, auch in den anscheinend historischen, soziologischen und literarischen Gattungsbegriffen zur Geltung gelangen - weil in der Reallogik begründet - wodurch sich eine Methodologie der Geisteswissenschaften ermöglicht. So wenig die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen aus ökonomischen, so wenig sind sie andererseits aus philosophischen und Weltanschauungen erklärbar. Die "Kulturwerte" müssen, um die geschichtlichen Veränderungen zu erklären, aus ihrer Verbindung mit der Idee gelöst in die Begriffsform gebracht werden, was bisher noch nicht geschah. - Es läßt sich dies dadurch erzielen, daß die historischen Interpretierungsarten selbst, also Psychologismus (Soziologismus) und Individualismus, als mit den historisch wirksamen Kulturwerten - Ideen - identisch gedacht werden. Diese Interpretationsarten sind zugleich die Objekte und Inhalte der Geisteswissenschaften selbst.


§ 11.

Die Geisteswissenschaften haben bisher für ihre Interpretationszwecke die geschichtlichen Richtungen verwendet, also ihre Wertungsmittel aus der Kulturgeschichte entlehnt. Dieser idealistischen Auffassung des Werts als Idee gegenüber liegt nun die rationalistische darin, daß derselbe nicht auf historische Endzwecke bezogen, sondern als die Beziehung der historischen Phänomene zu den Kategorien der Modalität des Wollens aufgefaßt wird. Während also im Sinn der Geschichtsphilosophie "als wertvoll das angesehen wir, was irgendwie zur Realisierung des absolut wertvollen Reihenendgliedes beiträgt" (23), ist im Gegensatz hierzu die Wertbeziehung auf ein logisch formales (immanentes) Prinzip zu basieren. Indem so das teleologische und das deterministische Moment zur Begriffsbildung selbst verwendet wird, verwandelt sich der Richtungs- in den Methodengedanken. In diesem verschmilzt die Kausalität des Sinns mit derjenigen des Grundes der Wollungen. Erst hierdurch wird die individualisierende Interpretation logisch und theoretisch darstellbar und ermöglicht sich die systematische Darstellung der Willensphänomene, insofern hierbei auch das persönliche Wollen seine scheinbare "Irrationalität" verliert und zu einem konstant bleibenden Gestaltungskoeffizienten des geistig-geschichtlichen Zusammenhangs wird.

Der Wechsel der Begriffsbildung, den der Psychologismus als Argument gegen die objektive Geltung der Wertphänomene anführt, ist somit nur ein äußerlicher, da die Methoden des Wollens gleichbleiben und nur ihre Aspekte sich verändern. Die Kategorien der Modalität des Wollens bestimmen den Verlauf der politisch-kulturellen und der Literaturgeschichte, wie die Tierkreiszeichen den Weg der Sonne.


§ 12.

Jenes System der Kategorien der Vernunft basiert somit eine Dialektik der Volitionen welche zugleich die Methodologie der Logik, Ethik und Poetik darstellt (wobei die juristischen Fächer der Ethik zuzurechnen sind). Der gemeinsame Schlüssel zur theoretischen Interpretation der Vernunftwissenschaften - im Gegensatz zur bisherigen dynamisch-psychologistischen Darstellung - ist die oben dargelegte Art der Wertbegriffsbildung, welche auf der prinzipiellen Unterscheidung zwischen der Logik des Intellekts und der der Vernunft fußt. Die Einteilung der Geistesphänomene geht nun auf doppelte Weise vor sich, nämlich einerseits aufgrund der  Methoden andererseits  der Klassen des Wollens.  Wie die ersteren den Kategorien der Modalität, entsprechen letztere den Kategorien der Intensität (Grad) des Wollens. Auf dem Unterschied der Klassen beruhen die Charaktere der poetischen Gattungen und der juristischen Fächer, wie andererseits auf dem Unterschied der Methoden des Wollens die Stile und Richtungen. Zu den Klassen des teleologischen Willens gehören die Zwecksetzung, das Wünschen, das Begehren und das primäre Wollen - die Klassen des typischen (determinierten) Wollens sind der Affekt, die Leidenschaft, die Emotion und der Trieb.

Aus den gegenseitigen Einwirkungen der Kategorien der Modalität und Intensität des Wollens entstehen die Phänomene, mit denen sich die Vernunftwissenschaften befassen. Den Methoden entsprechen die Stile, den Klassen die Gattungen. Auf der Zwecksetzung beruth (in der Poetik) die Epik. Der Epik gegenüber beruth auf dem Affekt die Hymnik. Auf der Kategorie des Wünschens beruhen die Formen des Dramas, auf denen des Begehrens der Roman, auf denen des primären Wollens (Trieb) das Gedicht (als Gattung). Die Dramatik als Methode ist vom Drama als Gattung vollkommen verschieden. Mit diesen literarischen sind die ethisch-juristischen Formen methodologisch identisch. Die Verschiedenheit der Objekte ist also in den Geisteswissenschaften aus den Unterschieden der Intensität und Modalität der Volitionen zu erklären. Die Thelistik [Willenslehre - wp] welche den beiden Fundamentalfächern im Bereich der Vernunft, der Ethik und der Poetik, zugrundeliegt, ist eine Synthese aus Methodik und Klassologie.

Das Wesen der Gestaltung in den Geisteswissenschaften liegt darin, daß hierbei stets zugleich eine Klasse und eine Methode des Wollens zur Geltung gelangt. Die geistigen Phänomene, also die literarischen oder juristischen Begriffe, sind stets durch eine der Klassen und der Methoden des Wollens bestimmt. Aufgrund dieser Voraussetzung läßt sich eine wissenschaftliche Definition der Vorgänge auf diesen Gebieten geben, die so zu Teilen einer Phänomenologie des Wollens werden. So läßt sich z. B. bei der literarische Produktionstätigkeit dem Kategoriengegensatz gemäß zwischen einer typisierenden (Motivierung) und einer individualisierenden (Erfindung) Gestaltungsart unterscheiden. Beide beruhen auf ganz verschiedenen Fähigkeiten der Vernunft. Die erstere ergibt die lyrische, die letztere die epische Gestaltungsart, deren Synthese die dramatische ist. Diese Begriffe beruhen somit, richtig definiert, auf den heteronomen und autonomen Formen der Volitionen und vertreten Methoden des Wollens. So verhält es sich auch mit der juristischen und ökonomischen Begriffsbildung, welche, wie die literaturgeschichtliche, auf der Dialektik der Volitionen beruth.


§ 13.

Ohne eine Anwendung des Prinzips der Wertbegriffe verlieren die Geisteswissenschaften ihre Systematisierbarkeit. Überall, wo es sich um Willensäußerungen handelt, also auf dem Gebiet der Jurisprudenz und der Literatur, läßt sich die Systematisierung nur mittels einer Dialektik, aufgrund der hier aufgestellten Kategorien, der Methoden einerseits, der Klassen des Wollens andererseits herstellen. Das Wesen der theoretischen Wissenschaftlichkeit liet in der Herleitung der Phänomene aus Begriffen, im Gegensatz zur bloßen empiristischen Registrierung eines des logischen Zusammenhangs entbehrenden Materials. Diese begriffliche Bearbeitung fehlte bisher sowohl den juristischen als auch den literarischen Fächern. Infolgedessen ist zum Beispiel die Möglichkeit jeder Poetik seit langem negiert und so die Literaturgeschichte einem unmethodischen, empiristischen, jedes tiefere Erfassen der literarischen Probleme ausschließenden Betrieb überlassen worden. Eine Poetik ist, ebenso wie eine Methodik des politisch-juristischen Geschehens nicht durch die Mittel des Realpsychologismus (DILTHEY) herstellbar, sondern lediglich aufgrund einer Erkenntnistheorie des Wollens als Reallogik, also als Logik der Vernunft - im Gegensatz zu jener des Intellekts - welche die begriffliche Deduktion der Volitionsphänomene ermöglicht. So läßt sich die innere Struktur der kulturgeschichtlichen Entwicklung als eines dialektischen Prozesses durch die Analyse derselben aufgrund ihrer Bestimmung durch die Kategorien des Wollens darlegen. Bei Anwendung dieses Prinzips auf sämtliche Geisteswissenschaften zeigt sich, daß dieselben kontrastierende Bestandteile einer einheitlichen Thelistik, eines Systems heteronomer und autonomer Modalitäts- und Intensitätsgruppen des Wollens sind, die - wie die Koordinaten jeden Punkt des Kreises - jedes Phänomen im Bereich der Vernunft bestimmen und begründen. Ethisch-logische und literarische Phänomene sind in methodischer Hinsicht gleich begründet. Auf dieser logizistischen, aber nicht auf einer psychologistischen Grundlage ist das Problem der Struktur des geistigen Lebens, das zugleich das der Metaphysik ist, zu lösen. Die Kategoriologie des Willens ist das Zentrum und der eigentliche Inhalt der Philosophie als Metaphysik und zugleich die Methodik des sogenannten Geistes - richtiger Vernunftwissenschaften, welche also nicht, wie man bisher annahm, zur Psychologie gehören.
LITERATUR - Felix Rappaport, Zur Logik des Wollens, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. 20, Berlin 1914
    Anmerkungen
    1) HEINRICH RICKERT, "System der Prinzipien des historischen Geschehens".
    2) WILHELM WUNDT, "Einleitung in die Philosophie".
    3) WUNDT
    4) So kann die Institution "Lebewesen"  nicht,  wie bei LAMPRECHT, als induktiv gefundener "Typus" wie "Naturalwirtschaft" betrachtet werden, da ersteres indeterministische Wollungen voraussetzt.
    5) CARL LAMPRECHT, "Moderne Geschichtswissenschaft".
    6) SERGIUS HESSEN, "Individuelle Kausalität".
    7) RICKERT
    8) WUNDT, "Logik".
    9) DILTHEY, "Anthropologie".
    10) J. ZEITLER
    11) MARX, "Kritik der politischen Ökonomie".
    12) STAMMLER, "Wirtschaft und Recht".
    13) STAMMLER.
    14) Eine der Hauptursachen für die den Psychologismus kennzeichnende fälschliche Identifizierung der geistigen mit den psychischen Phänomenen ist die irrige Annahme, daß das Zwecksetzungsvermögen bereits dem Bewußtsein angehört. Der Wille als Zwecksetzung hat keinerlei Verwandtschaft mit dem Willen als psychischer Funktion und läßt sich daher nicht aus den "Komplikationen" desselben erklären (wie bei SPENCER u. a.). Daß z. B. eine Bewegung, freiwillig im Sinne einer sie begründenden Absicht, eines Zwecks, ist, also etwas von den unwillkürlichen Reflexbeweungen verschiedenes, wie SIGWART dies vertritt, ist irrig. Es gibt vielmehr ausschließlich unwillkürliche Bewegungen, da sie alle nur auf Veränderungen der Vorstellungslage (WUNDT) beruhen und "Reaktionen des Bewußtseins" sind. Für das Bewußtsein und den Intellekt gibt es keinen Zielbegriff, wie dieser dann auch von KANT  nicht unter die Kategorien der Verstandes  gezählt wird. Die Jllusion, als ob es eine Spontaneität gewisser mechanischer Veränderungen ("Bewegungen") gebe, rührt lediglich von einem größeren Grad der Bewußtheit her, mit dem dieselben verknüpft sind, von der Vorherbestimmbarkeit des Zusammenhangs im Ablauf der Vorstellungen, während die andren z. B. die biologischen Veränderungen, deren Ablauf jener Vorherbestimmbarkeit und Bewußtheit ermangelt, deshalb als "unwillkürlich" betrachtet werden. Wäre uns die biologische Veränderung ebenso verständlich, wie die mechanische, so würde auch diese als freiwillig betrachtet werden. Es handelt sich also hier lediglich um verschiedene Arten der Assoziation, von denen die einen bewußter sind als die anderen.
    15) HERMANN COHEN, Logik der reinen Erkenntnis.
    16) DILTHEY.
    17) RUDOLF EUCKEN.
    18) STAMMLER, "Wirtschaft und Recht".
    19) EDUARD SPRANGER
    20) RICKERT, "Kultur- und Naturwissenschaft". "Die Geschichte hat nach der Geltung der Werte nicht zu fragen, sondern nimmt lediglich Rücksicht darauf, daß gewisse Werte faktisch gewertet werden." "Wenn die Geschichte es auch mit Werten zu tun hat, ist sie doch keine wertende Wissenschaft."
    21) RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft: "Auf der Richtung beruth die Einheit der Kulturpersönlichkeit."
    22) LAMPRECHT, "Kulturhistorische Methode".
    23) SERGIUS HESSEN, a. a. O.