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JOSEF EISENMEIER
Die Psychologie und ihre
zentrale Stellung in der Philosophie

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"Warum rechnen wir immer nur jene Summen aus, die wir gerade für irgendeinen Zweck brauchen und begnügen uns im Übrigen mit der Erkenntnis der Summationsgesetze und Summationsmethoden? Nur deshalb, weil uns derartige Wahrheiten und Erkenntnisse für gewöhnlich gar nicht interessieren. Damit sind wir zum entscheidenden Faktor vorgedrungen, der die Auswahl der Erkenntnisse bedingt. Alle Erkenntnis, die Gegenstand der Forschung bilden soll, muß irgendwie interessant sein. Alle uninteressanten Erkenntnisse läßt die Forschung unberücksichtigt, ob sie nun mit anderen schon erworbenen oder noch angestrebten Einsichten verwandt sind oder nicht."

"Man mache nur einmal die Fiktion, es könnte der Skeptizismus wirklich seine Richtigkeit nachweisen, dann ist unter einer solchen Voraussetzung sofort jede Wissenschaft sinnlos. Wenn überhaupt keine Möglichkeit besteht, Erkenntnisse zu gewinnen, dann sind selbstverständlich auch die angeblichen Erkenntnisse der Physik, der Chemie, der Physiologie usw. keine Erkenntnisse. Die genannten Disziplinen sind dann keine Wissenschaften mehr. Ihre Lehren sind bloße Meinungen, Fiktionen, sind willkürliche, unbewiesene und unbeweisbare Behauptungen."

§ 8. Man hat die Wissenschaften oft in theoretische und praktische unterschieden. Die praktischen Disziplinen sollten sich durch die Rücksicht auf Anwendung und praktische Verwertung der Erkenntnis bestimmen lassen. Hingegen sei eine solche Rücksichtnahme aller theoretischen Wissenschaften fremd. Mit Stolz, ja mit einem gewissen Hochmut nahm die theoretische Wissenschaft für sich das ausschließliche Recht in Anspruch, als echte, reine Wissenschaft zu gelten. Je theoretischer eine Forschung war, umso mehr sollte sie dem Geist echter Wissenschaftlichkeit entsprechen. Jene praktischen Disziplinen sollten eigentlich nicht recht den Namen "Wissenschaft" verdienen. Ihre Bearbeitung wurde auch mehr als die Aufgabe untergeordneter Talente angesehen. Infolgedessen wurde es geradezu als Vorwurf für den Theoretiker empfunden, wenn man behauptete, seine Forschungsarbeit diene bestimmten Interessen; und andererseits wollten viele echte praktische Disziplinen nicht als solche gelten.

Die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften besteht sicher zu Recht, wenn auch aus anderen als den behaupteten Gründen. Denn überhaupt gar keine Wissenschaft, mag sie nun theoretisch oder praktisch heißen, kann sich völlig loslösen von der Rücksichtnahme auf die uns umgebende Wirklichkeit; jede wird irgendwie - mehr oder weniger - bestimmt durch die praktische Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse.

Noch mehr. Eine theoretische Wissenschaft in dem Sinne, daß sie nur nach Erkenntnis, nach reiner Erkenntnis strebt, gibt es überhaupt nicht. Immer wurden von der Wissenschaft eine ganze Menge von möglichen Erkenntnissen vernachlässigt und nur bestimmte Erkenntnisse angestrebt. Es ist z. B. ein bloße Fiktion, wenn man behauptet hat, zu einer theoretischen Disziplin gehören alle jene Erkenntnisse, die miteinander innerlich zusammenhängen. Man denke nur an das Beispiel der Mathematik. Wer wird etwa, um ganz einfach zu reden, alle möglichen Summen ausrechnen! Und doch wären alle diese Summen neue Erkenntnisse; und ebenso Erkenntnisse, die nicht nur untereinander, sondern auch mit allen anderen Einsichten der Arithmetik eng verwandt wären. Warum widmet niemand einer solchen Erkenntnisgewinnung seine Arbeitskraft? Warum rechnen wir immer nur jene Summen aus, die wir gerade für irgendeinen Zweck brauchen und begnügen uns im Übrigen mit der Erkenntnis der Summationsgesetze und Summationsmethoden? Nur weil uns derartige Wahrheiten und Erkenntnisse für gewöhnlich - also abgesehen von speziellen praktischen Fällen - gar nicht interessieren. Damit sind wir zum entscheidenden Faktor vorgedrungen, der die Auswahl der Erkenntnisse bedingt. Alle Erkenntnis, die Gegenstand der Forschung bilden soll, muß irgendwie interessant sein. Alle uninteressanten Erkenntnisse läßt die Forschung unberücksichtigt, ob sie nun mit anderen schon erworbenen oder noch angestrebten Einsichten verwandt sind oder nicht. Dabei ist ja leicht einzusehen, daß unter sonst gleichen Umständen die allgemeinere Erkenntnis interessanter ist als die weniger allgemeine, und ebenso die schwieriger zu gewinnende interessanter als irgendeine Selbstverständlichkeit.

Also scheint es ganz deutlich, daß eine ganz uninteressante Forschung nicht existiert, daß alle Wissenschaft und alle Entwicklung der Erkenntnis nur von praktischen Motiven geleitet ist, nur durch den Nutzen, den sie hat, Wert und Bedeutung erhält. Eine solche Auffassung jedoch wäre wiederum das andere Extrem gegenüber all jenem Hochmut der sogenannten reinen Wissenschaft. Diese extreme Ansicht wird deshalb nicht richtiger, weil sie heute unter dem Namen Pragmatismus eine ganze Reihe mehr oder weniger bedeutender Anhänger besitzt. Richtig ist vielmehr nur, daß jede wissenschaftliche Disziplin in ihrer ganzen Forschungsrichtung und ebenso in ihrem Forschungsumfang von einem speziellen Interesse beherrscht wird. Damit ist nicht gesagt, daß alle diese Interessen grobpraktische sind. Sie sind vielmehr recht verschiedener Art. Vor allem lassen sich da zwei große Gruppen unterscheiden: die theoretischen und die praktischen Interessen.

Unter einem theoretischen Interesse ist das Interesse an der Erkenntnis einer besonders wertvollen Wahrheit, sei diese Wahrheit nun durch außerordentliche Allgemeinheit oder durch einen besonders hohen inneren Wert ausgezeichnet oder dadurch, daß sich hervorragende Schwierigkeiten ihrer Erforschung entgegensetzen, oder wodurch auch immer. Alles, was der Erkenntnis dieser einen Wahrheit dient, wird von einem theoretischen Interesse umfaßt und bildet den Gegenstand einer einheitlichen Disziplin.

Unter einem praktischen Interesse andererseits verstehen wir das Streben nach Erreichung eines praktischen Ziels. Das praktische Interesse geht also direkt auf das Handeln und Verwirklichen bestimmter Dinge. Der Erreichung so eines praktischen Zwecks dienen bestimmte Erkenntnisse. Alle werden sie interessant und erstrebenswert nur im Hinblick auf dieses praktische Ziel, das zu fördern und ganz zu verwirklichen sie bestimmt sind. Alle Erkenntnisse, welche hier dienlich sind, bilden zusammen wiederum eine bestimmte Disziplin, einen speziellen Zweig der wissenschaftlichen Forschung.

Nun ist schon klar, in welchem Sinn die Trennung der theoretischen und der praktischen Disziplinen Sinn und Berechtigung hat: Theoretische Disziplin heißt jede Gruppe von Erkenntnissen, die durch ein einheitliches theoretisches Interesse zusammengehalten wird; und es gibt gerade so viel theoretische Disziplinen, als es solche beherrschende theoretische Interessen gibt. Praktische Disziplin hingegen heit eine solche Gruppe von Erkenntnissen, die durch ein einheitliches praktisches Interesse zusammengehalten werden; und wiederum ist die Zahl der praktischen Disziplinen durch die Zahl der praktischen Interessen bestimmt.

Es ist nun auch leicht einzusehen, warum die theoretischen Wissenschaften im Gegensatz zu den praktischen so sehr den Charakter der Einheitlichkeit und inneren Geschlossenheit tragen. Das einigende Interesse ist ja bei einer praktischen Disziplin ein rein äußerliches. Alles, was diesem Interesse dient, wird von ihr behandelt, mag die eine Erkenntnis auch gar keine innere Beziehung zur anderen haben, wenn sie nur zur möglichen Verwirklicung des praktischen Ziels beizutragen vermag; andererseits wird alles von der praktischen Disziplin ausgeschaltet, was diesem Zweck nicht dient, mag nun die eine Erkenntnis mit der anderen noch so nah verwandt sein. Hingegen bei einer theoretischen Disziplin ergibt sich von selbst jener innere Zusammenhang, da im allgemeinen gerade die innerlich verwandten Erkenntnisse am meisten Licht aufeinander werfen. Indem das Interesse an der Erkenntnis einer besonders hochstehenden Wahrheit zum beherrschenden wird, gewinnen alle Erkenntnisse, die ein solches zu fördern vermögen, Wert und Bedeutung, und das sind eben in der Regel nahe, ja nächst verwandte Einsichten. Aber nicht das Umgekehrte gilt: Nicht alle innerlich verwandten Erkenntnisse gehören zur selben Disziplin. Ja noch mehr. Auch in einer theoretischen Disziplin haben vielfach ganz disparate Erkenntnisse ihr wohlbegründetes Bürgerrecht, wenn sie nur der Erforschung der beherrschenden Erkenntnis dienen. So muß ja z. B. der Physiologe ein mannigfaches Wissen verwerten, um die Gesetze des Lebens zu erforschen: physikalische und chemische Erkenntnisse dienen ihm hierzu, die Mathematik muß ihm das Rüstzeug zur Forschung liefern, ja auch mannigfaches technisches Wissen muß ihm verfügbar sein und noch manche anderes. Die so viel gerühmte innere Verwandtschaft aller Erkenntnisse ein und derselben theoretischen Disziplin besteht also auch nicht durchwegs. Sie ist eben nur eine sekundäre und keine charakteristische Erscheinung.

§ 9. Die Philosophie ist ein Koglomerat von theoretischen und praktischen Disziplinen. Zu ihr werden gerechnet die Psychologie, die Metaphysik mit allen ihren Zweigen, die Erkenntnistheorie, lauter anerkannt theoretische Disziplinen; zu ihr werden aber auch die drei praktischen Disziplinen: Ästhetik, Logik, Ethik gerechnet Jede dieser Disziplinen wird von einem einheitlichen Interesse beherrscht. Bei den theoretischen philosophischen Disziplinen ist es ein theoretisches, bei den praktischen ein praktisches Interesse Somit scheint gar keine Berechtigung zu existieren, aufgrund welcher von der Wissenschaft als einer Wissenschaft gesprochen wird. Trotzdem gibt es einen stichhaltigen Grund, weshalb doch immer wieder von einer Philosophie die Rede ist.

Diese einzig zutreffende Begründung ist seit längerer Zeit bekannt. MARTY hat in seiner Rektoratsrede die Vielfältigkeit der unter dem Namen "Philosophie" vereinigten Disziplinen und trotzdem die Einheitlichkeit der Philosophie in gewissem Sinne vertreten. Er definiert daselbst die Philosophie als
    "jenes Wissensgebiet, welches die Psychologie und alle mit der psychischen Forschung nach dem Prinzip der Arbeitsteilung innigst verbindenden Disziplinen umfaßt" (14)
Damit ist schon zur Genüge der wahre Grund gekennzeichnet, weshalb die philosophischen Diszplinen mit Recht zu einer, in gewissem Sinne einheitlichen Wissenschaft zusammengefaßt werden dürfen. Auch die gesamte Philosophie und alle von ihr behandelten Probleme werden von einem einheitlichen Interesse beherrscht; dieses Interesse iat aber weder ein theoretisches noch ein praktisches im gewöhnlichen Sinne. Vielmehr stellt es sich als methodisches Interesse dar. Denn alle philosophischen Disziplinen sind in der psychologischen Erkenntnis fundiert und schöpfen aus ihr nicht nur Anregung, sondern sogar den überwiegenden Teil ihrer Gesetze. Nur der als Psychologe geschulte Forscher vermag die Probleme welcher philosophischen Disziplin auch immer erfolgreich zu lösen.' Psychologisches Wissen im weitesten Umfang muß nicht nur der Psychologe selbst erwerben; auch der Metaphysiker und der Erkenntnistheoretiker und ebenso der Ästethiker, der Logiker und der Ethiker usw. muß beständig psychologisches Wissen und Können bei seiner Forschungsarbeit gegenwärtig haben und benutzen. Ja, die meisten Gesetze aller philosophischen Disziplinen sind entweder geradezu psychologische oder doch aus psychologischen Notwendigkeiten abgeleitete Erkenntnisse. Darum gerade erfordert hier die richtige Arbeitsteilung kein Auseinandergehen der einzelnen philosophischen Disziplinen, vielmehr ein Zusammenarbeiten, eine eiserne Konzentration auf die psychologische Erkenntnis. So stark besteht die Abhängigkeit aller Philosophie von der Psychologie, daß man getrost die Proportion aufstellen kann: Aller Fortschritt der philosophischen Disziplinen ist innig geknüpft an den Fortschritt unserer psychologischen Erkenntnis. Nur muß man diesen Satz richtig verstehen.

Selbstverständlich dürfte ein kleiner Fortschritt auf dem Gebiet der psychologischen Optik sich nicht besonders bemerkbar machen z. B. in der Ethik oder in der Logik. Aber kaum kann die Logik sich der Rückwirkung entziehen, wenn etwa die Denkpsychologie nahmhafte Fortschritte erzielt; und ebenso muß ein bedeutender Fortschritt in der Erkenntnis unseres Gemütslebens auf die Ausbildung des ethischen Wissens deutlichen Einfluß ausüben usw.

Kurz gesagt: alles philosophische Wissen ist entweder geradezu identisch mit der psychologischen Erkenntnis oder steht in unverkennbarer Abhängigkeit zu psychologischem Wissen. Kein Philosoph kann wirklich unsere Erkenntnis mehren, ja auch nur die philosophischen Probleme richtig auffassen, es sei denn, daß er sich auf die Psychologie stützt und in der Psychologie tüchtige Erkenntnisse besitzt und auch als Psychologe forscht.

§ 10. Diese strenge Abhängigkeit aller philosophischen Forschung von der psychologischen soll nun im Folgenden näher erörtert werden. Zu diesem Zweck will ich die einzelnen philosophischen Disziplinen durchmuster und dabei feststellen, welche Probleme sie faktisch zu beschäftigen haben, welche anderen Probleme rein fiktiven Charakter tragen. Darus wird sich deutlich der methodische Zusammenhang aller Philosophie mit der psychologischen Erkenntnis ergeben und ebenso deutlich wird ersichtlich sein, wie unhaltbar sich das Programm einer "Philosophie ohne Psychologie" erweist. Echte, wissenschaftliche, wirklich nach Erkenntnis strebende Philosophie kann nur aus der Psychologie erwachsen. Ohne Psychologie kann nur jene fiktive, konstruierende, dichtende "Philosophie" gedeihen, welcher jedoch kein Platz im Wissenschaftsgebäude gebührt. Diese sogenannte Philosophie mag ja manchmal ganz ansprechend sein als mehr oder weniger schöne Dichtung, aber sie hat nichts gemein mit ernster, nüchterner, wohlbegründeter Forschung. Der ästhetische Eindruck entscheidet in der Wissenschaft ja nirgends, und soll es auch nicht in der Philosophie tun. Nur die nüchterne Vergleichung von Wahr und Falsch ist da maßgebend, nur der Umstand entscheidet, ob irgendeine Aufstellung begründet ist oder nicht, ob die angeführten Beweise einleuchten, mit anderen Worten: ob die angebliche philosophische Wahrheit wirklich eine erkannte, einleuchtende, evident Wahrheit ist. Wir wollen in der wissenschaftlichen Philosophie nicht vermuten und konstruieren, wir wollen auch hier wissen und erkennen, wir wollen triftige Beweise besitzen. Dieselbe Unduldsamkeit, wie sie jede echte Wissenschaft übt, wollen auch wir uns zu eigen machen. Nichts soll als philosophische Lehre geduldet werden, was nicht streng bewiesen oder doch als höchst wahrscheinlich dargetan worden ist, außer es leuchtet unmittelbar ein. Niemand soll ein philosophischer Forscher heißen, der nicht irgendwie die philosophische Erkenntnis gemehrt und gefördert hat. Nicht sollen disparate Meinungen und Behauptungen zur selben philosophischen Frage als gleichberechtigt nebeneinander gelten. Eine solche mißverstandene Objektivität kennen wir nicht, ebensowenig wie die übrige Wissenschaft etwa eine falsche "Objektivität" walten ließe gegenüber widersprechenden, unverträglichen Lehren. Wo stünde heute z. B. die Naturwissenschaft, wenn sie eine solche "Objektivität" geübt und die falschen Lehren neben der einen wahren immer wieder geduldet hätte! Nein, die Wahrheit kann nur eine sein - und das gilt auch von der philosophischen Wahrheit. Diese eine, einzige, ausschließliche philosophische Wahrheit wollen wir erkennen und, wo wir sie erkannt haben, gegen allen Irrtum verteidigen. Wir wollen den philosophischen Irrtum bekämpfen, mag er woher auch immer rühren, mag er in noch so einem schönen bestehende Gewand erscheinen, mag er noch so originell erdacht sein, mag er noch so sehr den Beifall der großen Masse genießen.

Diese eine philosophische Wahrheit läßt sich aber nur erkennen durch die Psychologie, mit Hilfe der psychologischen Erkenntnis; die echte philosophische Forschung kann methodisch richtig nur auf psychologischem Wissen gegründet sein.

Selbst manchem Verteidiger eines innigen Zusammenhangs zwischen Philosophie und Psychologie könnte diese Behauptung doch als übertrieben erscheinen. Und doch läßt sich der Beweis für sie ganz leicht führen.

Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, welche echten Probleme die wissenschaftliche Philosophie beschäftigen. Dieser Darlegung ist der folgende Teil meiner Ausführungen gewidmet. Es liegt dabei nicht in meiner Absicht, die wissenschaftlich-philosophischen Probleme bis in alle Einzelheiten zu verfolgen. Ich werde das auch dort nicht tun, wo die Forschung schon eine Menge solcher Einzelfragen aufgedeckt oder sogar gelöst hat. Für den Zweck unserer Untersuchung genügt es, wenn nur die großen Problemgruppen ganz allgemein charakterisiert werden. Schon daraus wird sich die unzweideutige Antwort auf unsere Frage: Ist Philosophie ohne Psychologie möglich? ergeben. Aber eines muß im Auge behalten werden: Alle Scheinprobleme der Philosophie sind auszuschalten, andere wiederum in den richtigen Zusammenhang zu rücken, der allein eine erfolgreiche Behandlung ermöglicht. Andererseits wäre es ein Fehler, wenn von vornherein bestimmte Probleme ignoriert würden, nur deshalb, weil die heutige Zeitstimmung der Diskussion solcher Fragen abgeneigt ist. Häufig tritt ja eine solche Ablehnung nur als Folge davon auf, daß auf diese echten philosophischen Probleme zahlreiche verkehrte oder doch zumindest überstürzte Antworten geliefert worden sind Damit, daß eine philosophische Frage bisher noch nicht oder falsch gelöst worden ist, ja nach dem heutigen Stand der Forschung ganz sicher noch unlösbar ist, kann nicht bewiesen sein, daß eine erkenntnismäßige Lösung auch weiterhin unmöglich ist, oder gar, daß hier gar kein wissenschaftliches Problem vorliegt. Im Gegenteil: umso mehr müßte die Forschung dadurch angeeifert werden, nach allen vorbereitenden Lösungen zu suchen, um endlich die großen, abschließenden Antworten zu gewinnen; Antworten, die einleuchten; nicht Antworten, die bloße Meinungen und schöne Phantasien sind.

Die Reihenfolge, in welcher ich die philosophischen Probleme vorführe, ist nur durch methodische Gründe der Beweisführung bestimmt; Gründe der Systematik würden ja eine ganz andere Anordnung verlangen. Zunächst gehe ich den Fragen nach, die eine wissenschaftliche Ethik zu beantworten hätte; dann wende ich mich den Problemen der Ästhetik zu; hieran schließen sich die Aufgaben der Logik und der Erkenntnistheorie, es folgen die Untersuchungen, welche einer wissenschaftlichen Metaphysik obliegen; und erst dann sollen die übrigen philosophischen Disziplinen kurz gestreift werden. Überall handelt es sich mir aber wie gesagt nur darum, die Bedeutung der Psychologie für die philosophischen Disziplinen darzulegen; nicht um eine erschöpfende Darstellung der philosophischen Fragen. Deshalb werde ich hauptsächlich die Gruppen und Typen der Probleme charakterisieren, ohne mich in irgendwelche Einzelheiten zu verlieren. Niemand wird ja wohl daraufhin den Einwand erheben, daß gerade irgendwelche philosophischen Einzelfragen nach ganz anderer Methode zu behandeln und ganz anderer Art sind als die großen Massen wissenschaftlich-philosophischer Aufgaben.


2. Die Probleme der
wissenschaftlichen Ethik

§ 11. An der Spitze systematischer Darstellungen der Ethik steht gewöhnlich die Behandlung der Frage nach den Quellen unserer ethischen Erkenntnis: Gibt es überhaupt eine ethische Erkenntnis, oder sind die ethischen Skeptiker im Recht? Welcher Art sollen die ethischen Erkenntnisse sein, sind sie auf dem Gefühlsgebiet unter den Urteilen zu suchen? Sind die Prinzipien ethischer Erkenntnis apriorische oder aposteriorische Sätze? Solche und ähnliche Fragen, wie die nach den Grenzen und nach der Zuverlässigkeit ethischer Einsichten, werden da behandelt.

Man kann nicht sagen, daß diese Untersuchungen nach dem heutigen Stand der Forschung überflüssig sind. Über alle diese Fragen herrscht ja immer noch lebhafter Streit. Noch ist auf keine eine abschließende Antwort gefunden, zumindest nicht abschließend in dem Sinne, daß die Gesamtheit der wissenschaftlichen Ethiker ihre ungeteilte Zustimmung einer bestimmten Lösung gönnen würde. Auch heute noch wird der ethische Skeptizismus mit Eifer vertreten. Daneben gibt es nicht wenige Anhänger einer autoritativen Moralbegründung. Ebenso sind die Aprioristen am Werk, ihrer Lehre Geltung zu verschaffen. Und die Empiristen unter den Moraltheoretikern sind wieder in zahlreiche Lager gespalten und reden vielfach aneinander vorbei. Nein, es ist durchaus nicht überflüssig, endlich auf all die genannten Fragen eine definitive Antwort zu finden, ferner diese Antwort so scharf und sicher zu begründen, daß kein Zweifel mehr an ihrer Richtigkeit erhoben werden kann. Das alles ist unleugbar.

Aber eines kann ich nicht zugeben, nämlich daß diese Untersuchungen spezifische Probleme der Ethik sind.

Eine solche Behauptung könnte zunächst paradox erscheinen. Denn, soll der Ethiker die Gesetze der Ethik aufstellen und sich gar nicht darum kümmern, ob es da überhaupt eine Erkenntnismöglichkeit gibt und wo die Erkenntnis zu finden ist? Zeigt es sich schließlich einmal, daß z. B. der ethische Skeptizismus im Recht ist, was sollen dann alle übrigen ethischen Untersuchungen bedeuten? Jede der genannten Vorfragen muß - sollte man meinen - mit ihrer Lösung einen ganz hervorragenden Einfluß ausüben auf den schließlichen Ausbau der gesamten Ethik. Bevor diese Fragen definitiv gelöst sind, scheint der ganze Bau der Ethik in der Luft zu schweben oder zumindest gar keinen soliden Zusammenhang mit seinen Fundamenten zu haben. Einem Windstoß gleick kann jede Lsung der skizzierten Probleme das Kartenhaus der sogenannten ethischen Wissenschaft einwerfen - und die ganze Ethik ist gewesen.

Doch bestünde ein solcher Einwand, so überzeugend er zunächst klingt, doch nur mit großen Einschränkungen zu Recht. Es ist ja nicht zu leugnen, daß die gesamten ethischen Untersuchungen sofort sinnlos würden, wenn einmal der ethische Skeptizismus als vollkommen berechtigt erwiesen wäre.

Aber denselben Einwand kann man gegen jede Disziplin erheben. Man mache nur einmal die Fiktion, es könnte der Skeptizismus wirklich seine Richtigkeit nachweisen, dann ist unter einer solchen Voraussetzung sofort jede Wissenschaft sinnlos. Wenn überhaupt keine Möglichkeit besteht, Erkenntnisse zu gewinnen, dann sind selbstverständlich auch die angeblichen Erkenntnisse der Physik, der Chemie, der Physiologie usw. keine Erkenntnisse. Die genannten Disziplinen sind dann keine Wissenschaften mehr. Ihre Lehren sind bloße Meinungen, Fiktionen, sind willkürliche, unbewiesene und unbeweisbare Behauptungen.

Das sieht jedermann ein, und doch folgert niemand hieraus, z. B. der Physiker müsse seine Untersuchungen mit erkenntnistheoretischen Überlegungen beginnen. Wer verlangt von einem Handbuch der Physik, es müsse in der Einleitung darüber Auskunft geben, ob überhaupt eine Erkenntnis möglich ist und speziele eine Erkenntnis physikalischer Tatsachen und Gesetze? Wer verlangt da eine Darstellung der physikalischen Methodik? Wer sucht in einem solchen Werk die Begründung dafür, daß die physikalischen Gesetze nur auf einem empirisch-induktiven Weg gewonnen werden können? usw.

Niemand erhebt hier eine solche Forderung - und doch bestünden für sie die gleichen Gründe wie bei der Ethik. Es ist vielmehr jedermann ganz geläufig, daß die erkenntnistheoretischen Probleme besser von Spezialforschern zu behandeln sind, die generaliter alle genannten Vorfragen für alle Disziplinen in einem zu lösen haben.

Der Physiker hingegen geht, unangekränkelt von solchen vorgängigen Zweifeln, vertrauensvoll an sein Werk, wendet die bewährte Methode induktiver Forschung auf alle physikalischen Probleme an, ohne erst über die Berechtigung der Induktion zu deliberieren [beratschlagen - wp]; kurz: er verhält sich ganz so, als wären alle jene erkenntnistheoretischen Probleme bereits in einem positiven Sinn gelöst. Ihn leitet nur die Parole: "Vertraue und handle!"

Ganz so müßte sich auch der Ethiker verhalten. Auch ihm müßte die Erkennbarkeit der ethischen Probleme über jeden Zweifel erhaben sein, auch ihm müßte die richtige Methode ethischer Forschung als selbstverständlich feststehen, auch ihm mßten jene sogenannten Vorfragen der Ethik als gar nicht zur eigentlichen Aufgabe der Ethik gehörig erscheinen. Sind sie doch durchwegs erkenntnistheoretische Probleme, wenn auch spezielle Probleme, die auf die ethische Erkenntnis gerichtet sind. Aber auch diese, sagen wir, ethische Erkenntnistheorie oder Erkenntnistheorie der Ethik ist vom Erkenntnistheoretiker zu behandeln, nicht aber vom Ethiker.

Warum gerade der Ethiker sich verpflichtet glaubt, diese erkenntnistheoretischen Probleme mitbehandeln zu müssen, der Naturforscher, der Mathematiker und andere hingegen nicht, das hat sozusagen nur historische Gründe. Die Ethik als philosophische Disziplin wurde ja immer von den Philosophen gepflegt, von denselben Philosophen, welche neben mancher anderen philosophischen Disziplin auch zugleich erkenntnistheoretischen Untersuchungen oblagen. Ihnen waren die erkenntnistheoretischen Überlegungen von jeher so geläufig, daß sie immer und überall mit ihnen beginnen zu müssen glaubten. Je mehr sich aber die philosophische Wissenschaft spezialisieren wird und muß, je mehr sich auch hier die Arbeitsteilung als unausweichbare Forderung durchsetzen wird, umso mehr wird auch hier der jetzt scheinbar so selbstverständliche Zusammenhang aller philosophischen Disziplinen untereinander gelockert werden. Es wird dann Spezialforscher geben für die Ethik, für die Logik, für die Ästhetik und wieder andere für die Psychologie usw. Bei der geringeren Vertrautheit des einen Spezialisten mit den Ergebnissen anderer Spezialfächer wird dann auch die Versuchung wegfallen, jede philosophische Disziplin mit einer erkenntnistheoretischen Einleitung zu beginnen. Die Behandlung erkenntnistheoretischer Probleme wird dann auch der Ethiker konsequent dem Erkenntnistheoretiker überlassen.

Doch könnte man mich mit Recht einer großen Oberflächlichkeit bezichtigen, wenn ich den eben aufgeführten Grund für den einzigen erklären würde, der die Ethiker zur Behandlung erkenntnistheoretischer Probleme verleitet hat. Es gibt noch eine Reihe anderer, die in einem gleichen Sinn wirkten. Alle jedoch können nur erklären, warum immer wieder erkenntnistheoretische Überlegungen in die ethischen Untersuchungen eingeflochten worden sind; keiner kann die Berechtigung einer solchen Vermengung oder auch nur deren Zweckmäßigkeit dartun. Ich will nur noch eines der einflußreichsten Momente erwähnen. Es ist unbestritten, daß gerade die ethischen Probleme von alters her das größte Interesse erweckt haben. Ethische Einsichten wurden von jeher am höchsten geschätzt und gewertet, sie waren am meisten begehrt und gesucht. Dieser starken Nachfrage entsprach auch das Angebot, besonders da bald klar geworden war, daß man die Menschen mit nichts besser und dauernder beherrschen kann als durch die Beeinflussung ihrer sittlichen Überzeugungen. Diese Herrschaft über die Mitmenschen gestaltete sich offenbar umso breiter und sicherer, je mehr Menschen man den festen Glauben beizubringen vermochte, daß die übermittelten Sittenlehren besonders zuverlässig sind. Noch besser freilich wirkte die Überzeugung, gerade hier sei die einzige und ausschließlich berechtigte Quelle aller ethischen Belehrung gegeben. Je weiter sich nun der Einfluß jener Personen oder Körperschaften, die ein ausschließliches Privilegium ethischer Normierung für sich in Anspruch nahmen, ausbreitete, umso leichter mußten sich diese Machtkreise schneiden, umso häufiger kam es zu Konflikten, die naturgemäß zu einer Polemik gegen die Zuverlässigkeit der gegnerischen Moralquelle führten. Damit mußte aber auch das allgemeine Vertrauen in die üblichen Moralbegründungen überhaupt erschüttert werden, und ein Indifferentismus sowie Skeptizismus erhoben ihr Haupt, häufig nur mit der Tendenz, auf einem solchen Weg den älteren Autoritäten ihre Macht zu entreißen. Die ganze Geschichte der Menschheit ließe sich aufrollen und unter einem solchen Gesichtspunkt behandeln. Doch liegt uns das hier fern. Hier ist nur festzustellen, daß auch heute dieser Kampf um die Macht noch lange nicht ausgetragen ist. Auch in unseren Tagen reklamieren einzelne Personen und ganze Körperschaften für sich das ausschließliche Recht, Moralvorschriften geben zu können. Alle behaupten, sie allein besäßen die einzige, abschließende ethische Weisheit. Andere Quellen ethischer Erkenntnis seien trübe und vergiftet. Der wissenschaftliche Ethiker nun kämpft, ob er es eingesteht oder nicht, gegen alle diese unberechtigten Ansprüche und glaubt sein Recht darlegen zu müssen, daß er unabhängig von allen diesen Faktoren einfach die objektive ethische Wahrheit suchen muß. Diesen Kampf führt er in der ethischen Erkenntnistheorie und ohne einen solchen Kampf scheint ihm seine ganze Position wankend und unsicher. Auch das ist - möchte ich sagen - nur ein atavistischer Zug, ein Zeuge für vergangene Entwicklungsperioden der Wissenschaft, und wir müssen uns schließlich einmal hiervon befreien.

Fällt es doch heute auch keinem Astronomen mehr ein, die Gesetze seiner Wissenschaft gegen die autoritären Anschauungen von Körperschaften zu verteidigen, die absolut kein Recht besitzen, in astronomischen Dingen mitzureden. Die Zeiten eines GALILEI oder KOPERNIKUS gehören der Geschichte an. Das gleiche Recht haben die Vertreter der wissenschaftlichen Ethik, mit allem Krimskrams vorwissenschaftlicher Ethik aufzuräumen und seine Behandlung der Kulturgeschichte zu überlassen.

Die Behandlung der ethischen Erkenntnistheorie ist also kein spezifisches Problem der Ethik, sondern ist dem Erkenntnistheoretiker zu überlassen. (15)

§ 12. Neben den erkenntnistheoretischen Problemen existieren aber auch noch andere Fragen, mit deren Beantwortung sich die Ethik ganz unnötigerweise abmüht.

So wird das sogenannte Problem der Willensfreiheit allgemein als eines der wichtigsten Forschungsgegenstände der Ethik angesehen. Und doch kann man mit mehr Recht behaupten, daß das sogenannte Freiheitsproblem - wenn überhaupt ein Problem - so doch sicher kein spezifisch ethisches Problem ist. Worum dreht sich denn die ganze Frage? Doch darum, ob auch das menschliche Wollen und Wählen der durchgängigen Naturgesetzlichkeit unterworfen ist, ob unsere Entscheidungen Produkte eines kausalen Geschehens sind. Und diese Frage ist doch identisch mit der aller Naturwissenschaft: ob die Annahme, alles reale Geschehen sei einer unverbrüchlichen gesetzlichen Notwendigkeit unterworfen, berechtigt ist oder nicht. Keine naturwissenschaftliche Disziplin stellt an die Spitze ihrer Untersuchungen eine Überlegung über die Möglichkeit eines freien Naturgeschehens, das nicht den ehernen Gesetzen des Naturablaufs folgen würde; geradezu lächerlich würde eine solche "Vorfrage" jeden Naturwissenschaftler anmuten. Die Annahme einer unverbrüchlichen Gesetzlichkeit gilt jeder naturwissenschaftlichen Disziplin als selbstverständliche Voraussetzung, über die niemand debattiert. Geradeso muß auch der wissenschaftlichen Ethik die unerschütterliche Naturgesetzlichkeit allen menschlichen Wollens, Wählens und Handelns als selbstverständliche Voraussetzung aller wissenschaftlichen Behandlung der Ethik gelten. Mit anderen Worten: Der Determinismus und die Anerkennung seiner Berechtigung ist die Grundlage allen wissenschaftlichen Betriebes der Ethik.

Der Indeterminismus gehört der vorwissenschaftlichen Ethik an, ebenso wie der vorwissenschaftlichen Naturbetrachtung der Berufung auf Lebensgeister, Dämonen, spiritus rectores [lenkender Geist - wp], geheime virtutes [innewohnende Kräfte - wp] und ähnlichen phantastischen Kram eigen war.

Allerdings ist noch ein Moment beim sogenannten Freiheitsproblem zu beachten. Den wenigsten Ethikern ist überhaupt der wahre Sinn der ganzen Freiheitsfrage klar geworden. Das hat seinen Grund vor allem in allerlei Vieldeutigkeiten des Wortes Freiheit, die immer wieder miteinander zusammengeworfen wurden und so eine heillose Verwirrung bewirkten. Von einem Vertreter der Wissenschaft nun ist doch zumindest eine Klarheit darüber zu fordern, in welchem Sinn ein bestimmter wissenschaftlicher Terminus gebraucht wird; nicht aber ist die Auseinandersetzung darüber, wieviele und welche populäre Mißdeutung eines wissenschaftlichen Ausdrucks vorkommen oder gar möglich sind, ein wissenschaftliches Problem. So etwa der Physiker die Lehre vom Magnetismus damit einleiten, daß er zunächst ausführt, in welchem Sinn gerade die Physik von Magnetismus spricht? Soll der Physiker vor der Verwechslung mit dem sogenannten tierischen Magnetismus [ennemoser] warnen und dgl. mehr? Keinem gesunden Forscher wird derartiges einfallen. Der einzige Unterschied zwischen dem Physiker und dem Ethiker kann nur darin liegen, daß wohl die Begriffe der Ethik wie die der Philosophie überhaupt im allgemeinen abstrakter und schwerer in voller Klarheit festzuhalten sind. Doch nicht ddarin, daß gerade für den Ethiker die Schöpfung und Erhaltung fester Begriffe und eindeutiger Termini hochwissenschaftliche Probleme bedeuten.

Freilich könnte man einwenden, dem Physiker bestreitet niemand die Existenz des physikalischen Magnetismus; hingegen wird die Willensfreiheit auch in einem berechtigten und für die Ethik wichtigen Sinn wiederholt bestritten. So leugnen ja manche auch die Existenz der Wahlfreiheit, ohne welche kein sittliches Wählen und Handeln denkbar ist. Doch darauf ist zu antworten: Habeant sibi! [meinetwegen - wp] Sie dokumentieren damit eben nur, daß sie von wissenschaftlicher Ethik nichts verstehen. Die ethische Forschung berührt eine solche Leugnung gar nicht. Was geht es z. B. die wissenschaftliche Mechanik an, daß ein ZENO gelebt hat, der mit Hilfe von allerlei Trugschlüssen jede Möglichkeit einer Bewegung widerlegt zu haben glaubte! Die Mechanik kümmert sich um derlei Phantasien nicht, sie begnügt sich mit der Erfahrungstatsache, daß Bewegungen vorkommen und stützt darauf ihre Untersuchungen. Sie hält es ganz deutlich mit jenem schlagfertigen Schüler ZENOs, der die Beweisführung seines Lehrers einfach damit widerlegte, daß er den Hörsal verließ. Statt ZENOs Satz: "der fliegende Pfeil ruht" zu widerlegen, untersucht die wissenschaftliche Mechanik die Flugbahn des Pfeies, leitet daraus die entsprechenden Gesetze ab und leistet so echte wissenschaftliche Arbeit, die fruchtbare Anwendungen im praktischen Leben gestattet.

Auch die Ethik sollte schließlich einmal so unnütze Scheinprobleme wie das sogenannte Freiheitsproblem von ihrem Betrieb ausschalten und lieber aufgrund der beobachteten Erfahrungstatsachen die Gesetze des sittlichen Wählens und Handelns zu gewinnen trachten. Welch anderer Gewinn wird dann aus ihren Arbeiten erblühen! Dann wird die Ethik wirklich praktischen Wert haben und nicht mehr um die Anerkennung ihrer Daseinsberechtigung im Wissenschaftsgebäude kämpfen müssen.

Darum weg mit dem sogenannten Freiheitsproblem aus allen Darstellungen der Ethik! Es ist überflüssig geworden, wenn der Terminus "Freiheit" immer im richtigen und wissenschaftlich haltbaren Sinne verwendet und dort vermieden wird, wo es ganz sinnlos ist, von Freiheit zu sprechen.

Die ganze sogenannte Freiheitsfrage ist ja nur deswegen so aufgebauscht und nur darum zu einer großen Staatsaktion gemacht worden, weil man den hier gewonnenen "Ergebnissen" eine entscheidende Bedeutung beimaß für andere, ganz außerhalb aller Ethik liegende Probleme. Besonders die Metaphysik und hier vor allem die philosophische Theologie hielt sich für eminent interessiert an diesem "Problem". Es läßt sich zeigen, daß auch dieses angebliche Interesse nur auf irrigen Voraussetzungen beruth. Doch abgesehen hiervon: Selbst wenn ein solches Interesse tatsächlich zu Recht bestünde, ließe sich daraus nur folgern, daß eben die Metaphysik ein Problem der Willensfreiheit kennt; nie und nimmer aber wäre deshalb die Ethik verpflichtet, solche Untersuchungen zu pflegen.

§ 13. Was ist also die Aufgabe der Ethik? Welche Probleme hat sie eigentlich zu behandeln?

Die Ethik ist eine praktische Disziplin. Alle ihre Untersuchungen werden ja nur von einem praktischen Interesse zusammengehalten, nämlich dem Interesse an der Verwirklichung des sittlich Guten. Was diesem Interesse dient, ist von ihr zu behandeln; was diesem Interesse fremd ist, muß von ihr ausgeschaltet bleiben. Ein innerer Zusammenhang ihrer Lehren ist weder zu fordern, noch zu erwarten. Nur bei einer theoretischen Disziplin, wo ja das theoretische Interesse an der Erkenntnis bestimmter Wahrheiten beherrschend und einigend wirkt, stehen die Lehren in der Regel auch innerlich verwandt einander gegenüber, schließt die eine, allgemeinere Erkenntnis die andere, speziellere ein und die gesamte theoretische Disziplin wird so zu einem innerlich geschlossenen, einheitlichen Erkenntnisgefüge. Bei den praktischen Disziplinen jedoch sind die disparatesten Erkenntnisse vereinigt, von jenem losen, äußerlichen Band zusammengehalten, welches das praktische, die betreffende Disziplin beherrschende Interesse liefert.

Als praktische Disziplin ist die Ethik ferner eine Normwissenschaft. Ihr Ziel ist der Erwerb von Gesetzen im Sinne von Geboten und Verboten, von Vorschriften, Regeln oder Normen für unser praktisches Verhalten. Mit anderen Worten: Sie will die Frage beantworten: Wie sollen wir uns verhalten, um das Ideal der Sittlichkeit zu erreichen? Ganz andere Erkenntnisse streben die theoretischen Disziplinen an. Sie wollen Gesetze gewinnen im Sinne von Notwendigkeiten. So stellt sich z. B. die theoretische Naturwissenschaft die Aufgabe, die Naturgesetze, also unverbrüchliche Notwendigkeiten zu erkennen. Diesen Gesetzen folgen die betreffenden Naturgeschehnisse ausnahmslos. Von einem Wollen oder Sollen kann bei ihnen nie die Rede sein; es ist immer ein unentrinnbares Müssen. Das Nichtbefolgen eines solchen Notwendigkeitsgesetzes ist ganz unmöglich. Die Normgesetze zu befolgen hängt hingegen von unserem Willen ab.

Nun wäre es aber ein Irrtum, daraufhin zu glauben, daß es eine Normwissenschaft durchwegs nur mit Willkürlichkeiten zu tun hat. Das gerade Gegenteil ist richtig. Sollen die Normen einer praktischen Disziplin überhaupt einen wissenschaftlichen Wert haben, dann darf das einzig Willkürliche bei ihnen nur sein, daß wir sie nach freier Wahl befolgen oder vernachlässigen können. Im Übrigen abr müssen diese Normen, wenn sie einmal befolgt werden, unverbrüchlich zum angestrebten Ziel führen; ihre Nichtbeachtung muß ebenso sicher die Erreichung des Zieles verhindern. Das kann aber nur sein, wenn sich die Erkenntnis dieser Normen auf die Gesetze im Sinne von Notwendigkeiten stützt. Daraus erhellt sich schon, daß jede praktische Disziplin, bevor sie ihrer eigentlichen Aufgabe, der Aufstellung gesicherter Normen unseres Verhaltens, gerecht werden kann, eine vorbereitende Arbeit leisten muß, in welcher sie geradeso wie jede theoretische Diszipin, Gesetze im Sinne der Naturgesetze erforschen muß.

Diese zu erforschenden Notwendigkeiten sind durchwegs kausale, bei welchen zu einer bereits festgelegten Wirkung die ausreichenden Ursachen zu suchen sind. Speziell bei der Ethik ist diese von vornherein als bekannt angenommene Wirkung das sittlich einwandfreie Verhalten. Es sind nun all jene Ursachen aufzufinden, welche diese hypothetische Wirkung hervorzubringen vermögen oder vielmehr naturnotwendig hervorbringen müssen. Selbstverständlich muß auch eine ganz analoge kausale Erklärung des unsittlichen Verhaltens parallel gehen. Sind einmal in einer solchen Art die notwendigen Zusammenhänge zwischen den Bedingungen des sittlichen bzw. unsittlichen Verhaltens und diesem Verhalten selbst festgestellt, dann kann offenbar die Ableitung der richtigen, sicher führenden Gebote und Verbote nicht mehr schwer fallen. Während jene Notwendigkeiten offenbar nur auf induktivem Weg gewonnen werden können, wird gerade bei der Ableitung der Normen in der Regel das deduktive Verfahren anzuwenden sein. Häufig dürfte es sich ja um nichts anderes handeln, als um ein Umgießen des induktiv gewonnenen Naturgesetzes in die normative Form. Doch würde man irren, wenn man daraufhin etwa meinte, die Ableitung der normativen Gesetze sei eine zwecklose Spielerei und ganz mechanisch zu lösen. Man darf nicht vergessen, daß gerade diese Normen sozusagen die Resultierende aus den beim Entstehen sittlichen Verhaltens wirksamen Kräfte zu ziehen haben, daß sie die induktiv festgestellten theoretischen Notwendigkeitsbeziehungen auf die verwickelten Komplexe des wirklichen, praktischen Lebens zu übertragen haben und erst so ihre Aufgabe voll und ganz erfüllen können. Schon die viel einfacheren Verhältnisse der sogenannten technischen Disziplinen zeigen ja zur Genüge, welche Schwierigkeiten die Umsetzung des theoretischen Wissens in die Praxis, etwa bei Bau einer Maschine, zu überwinden fordert. Bei der Konstruktion einer primitiven Waage genügt fast allein die einfache Anwendung des Hebelgesetzes. Bei einer komplizierten Maschine muß dasselbe Hebelgesetz in hundertfacher Anpassung an bestimmte Zwecke der Maschine verwertet und dieses eine Naturgesetz mit zahlreichen anderen in einem realen Zusammenwirken berücksichtigt werden. Weit verwickelter, weit schwieriger zu lösen sind aber jene praktischen Fragen, die das pulsierende Leben und vor allem unser Wollen, Wählen und Handeln betreffen. Ohne die Erkenntnis jener naturgesetzlichen Notwendigkeiten sind sie überhaupt unlösbar. Mit einer solchen Erkenntnis aber wird sich der zukünftige psychische Techniker - wenn ich mir diesen Ausdruck erlauben darf - immer noch vor solche Schwierigkeiten gestellt sehen, daß ihnen gegenüber alle großartigen Wunderwerke der Technik wie ein Kinderspiel dastehen werden.

Ich sagte, jede praktische Disziplin habe ihre Normen abzuleiten aus induktiv gewonnenen Notwendigkeitsgesetzen, bei denen für die hypothetische Wirkung, welche mit dem praktischen Ziel der betreffenden Disziplin zusammenfällt, die ausreichenden Ursachen zu suchen sind. Der normativen Arbeit muß also eine genetische, erklärende, vorausgehen.

Auch diese genetische Aufgabe ist aber aufgrund anderer Vorarbeit lösbar. Sie trägt durchwegs deskriptiven Charakter. Ich meine da nicht jene deskriptive Leistung, welche untrennbar mit jeder Art induktiver Forschung verbunden ist, nämlich das Sammeln, Beschreiben, Analysieren und Klassifizieren der Erfahrungstatsachen, auf denen sich erst eine Induktion aufbauen läßt. Sie gehört ja so selbstverständlich zum ganzen Entwicklungsgang jener Notwendigkeitserkenntnisse, daß hierüber gar keine Debatte möglich ist. Ich denke vielmehr an einen anderen Umstand. Jene hypothetisch angenommene Wirkung, für welche die gesetzliche Erklärung gesucht wird, muß vorher auf das Genaueste charakterisiert werden. Nur so ist es möglich, diejenigen Erfahrungstatsachen aufzufinden, welche zu den angestrebten Induktionen führen. Das heißt aber, das praktische Ziel oder Ideal der betreffenden Normwissenschaft muß gründlich beschrieben und gegen alle anderen einwandfrei abgegrenzt werden. Für die Ethik ersteht also die Aufgabe, darzulegen, was unter einem sittlichen, bzw. unsittlichen Verhalten zu verstehen ist, welche charakteristischen Merkmale da existieren, die uns jederzeit gestatten, sittliches und unsittliches Verhalten mit Sicherheit zu erkennen.

Damit sind schon alle Probleme, welche eine wissenschaftliche Ethik beschäftigen können und sollen, festgelegt. Die Ethik hat:
    1. in einem deskriptiven Teil das sittliche bzw. unsittliche Verhalten zu charakterisieren;

    2. in einem genetischen Teil das sittliche bzw. unsittliche Verhalten naturgesetzlich zu erklären;

    3. in einem normativen Teil uns zum sittlichen Verhalten zu führen. (16)
§ 14. Kann nun die Ethik diesen ihren echten Aufgaben ohne Psychologie gerecht werden? Eine kurze Überlegung genügt, um diese Frage mit aller Entschiedenheit zu verneinen.

In ihrem deskriptiven Teil hat die Ethik eine fast rein psychologische Aufgabe zu lösen. Es sollen die charakteristischen Merkmale sittlichen bzw. unsittlichen Verhaltens aufgezeigt werden. Wie kann das geschehen? Offenbar nur, indem wir unsere psychische Erfahrung durchforschen, also deskriptiv-psychologische Arbeit leisten. Hier haben wir jene psychischen Akte aufzufinden, in welchen sich uns das sittlich Gute kundgibt, in welchem wir erkennen, welches Vorziehen richtig ist, welche uns schließlich darüber belehren, daß es bestimmte Ziele und Ideale gibt, die ein auf ihre Erreichung und Verwirklichung gerichtetes Wollen, Wählen und Handeln als sittlich charakterisieren. Jede Ethik kommt schließlich zu dem Ergebnis, unser Verhalten sei dann sittlich zu nennen, wenn es auf die Steigerung des Gemeinwohls abzielt; oder schärfer ausgedrückt auf das sogenannte höchste praktische Gut, wobei
    "der Bereich des höchsten praktischen Gutes die ganze unserer vernünftigen Einwirkung unterworfene Sphäre ist, soweit in ihr ein Gutes verwirklicht werden kann. Nicht allein das eigene Selbst: die Familie, die Stadt, der Staat, die ganze gegenwärtige irdische Lebewelt, ja die Zeiten fernerer Zukunft können dabei in Betracht kommen. ... Das Gute in diesem weiten Ganzen nach Möglichkeit zu fördern, das ist offenbar der richtige Lebenszweck, zu welchem jede Handlung geordnet werden soll; das ist das eine und höchste Gebot, von dem alle übrigen abhängen." (17)
Für jedes Individuum ist das jeweilige höchste praktische Gut sicher eine objektiv eindeutige Gegebenheit. Ein umfassender Verstand könnte ohne Zögern einem jeden Einzelnen seine sittliche Aufgabe zuteilen und auch genau bestimmen, ob er dieser Aufgabe gerecht geworden ist oder nicht. Der engbegrenzte Menschenverstand jedoch vermag nur in den allerseltensten Fällen, wenn überhaupt jemals, klipp und klar zu erkennen, welche Leistung dem einzelnen Menschen zusteht, welche Aufgabe gerade seinen Fähigkeiten und Mitteln entspricht, was ihm zu tun nicht zukommt, was er anderen, besser oder auch schlechter qualifizierten Individuen zu überlassen hat. Auch bei größter Sorgfalt begehen wir vielfache Irrtümer in der Beurteilung unserer sittlichen Pflichten. Wir erkennen unser höchstes praktisches Gut entweder gar nicht oder doch nur unvollkommen. Erst wenn wir uns entschieden, ja schon gehandelt haben, wird uns klar, wie wir ganz anders hätten handeln sollen. Oft wird uns auch nachträglich eine solche Erkenntnis nicht zuteil, hingegen beurteilen die Beobachter unseres Verhaltens die ganze Wertlage viel richtiger und durchschauen unseren sittlichen Irrtum. Aufgrund zahlloser derartiger Erfahrungen ist man zur Unterscheidung einer objektiven und subjektiven Sittlichkeit gekommen; und man nennt dann subjektiv sittlich jenes Verhalten, welches auf ein Ziel gerichtet ist, das von einem tätigen Individuum für sein höchstes praktisches Gut gehalten wird; hingegen objektiv sittlich heißt dasjenige Verhalten, welches das tatsächliche höchste praktische Gut verwirklicht. Offenbar wäre das ideale sittliche Verhalten jenes, bei dem objektive und subjektive Sittlichkeit zusammenfallen. Dann wäre unser Tun und Lassen sittlich einwandfrei, wenn es durch die Rücksicht auf unser höchstes praktisches Gut geregelt und das höchste praktische Gut auch ganz richtig von uns erkannt würde.

Auf dieses Ideal müssen die Untersuchungen des 2. und 3. Teils der Ethik hinstreben. Die normative Ethik ist ganz auf der genetischen aufgebaut. Der genetische Teil entscheidet darüber, ob auch der normative Teil der Psychologie bedarf oder nicht. Der genetische Teil aber will das sittliche bzw. unsittliche Verhalten naturgesetztlich erklären. Wie handeln wir naturnotwendig sittlich? Das ist das ganze Problem. Die äußere Handlung ist offenbar erst der letzte Ausläufer des ganzen sittlichen Prozesses. Ihr müssen das Erkennen, das Wollen und das Wählen des Sittlichen vorangehen. Die genetischen Gesetze der Ethik müssen daher Gesetze unseres Erkennens, unseres Wollens und unseres Wählens in sich schließen. Alle diese Gesetze kann aber nur die psychologische Forschung liefern.

Und die spezifischen Gesetze unserer äußeren Handlungen? Unstreitig beinhalten sie zum großen Teil Notwendigkeiten des Physischen, und ebenso ist es zweifellos, daß die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eine bedeutsame Grundlage für die Vervollkommnung unserer ethischen Erkenntnis bildet. Nur die Naturwissenschaft lehrt uns alle jene physischen Mittel kennen, welche zur Verwirklichung unserer sittlichen Zwecke dienen; je breiter und tiefer unsere Naturerkenntnis wird, umso mehr lernen wir auch diese physischen Mittel zu beherrschen, sie in unseren Dienst zu stellen, und umso weniger sind wir die Untertanen blinder, unbegründeter Furcht vor den imposanten Naturgewalten, einer Furcht, die auf alles Handeln lähmend wirkt und gar nie ein vernünftiges Urteil über Mögliches und Unmögliches aufkommen läßt. Man darf sogar mit vollem Recht behaupten, daß die erweiterte Naturerkenntnis jedem, der sie erwirbt, neue und noch neuere sittliche Möglichkeiten verschafft. Unser Machtkreis wird erweitert und mit ihm wächst der Bereich jener Güter, die wir zu verwirklichen imstande sind; d. h. aber, unser höchstes praktisches Gut wird vergrößert, unser Pflichtenkreis nimmt einen stetig zunehmenden Raum ein, wie das ja für jedes Anwachsen unserer Fähigkeit und Tüchtigkeit gilt. Mit steigendem Wissen und Können wachsen die sittlichen Aufgaben des Individuums und der Einzelne wird selbst bedeutender, er wird ein immer wichtigerer Faktor bei der Realisierung der sittlichen Ideale. Wenn überhaupt irgendwo, dannt gilt hier der Satz: "Es wächst der Mensch mit seinen größeren Zwecken". Ganz töricht ist es, wenn wiederholt so gesprochen wurde, als müßte der Fortschritt unserer Naturerkenntnis notwendig mit einem Verfall der Sittlichkeit Hand in Hand gehen. Wenige Fälle, wo unsere vermehrten Machtmittel mißbrauch worden sind, müssen immer wieder herhalten, um den Scheinbeweis dieses Satzes zu liefern. Ein triftiger Beweis kann nicht erbracht werden. Es läßt sich ja nicht bestreiten, daß die auf die vermehrte Naturerkenntnis aufgebaute Steigerung unserer materiellen Kultur ein rascheres Tempo eingeschlagen hat als der Fortschritt unserer sittlichen Kultur. Aber so muß es nicht bleiben und es wird auch nicht so bleiben, wofür tausenderlei Anzeichen vorhanden sind. Der unreif gährenden Übergangszeit wird ein Zeitalter besserer Ausgeglichenheit folgen, und dann erst dürfte es allgemein klar werden,, wie zahllose sittliche Möglichkeiten die neue naturwissenschaftliche Entwicklung geschaffen hat, wie sehr unsere Sicherheit gewachsen ist, sittliche Ideale zu erkennen, anzustreben und zu verwirklichen. Dann wird auch der einsichte Ethiker aufhören, den materiell-technischen Fortschritt ungerechterweise zu beklagen; er wird vielmehr richtig den bedeutenden Zuwachs werten, den unser ethisches Wissen und Können der fortschreitenden Naturerkenntnis zu danken hat. Ebenso klar wird es dann wohl auch jedem Ethiker sein, daß die genetischen Gesetze der Ethik, besonders die spezifischen Gesetze unserer äußeren Handlungen, sich großenteils als Notwendigkeiten des Physischen darstellen.

Doch dürfen wir nun nicht ins andere Extrem verfallen und etwa die Gesetze unserer äußeren Handlungen geradezu mit irgendwelchen Gesetzen des physischen Geschehens zu identifizieren. Alle äußeren Handlungen sind ja unzweifelhaft mitbedingt durch die psychischen Bedingungen, die im Handelnden selbst liegen, und können schon deshalb nicht ohne Psychologie erklärt werden. Aber hiervon ganz abgesehen. Wir wollen doch durch unsere sittlichen Handlungen hauptsächlich auf unsere Mitmenschen einwirken. Selbstverständlich kann diese Einflußnahme nur in der Weise geschehen, daß wir mit physischen Mitteln in einem anderen Individuum zunächst physische Wirkungen erreichen. Aber offenbar - nur ein vollständiges Verkennen aller Erfahrung könnte hier zur Leugnung meines Satzes verführen - ist damit nur in den allerseltensten Fällen der angestrebte Zweck erfüllt. Fast immer wollen wir auf die Psyche des Andern Einfluß gewinnen und von da aus im Sinne unserer Zwecke und Ziele wirken. Wie sollen wir dies aber mit Erfolg tun, wenn wir die Gesetze des fremden psychischen Lebens nicht kennen und vor allem: wie sollen wir die Wirkung unserer Handlungen auf andere Psychen erkenntnismäßig bestimmen können, wenn wir allen psychologischen Wissens bar sind? Noch mehr; wir müssen ebenso die Notwendigkeiten erkennen, welchen die Einwirkung fremder Psychen aufeinander gehorcht. Nur so können wir ja die gegebene Sach- und Wertlage richtig beurteilen und unser Handeln vernünftig einem sittlichen Ziel zuordnen. Alle möglichen Spezialzwecke psychologischer Forschung müssen beim Erwerb der genetischen Gesetze der Ethik mitwirken: die Massenpsychologie und die Individualpsychologie; die Psychologie des Kindesalters ebenso wie die des Erwachsenen; die Psychologie des Kranken neben der Psychologie des Gesunden usw. Nur auf diese Weise können wir die Wirkungsmöglichkeiten und Wirkungserfolge umfassend richtig beurteilen und eine einsichtige Antwort auf die Frage liefern: Unter welchen Bedingungen gelangen wir naturnotwendig zu einem sittlichen Verhalten?

Will die Ethik wirklich Wissenschaft sein, dann kann sie also bei der Erforschung ihrer Gesetze nicht der Psychologie entbehren, weder in ihrem deskriptiven, noch im genetischen, noch im normativen Teil. Ja, dem Ethiker genügt es nicht, bloß psychologische Kenntnisse zu seinen Untersuchungen mitzubringen; er muß sich selbst immer wieder geradezu als psychologischer Forscher betätigen. Nur ist für ihn eine solche psychologische Erkenntnis kein Selbstzweck; sie ist durchwegs als Mittel zugeordnet dem einen Ziel, das alle Ethik beherrscht: sittliches Verhalten zu begreifen und zu sittlichem Verhalten zu führen.

Freilich, haben wir diese echte und eigentliche Aufgabe der wissenschaftlichen Ethik voll erkannt, dann sind wir auch schon sehr, sehr bescheiden geworden in der Wertung dessen, was die Ethik bisher wirklich geleistet hat. Sie hat noch kaum den ersten Anlauf genommen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Es ist noch fast alles erst zu tun. Deshalb aber brauchen wir nicht zu verzagen; auch andere, jetzt imposante Disziplinen sind nur schrittweise zu ihren großen Erfolgen vorgedrungen. Beharrliche Arbeit wird auch die Ethik zu ihrem großen Ziel führen; sie muß nur dieses Ziel fest im Auge behalten und es nicht immer wieder mit irgendwelchen Phantomen vertauschen; sie muß die Erkenntnis festhalten, daß ihre Entwicklung größtenteils auf dem Fortschritt der Psychologie beruth und daß eine zukünftige entwickelte Psychologie auch eine stattliche Zunahme ethischer Einsichten herbeiführen wird.

Eine wissenschaftliche Ethik ohne Psychologie wird es nie geben.


3. Die Probleme der
wissenschaftlichen Ästhetik

§ 15. Wir wenden uns zur Ästhetik und ihrem Verhältnis zur Psychologie. Auch der Stoff der Ästhetik und die Auswahl der Probleme, die sie beschäftigen, ist nach der positiven wie nach der negativen Seite bestimmt und begrenzt durch ein praktisches Interesse, d. h. das Interesse an der Verwirklichung des Schönen. Die Frage, welche die Ästhetik zu beantworten hat, lautet: Wie erzielen wir naturnotwendig ideales ästhetisches Verhalten? Hieraus ist ohne weiteres klar, daß die Ästhetik eine praktische philosophische Disziplin und folgerichtig eine Normwissenschaft im eigentlichen Sinn des Wortes ist. Dies ist ja vielfach bestritten worden, aber sicher mit Unrecht; und wohl nur deshalb, weil man einen Teil der ästhetischen Aufgaben mit der ganzen ästhetischen Disziplin gleichgesetzt hat. Die Ästhetik hat unstreitig bestimmte theoretische Probleme zu lösen, und diese werden einen breiten Raum in ihrem ganzen Forschungsbetrieb einnehmen. Aber alle theoretischen Probleme und deren Lösungen sind nur eine Vorarbeit, um die eigentliche Aufgabe der Ästhetik zu erfüllen, d. h. die Aufstellung und Begründung von Normen für unser ästhetisches Verhalten. Der Beweis hierfür ergibt sich ganz analog wie bei der Ethik, und auch die Problemgruppen der Ästhetik lassen sich in ganz analoger Weise ableiten. Ich will mich nicht damit aufhalten, diese Ableitung hier von Neuem zu liefern; vielmehr sind nur die Aufgaben der Ästhetik in einer kurzen Zusammenfassung festgehalten: die wissenschaftliche Ästhetik hat
    1. in einem deskriptiven Teil das ästhetisch einwandfreie Verhalten und dessen Gegenteil zu charakterisieren;

    2. in einem genetischen Teil das ästhetische bzw. unästhetische Verhalten naturgesetzlich zu erklären; schließlich

    3. in einem normativen Teil zu ästhetisch einwandfreiem Verhalten zu führen (18).
§ 16. Ist nun die Lösung dieser echten Aufgabe der wissenschaftlichen Ästhetik ohne Psychologie möglich? Offenbar muß diese Frage verneint werden.

Der deskriptive Teil ist fast rein psychologisch: die Lösung des genetischen liefert großenteils psychologische Erkenntnisse; und der normative Teil kann ja nur aus den deskriptiven und den genetischen Lösungen abgeleitet werden. Ohne Psychologie ist die wissenschaftliche Ästhetik ganz unlösbar.

Ästhetisches Verhalten und sein Gegenteil sind psychische Erlebnisse. Unter Schönheit ist zunächst und im eigentlichen Sinn nur ein Charakteristikum bestimmter Vorstellungskomplexe zu verstehen; erst in einem übertragenen Sinn werden auch außerpsychische Wirklichkeiten schön genannt, insofern sie ein schönes Vorstellen hervorzurufen oder zu unterstützen geeignet sind. Ebenso denken wir beim ästhetischen Verhalten in der prägnanten Wortbedeutung zunächst nur an Psychisches, an das Erleben der Schönheit, an das Auffassen und Genießen des Schönen. Wenn wir von schöner Kunst oder schönen Nachbildern sprechen, so ist damit immer wieder nur ein zweckentsprechendes Mittel zu einem möglichen ästhetischen Verhalten genannt; nicht aber wollen wir diesen physischen Tatsachenkomplexen ein ästhetisches Verhalten zuschreiben. Eine ganze Reihe anderer Bedingungen muß noch erfüllt sein, bevor z. B. das schöne Kunstwerk ein ästhetisches Verhalten auslösen kann. Man denke nur an ein bestimmtes Beispiel! GOETHEs Gedicht "Der Fischer" gilt allgemein als schön. Aber warum? Solange es nur gedruckt vor uns liegt, hat es gar keine ästhetische Bedeutung und kann sie nie gewinnen für einen Blinden, für einen des Lesens oder der Sprache Unkundigen. Wird es vorgetragen, dann erfordert es wieder einen Hörenden und einen Verstehenden usw. Kurz gesagt: die Schönheit muß erlebt werden; ein ästhetisches Verhalten existiert nur als psychische Gegebenheit und sonst überhaupt nicht.

Hält man das fest, dann wird man wohl nicht mehr leugnen können, daß der deskriptive Teil der Ästhetik nur mit Hilfe der Psychologie gelöst werden kann. Psychische Tatsachen müssen die Daten liefern für die Charakteristik des ästhetischen Verhaltens und diese Charakteristik selbst fällt durchwegs mit der deskriptiv-psychologischen Arbeit zusammen.

Bedarf es dann noch besonderer Beweise, um darzulegen, daß auch die genetisch-ästhetische Forschung in einem eminenten Sinn psychologisch zu nennen ist? Bei der Erforschung der genetischen Gesetze der Ästhetik müssen wir ja von der hypothetischen Wirkung "ästhetisches Verhalten" ausgehen und alle Bedingungen aufsuchen, welche diese Wirkung notwendig hervorrufen müssen. Also durchwegs sind Gesetze zu finden, denen psychische Erlebnisse, psychische Tatsachenkomplexe naturnotwendig folgen. Das kann offenbar nur jemand leisten, der mit psychologischem Wissen vertraut und in psychologischen Forschungsmethoden wohl bewandert ist.

Eher könnte man versucht sein, zu zweifeln, ob die genetische Aufgabe der Ästhetik noch etwas anderes als rein psychologisches Wissen zu ihrer Lösung bedarf. Aber auch dieser Zweifel ist leicht zu beseitigen. Die genetischen Gesetze der Ästhetik sind ja schon so weit, als sie Gesetze der genetischen Psychologie sind, psychophysische Notwendigkeiten, schließen also schon naturwissenschaftliche Erkenntnisse ein. Dazu kommt nun, um nur einen allerwichtigsten Faktor zu erwähnen, noch die Bedeutung der Kunst für unser ästhetisches Verhalten. Kein Ästhetiker kann der Frage ausweichen, wie ein Kunstwerk beschaffen sein muß, damit es eine ästhetische Wirkung ausübt. Hierin wurde von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Ästhetik erblickt und mit Recht. Denn die Betrachtung der Kunstwerke ist erfahrungsgemäß der wirksamste Faktor, der uns im ästhetischen Verhalten unterstützt, ja häufig ein solches erst ermöglicht. Nach der ganzen Beschaffenheit unserer psychischen Organisation bedürfen wir meist solch starker unterstützender Mittel beim ästhetischen Verhalten. Die Zahl jener Menschen, welche ohne so einen äußeren Anstoß reiche ästhetische Erlebnisse auf welchem Gebiet auch immer ihr eigen nennen, ist zu allen Zeiten verschwindend klein gewesen. Deshalb muß auch die Ästhetik die Wichtigkeit dieser als Anregung und Unterstützung hochbedeutsamen Faktoren anerkennen und ihre Forschung danach einrichten. Der wissenschaftliche Ästhetiker muß daher nicht nur als Psychologe geschult und mit den Ergebnissen der Psychologie vertraut sein, sondern auch im gleichen Maß der Kunstwissenschaft seine volle Aufmerksamkeit zuwenden. Wieviel außerpsychologisches Wissen und Können damit allein schon vom ästhetischen Forscher verlangt wird, bedarf wohl kaum einer besonderen Darlegung. Die Nutzanwendung aus dieser Erkenntnis ergibt sich in der Ablehnung all jener Versuche, welche die Ästhetik etwa nur als einen Ausschnitt aus der Psychologie deuten wollten. Vielmehr muß jeder einsichtige Beurteiler der Aufgaben ästhetischer Forschung EMIL UTITZ zustimmen, wenn er die Forderung aufstellt, die Ästhetik habe "das Gebiet der Psychologie zu verlassen und anderen Gesichtspunkten - als psychologischen - zu folgen." (19) Es ist zweifellos richtig, wenn der genannte Forscher betont, die Ästhetik habe
    "ohne eine Preisgabe der mächtigen Vorteile, welche eine richtig angewandte Psychologie zu gewähren vermag, doch über die Psychologie hinauszusteuern, um den der Ästhetik eigentümlichen Fragen in entsprechender Weise gerecht zu werden." (20)

Es wäre sicherlich verfehlt, um weiter mit dem zitierten Autor zu sprechen, die Ziele und Absichten als rein psychologische darlegen und beweisen zu wollen, "daß der Ästhetik keine Aufgaben zufallen, die sich nicht in den Rahmen der Psychologie einfügen." (21)

Nein, die Ästhetik ist schon als Normwissenschaft und durch das sie beherrschende praktische Interesse genügend von der theoretischen Psychologie unterschieden. Sie holt sich das für sie wertvolle Wissen aus den verschiedensten Forschungszweigen und verarbeitet es mit den ihrem Zweck angepaßten Methoden. Mit bloßer Psychologie können die ästhetischen Probleme nicht gelöst werden. Aber trotzdem bleibt es wahr, daß ohne psychologisches Wisen, ohne psychologische Schulung eine wissenschaftliche Ästhetik niemals ausgebaut werden kann; nicht einmal die allerprimitivsten Anfänge einer ästhetischen Wissenschaft lassen sich ohne Psychologie gewinnen und begründen.

Es scheint, daß gerade von Seiten der Ästhetik mehr als von jeder anderen philosophischen Disziplin heutzutage der innige Zusammenhang mit der psychologischen Forschung erkannt worden ist (22). Wenn auch hier noch keine volle Einstimmigkeit herrscht, so tragen daran einige Mißverständnisse die Schuld, die sich vielleicht ohne Mühe beseitigen lassen. Es ist zwar unbedingt daran festzuhalten, daß die Begründung und Ableitung aller ästhetischen Normen auf psychologischem Wissen fußt. Aber die Auswahl dieser psychologischen, die Normen begründenden Gesetze findet ganz mit Rücksicht auf das praktische Ziel der Ästhetik statt. Das Wort "Auswahl" ist jedoch richtig zu verstehen. Ich meine nicht, daß die Ästhetik in ihrem deskriptiven und in ihrem genetischen Teil nur solche psychologischen Gesetze darlegt, die der Fachpsychologe bereits nachgewiesen hat. Manche, ja vielleicht viele der Gesetze werden sicher von dieser Art sein. Aber ebenso wird man vieles deskriptive und genetische psychologische Wissen des Ästhetikers vergebens in den Darstellungen der Psychologie suchen. Es ist vom Standpunkt des theoretischen Interesses der Psychologie verhältnismäßig bedeutungslos, gewinnt aber die höchste Bedeutung mit Bezug auf das praktische Interesse des Ästhetikers. Ganz Analoges gilt ja für alle praktischen Disziplinen.

Eine ältere Auffassung hat wohl die theoretischen und die praktischen Disziplinen derart charakterisiert, daß man leicht zu der Meinung gedrängt werden konnte, die praktischen Disziplinen hätten nichts anderes zu tun als die ihren praktischen Interessen dienlichen Erkenntnisse der entsprechenden theoretischen Disziplinen auszulesen und umzugruppieren. Deshalb hörte man damals wohl auch behaupten, jede Wahrheit einer praktischen Disziplin bilde auch gleichzeitig den Forschungsgegenstand einer bestimmten theoretischen Disziplin. Dies widerspricht aber offenkundig aller Erfahrung. So ist beispielsweise sicher, daß jene Mikroorganismen, welche als Kranktheitserreger gelten, erst seitdem man in ihnen die Krankheitserreger kennengelernt hatte, so großes Interesse für die Forschung gewonnen haben; und dieses Interesse besitzen sie nur für die medizinische Forschung, nicht aber für die Botanik oder für die Zoologie. Vom Standpunkt dieser Disziplinen hätten sie niemals ein Jota mehr Bedeutung gehabt als alle anderen, durchaus ungefährlichen Mikroorganismen. Oder man denke an die zahlreichen Arbeiten über den Beton, welche wie die Pilze emporschießen, seitdem man die Bedeutung des Betons für den Techniker erkannt hat. Niemals hätte sich eine theoretische Disziplin in so interessanter Weise gerade diesem Studium zugewendet. Und doch ist es ganz sicher, daß der Techniker beim Studium des Betons physikalische und chemische Erkenntnisse produziert, ebenso wie der Mediziner beim Studium jener Krankheitserreger ein botanisches, zoologisches und biologisches Wissen erwirbt.

Aber der Techniker bezweckt keine physikalischen und chemischen Erklärungen, er will Normen für den Betonbau gewinnen; der Mediziner strebt nicht nach einem biologischen Wissen, er steckt sich als Ziel medizinisches Können. Jedoch beide sind darin einig, daß die Erreichung ihres praktischen Zieles nur auf theoretischen Erkenntnissen begründet sein kann.

Wenn in dieser weise die Natur der praktischen und der theoretischen Disziplinen richtig auseinandergehalten wird, dann ergibt sich von selbst der gerechte Ausgleich auch zwischen Ästhetik und Psychologie. Jede von ihnen hat ihre speziellen Aufgaben zu erfüllen, die eine kann nicht durch die andere ersetzt werden und jede dieser Disziplinen ist in ihrem Forschungsgebiet autonom und hat ihr eigenes, selbstherrliches Ziel zu erreichen. Ja, noch mehr. Trotzdem immer daran festgehalten werden muß, daß die Ästhetik wie jede andere philosophische Disziplin durchwegs auf psychologischem Wissen basiert, müssen doch ebenso dabei bleiben, daß die Ästhetik in ihrer Methodik - ich hier auch den deskriptiven und genetischen Teil der Ästhetik, vom normativen ist das ja selbstverständlich - nicht einfach einen Abklatsch der psychologischen Forschungsmethoden bieten darf. Der veränderte Gegenstand der Untersuchung sowie deren anderes Ziel muß auch in der differenten Methodik zum Ausdruck kommen.

Ich glaube, daß mit dieser Darlegung auch die richtigen Gedanken zusammengefaßt sind, welche im Streit um das wahre Verhältnis zwischen Ästhetik und Psychologie vorgebracht worden sind.

Auf die Vertreter einer ganz "reinen", "systematischen", "theoretischen" oder, besser gesagt, spekulativen Ästhetik will ich nincht näher reflektieren. Eine wissenschaftliche Ästhetik kann ohne Zweifel nur empirischen Charakter tragen.
LITERATUR - Josef Eisenmeier, Die Psychologie und ihre zentrale Stellung in der Philosophie, Halle/Saale 1914
    Anmerkungen
    14) ANTON MARTY, Was ist Philosophie?, Prag 1896, Seite 31- Unter "Arbeitsteilung" wird hier, wie man sieht, nicht jene "extremste Ausführung des Prinzips der Arbeitsteilung" verstanden, die WUNDET (Die Psychologie im Kampf ums Dasein, Seite 31) mit Recht als unwissenschaftlich bekämpft, sondern die richtig verstandene Arbeitsteilung, welche gerade bei der Philosophie besser als Arbeitsgemeinschaft aller philosophischen Disziplinen mit der psychischen Forschung bezeichnet werden könnte. - Vgl. auch MARTY, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Bd. I, Seite 6f.
    15) Der Kürze wegen habe ich in diesem Paragraphen durchwegs von Erkenntnistheorie in der üblichen Bedeutung gesprochen. Im fünften Abschnitt ist die richtige Einordnung der sogenannten erkenntnistheoretischen Probleme durchgeführt und auch begründet. Folgerichtig sind auch die erkenntnistheoretischen Fragen der Ethik nur von der Logik zu behandeln, soweit sie nicht überhaupt fiktiven Charakter tragen.
    16) Die weitaus überwiegende Zahl der Ethiker gesteht zu, daß die Ethik eine Normwissenschaft ist, es also als ihre eigentliche und abschließende Aufgabe zu betrachten hat, Normen unseres sittlichen Verhaltens aufzustellen und zu begründen. Darin sind die ältesten und ganz moderne Darstellungen einig, und wir finden auch eine Menge sittlicher Vorschriften, Regeln, Gebote und Verbote, die nach und nach vertreten worden sind. Fast könnte es den Anschein erwecken, als hätte die Ethik schon ein stattliches Stück ihrer Arbeit geleistet. Denn woher sollte sie alle die Normen gewonnen haben, als aufgrund der Erkenntnis deskriptiver und genetischer Gesetze der Ethik? Bei genauerem Zusehen zerstiebt aber dieser falsche Schein und von den echten wissenschaftlichen Leistungen der Ethik bleibt fast nichts übrig. Denn in einem ganz anderen Sinn wird von der bisherigen Ethik der Ausdruck "Norm" verwendet, als ihn eine wissenschaftliche Ethik gebrauchen müßte. Was sagen uns denn die bisher aufgestellten sittlichen "Normen"? Durchwegs sind in ihnen nur Charakteristiken des sittlichen Verhaltens ausgesprochen. Irgendein spezifisches Tun oder Lassen wird da als sittlich angesprochen; noch dazu meistens mit Unrecht. Detailbeschreibungen und Klassifikationen des sittlichen bzw. unsittlichen Verhaltens werden da geliefert und nur mißbräuchlich in der sprachlichen Form von Normen, als Geboten und Verboten, wiedergegeben. Aber alle besonderen, ins Einzelne gehenden Charakteristiken bestimmter Verhaltensweisen und ihre Einreihung unter die Begriffe "sittlich" und "unsittlich" sind von vornherein hinfällig und stehen zahllosen unentrinnbaren Schwierigkeiten gegenüber. Die einzelne Handlung, die einzelne Unterlassung ist an und für sich weder sittlich noch unsittlich. Sie wird das eine oder das andere nur im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe wechselnder Faktoren. Somit kann nur von Fall zu Fall entschieden werden, ob unser Verhalten sittlich einwandfrei ist. Nur dann kann es sittlich heißen, wenn es durch die Rücksicht auf das sogenannte höchst praktische Gut entweder direkt oder indirekt bestimmt ist. Das ganz gleiche Verhalten ist aber ein andermal wiederum geradezu unsittlich, wenn es die Verwirklichung des höchsten praktischen Gutes hemmt oder gar unmöglich macht und wir trotz einer solchen Erkenntnis uns nicht anders entscheiden. Eine einsichtige Ethik könnte mit vollem Recht jedem landläufigen sogenannten Sittengebot sein gerades Gegenteil gegenüberstellen. "Du sollst nicht töten!" unter Umständen; aber "Du sollst töten!" unter anderen Verhältnissen. Mit anderen Worten: die Tötung ist mitunter als sittliches Verhalten charakterisiert; in anderen Fällen als unsittliches Verhalten. Ob es aber viel Sinn hätte, sich mit solchen fruchtlosen Spielereien zu befassen, wage ich zu bezweifeln. - - - Doch hiervon ganz abgesehen. Uns interessiert es ja hier nur, daß alle diese sogenannten Sittlichkeitsnormen nichts anderes sind als mehr oder weniger mißglückte Versuche einer Charakteristik unseres sittlichen Verhaltens. Sie repräsentieren also durchwegs Ansätze zu deskriptiv-ethischer Arbeit. Wenn eine dieser Charakteristiken ausnahmslos zutreffen würde, dann wüßten wir durch sie nur, ob ein tatsächliches Verhalten sittlich genannt zu werden verdient, ob es dem sittlichen Ideal entspricht, kurz ob es ein richtiges Verhalten ist. Wie wir zu einem solchen als sittlich charakterisierten Verhalten gelangen, ja naturnotwendig und mit unverbrüchlicher Sicherheit gelangen müssen, darüber sagen uns diese "Normen" auch nicht das Geringste. Eine solche Belehrung aber erwarten wir vom normativen Teil der Ethik. Die richtigen, echten Normen der Ethik müssen uns, wenn wir sie befolgen, in der Ursachenkette sittlichen Verhaltens von einem Glied zum anderen führen, bis wir bei der abschließenden Wirkung angelangt sind und sittlich handeln. - - - Solcherart Normen suchen wir vergebens in der wissenschaftlichen Ethik. Sie konnte sie auch noch gar nicht gewinnen, da ja der ganze genetische Teil der Ethik noch immer als ungelöste Aufgabe vor uns steht; und es wäre ungerecht, der Ethik hieraus einen Vorwurf zu machen. Aber was man von einer wissenschaftlichen Disziplin, also auch von der Ethik, mit Recht verlangen kann, ist, daß sie sich zumindest über die Bedeutung und Vielfältigkeit ihrer Aufgaben klar ist. Gerade diese Klärung ist jedoch unmöglich, solange die Ethik deskriptive und normative Aufstellungen zusammenwirft, ja sogar die Meinung vertritt, sie habe bei der deskriptiven Vorarbeit alle ethischen Probleme bereits dadurch gelöst, daß sie die Charakteristiken unseres sittlichen Verhaltens in der Form von Geboten und Verboten ausspricht. - - - In dieser Hinsicht ist die populäre Ethik der Kirchen, der Staaten und anderer Körperschaften der wissenschaftlichen Ethik weitaus überlegen. Die populäre Ethik bemüht sich zwar auch, die einzelne Handlung als sittlich bzw. unsittlich zu charakterisieren und kleidet diese Charakteristiken in eine normative Form. Die Fehler in der deskriptiven Leistung sind also die gleichen. Aber die populäre Ethik bleibt bei der deskriptiven Arbeit nicht stehen. Sie strebt auch eine ethische Führung an und kann sich hierbei auf ganz stattliche Erfolge berufen. Diese Anleitung zum sittlichen Verhalten ist sicher nicht durchwegs zuverlässig; beruhen ja doch alle hier aufgestellten Regeln auf ganz groben Empirien, auf einer unexakten Verallgemeinerung einzelner Beobachtungen, also auf vielfach unrichtigen und unvollständigen genetischen Voraussetzungen. Aber die Aufgabe ist richtig gestellt und der kolossale Nutzen ihrer exakten Lösung ergibt sich schon aus dem vielfachen Nutzen der mangelhaften, unexakten und oft sogar rein willkürlichen Lösungsversuche der populären Ethik. Wenn wir einmal eine wissenschaftliche, echt normative Ethik besitzen werden, dann werden auch alle jene Spötter verstummen müssen, welche der wissenschaftlichen Ethik jede praktische Bedeutung absprechen wollen und immer wieder die praktische Überlegenheit der populären Ethik ins Feld führen. Eine wissenschaftlich-ethische Führung muß ja genau so der populären sittlichen Führung überlegen sein, wie die heutige wissenschaftliche Technik allen vorwissenschaftlichen technischen Betrieb in den Schatten stellt. - - - Ganz Analoges gilt, um das schon hier anzufügen, von den anderen normativen Disziplinen der Philosophie. Auch bei ihnen wird die Charakteristik des idealen Verhaltens verwechselt mit den echten Führungsnormen, die nur aus einer genetischen Erkenntnis gewonnen werden können. Die logischen und ästhetischen "Vorschriften" sind größtenteils bloße Beschreibungen logischen und ästhetischen idealen Verhaltens; und sogar häufig schlechte oder zumindest unvollständige Charakteristiken. Deshalb haben auch diese Normwissenschaften bisher so gut wie gar nichts geleistet in praktischer Beziehung. Erst wenn sie in exakter Forschung echte Normen gewonnen haben werden, dann werden sie auch ihre Aufgabe geleistet haben. Dann wird aber ihr praktischer Nutzen jedermann in die Augen springen. Heute jedoch wird immer noch mit vielem Recht gespottet, noch niemand sei durch das Studium der Logik ein Forscher, noch niemand durch ästhetische Belehrung ein Kunstverständiger oder gar ein Künstler geworden Viel mehr hat an einem solchen greifbaren Nutzen bisher die populäre Logik und die populäre Ästhetik geleistet. Sie beruhen ja alle auf ganz unexakten Erfahrungen ihrer Bewährung. Auf ähnliche Anleitungen, wenn sie auch nicht so erfolgreich sind, kann sich auch die praktische Ausbildung unserer Künstler berufen; solche und ähnliche Beispiele beweisen die heutige praktische Überlegenheit der populären Ästhetik zur Genüge. Und wieder ist damit zugleich die Möglichkeit einer solchen praktischen Führung auch für die Logik und für die Ästhetik dargetan. Eine exakte, auf genetischer Erkenntnis begründete Ableitung wissenschaftlicher logischer und ästhetischer Normen müßte diesen praktischen Nutzen tausendfältig bewähren. - Man vergleiche hierzu auch noch, was ich in Bezug auf die tatsächlich sogenannten normativen Gesetze der Ästhetik ausgeführt habe. - Die Entwicklung der populären normativen Logik ist im § 19 eingehender besprochen. Analoges ließe sich bezüglich der populären Ethik und Ästhetik darlegen.
    17) FRANZ BRENTANO, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1889, Seite 29.
    18) Auch bei der Ästhetik werden durchwegs deskriptive und normative Gesetze miteinander verwechselt. Davon habe ich ja schon früher gesprochen. Hier ist aber die Verführung, deskriptive Ergebnisse mit normativen zu identifizieren, noch größer als bei der Ethik; und zwar aus speziellen Gründen. In ganz besonderem Maß wendet sich die Aufmerksamkeit der Ästhetiker dem sekundär Schönen, also vor allem den Kunstwerken zu. Wie soll ein Kunstwerk beschaffen sein, damit es eine ästhetische Wirkung ausübt? Diese Frage wird am meisten behandelt und ist sicher ein Hauptproblem der Ästheitk. Denn nach der ganzen Sachlage ist unleugbar die Kunst eine der wichtigsten Bedingungen ästhetischen Verhaltens, obgleich sie noch mit zahlreichen Faktoren in und außerhalb von uns konkurriert. Daß die Kunst keinesfalls die einzige Ursache unseres ästhetischen Verhaltens ist, das lehrt ja die Erfahrung unzweideutig. Man denken nur etwwa an den ganz banalen Fall, daß wir zwar einem faktisch ästhetisch wirksamen Kunstwerk gegenüberstehen, unsere ganze Aufmerksamkeit aber von einem quälenden Zahnschmerz absorbiert ist. Sofort ist alle ästhetische Wirkung aufgehoben. Dabei ist vorausgesetzt, daß es tatsächlich stringent erwiesen ist, jenes Kunstwerk müsse, soviel an ihm liegt, eine ästhetisch Wirkung hervorrufen. Ich zweifle, daß ein solcher Beweis schon irgendwo gelungen ist, höchstens ex post [nach geschehener Tat - wp], weil die ästhetische Wirkung tatsächlich eingetreten ist. Doch hiervon abgesehen. Es wird ja häufig so gesprochen, als wren schon Gesetze festgestellt, nach welchen die ästhetische Wirksamkeit eines Kunstwerkes erkannt werden könnte. Angenommen, das sei tatsächlich der Fall; dann ist mit dieser Erkenntnis einer der Faktoren aufgedeckt, welche ein ästhetisches Verhalten hervorrufen. Die ästhetische Wirkung des Kunstwerkes ist damit freilich nicht erklärt. Es ist vielmehr nur das genetische Gesetz, welches den Zusammenhang zwischen Kunst und dem ästhetischen Verhalten begreiflich machen soll, vorbereitet durch die exakte Charakteristik einer notwendigen Bedingung des ganzen genetischen Prozesses. Also auch das wäre nur eine deskriptive Leistung. Doch ist nicht zu verkennen, daß diese Art deskriptiver Arbeit schon viel näher herantritt an die mögliche ästhetische Führung im eigentlich deskriptiven Teil der Ästhetik wird ja nur das ästhetische Verhalten selbst charakterisiert und damit gar keine direkte Handhabe zur Entwicklung ästhetirt deskriptiver Arbeit schon viel näher herantritt an die mögliche ästhetische Führung im eigentlich deskriptiven Teil der Ästhetik wird ja nur das ästhetische Verhalten selbst charakterisiert und damit gar keine direkte Handhabe zur Entwicklung ästhetisch einwandfreien Verhaltens geboten. Bei der in Rede stehenden Charakteristik des sekundär Schönen aber wird eine der Ursachen - und zwar eine der wichtigsten - exakt beschrieben und dadurch auch die praktische Setzung einer der Bedingungen ästhetischen Verhaltens, also auch die Erreichung ästhetischen Verhaltens selbst, unter Umständen ermöglicht. Dieser viel nähere Zusammenhang der Charakteristik ästhetisch wirksamer Kunst mit dem eigenlichen Ziel aller Ästhetik ist es nun, der die normative Form solcher eigentlich doch nur deskriptiven Gesetze berechtigter erscheinen läßt. Trotzdem ist es natürlich auch hier verfehlt, etwaige Erkenntnisse - wenn wir einmal solche besitzen werden - als Normen auszusprechen und damit ganz unbegründete Erwartungen zu erwecken.
    19) EMIL UTITZ, Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Jahrbücher der Philosophie, Jhg. 1, Seite 322.
    20) UTITZ, a. a. O., Seite 323
    21) UTITZ, a. a. O., Seite 328
    22) Man vgl. hierüber insbesondere GUSTAV von ALLESCH, Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abt., Bd. 54, Seite 401-536) Geradezu heißt es hier, man habe die Aufgaben der psychologischen Ästhetik zu suchen "nicht nur im Sinne der Deskription, sondern auch in dem, Gesetzmäßigkeiten zu finden." (Seite 535)