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FRANZ HILLEBRAND
Die Aussperrung
der Psychologen

Im Januar dieses Jahres haben die Professoren RUDOLF EUCKEN, EDMUND HUSSERL, PAUL NATORP, HEINRICH RICKERT, ALOIS RIEHL, WILHELM WINDELBAND an die Dozenten der Philosophie sämticher Hochschulen deutscher Zunge eine "Erklärung" versendet, die in die Forderung ausläuft, der experimentellen Psychologie eigenen Lehrstühle zu errichten, andererseits aber ihre Vertreter von den bestehenden, der Psychologie gewidmeten Lehrkanzeln fernzuhalten. Beigefügt war die Aufforderung, sich dieser "Erklärung" anzuschließen, deren Bestimmung es ist, an die Unterrichtsverwaltungen und philosophischen Fakultäten weitergeleitet, sowie auch durch eine Veröffentlichung in wissenschaftlichen Zeitschriften einem größeren Publikum zur Kenntnis gebracht zu werden. In der Tat hat die Aktion der genannten sechs Professoren inzwischen einen quantitativ nicht unbedeutenden Erfolg erzielt: mit 106 Unterschriften beschwert hat das Promemoria [Memorandum - wp] seinen Weg zu den Fakultäten und Unterrichtsverwaltungen gemacht, und auch die größere Öffentlichkeit hat Gelegenheit bekommen in seinen Inhalt Einsicht zu nehmen.

Der Schritt, der hier unternommen wurde, bedeutet - darüber muß sich jedermann klar sein - den Ausbruch einer Krise, die im latenten Zustand schon seit einer Reihe von Jahren besteht, aber eben darum zu einer klaren Formulierung der Standpunkte und einer scharfen Gegenüberstellung des beiderseitigen Für und Wider bisher nicht gediehen ist. Daß es dazu kommt, kann allen Beteiligten nur genehm sein; und wenn auch das Promemoria die erwünschte Klärung nicht selbst bringt, so hat es doch den Anstoß zu einer Bewegung gegeben, die zumindest dieses Ziel erreichen wird. Indem das Memorandum auf gewisse Mißstände hindeutet, die sich aus der Besetzung philosophischer Lehrstühle mit experimentellen Psychologen sollen ergeben haben, indem es ferner Vorschläge zur Abhilfe macht, gibt es zumindest die Anregung zu einer Reihe von Fragen, die in dem unfruchtbaren Zustand der Latenz kaum zur öffentlichen Diskussion gekommen wären. Sind solche Mißstände wirklich vorhanden? Resultieren sie gerade aus dem Umstand, den das Promemoria für den entscheidenden hält? Ist ihnen nur durch die von den sechst Philosophen vorgeschlagene Radikalkur abzuhelfen? Und hätte die letztere nicht vielleicht anderweitige schwere Nachteile im Gefolge? Diese und andere Fragen, wie sie sich mancher wohl schon früher gestellt haben mag, hat das Promemoria ohne Zweifel in Fluß gebracht.

Neben einer Reihe kleinerer Aufsätze, die zur einen oder anderen von ihnen Stellung zu gewinnen suchten, ist hier vor allem WUNDTs Broschüre "Die Psychologie im Kampf ums Dasein" (Leipzig 1913) zu nennen, die in sehr ausführlicher Weise und mit dem sichtlichen Streben nach möglichster Objektivität die Gründe aufzudecken und zu prüfen sucht, welche für die Verfasser des Memorandums leitend gewesen sein mochten, und auch die praktischen Folgen in Erwägung zieht, die sich aus ihren Reformvorschlägen ergeben würden.

Die folgenden Blätter wollen ein möglichst vollständiges Bild von der Sachlage entwerfen, wie sie sich aufgrund des Promemoria und sonstiger, auf dieselbe Frage bezüglicher Artikel und Aufsätze (1) ergibt, um so zu einer präzisen Stellungnahme in dieser sehr aktuellen Angelegenheit zu gelangen. Einer Streitfrage ist schlecht gedient, wenn man die Ecken und Kanten, die nun einmal vorhanden sind, abzuschleifen sucht; ich habe mich im Gegenteil bemüht sie eher noch schärfer zu machen. Wenn überhaupt, so läßt sich nur auf diesem Weg die Gefahr einer uferlosen Polemik abwenden.

Zunächst aber mag ein Mißverständnis beseitigt werden, das sich bei denjenigen leicht einstellen könnte, die ihr Urteil über die Situation lediglich aus der Lektüre von WUNDTs Schrift schöpfen. WUNDT führt seine Erörterungen als "Friedensschrift" ein. Zum Friedenstiften aber gehören mindestens zwei Parteien. WUNDT stellt dem Leser auch zwei Parteien vor und widmet den Standpunkten beider je einen Abschnitt seiner Schrift; die Parole der einen heißt: "Hinaus mit der Psychologie aus der Philosophie!", die der anderen: "Hinaus mit der Philosophie aus der Psychologie!". Nun fragt sich der Leser, wer denn die eine und wer die andere Partei bildet. Daß unter der ersteren die Unterzeichner der "Erklärung" gemeint sind, steht außer Zweifel. Wer aber die zweite Partei bildet, wird nicht ausdrücklich gesagt; ihre Vertreter werden nur unter dem Titel "Die Psychologen" eingeführt. Nun weiß zwar jeder, der die einschlägige Literatur der letzten zwei Jahre mit den Auslassungen WUNDTs zusammenhält, daß mit "den Psychologen" nur KÜLPE und mit dem bekämpften Standpunkt nur dasjenige Programm gemeint sein kann, das dieser Forscher in seiner Abhandlung "Psychologie und Medizin" entwickelt hat. Allein gleichgültig, ob der Leser den fehlenden Namen ergänzt oder nicht, jedenfalls wird er aus WUNDTs Schrift die Überzeugung schöpfen, daß mit diesem anonymen Standpunkt die opinio communis [allgemeine Meinung - wp] der experimentellen Psychologen gekennzeichnet und daß ihr Endziel mit dem des Memorandums völlig identisch ist. Davon kann aber - und das muß nachdrücklichst betont werden - gar nicht die Rede sein. KÜLPE hat in der vorliegenden Frage eine bestimmte Ansicht vertreten - aber auf eigene Rechnung und Gefahr. Dessen ist er sich sicher bewußt; zumindest gibt die oben genannte Schrift keinerlei Veranlassung zu der Annahme, er habe sich hier als Wortführer der experimentellen Psychologen gefühlt. Es war also nicht zweckmäßig, daß WUNDT den Gegner, gegen den sich ein Teil seiner Polemik richtet, nicht genannt und so einer falschen Auffassung der Sachlage zumindest nicht vorgebeugt hat.

Immerhin, die sachliche Seite seiner Erwägungen wird durch diese historische Korrektur nicht weiter berührt; ist doch der Endeffekt, den beide Teile, die Unterzeichner der "Erklärung" und KÜLPE, anstreben, ein und derselbe - mag nun das "Hinaus!" den einen oder anderen Richtungssinn haben und mag der Schaden, der für Psychologie und Philosophie aus der gewünschten Trennung erwächst, die erstere oder die letztere härter treffen. Das Wesentliche ist, daß WUNDT gegen die Trennung überhaupt seine warnende Stimme erhebt.

Lassen wir vorläufig die Diskussion des Für und Wider, wie sie WUNDT in sehr ausführlicher Weise bietet, beiseite und richten den Blick einmal bloß auf das Ziel, das die Unterzeichner des Promemoria erreichen wollen, so fällt hier ein Umstand auf, der in eine bessere Beleuchtung gerückt werden muß als dies im Promemoria geschieht. Seine Verfasser zeigen sich von gleich liebevoller Fürsorge für die Zukunft der Philosophie wie für die der experimentellen Psychologie erfüllt, und man ersieht nicht nur aus dem Memorandum selbst, sondern auch aus den Artikeln, die NATORP und RICKERT in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht haben, wie sehr es den Verfassern am Herzen liegt, durch eine völlig paritätische [zu gleichen Teilen - wp] Behandlung im Leser den Eindruck größter Objektivität zu erwecken. Aller wer wird sich durch den ersten Eindruck täuschen lassen? Die bestehenden Lehrstühle werden für die Philosophen reklamiert; den Psychologen sind solche zugedacht, die erst gegründet werden sollen. Selbst dort, wo bestehende Professuren mit Psychologen besetzt sind, sollen sie wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben werden und für die Psychologen eigene Lehrkanzeln errichtet werden. Wahrhaftig, eine merkwürdige Art von ausgleichender Gerechtigkeit: dem einen schenkt man 100 Taler und dem anderen verspricht man sie! Von Gleichgewicht könnte da nur die Rede sein, wenn die Erfüllung mit absoluter Sicherheit zu erwarten wäre. Aber eine so naive Hoffnungsfreudigkeit wird auch der ärgste Sanguiniker [leichtsinniges Temperament - wp] nicht aufbringen. Man lese doch nach, welche Prognose WUNDT, also ein genauer Kenner der Verhältnisse, solchen Plänen stellt. Selbst von einem Staat, der, wie der preußische, über eine bedeutendere Anzahl von Universitäten verfügt, wagt WUNDT nur einige wenige derartiger Neugründungen zu erhoffen - und wer weiß, ob er nicht selbst darin zu optimistisch war? Die Erfüllung des einen Wunsches kostet den Staat nichts, die des anderen sehr viel. Setzen wir den Grenzfall, daß die Unterrichtsverwaltungen aus finanziellen Motiven sich derartigen Neugründungen gegenüber gänzlich ablehnend verhalten, dann wäre der "unbequemen Drängerin", wie NATORP die Psychologie nennt, der Stuhl vor die Tür gesetzt, und zwar vor die Tür der Universität überhaupt. Nein, solange man noch daran festhält, daß der Wert eines Gutes auch von der Wahrscheinlichkeit abhängt, es zu erreichen, wird man sich durch eine Parität dieser Art den klaren Blick nicht trüben lassen!

Ob die völlig Isolierung der Psychologie, wie sie jetzt angestrebt wird, wünschenswert, ja ob sie überhaupt ohne schwere Nachteile durchführbar wäre, das ist eine Frage, zu der man von mehr als einem Gesichtspunkt aus Stellung nehmen kann - wie das ja WUNDT auch tatsächlich tut. In allererster Linie wird es sich darum handeln, ob zwischen den Problemen der Psychologie und denen der übrigen philosophischen Disziplinen - nennen wir ihren Inbegriff der Kürze halber "reine Philosophie" - Beziehungen der inneren Abhängigkeit bestehen, sei es, daß die einen oder die anderen oder vielleicht bald die einen bald die anderen Probleme sich als ihrer Natur nach abhängigere und in diesem Sinne sekundäre erweisen. Ich rede hier absichtlich von der Psychologie schlechthin und lasse den einschränkenden Zusatz "experimentell" fort: wir kommen sehr bald darauf zu sprechen, daß er in diesem Zusammenhang völlig gegenstandslos ist. Indessen, selbst die Frage der Abhängigkeit verlangt nach einer genaueren Präzision, wenn sie für die Trennung oder Vereinigung der Lehrkanzeln entscheidend sein soll - trennt man doch auch die Lehrkanzeln für Mathematik und Experimentalphysik, obwohl niemand daran zweifelt, daß ohne eine Benutzung mathematischer Kenntnisse an eine erfolgreiche Behandlung physikalischer Fragen nicht gedacht werden kann. Die Notwendigkeit, einer anderen Wissenschaft gewisse fertige Resultate zu entnehmen und sie im eigenen Gebiet anzuwenden, ist also noch kein ausreichender Grund beide Disziplinen in die Hand ein und desselben Forschers und daher ihre akademische Vertretung in die Hand von ein und demselben Lehrer zu legen. Wohl aber wird eine solche Vereinigung unabweislich, wenn es sich nicht bloß um die Übernahme fertiger Resultate handelt, sondern wenn der Forscher im einen Gebiet sich fortwährend auf Probleme des anderen verwiesen sieht, die er selbst der Lösung zuzuführen genötigt ist - wie es dann oft genug geschieht, daß schon die Stellung des Problems durch Bedürfnisse einer Wissenschaft zustande kommt, der das Problem selbst gar nicht angehört. Nicht die bloße Kenntnisnahme von Ergebnissen anderer Disziplinen wird in solchen Fällen verlangt, sondern die Beherrschung ihrer Methoden. Die physikalische Chemie gibt ein Beispiel für Beziehungen dieser Art; und in dem Doppelnamen, den hier ein Forscher und eine Lehrkanzel führt, kommt dieses Verhältnis auch äußerlich zum Ausdruck. Was aber das philosophische Gebiet betrifft, so braucht man nur auf JOHN LOCKE und DAVID HUME zu blicken, um Beispiele im reichsten Maß zu gewinnen, wie metaphysische und *erkenntnistheoretische Probleme* immer und immer wieder auf unerledigte Fragen der Psychologie zurückführen und daher eine Trennung dieser Gebiete solange unzulässig machen, wie man überhaupt noch einen Anspruch auf wissenschaftliche Forschung erhebt und nicht an bloßer abstrakter Begriffsdichtung Genüge findet. WUNDT ist der Überzeugung, daß Psychologie und reine Philosophie in der Tat in einem Konnex der letztgenannten Art stehen: an ihrem Ursprung mit *Erkenntnistheorie und Metaphysik verbunden, mündet die Psychologie in die Religionsphilosophie, Ethik, kurz in diejenigen Gebiete, die im eigentlichsten Sinne den Namen "*Geisteswissenschaften" führen. Löst man diese natürlichen Verbindungen, dann macht man die Psychologen wirklich zu Handwerkern, aber nicht gerade zu solchen der nützlichsten Gattung.

Gewiß gibt es Forscher, die der reinen Philosophie oder zumindest einzelnen ihrer Teilgebiete einen völlig apriorischen Charakter wahren und sie daher folgerichtig nicht in eine Abhängigkeit von der empirischen Psychologie bringen wollen. Allein einmal ist dieser Standpunkt so weit davon entfernt allgemein anerkannt zu sein, daß man auf ihn keine radikalen Maßnahmen stützen kann, wie wenn es sich um eine ausgemachte Sache handeln würde. Zweitens würde, die Voraussetzung einmal zugegeben, doch erst die Frage zu beantworten sein, ob nicht umgekehrt in diesen apriorischen Gebieten auch Fundamente für psychologische Erkenntnisse liegen, so daß eine wechselseitige Isolierung nun aus dem entgegengesetzten Grund untunlich erscheint. Man kann darüber verschieden denken; WUNDT zumindest - und nicht er allein - vertritt tatsächlich diese Ansicht; er hält sogar den Schaden, den die Psychologie durch diese Trennung erleiden würde, für den größeren. Drittens schließlich gibt es unter den Einzeldisziplinen, die man bisher als zur Philosophie gehörig betrachtet hat, doch auch solche, deren Abhängigkeit von psychologischen Fragen überhaupt niemand bezweifelt. *Ethik und *Ästhetik gehören hierher; und die *Logik zumindest in dem Sinn, in welchem sie von alters her verstanden wurde, nämlich als Normwissenschaft. Das gesteht selbst KÜLPE ohne weiteres zu.

Alle diese Gesichtspunkte müßten in sorgfältig in Erwägung gezogen werden, ehe man sich zu so tiefen Eingriffen entschließt, wie sie das Promemoria empfiehlt. Daß das letztere sich von derartigen Überlegungen gänzlich fernhält, mag an und für sich schon Bedenken erregen. Immerhin könnte man diesen Defekt insofern begreiflich finden, als es sich um eine Schrift handelt, die an die Adresse von Laien gerichtet ist - denn als solche müssen sowohl die Unterrichtsverwaltungen als auch die überwiegende Mehrzahl der Fakultätsmitglieder gelten - und daher mehr die Bestimmung hat zu überreden als zu überzeugen. Allein völlig unbegreiflich ist es, wenn RICKERT, der "Geschäftsführer der Erklärungsaktion", wie ihn LAMPRECHT nennt, eine Stellungnahme zu jener ersten und wichtigsten Frage geradezu und ausdrücklich ablehnt. Im Artikel der "Frankfurter Zeitung" steht zu lesen, der "Erklärung" habe es "ganz fern gelegen, zu der rein wissenschaftlichen Frage, in welchem theoretischen Verhältnis die Psychologie überhaupt zur Philosophie steht, ebenfalls Stellung zu nehmen". Und es wird weiter die bemerkenswerte Vermutung ausgesprochen, daß darüber die Meinungen der Unterzeichner sogar recht weit auseinandergehen dürften. Also, über die innere Beziehung der beiden fraglichen Wissensgebiete sind die Unterzeichner nicht einig: einig sind sie nur, wenn die Lehrkanzeln zur Verteilung kommen!

Man wird mir vielleicht den Vorwurf der Entstellung machen: RICKERT spricht von der "Psychologie überhaupt", das Promemoria von der "experimentellen Psychologie"; nur das Verhältnis, in welchem die erstere zur Philosophie steht, wird außer Betracht gestellt. Nun möchte ich aber fragen, was sich an den inneren Beziehungen, die zwischen einer empirischen Wissenschaft und ihren Nachbargebieten bestehen, ändern soll, wenn der Forschende in die Bedingungen einer Erscheinung willkürlich und planmäßig eingreift, anstatt es der Natur zu überlassen, ob und wie sie diese Bedingungen planlos ändern will - und darin liegt doch der einzige Unterschied zwischen dem bloßen *Beobachten und Experimentieren. Diese Verschiedenheit kann doch die Stellung der Psychologie zur Philosophie nicht beeinflussen. Und täte sie es, so würde erst recht zu prüfen sein, ob sich die Beziehungen dann wirklich im Sinne einer gegenseitigen Unabhängigkeit geändert haben; kurz: die Untersuchungen, die oben gefordert wurden, müßten aufs neue gefordert werden, nur würde es überall statt "Psychologie" schlechthin "experimentelle Psychologie" heißen müssen.

Immerhin, wenn auch die Gründe im Dunkel liegen, die Tatsache zumindest scheint festzustehen, daß das Promemoria, indem es sich gegen die experimentellen Psychologen wendet, auf das Adjektiv den Hauptton legt. Und dasselbe gilt von den Artikeln der Frankfurter Zeitung. Die experimentellen Psychologen sind es, von denen RICKERT sagt, sie hätten sich "selbst durch ihre wissenschaftliche Tätigkeit von der Philosophie getrennt"; die experimentelle Psychologie ist es, die NATORP als eine "fremde Wissenschaft" bezeichnet, der man Lehrstühle nur in dem Maß widmen kann, wie man sie eben dadurch der Philosophie "entzieht" und durch diese Entziehung das philosophische Studium "lähmt und sozusagen auf Hungerration setzt".

Warum soll nun die Psychologie gerade durch die Einführung experimenteller Methoden ihre Stellung so prinzipiell geändert haben, daß, während sie zu *HERBARTs und *LOTZEs Zeiten unbestritten als Teil der Philosophie galt, sie nunmehr wie ein Fremdkörper anzusehen wäre, der je eher je besser entfernt werden soll? Diese Kernfrage hat sich, wie begreiflich, auch WUNDT vorgelegt; und da das Promemoria hier wiederum die erwünschte Aufklärung vermissen läßt, war er auf Vermutungen angewiesen. Ist die Psychologie überhaupt eine empirische Wissenschaft, so kann sich durch die Einführung des Experiments ihre Stellung nicht ändern; hier kann also der springende Punkt nicht liegen. Oder ist ihr empirischer Charakter selbst zweifelhaft? WUNDT hält es - und sicher mit Recht - für ausgeschlossen, daß heute noch jemand auf den Gedanken verfallen könnte, die alte "rationale Psychologie" wieder aufleben zu lassen. So kommt er dann schließlich zu der Vermutung, im dunklen Hintergrund des Bewußtseins schlummere ein Gedanke, der sich kurz und drastisch etwa so ausdrücken läßt:
    "Das Experimentieren ist eine banausische Kunst; demnach ist der experimentelle Psychologe bestenfalls eine wissenschaftlicher Handwerker. Ein Handwerker paßt aber nicht unter die Philosophen."
War das nun wirklich der treibende Gedanke? WUNDT selbst glaubt, daß er es nur bei einigen, nicht einmal bei einer Mehrzahl der Unterzeichner war. Hierin dürfte er recht haben. Berücksichtigt man nicht bloß das Promemoria selbst, sondern auch die verschiedenen Zeitungsartikel, die in die gegenwärtige Kontroverse eingreifen, so zeigt sich ein anderer Gedane maßgebend - sofern man nämlich ein Schlagwort einen Gedanken nennen will. Die Parole, die seit einiger Zeit mit immer wachsender Zugkraft ihr Wesen treibt, heißt "Spezialwissenschaft". Die Psychologie sei durch die Einführung experimenteller Methoden zur "Spezialwissenschaft" geworden und habe sich eben dadurch von der Philosophie losgesagt. Man lese die Artikel von NATORP und RICKERT und man wird sich von der prädominierenden Rolle überzeugen, die dieses Wort in den Gedankengängen gespielt haben muß, als deren Endpunkt das Promemoria erscheint. Zu sehen, wie nun alles an diesem Wort hängt, dessen Bedeutung kein einziger unter den Führern der gegenwärtigen Bewegung auch nur festzustellen versucht hat, gehört zu den peinlichsten Seiten dieses an Unerquicklichkeiten überreichen Streites.

Eine Wissenschaft kann man nach den Wahrheiten charakterisieren, die sie enthält, aber auch nach den Methoden, die zu Erwerb dieser Wahrheiten führen. Handelt es sich um den Gegensatz "Allgemein - Speziell", so ist die Frage nach den Methoden offenbar die sekundäre, die nach den Wahrheiten die primäre: je spezieller die Wahrheiten, umso spezieller die Methoden. Wie verhält es sich nun mit der experimentellen Psychologie unter dem Gesichtspunt dieses Gegensatzes? Daß ihre ersten Ausgangspunkte spezielle, ja noch mehr: individuelle Wahrheiten sind, ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, daß sie dieses Schicksal mit allen empirischen Wissenschaften teilt. Daß die Psychologie bei diesen individuellen Wahrheiten nicht stehen bleibt, sondern durch deren passende Vereinigung zu *Gesetzmäßigkeiten vorzudringen sucht und dabei je nach Lage der Dinge bald zu Wahrheiten von höherer, bald zu solchen von weniger hoher *Allgemeinheit gelangt, ist wiederum ein Umstand, den sie mit allen empirischen Wissenschaften gemein hat. Beide Momente gehören eben zum Wesen der empirischen Wissenschaft. Wenn also der experimentellen Psychologie nachgesagt wird, sie sei eine "Spezialwissenschaft", so trifft dies genau in dem Maß und zwar aus denselben Gründen zu, in welchem sie eine empirische Wissenschaft ist. Und wenn aus dem ersteren Umstand der Schluß gezogen wird, sie löse sich von der Philosophie los, so ist es nur ihr empirischer Charakter, der dies bewirkt. Somit bleibt nur mehr die Alternative: entweder man ersetzt die gesamte Psychologie - oder man eliminiert die Psychologie gänzlich aus der Philosophie, aber nicht sie allein, sondern alle sonstigen Gebiete, die empirische Elemente enthalten. Denn der empirische Charakter erweist sich ja als der Stein des Anstoßes, wie man ohne weiteres erkennt, sobald man sich nur einmal entschließt, mit dem Schlagwort "Spezialwissenschaft" einen klaren Gedanken zu verbinden.

Etwas anders steht es mit einem Gedanken, den SIMMEL in seinem offenen Brief an LAMPRECHT ausspricht. Daß die experimentelle Psychologie ihrer Natur nach mit der Philosophie nichts zu tun hat, wird da nicht behauptet, zumindest nicht ausdrücklich. Vielmehr begnügt sich SIMMEL mit der tatsächlichen Konstatierung, er wisse "keinerlei positive oder negative Bedeutung der psychologischen Experimente für spezifisch philosophische Bestrebungen zu nennen", wenn man etwa von *FECHNERs Gesetz und von gelegentlichen Anregungen absieht, wie sie überhaupt zwischen allen Wissenschaften vorkommen. Nehmen wir einmal an, diese Erklärung enthält mehr als einen bloß subjektiven Befund, was würde daraus folgen? Doch nur, daß diejenigen Kapitel der Psychologie, deren sich das Experiment bisher - also in einem Zeitraum von kaum fünf Jahrzehnten - bemächtigt hat, für die "spezifisch philosophischen Bestrebungen" nicht fruchtbar gemacht werden konnten. Daraus scheint SIMMEL zu schließen, daß das auch für alle Zukunft so sein wird. Nun versuche man einmal die Frage, ob ein bestimmter Zweig der Physik technisch verwertbar sein würde, aufgrund der Entwicklung zu beantworten, die dieser Zweig in den ersten fünf Jahrzehnten seines Bestandes genommen hat! LAMPRECHT, der Historiker, hat hier viel klarer gesehen. Er erkennt, was SIMMEL - trotzdem er "diese Dinge nun seit einem Vierteljahrhundert" verfolgt - nicht erkannt hat: daß nämlich die neue Wissenschaft sich zunächst mit sehr elementaren Prozessen des Seelenlebens zu beschäftigen hatte und daher die Kluft zwischen ihr und den höheren, für komplexe Phänomene interessierten Geisteswissenschaften zunächst so groß sein mußte, daß beide Teile nicht Notiz voneinander nehmen konnten. Gleichwohl meint LAMPRECHT, daß nur von "Kurzsichtigen" die Meinung ausgesprochen werden konnte, "beide Entwicklungslinien würden einander niemals berühren. Allein nicht nur die Folgerung, auch die Prämisse SIMMELs ist abzulehnen. LAMPRECHT hat das schon für die Geisteswissenschaften getan, indem er darauf hinwies, daß zumindest die Methoden der experimentellen Psychologie für die "methodische Durchbidung der Geisteswissenschaft in hohem Grad in Betracht" kommen. Aber auch Erkenntnistheorie und Metaphysik - auf diese dürfte es SIMMEL ja vornehmlich ankommen - können, mit Recht zumindest, schon heute ihre Unabhängigkeit von der experimentellen Psychologie nicht mehr aufrecht erhalten. Man weiß doch, um nur ein paar Beispiele aufzuführen, in welche Beziehung das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien schon von seinem ersten Entdecker zur Lehre vom phänomenalen Charakter der äußeren *Wahrnehmung wurde. Und wenn man aus ihm vorschnelle Konsequenzen zugunsten eines kantischen Apriorismus gezogen hat, so ist es wieder die Psychologie, die hier korrigierend einzugreifen hatte. Wieviele nutzlose Kontroversen wären ferner der Metaphysik und Erkenntnistheorie erspart geblieben, wenn die Untersuchungen über Wesen und Ursprung unserer *Raum- und Zeitanschauung anderthalb Jahrhunderte früher gemacht worden wären oder wenn sie wenigstens gegenwärtig von den "reinen Philosophen" der Beachtung wert gehalten würden, anstatt daß die Fiktion ihres apriorischen Charakters noch bis zum heutigen Tat ihr Unwesen triebe! Die erkenntnistheoretischen Folgen, die sich an die Zerstörung der alten Projektionstheorie anschließen, wird wohl nicht leicht jemand übersehen, ebensowenig wie man die Konsequenzen verkennen wird, die sich an die Untersuchung über die Dimensionenzahl unserer primären Raumanschauung knüpfen. *BERKELEY hat das sehr wohl erkannt; sollen seine noch primitiven Untersuchungen zur Theorie des *Sehens etwa gerade darum an erkenntnistheoretischer Fruchtbarkeit einbüßen, weil sie inzwischen durch die Einführung experimenteller Methoden an Exaktheit gewonnen haben? Und weiter: ist es nicht bekannt genug, auf welchem Weg man dazu gekommen ist, die Tatsachen des *Gedächtnisses so weit zu verallgemeinern, daß man schließlich mit HERING von einem Gedächtnis der Materie sprechen und mit OSTWALD sogar an eine chemische Theorie dieses Vorganges denken konnte, und daß die weitgehenden Schlüsse, die daran geknüpft wurden, nur durch genauestes Studium des psychischen Gedächtnisaktes auf ihre Stringenz geprüft werden können? Auch dem Problem der *Allgemeinbegriffe, dessen Beziehung zu Logik und Erkenntnistheorie wohl niemand verkennen wird, beginnt sich das Experiment zumindest zu nähern; und wenn die moderne "Denkpsychologie" auch über das Anfangsstadium tastender Vorversuche noch nicht hinausgekommen ist, so ist man doch durchaus berechtigt eine Vervollkommnung der Fragestellungen wie auch eine solche der Methoden von der Zukunft zu erwarten. Und schließlich: *historische Tatsachen - ich verweise auf die Forschungen *HUMEs - haben gezeigt, welch unübersehbaren Einfluß psychologische Untersuchungen auf die grundlegendsten Fragen der Metaphysik und Erkenntnistheorie nehmen konnten; was für ein mysteriöser Umstand sollte es bewirken, daß diese Wissenschaft, sobald sie sich des Experiments bedient, unweigerlich der Impotenz verfallen muß? Man lasse also der jungen Wissenschaft Zeit zur Entwicklung und verlange nicht, daß sie schon heute zu sämtlichen Problemen der "reinen Philosophie" ihre Fäden spinnt. Wo aber solche schon bestehen, nehme man sich die Mühe, sie auch zu beachten. Wenn sie jedoch verborgen geblieben sind - und mag das auch durch 25 Jahre so gewesen sein - der möge sich noch immer vor dem Schluß hüten, daß ihr tatsächliches Fehlen die einzige Hypothese ist, die diesen Sachverhalt erklärt.

Wie wenig es nun den Vertretern des Promemoria auch gelungen ist, Mißstände aufzuzeigen, an denen die experimentelle Psychologie als solche beteiligt ist, so ist doch durchaus nicht zu verkennen, ja es soll hier eigens und ausdrücklich hervorgehoben werden, daß sich innerhalb dieser Wissenschaft Mißstände entwickelt haben, die aber mit ihr nur insofern zusammenhängen, als ein Mißbrauch mit der Institution zusammenhängt, die er korrumpiert. WUNDT hat mit dankenswerter Offenheit auf sie aufmerksam gemacht. Nicht daß die experimentelle Psychologie als "Spezialwissenschaft" ist, wohl aber, daß sich innerhalb der Psychologie da und dort ein bedenkliches Spezialistentum entwickelt hat, mußte zu Schäden führen, denen gegenüber man die Augen offen halten soll. In der ersten Entwicklungszeit mehr als heute ist der Fall nicht gewesen, daß junge Leute ihre psychologische, ja ihre gesamte philosophische Ausbildung mit dem Erwerb derjenigen Kenntnisse für vollendet hielten, die etwa notwendig sind, um eine Reihe von Schwellenbestimmungen zu machen oder eine Anzahl von Reaktionszeiten zu messen - also gerade so viel wie nötig ist, um eine einzelne experimentelle "Arbeit" auszuführen und sie publikationsfähig zu machen. Es gelingt leicht, derartige "Arbeiten" sogar zu einem imponierenden Umfang zu verhelfen; man braucht sich nur an das bewährte Rezept zu halten, zu Anfang eine kleine Vorgeschichte der betreffenden Frage zu geben, dann die Versuchsanordnungen bis in die überflüssigsten Details zu beschreiben, und namentlich die sämtlichen Versuchtsprotokolle zum Druck zu befördern. Man macht mit einer solchen Arbeit "den Doktor" und mit einer zweiten, ähnlichen habilitiert man sich. Will man noch ein übriges tun, so orientiert man sich über die experimentelle Technik überhaupt, d. h. in dem Ausmaß, wie es der zufällige Besitzstand an Apparaten zuläßt. Ein solcher "Psychologe" wandert mit Scheuklappen durch dasjenige Gebiet, von dem er mit Unrecht seinen Namen bezieht; was außerhalb der Schwellenbestimmungen oder der Reaktionszeiten liegt, kennt er nicht und findet daher nicht einmal diejenigen Zusammenhänge, die sein Thema vielleicht wirklich mit größeren Fragen verbinden - von Beziehungen zu den übrigen philosophischen Disziplinen ist schon gar nicht die Rede. Auswüchse dieser Art zu dulden, ja ihnen noch den wirtschaftlichen Schutz auskömmlicher akademischer Stellungen zuzuwenden, dagegen allerdings muß energische Einsprache erhoben werden. Nur zu begrüßen sind darum die Worte, mit denen WUNDT seine Broschüre schließt:
    "Man lasse schon zur Habilitation keinen Kandidaten zu, der bloßer Experimentator und nicht zugleich ein psychologisch wie philosophisch gründlich durchgebildeter und von philosophischen Interessen erfüllter Mann ist; und die Philosophen wie nicht weniger die Psychologen selbst sollten darauf hinwirken, daß die Fakultäten bei der Vakanz philosophischer Lehrstühle, denen die Hauptvertretung der Psychologie zugewiesen ist, nur Männer vorschlagen, die zugleich eine wirksame und selbständige Vertretung philosophischer Lehrfächer übernehmen können."
Aber man merke wohl: die Warnung richtet sich gegen die "bloßen Experimentatoren", gegen diejenigen, die weder psychologisch noch philosophisch gründlich durchgebildet sind, die also keinen Anspruch auf den Namen des Philosophen, aber auch keinen auf den des Psychologen zu erheben das Recht haben. Und nicht von gesonderten Lehrstühlen der Psychologie spricht WUNDT, sondern von philosophischen Lehrstühlen, "denen die Hauptvertretung der Psychologie zugewiesen ist". Das zu betonen ist nötig, wenn man die beifällige Aufnahme richtig würdigen will, die RICKERT der zitierten Stelle zuteil werden läßt. WUNDT sei, so lesen wir im Artikel der Frankfurter Zeitung, über das, was das Promemoria fordert, sogar noch hinausgegangen; hätte man sein Programm stets durchgeführt, so wäre gar keine Veranlassung zu jener Kundgebung der Philosophen vorgelegen: denn das, was die letztere beabsichtigt, sei gar nichts anderes, als die "Fernhaltung einseitiger Spezialforscher von philosophischen Lehrstühlen".

Nun nehme man aber das Promemoria noch einmal zur Hand und vergleiche, was da verlangt wird, mit der Forderung, die WUNDT erhebt. Auf der einen Seite: Fernhaltung solcher Männer von den Professuren der Philosophie, "deren Tätigkeit zum größten Teil oder ausschließlich der experimentellen Erforschung des Seelenlebens gewidmet ist" - auf der anderen: Fernhaltung derjenigen, die, weil sie bloße Techniker sind, nicht einmal als Psychologen, und schon gar nicht als Philosophen gelten können. Und diese beiden Forderungen sollen sich decken? Ja, noch mehr: die erste soll sogar die bescheidenere sein? Ist denn der Ruf "Hinaus mit den Experimentalpsychologen!" identisch mit dem anderen "Hinaus mit den schlechten Experimentalpsychologen!"? Muß man den Verfassern des Promemoria allen Ernstes das Wort des ARISTOTELES ins Gedächtnis rufen, daß man Einen nicht darum einen Zitherspieler nennt, weil er die Zither schlecht spielt? Wenn man jemanden als einseitigen Experimentalpsychologen bezeichnet, so kann gemeint sein, daß er vermöge seiner Eigenschaft als Experimentalpsychologe das Attribut "einseitig" verdient; es kann aber auch gemeint sein, daß er sich selbst innerhalb seines Gebietes nur einseitig qualifiziert zeigt. Das Promemoria will den ersteren ausgeschlossen wissen, WUNDT den letzteren. RICKERT aber scheint den Doppelsinn in der Syntax nicht bemerkt zu haben. Bedarf es noch eines weiteren Beweises, wie grundverschieden beide Positionen sind, so sehe man doch zu, welche Stellung NATORP vergangenes Jahr zu der damals schwebenden, nunmehr längst vollzogenen Berufung ERICH RUDOLF JAENSCH an die Lehrkanzel COHENs eingenommen hat. Er verwahrt sich gegen diese Berufung, nicht weil JAENSCH zu jenen "bloßen Experimentatoren" gehört, die auch WUNDT ferngehalten wissen will. Im Gegenteil: Er nennt JAENSCH einen "gründlichen Experimentalforscher" und einen "ideenreichen, philosophisch gebildeten Mann", erkennt ihm somit gerade diejenige Qualifikation zu, die WUNDT so energisch fordert. - Man könnte also höchstens saen: seinem Wortlaut nach hat das Promemoria freilich eine wesentlich andere Forderung gestellt wie WUNDT, aber die Intention war doch dieselbe. Sollte es sich nun so verhalten, dann drängt sich die Frage auf: ist denn der Gedanke, den WUNDT an der zitierten Stelle ausspricht, so kompliziert, daß die gemeinsame Arbeit von sechs deutschen Professoren der Philosophie nicht imstande war, ihm einen adäquaten Ausdruck zu verleihen?

Indessen, selbst wenn sich beide Parteien auf die Formel WUNDTs einigen könnten, würde noch ein letztes Bedenken übrig bleiben, das, wenn auch praktischer Natur, darum nicht weniger schwer in Gewicht fällt. Ist, so kann man fragen, die gründliche philosophische Bildung, die WUNDT auch von einem Vertreter der Experimentalpsychologie verlangt, überhaupt zu erreichen? Die letztere erfordert "die volle Kraft eines Gelehrten", so sagt das Promemoria. Auch RICKERT betont diese Seite der Frage und kann sich hierbei sogar auf KÜLPE berufen, der die von WUNDT gewünschte Verbindung als eine "die Arbeitskraft, das Talent und die Neigung eines Menschen" übersteigende bezeichnet. Solange es bloße die Philosophen waren, die die Last auf den Schultern anderer füür allzuschwer erachteten, mochte man mit WUNDT entgegnen, "daß Philosophen, die niemals selbst experimentiert haben, hier nicht als kompetente Beurteiler erachtet werden können". Aber dem Zeugnis eines Psychologen läßt sich dergleichen nicht mehr entgegenhalten. Was nun zunächst WUNDTs Stellung zur Überbürdungsfrage anlangt, so scheint sie mir weniger auf den Kernpunkt als auf eine akzidentelle Folgeerscheinung gerichtet zu sein. Man wird ihm ja zugeben müssen, daß die Tätigkeit eines Professors, der lediglich über Experimentalpsychologie liest, eher zu Klagen über einen Beschäftigungsmangel Anlaß geben könnte. Allein, ob der entlastete Psychologe nun auch genug Stoff besitzt, um eine Lehrtätigkeit von der normalen Größe und der üblichen Abwechslung damit zu bestreiten, auf diese Frage dürfte es den Unterzeichnern des Memorandums gar nicht so sehr ankommen; was sie und auch KÜLPE meinen, ist vielmehr, daß man ihn entlasten müsse, weil er von seinem Spezialfach so sehr in Anspruch genommen ist, daß ihm zur gründlichen Orientierung in anderen Gebieten weder Zeit noch Kraft übrib bleibt und er somit jenseits seines Spezialfaches sich nur als Dilettant betätigen kann. Der gefürchtete Beschäftigungsmangel wäre demgegenüber das kleinere Übel. - Besteht nun die vom Promemoria betonte Schwierigkeit wirklich? Und wenn, trifft sie die Psychologen mehr als die Vertreter anderer Fächer? Und schließlich: nötigt sie in der Tat zu den praktischen Konsequenzen, wie sie das Promemoria realisiert sehen möchte?

In dem Gebiet, über das ein akademischer Lehrer, egal welchen Faches, Vorlesungen hält, gibt es einige Bezirke, in denen er auch als Forscher tätig ist; sie sind ihm in allen Einzelheiten der Fragestellung vertraut und auch die Literatur pflegt er bis ins Einzelnste zu kennen. Auf dem übrigen, ungleich größerem Territorium sorgt schon die literarische Überproduktion dafür, daß er sich größtenteils sekundären Hilfsmitteln anvertrauen muß. Würde man einer Vorlesung, die sich nicht durchweg auf originäre Arbeiten, sondern vielfach auf Monographien, ja gelegentlich selbst auf Kompendien [Zusammenfassungen - wp] stützt, schon darum den Vorwurf mangelnder Gründlichkeit machen dürfen, in welche Situation kämen dann die "reinen Philosophen", die doch auch nicht das Unmögliche leisten und in allen Kapiteln, die ihre Lehrtätigkeit berührt, aus den primären Quellen schöpfen können? Für Kraft und Zeit mag die Größe des literarischen Materials entscheidend sein; für die Gründlichkeit kommt das auf Exaktheit disziplinierte Denken und, wenn es sich um den Lehrer handelt, der präzise sprachliche Ausdruck, der Abscheu vor verschwommenen Redensarten weitaus mehr in Betracht. Solide Denkgewohnheiten können aus einem nicht immer originären Stoff eine vortreffliche Vorlesung gestalten - und die Philosophen wären nur zu beglückwünschen, wenn die Benutzung sekundärer literarischer Quellen der einzige Vorwurf wäre, der sie treffen könnte. Lägen die Dinge so, wie sie das Promemoria voraussetzt, so würden wir bald an die Errichtung eigener Lehrkanzeln für die "reinen Erkenntnistheoretiker", die "reinen Ethiker" usw. usw. denken müssen, und das Spezialistentum, das man heute der Psychologie so gern zum Vorwurf macht, würde traurige Triumphe feiern - denkt ja KÜLPE bereits an eine Zukunft, in der selbst die Psychologie sich in einen "mehr geisteswissenschaftlich" und einen "mehr körperwissenschaftlich" gerichteten Zweig spalten wird. Aber man sehe doch, wie es in anderen Fächern zugeht. Hat man denn je daran gedacht, eigene Lehrkanzeln für die Physiologie des Kreislaufs, für die Physiologie des Zentralnervensystems usw. zu errichten, obwohl zugegeben werden muß, daß jedes dieser Kapitel "die volle Kraft eines Gelehrten erfordert"? Alles in allem: man erwecke nicht den Schein, als wenn Verhältnisse, die samt ihren unvermeidlichen Nachteilen in allen Wissenschaften angetroffen werden, der Psychologie spezifisch sind und man ziehe nicht Konsequenzen, die man in allen analogen Fällen nur zu nennen braucht, um sie sofort außer Betracht zu setzen.


Die Kritik mag hiermit erledigt sein. Ihre Weitläufigkeit wolle der Leser damit entschuldigen, daß sie sich nicht einer präzisen Argumentation, sondern einer Reihe von allgemein und unbestimmt gehaltenen Redensarten gegenübergestellt sah. Die Gedanken, die hinter diesen zu vermuten waren, mußten demnach hypothetisch, aber eben darum auch in möglichst erschöpfender Weise ergänzt werden. Soweit bezog sich die Diskussion auf den Inhalt der Kundgebung. Die Aktion selbst aber, der sie dienen soll, hat noch eine andere Seite, die schon darum nicht unberührt bleiben darf, weil ein Mann vom wissenschaftlichen Gewicht KARL LAMPRECHTs ihr seine Aufmerksamkeit zugewendet hat.

Kann man - vom Ziel ganz abgesehen - den Weg billigen, den die Verfasser des Memorandums gewählt haben, um ihren Wunsch praktisch durchzusetzen? LAMPRECHT nennt den Versuch, eine geistige Bewegung dadurch zu fördern, daß man Lehrstühle für sie reklamiert und zu reservieren sucht, eien "nie gesehenen Vorgang". Man müsse offen aussprechen, "daß hier ein Überschlagen der Idee der Machtpolitik in das, was man Universitätspolitik nennen könnte, hinein von einer bisher nicht gekannten Offenheit" vorliegt; zur Erklärung lasse sich nur anführen,
    "daß in einer Zeit ganz überwiegender Förderung materieller Interessen die Willensäußerungen der Nation so sehr auf grobe Mittel und rücksichtslose Geltendmachung dieser Mittel geschult worden sind, daß sich selbst die höchsten geistigen Interessen diesem Einfluß nicht mehr ganz entziehen können".
Nicht durch äußere Mittel, sondern "allein aus sich heraus" müßten geistige Bewegungen "Kraft und Geschmeidigkeit ihrer Fortpflanzung erhalten". Es sind kräftige Akzente, die LAMPRECHT hier findet; und daß in dieser Frage dem Kulturhistoriker ein entscheidendes Wort zusteht, wird niemand zu bezweifeln wagen. SIMMELs Entgegnung war auch in diesem Punkt nicht glücklich. Der Glaube an die eigene Sache, meint er, dieses "erste Ethos des Gelehrten", verlangt, daß man dem drohenden Verlust der Lehrstühle nicht untätig zusieht, sondern sich zur Wehr setzt. Als ob LAMPRECHTs Verurteilung sich gegen das Ziel und nicht vielmehr gegen die Qualität der ergriffenen Mittel gerichtet hätte! Daß SIMMEL hier vorbei argumentiert hat, liegt auf der Hand; LAMPRECHT konnte daher in seiner Erwiderung mit Recht darauf hinweisen, daß das angerufene "Ethos" durch seine Vorwürfe gar nicht berührt wird.

Überhaupt scheinen sich im Eifer des Kampfes die Begriffe etwas verwirrt zu haben; man möchte ja fast am Ernst der Diskussion zweifeln, wenn man Wendungen wie "das brutale Mittel uns einfach die Lehrstühle wegzunehmen" (SIMMEL, Seite 234) von einem Unterzeichner des Promemoria gebrauchen hört. Auf die Gefahr hin Selbstverständliches zu sagen wird es unter solchen Umständen angezeigt sein, die Sachlage klarzustellen, wie sie bei der Besetzung von Lehrstühlen bisher und unter normalen Umständen beschaffen war und wie sie beschaffen wäre, wenn die Aktion der Philosophen die gewünschte Wirkung haben würde.

Von Ausnahmen abgesehen besetzen die Unterrichtsverwaltungen vakante Lehrkanzeln im Sinne der Fakultätsvorschläge; die letzteren erfolgen aufgrund der Gutachten, die die Fachmänner des Kollegiums diesem unterbreiten. Wird also eine Lehrkanzel mit einem Experimentalpsychologen besetzt, so ist dieser Effekt in letzter Linie auf die wissenschaftliche Überzeugung eines oder einiger Fachmänner zurückzuführen, die dem betreffenden Kollegium angehören. Von Brutalisieren und einfachem Wegnehmen der Lehrstühle wird man also hier nicht sprechen können. Was wird sich an diesem Vorgang ändern, wenn das Promemoria seine Wirksamkeit zu entfalten beginnt? Huldigen die Fachmänner des Kollegiums ohnehin den Anschauungen, welche das Promemoria vertritt, so werden sie keinen Experimentalpsychologen präsentieren, die Fakultät wird keinen solchen vorschlagen und das Ministerium keinen solchen ernennen. In diesem Fall war das Promemoria überflüssig. Sprechen sich aber die Fachmänner für einen Psychologen aus, dann kann die beabsichtigte Wirkung des Memorandums doch nur die sein, daß das übrige Kollegium, also der nicht sachverständige Teil, die Fachmänner niederstimmt. Ist letzteres nicht der Fall, hat sich also der Einfluß des Memorandums als zu schwach erwiesen, dann bleibt noch die oberste Instanz übrige, die Unterrichtsverwaltung; auch auf sie hat man ha durch das genannte Schriftstück zu wirken gesucht. Sollte nun diese Bemühung von Erfolg gekrönt sein, was doch die Unterzeichner wünschen müssen, so könnte dieser nur darin bestehen, daß sich die Unterrichtsverwaltung über das einmütige Votum der Fachmänner und des Kollegium hinwegsetzt und das tut, was die Unterzeichner des Promemoria verlangen. Und nun frage ich: auf welcher Seite liegt die Politik der brutalen Mittel?

Vielleicht aber sagt man: auch das Promemoria ist von Fachmännern verfaßt und daher sind auch seine Direktiven fachmännisch. Ich will demgegenüber ganz davon schweigen, daß das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Fakultäten verletzt bleibt, ob nun die Einflüsse von außen fachmännisch sind oder nicht, und daß keine Fakultät ein unerbetenes Superarbitrium [Oberentscheidung - wp] fremder Fachmänner über die eigenen anders denn als Anmaßung betrachten wird Aber wenn hier auch Fachmann gegen Fachmann steht, so wird doch der Kampf mit ungleichen Waffen geführt; um sie auszugleichen, hätte sich die andere Partei auch ihrerseits zu einer "Erklärung" entschließen müssen, die nun die Fakultäten und Unterrichtsverwaltungen in einem entgegengesetzten Sinn zu beeinflussen bestimmt wäre. Zur Ehre der Psychologen aber sei es gesagt, daß sie zu Mitteln dieser Art nicht gegriffen haben.
LITERATUR Franz Hillebrand, Die Aussperrung der Psychologen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 67, Leipzig 1913
    Anmerkungen
    1) Außer der erwähnten Broschüre WUNDTs eingehendsten berücksichtigt wird, sowie der 1912 erschienenen Abhandlung KÜLPEs "Psychologie und Medizin" (Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. I) kommen folgende Aufsätze in Betracht: PAUL NATORP "Das akademische Erbe Hermann Cohens" (Frankfurter Zeitung vom 12. Oktober 1912); HEINRICH RICKERT, "Zur Besetzung der philosophischen Professuren mit Vertretern der experimentellen Psychologie" (Frankfurter Zeitung vom 4. März 1913; KARL LAMPRECHT, "Eine Gefahr für die Geisteswissenschaften" (Zukunft 1913, Heft 27); GEORG SIMMEL "An Herrn Professor Karl Lamprecht" (Zukunft 1913, Heft 33); KARL LAMPRECHT "Eine Gefahr für die Geisteswissenschaften, Antwort an Herrn Professor Dr. Georg Simmel" (Zukunft 1913, Heft 39). KARL MARBEs Aufsatz "Die Aktion gegen die Psychologie" konnte nicht mehr berücksichtigt werden.