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PAUL NATORP
Philosophie und Psychologie

"Meine Auffassung der Philosophie: als hypothetischer Konstruktion einer schwerlich absoluten, aber zumindest relativ höchsten Einheit der Erkenntnis auf der Basis der empirischen Sonderwissenschaften und ohne grundsätzliches Abgehen von deren Verfahren, steht die andere gegenüber, daß die Aufgabe der Philosophie eine eigengeartete, von der der Empirie grundverschiedene, dem Prinzip und der Methode nach andere, gleichsam in einer anderen Problemdimension gelegene ist."

"Also muß man jenen ganzen ins Unendliche sich dehnenden Kreis der Empirie, mithin deren ganze Ebene verlassen, über sie in einem neuen, von dem der Empirie prinzipiell verschiedenen Verfahren sich erheben können; nur dann ist es denkbar, zu einer haltbaren Vereinheitlichung der Erkenntnis zu gelangen."

"Aber am Ende ist auch etwas anderes gar nicht möglich; am Ende muß man es sich damit genügen lassen, wenn es zumindest ein Objektives letzter Stufe ist, welches der Forschung noch erreichbar ist. Ein absolut Subjektives entzöge sich überhaupt aller empirischen Kontrolle, entzöge sich dem ganzen Verfahren empirischer Feststellung, welche immer allgemeingültig sein will, sei es im Sinne der Gesetzeserkenntnis, oder doch einer allgemeinen Beschreibung von Tatbeständen."

Daß man sich über das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie nicht einigt, kann nicht verwundern, da schon über den Begriff beider so gut wie gar keine Übereinstimmung herrscht. Was meine Begriffe von Philosophie und Psychologie sind und wie danach das Verhältnis beider sich gestaltet, habe ich des öfteren früher dargelegt; ich werde auch hier davon zu sprechen nicht umhin können; um mich aber nicht lediglich zu wiederholen und zugleich zur Verständigung womöglich etwas beizutragen, möchte ich mir hier die Aufgabe stellen, die möglichen Auffassungen des Begriffs der Philosophie einerseits, der Psychologie andererseits nach einem sicheren Einteilungsgrund in Vollständigkeit aufzustellen, um dann für die verschiedenen grundsätzlich möglichen Auffassungen die Konsequenz im Hinblick auf das Verhältnis beider zu ziehen. Wenn auch so die Frage selbst nicht endgültig entschieden, sondern zwischen mehreren Möglichkeiten die Wahl gelassen wird, so wird doch vielleicht damit etwas gewonnen für das, was hier zuallererst nottut: für die Klärung der Fragestellung.

Was nun zuerst den Begriff der Philosophie betrifft, so besteht zumindest soweit keine Meinungsverschiedenheit, daß ihre Aufgabe darauf geht, das Ganze der uns möglichen Erkenntnis irgendwie in Einheit darzustellen. Da aber diese Einheit erst gesucht, nicht gegeben ist, so liegt es nahe, vorauszusetzen, was dann auch von den Meisten vorausgesetzt wird, daß die Aufgabe der Philosophie jedenfalls die einer theoretischen Konstruktion ist. Diese Konstruktion aber wird verschieden gedacht; zunächst: als empirische, oder als überempirische.

Erfahrung als Wissenschaft ist in jedem Fall eine Einheitsdarstellung von Gegebenem, also eine theoretische Konstruktion. Was unterscheidet nun Philosophie, wenn sie eine theoretische, und zwar empirische Konstruktion ist, von der als Wissenschaft verstandenen Erfahrung? Offenbar dies, daß sie sich die Aufgabe stellt, nicht bloß irgendein Sondergebiet der Erfahrbaren, sondern dessen ganzen Bereich zu umspannen und in der Weise, wie dies überhaupt möglich ist, in theoretischer Einheit darzustellen; also nicht bloß willkürlich abgegrenzte relative Einheiten, sondern, wenn es sein kann, die letzte, absolute Einheit aller relativen Einheiten des erfahrbaren Bereichs zu erreichen. Wenn es sein kann; richtiger vielleicht würde es lauten: wenn es sein könnte; denn schwerlich kann es sein, daß man, ohne den Boden der Erfahrung zu verlassen, zu einer absoluten Einheit des Erfahrbaren gelangt; obgleich eine solche Vorstellung manchen, die auf empirischem Boden doch philosophieren wollen, unklar vorschweben mag. Also wird es nur eine selbst noch relative, aber zumindest die relativ höchste, umfassendste und zugleich konzentriertes Einheit sein, die man im Sinn hat.

Selbst in dieser sehr nötigen Einschränkung bleibt die Forderung gewagt, was in voller Strenge empirischer Methodik erreichbar ist, ist doch wohl in den empirischen Einzelwissenschaften beschlossen. Doch bleibt es vielleicht möglich, in einem Verfahren, das vom empirischen im Prinzip nicht abweicht, sich nur von gewissen strengsten Forderungen empirischer Methodik entbindet, zu Aufstellungen über eine mögliche allbefassende Einheit der Erkenntnis zu gelangen, welche, dieser Eigenart ihrer Begründung zufolge, allerdings nicht mit dem vollen Anspruch wissenschaftlicher Lehre werden auftreten können, aber doch, auf die gewissesten und fundamentalsten Ergebnisse der Gesamtempirie gestützt, in der durch diese selbst angezeigte Richtung über sie etwa nur durch einen freieren und kühneren Gebrauch der Hypothese sich hinauswagen, um, ohne Bruch mit den Grundsätzen der Empirik, doch dem Bedürfnis eines letzten Abschlusses, wenn auch nur bedingterweise, zu genügen. So wird die Aufgabe der Philosophie, wie es scheint, von den meisten solchen Empirikern, die im Nebenamt philosophieren, aber auch von Manchen verstanden, die sich im Hauptamt der Philosophie widmen und darum als Philosophen angesehen sein wollen.

Dieser Auffassung der Philosophie: als hypothetischer Konstruktion einer schwerlich absoluten, aber zumindest relativ höchsten Einheit der Erkenntnis auf der Basis der empirischen Sonderwissenschaften und ohne grundsätzliches Abgehen von deren Verfahren, steht die andere gegenüber, daß die Aufgabe der Philosophie eine eigengeartete, von der der Empirie grundverschiedene, dem Prinzip und der Methode nach andere, gleichsam in einer anderen Problemdimension gelegene ist. Die Empirie ist eben als solche, in noch so freier Ausdehnung ihres konstruktiven Verfahrens, eines mehr als scheinbaren, höchstens nur vorläufigen, hypothetischen Abschlusses in gedanklicher Einheit nicht fähig. Nach der Peripherie der Erkenntnis gerichtet, die gerade nach der strengsten Ansicht vom Sinn der Empirie selbst nicht geschlossen, sondern beweglich und zwar ins Unendliche sich ausdehnend zu denken ist, kann sie zu bleibend gültigen Ergebnissen niemals führen; und die Geschichte der Wissenschaften bestätigt es auf Schritt und Tritt, daß, an welchem Punkt oder in welchem Kreis auch immer sie sich zu begrenzen versuchte, stets der Fortgang der Wissenschaft die willkürlich gezogene Schranke wieder durchbrach und in den neuen Lösungen nur wieder neue Probleme aufwies. Also muß man jenen ganzen ins Unendliche sich dehnenden Kreis der Empirie, mithin deren ganze Ebene verlassen, über sie in einem neuen, von dem der Empirie prinzipiell verschiedenen Verfahren sich erheben können; nur dann ist es denkbar, zu einer haltbaren Vereinheitlichung der Erkenntnis zu gelangen.

Diese Erhebung über die Ebene der Erfahrung gleichsam in eine neue Dimension der Erkenntnis kann aber wiederum in einem verschiedenen Sinn verstanden werden und ist in allbekanten großen historischen Phasen der Philosophie in verschiedenem Sinn verstanden worden; nämlich, nach KANTs Ausdrucksweise, im transzendenten oder aber in einem transzendentalen Sinn. Die ältere, naivere, aber noch keineswegs heute ganz zurückgedrängte Auffassung ist die, daß eben da, wo das Verfahren der Empirie versagt, ein anderes Verfahren theoretischer Konstruktion einsetzen muß, um das, was dem Gegenstand nach über, außer oder hinter jener sich grenzenlos ausbreitenden Ebene der Erfahrung liegt, zu erschließen: das "reine Denken", der "Intellekt", die "Intuition", oder wie man es sonst nennen möchte, sollte diesen schlechthin jenseitigen Bereich des rein oder ansich Seienden uns erleuchten und darin den wahren, absoluten Einheitsgrund der Erkenntnis und des Erkennbaren sichtbar machen. Denn im endlosen Prozeß der Erfahrung gibt es kein reines Sein, weil keine reine, standhaltende, bedingungslos gültige Einheit, sondern allenfalls nur unendliche, wandelbare, immer wieder überschreitbare, notwendig wieder zu überschreitende, weil relative und bedingte Einheiten.

Dieser Auffassung der Philosophie, als die Erfahrung im Sinne der Transzendenz hinter sich lassend, stellt, vielleicht nicht schlechthin als erster, aber zuerst in voller grundsätzlicher Klarheit, KANT eine andere Art des Hinausgehens über die Erfahrung gegenüber, die er mit dem Wort "transzendental" bezeichnet: nicht im Gegenstand, weder dem im empirischen Verfahren erreichbaren noch ein außer der ganzen Ebene der Empirie doch als vorhanden gedachten, in einem anderen Verfahren etwa zu erreichenden sei die Einheit der Erkenntnis zu suchen, sondern allerdings in der Erfahrung (diese im weitesten Sinn verstanden, also die praktische, die ästhetische, und welche es etwa sonst noch geben mag, eingeschlossen) - aber nicht in ihrer ja grenzenlosen peripherischen Ausbreitung, sondern vielmehr im Rückgang zu ihrem Zentrum, ihrer Wurzel, ihrem erreichbar tiefsten Quell, ihrer notwendig zuletzt einigen, ursprünglich erzeugenden Methode. Alle theoretische Konstruktion des Gegenstandes bleibt so Aufgabe der Erfahrung, diese als Wissenschaft, und zwar im weitesten Sinne verstanden. Nicht in diese, auf den zu erkennenden Gegenstand gerichtete, konstruktive Arbeit der Empirie darf Philosophie eingreifen, auch nicht da, wo sie scheinbar versagt (in Wahrheit hat sie noch nie dauernd versagt), ihr Geschäft in die Hand nehmen und über sie hinaus zu Ende führen wollen, als wäre sie im Besitzt von Erkenntnismitteln und Methoden zu Konstruktionen, die dem Objekt nach über die "mögliche Erfahrung" gänzlich hinausgelangen. Aber diese ganze, nie vollendete und auch nicht vollendbare Konstruktion der Erfahrung selbst zu konstruieren und sich damit ihrer letzten, zentralen, methodischen, nicht peripherischen, gegenständlichen Einheit zu versichern, das ist noch eine mögliche und notwendige und die einzig übrigbleibende legitime Aufgabe einer Erkenntnis, die auf den Namen Philosophie einen gerechten Anspruch hat, sofern sie eben die letzte legitim erreichbare, nämlich innere Einheit der Erkenntnis zu erschließen allein imstande ist. Diese Aufgabe muß, aus klar einzusehendem Grund, prinzipiell lösbar sein, da wir es hier nicht mit der Fülle der Erkenntnis nicht sowohl gegebenen, sondern aufgegebenen Gegenstände, die unendlich, also unerschöpflich ist, sondern allein mit uns und unserer Erkenntnis selbst, ihrem eigenen Verfahren, ihren in ihr selbst liegenden und aufweisbaren Voraussetzungen zu tun haben. Selbst zu wirklich letzten Gründen muß da, so meint man, zumindest prinzipiel zu gelangen möglich sein, wenngleich diese sozusagen nach innen gewandte Erforschung der Erkenntnis selbst auf ihre immanente Gesetzlichkeit auch wieder ihre eigenen Klippen und Fehlerquellen hat, ja auch die Aufgabe selbst mit der ansich unbegrenzten peripherischen Ausdehung der Empirie sich in ihrer bestimmten Ausprägung immer neu und anders stellen, mit dem Wachstum der Empirie an Umfang wachsen, sich zugleich an Tiefe der Bedeutung steigern wird. So ist es allerdings ein Hinausgehen über alle Erfahrung als Ganzes, ein Sich-erheben zu einem neuen Gesichtspunkt, einem neuen "Mittelpunkt der Betrachtung", es ist die Erschließung einer neuen Forschungsdimension, einer neuen Fragerichtung, verschieden von der nicht bloß dieser oder jener, sondern aller auf den Gegenstand direkt gerichteten, das ist: empirischen Wissenschaft. Aber sie kann nicht mehr, so wie das Hinausschreiten über diese im Sinne der Transzendenz, zu einer Entwertung der Erfahrungserkenntnis, einer Herabsetzung ihres Geltungsanspruchs führen; sie beläßt sie in ihren vollen Rechten, bestätigt sie in diesen, aber verfolgt eine fundamental andere Absicht als sie; sie liegt also nicht in der Linie ihrer Fortsetzung und überhaupt nicht in ihrer Dimension. Denn logisch, für das Denken, ist es eine neue Dimension, in die sich die Betrachtung erhebt, wenn sie, statt auf eine Theorie des "unmittelbaren" Gegenstandes, auf eine Theorie dieser Theorie ausgeht. Übrigens wird dann ihr Verfahren dem der Empirie immer noch analog, es wird gleichfalls eine theoretische Konstruktion sein, und zwar auch auf eine faktische, in einem sehr erweiterten Sinn empirische Grundlage gestützt. Aber ihr Faktum und damit ihr Problem, somit der ganze Sinn der "Theorie" ist hier ein neuer, eben der Dimension nach von dem der gegenständlichen Empirie verschiedener.

Sind nun hiermit die möglichen Auffassungen der Aufgabe der Philosophie erschöpft? - Soviel ich erkennen kann, bleibt nur ein Letztes noch übrig. Alle theoretische Konstruktion, empirische wie metempirische, fußt irgendwie zuletzt auf einem Gegebenen (gegeben zumindest im Sinne des faktisch gestellten Problems), aber entfernt sich zugleich von diesem Gegebenen, erschöpft nie seinen vollen Gehalt, sondern stellt ihn gleichsam nur in einem Extrakt, einer Reduktion dar; allgemein unter der Form des Gesetzes, sei es des empirischen oder eines metempirischen, und im letzteren Fall eines transzendenten Weltgesetzes oder transzendentalen Erkenntnisgesetzes. Aber je mehr sie eine Konstruktion, je mehr sie Theorie ist, umso ferner rückt ihr die Fülle dessen, was ihr doch zuletzt das Problem stellte, was in einer Einheit darzustellen sie als ihre Aufgabe erkannte; das aber ist ohne Zweifel: die grenzenlose Mannigfaltigkeit des Erlebten und überhaupt Erlebbaren. Theorie, Wissenschaft jeder Art erwächst aus dem "Leben", kann zuletzt nur ihm dienen wollen, strebt es zu ergründen, sei es, um es zu berichtigen, es eine Stufe über sich selbst zu erheben, oder auch nur es, wie es ist, zu erfassen und festzuhalten; was übrigens schon ansich eine Vertiefung des Lebens selbst bedeutet, dessen Kern ja nirgends anders als im Bewußtsein liegt. Aber in einem fast diametralen Gegensatz zu dieser ihrer zuletzt auf das Leben gerichteten Absicht scheint sie sich dem Leben nur mehr und mehr zu entfremden, es in einen toten Begriff zu verwandeln; seine Fülle scheint in ihr verarmt, die Unmittelbarkeit, in der allein es wirkliches Lebens ist, durch Vermittlungen und Vermittlungen von Vermittlungen ohne Ende unwiederbringlich verloren, seine flutende Regsamkeit in festliegenden, unbiegsamen "Formen" erstarrt, sein energischer Tatcharakter zu tatloser Betrachtung gelähmt. So aber scheint die Einheit des Bewußtseins nicht bloß um einen zu teuren Preis erkauft, sondern sie ist schließlich gar nicht, was sie doch sein wollte: eine Einheit des Bewußtseins, des gesamten uns bewußten Seins; also auch nicht der letzten, der tiefsten Erkenntnis. Denn Erkenntnis, die höchste, gehaltreichste, allergewisseste sogar, ist am Ende doch die des vollen, voll bewußten, unmittelbaren Erlebens. Und gerade Einheit, lebendige Einheit ist zuletzt nicht in einer sondernden Theorie, in einer zerlegenden Abstraktion, in den bloßen "Gesichtspunkten", die, mögen die weitesten Gebiete des Erlebbaren ihnen unterstellt sein, doch wahrlich diese nicht geben oder enthalten, sondern nur von außen auf sie, richtiger: über sie hin blicken lassen, nicht in der Fülle ihrer Wirklichkeit, ihrer Konkretheit sie erschließen.

So zeit sich schon auf dem Boden der empirischen Konstruktion die Philosophie sehr im Nachteil gegen die Empirie, welche es doch zumindest noch mit "Tatsachen", nicht mit bloßen Aussichten und Denkbarkeiten zu tun hat, oder mit den Tatsachen nur durch einen losen Faden der Hypothese zusammenhängt. Vollends, wenn sich die Philosophie über die Ebene der Erfahrung gänzlich erheben will, so scheint sie entweder, als transzendente, so recht wie Mephistos "Kerl, der spekuliert", sich im Kreis selbstgeschaffener Begriffe des Unbegreiflichen herumzudrehen, "und rings umher ist fette, grüne Weide" - oder, als transzendentale, dem "fruchtbaren Bathos" der Erfahrung zwar weniger entfremdet, sogar der letzten Absicht nach einzig auf es gerichtet, aber, als Theorie in der Potenz, eben auch Entleerung in der Potenz zu sein. Enthält schon das Gesetz erster Stufe, das Gesetz der Erscheinungen, nicht mehr die Erscheinungen selbst in ihrer Fülle, sondern eine bloße Reduktion aus diesen, so ist vollends das Gesetz des Gesetzes, das bloße Gesetz der Gesetzlichkeit überhaupt, mit dem es die transzendentale Philosophie zu tun hat - eine Reduktion der Reduktion, also nur noch um einen Grad ferner dem Unmittelbaren, Lebendigen, dessen Einheit darzustellen doch die Aufgabe der Philosophie sein sollte.

Mag also der "Aufstieg" (die platonische ano odos) der Theorie, und mag auch die transzendentale Theorie der Theorie (die der "Dialektik" PLATOs entspricht) eine unerläßliche Vorstufe, mag es die Wegleitung sein, um überhaupt zur gesuchten Einheit der Erkenntnis gelangen zu können, so ist doch diese in ihr noch entfernt nicht erreicht und dargestellt. Sie zeigt sie allenfalls nur aus weitester Ferne, vielmehr bezeichnet sie erst den Gesichtspunkt, unter dem sie, auch nur als Aufgabe, überhaupt erst erblickt werden kann. Es genügt aber, um sie nun wirklich zu erreichen, auch nicht, daß man sich in diesen Gesichtspunkt bloß einstellt, um von ihm aus den Blick über die weiten Gefilde des Lebens hinschweifen zu lassen; sondern man muß, sei es auf eben den Wegen, welche sich die konstruierende Philosophie im Aufstieg gebahnt hatte, oder auf solchen neuen, vordem vielleicht nicht geahnten, die von dem gewonnenen höheren Standpunkt erst sichtbar wurden, in die Ebene der Erfahrung wieder herabsteigen und sich wieder ganz in ihr heimisch zu machen.

So ergibt sich ein neuer Sinn der Einheit der Erkenntnis und damit der Philosophie. Jede Einheit bloßer Theorie, sei es die konzentrierteste, also umfassendste, ist eben insofern noch keine Einheit letzter Instanz, als sie sich ganz auf die eine Seite des Bewußtseins - welches gewiß Einheit, aber Einheit des Mannigfaltigen ist - konzentriert und sich damit von der Gegenseite - eben dem Mannigfaltigen - gänzlich losgerissen hat. So bleibt immer diese letzte Zweiheit, eben der Gesetzeseinheit und der konkreten Mannigfaltigkeit, die jener zwar unterstellt, aber keineswegs durch sie gegeben oder nach ihrem konkreten Gehalt in ihr wirklich beschlossen ist; es bleibt die Entzweiung, die Spaltung in das "Eine" und das "Andere", mit der offenbar die wahre, die Einheit des Erlebten, die erst die Einheit letzter Instanz wäre, zerrissen ist. Ein völliger Losriß war sicher nie beabsichtigt; aber indem man, mit vollem Grund und Recht, in methodisch verständlicher Einseitigkeit zunächst nur auf die Gesetzeseinheit losging, ließ man ihre Gegenseite, die unendliche Fülle des Mannigfaltigen, d. h. des Erlebten, so sehr außer Acht und verlor sie schließlich ganz aus den Augen.

Somit ergibt sich, gegenüber aller noch irgendwie abstrakten Einheitsdarstellung, sei es empirischer oder metempirischer, immanenter oder transzendenter oder transzendentaler Konstruktion, als eine letzte Grundart der von der Philosophie anzustrebenden Einheitsdarstellung die konkrete, d. h. eine solche, in der die Mannigfaltigkeit des Erlebbaren nicht untergeht, sondern voll erhalten bleibt, die Einheit in das Mannigfaltige, das Mannigfaltige in die Einheit wirklich eingeht, jedes nur in, nicht außerhalb des anderen gesucht und gefunden wird. Eine vielleicht übermenschliche Aufgabe, die aber doch als Aufgabe klar verständlich ist; deren Lösung man Schritt um Schritt nachgehen und so dem gedachten Ziel zumindest näher, oder genauer gesprochen, in der klar vorgezeichneten Richtung auf es hin weiter und weiter kommen kann; denn da die Aufgabe, wie ersichtlich, eine unendliche ist, so gibt es streng genommen keine Näherung zu einem festen Endziel, sondern nur ein Fortschreiten ins Unendliche, bei dem das Ziel sich immer neu und größer stellt; aber darum doch ein sicheres Weiterkommen auf einem einheitlich gerichteten Weg.

Wie soll man diese höchste, konkreteste Einheit nennen? Einheit des Bewußtseins, das wäre wohl sachlich zutreffend. Denn "Bewußtsein" umfaßt von Haus aus beides, Einheit und Mannigfaltiges, Mannigfaltiges und Einheit; die Einheit als Einheit des Mannigfaltigen, das Mannigfaltige als Mannigfaltiges der Einheit. Die einseitige Verfolgung der Einheitsrichtung im Sinne der konstruierenden Theorie, der bloße "Aufstieg" also ohne den "Abstieg", ist eine Entfernung von der wahren, der konkreten Einheit; doch ist er notwendig, soll man dann in methodisch gesicherter Weise zum Mannigfaltigen zurückgehen können. Nur, wer in der Einseitigkeit des Aufstiegs zum Gesetz einmal befangen ist, dem verengt sich leicht der Begriff des "Bewußtseins" zu dem eines bloßen Einheitsbewußtseins, welches doch gar nicht im Vollsinn des Wortes Bewußtsein ist, vielmehr droht es von Stufe zu Stufe mehr zu entleeren und schließlich ganz zu verflüchtigen. Darum bezeichnen wir die gemeinte konkrete Einheit lieber mit dem Wort "Leben"; meinen jedoch mit ROUSSEAU, daß Leben im vollen Sinn des Wortes Bewußtsein ist; daß es im bloßen Erkennen nicht aufgeht, aber vollends nicht ohne es ein volles Leben sein würde. Denn sein Leben nicht erkennen hieße es im Grunde gar nicht leben, es nicht eigentlich erleben, sondern es nur über sich ergehen, sich von ihm nur tragen und treiben lassen. Verstehen wir somit "Leben" im Vollsinn zugleich als Bewußtsein, Bewußtsein zugleich als Leben, dann mag das eine wie das andere Wort diese gedachte Gegenseite zur "grauen Theorie" bezeichnen; da aber im gewöhnlichen Gebrauch beider Wörter allzu oft entweder das eine oder das andere vergessen wird, so mag die Doppelbezeichnung eben dies in steter Erinnerung halten: daß die letzte, konkrete Einheit, als Einheit im Mannigfaltigen, Mannigfaltiges in Einheit, dies beides in einer unaufheblichen Wechselbeziehung einschließen muß: das Bewußtsein und all das, dessen man sich bewußt sein mag, die Fülle und Unmittelbarkeit des Erlebbaren. Dieses wird ja nicht anders erlebt als im Bewußtsein; so wie umgekehrt das Bewußtsein, wenn nicht auf die Fülle des Erlebbaren gerichtet, ja sie in sich schließend, auch nicht im vollen Sinne Bewußt-sein, bewußtes Sein, sondern allenfalls nur dessen Möglichkeit bedeuten würde.

Hiermit scheinen die möglichen Auffassungen der Aufgabe der Philosophie (unter dem hier eingenommenen Gesichtspunkt) erschöpft zu sein; etwas weiteres ist nicht absehbar als: Vereinheitlichung der Erkenntnis im Sinne empirischer oder überempirischer, im letzteren Fall transzendenter oder transzendentaler Konstruktion, oder aber im Sinn einer konkreten Einheit von Bewußtsein und Erlebnis. Und ein Überblick über die großen historischen Gestaltungen der Philosophie würde nicht leicht eine "Philosophie" aufweisen können, welche sich schließlich nicht dieser Einheit fügt.

Sollte nun nicht bloß gesagt werden, welche Auffassungen ansich möglich, sondern welche von diesen die richtige ist, so würde wohl die Antwort uns am nächsten liegen: daß ganz am Ziel vorbei nur die transzendente Fassung der Aufgabe geht, jede der drei anderen: die empirisch-konstruktive, die transzendentale und die zuletzt erwähnte der Wiederherstellung des Vollgehalts des Erlebbaren aufgrund seiner Konstruktion in theoretischer Einheit - ich pflege es "Rekonstruktion" des Erlebten zu nennen - ihre begrenzte Berechtigung hat. Nur möchte es angemessener sein, die bloße hypothetische Ergänzung der Empirie - der darum nicht jeder Wert abgesprochen zu werden braucht - nicht "Philosophie", sondern allenfalls ihren Vorhof zu nennen; der eigentlichen Philosophie aber würde, in Erinnerung besonders an ihren Begründer, PLATO, wohl die Doppelaufgabe des "Aufstiegs" und "Abstiegs", nämlich 1. die transzendentale Konstruktion, 2. die Rekonstruktion des Vollgehalts des Erlebbaren zuzuweisen sein, welche beiden Aufgaben sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern schlechterdings zusammengehören, eine ohne die andere nicht nur unfruchtbar, sondern für sich halb und in ihrer Halbheit haltlos, in sich selbst nicht konsistent wäre. Abhängig aber dem Erkenntnisgrund nach ist (wie ich besonders in meinem letzten Buch zu begründen versucht habe) die Aufgabe der Rekonstruktion von der der Konstruktion, nicht umgekehrt.

Dürfte diese Ansicht auf eine allgemeinere Anerkennung rechnen, würde man dann ferner mit mir sich klar machen können, daß nichts anderes als die erreichbar reinste und gesichertste Methodik der Rekonstruktion des Erlebbaren die schließliche und wahre Aufgabe einer philosophischen Psychologie ist, so wäre damit die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Psychologie dem Prinzip nach gelöst: Psychologie nach diesem Begriff würde unzweifelhaft zur Philosophie gehören, ja ihren Gipfel, die letzte Erfüllung ihrer Aufgabe bedeuten, aber allerdings den Begriff der Philosophie nicht erschöpfen, auch nicht ihre Grundlage bilden; denn vielmehr bedarf sie als Grundlage der transzendentalen Konstruktion. Diese also wäre die grundlegende, jene die abschließende, die krönende Philosophie, während keine von beiden für sich, sondern nur beide zusammen die Philosophie darstellen würden.

Aber diese These, von mir selbst noch nicht seit langer Zeit in dieser Bestimmtheit ausgesprochen, bisher nicht in einer auch nur mir voll genügenden Durchführung entwickelt und von keinem anderen bisher meines Wissens gleichsinnig vertreten, hat sich die Anerkennung erst zu erringen; sie will keinesfalls mit den wenigen, sehr im Allgemeinen bleibenden Andeutungen, an denen es hier genug sein mußte, zureichend begründet sein. Somit haben wir jetzt, unserem anfänglichen Plan entsprechend, ganz als ob bisher nichts im Hinblick auf das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie ausgemacht ist, die möglichen Auffassungen auch der Psychologie nach einer erschöpfenden Einteilung festzustellen und alle sich ergebenden Möglichkeiten zu berücksichtigen. Und zwar wird hierbei der Gesichtspunkt der Einteilung wohl nicht ein völlig anderer sein dürfen, als nach welchem die möglichen Auffassungen der Philosophie eingeteilt wurden, da sich sonst nicht leicht eine klare Vergleichbarkeit ergeben würde.

Nun gründete sich unsere Einteilung der Begriffe der Philosophie auf die erste Voraussetzung, daß Philosophie in jedem Fall auf eine letzte Einheit der Erkenntnis gerichtet ist. Psychologie aber scheint eher der Gegenseite der Einheit, dem "Mannigfaltigen" zugewandt; wie sollten also die gleichen Unterscheidungen, die für die Philosophie galten, auf die Psychologie zutreffen? - Nun: vielleicht gerade, indem sie ihr diametral gegenüberliegt, muß sie zuletzt mit ihr unter die gleichen Gesichtspunkte der Einteilung fallen. Wie die Einheit, welche die Philosophie sucht, der Mannigfaltigkeit zwar entgegengesetzt, aber eben damit ganz auf sie hingewiesen, eben eine Einheit des Mannigfaltigen ist, so könnte das Mannigfaltige, welches den Fragepunkt der Psychologie bildet, etwa gerade das Mannigfaltige jener Einheit sein, welche alle Theorie und zuletzt, als Theorie der Theorie, die Philosophie sucht. Dies vorausgesetzt, würden mit klar einzusehender Notwendigkeit den verschiedenen Bedeutungen, in denen die Einheit der Erkenntnis verstanden werden kann, ebenso viele verschiedene Bedeutungen des letzten zur Einheit zu bringenden Mannigfaltigen entsprechen: also ein Mannigfaltiges als Gegenseite der empirischen, der transzendenten, der transzendentalen Gesetzeseinheit, und schließlich die Mannigfaltigkeitsseite jener letzten, konkreten Einheit, welche eben die letzte Grundbeziehung zwischen dem Einen und dem Mannigfaltigen selbst, so wie dies überhaupt methodisch möglich ist, zu Begriff zu bringen will.

So wäre sozusagen mit einem Schritt zu einer sehr radikalen Lösung unserer Frage zu gelangen. Aber freilich wäre mit der ersten Voraussetzung das Resultat eigentlich schon vorweggenommen. Für diese Voraussetzung aber darf nichts weniger als eine allgemeine Zustimmung erwartet werden; für die Voraussetzung nämlich, daß Psychologie es allgemein mit dem Mannigfaltigen zu tun hat, welches aller Einheit des Begreifens, allem Begriff, insbesondere allem Gesetzesbegriff, daher aller Wissenschaft und so natürlich auch der von der Philosophie gesuchten Einheit der Erkenntnis letztinstanzlich und (wie wir sagten) diametral gegenüberliegt. Eine solche, fast uferlos scheinende Vorstellung vom Sinn und der Aufgabe der Psychologie wird den meisten schlechthin unannehmbar dünken. Vielmehr gilt die Psychologie, wie verschieden auch sonst ihr Begriff gefaßt wird, sozusagen allen, die an ihr arbeiten, als eine besondere, empirische Wissenschaft, objektivierend, also konstruierend, wie jede andere; objektivierend, wenn nicht in Gesetzen, doch jedenfalls in Tatsachen, in allgemein beschreibbaren Lebens- und Bewußtseinsgestaltungen. Oder, wenn über ihren empirischen Charakter etwa noch ein Zweifel besteht, so kommt als sonstige Möglichkeit nur die der transzendenten Konstruktion in Frage, d. h. ob nicht Psychologie, über oder doch in letzter Erwägung, metaphysisch, ontologisch zu begründen ist. Dagegen ist meines Wissens nie der Versuch gemacht worden, die Psychologie selbst als transzendentale Konstruktion zu verstehen; begreiflich, da von ihrem Entdecker an die transzendentale Methode eben der psychologischen sich entgegenstellte, oder, wenn man ihr eine psychologische Wendung zu geben unternahm, der transzendentale Charakter in seiner Eigentümlichkeit eben verwischt, Psychologie (empirische oder transzendente) an die Stelle der Transzendentalphilosophie gesetzt wurde. Man gab auf transzendentale Fragen psychologische Antworten, oder trieb, ohne es zu wissen, Transzendentalphilosophie, in der Meinung, Psychologie zu treiben. Ein besseres Recht hat jedenfalls die umgekehrte Forderung einer transzendentalen Begründung der Möglichkeit einer Psychologie überhaupt. Aber damit wird die Psychologie ebensowenig selbst zur Transzendentalphilosophie, wie die sonstigen dem Bereich der Empirie angehörigen Wissenschaften durch ihre transzendentale Begründung selbst transzendental werden.

Beschränken wir also die Betrachtung auf das, was als Psychologie faktisch vorliegt, so kommen nur die zwei Möglichkeiten in Frage: empirische oder transzendentale Konstruktion. Und zwar ist die weitaus verbreitetste Auffassung gleichermaßen in beiden Fällen die, daß nicht alles Erfahrbare, sondern ein bestimmter Bereich desselben, welchen man den des "Psychischen" nennt, das Objekt der (sei es nun empirischen oder transzendenten) Konstruktion zu bilden hat. Jedoch ist daneben, gleichfalls auf beiden Seiten, eine Neigung erkennbar, den erst abgesonderten Bereich des Psychischen dann doch wieder auf alles Erfahrbare auszudehnen: die Tendenz zu einem psychischen Monismus. Wir werden, unserer Absicht gemäß, alle diese möglichen Auffassungen zu berücksichtigen haben.

Wird an der Sonderung des psychischen Bereichs festgehalten, so fällt die Psychologie entweder, als rein empirische Konstruktion, ganz aus der Philosophie heraus und hat zu ihr keine nähere Stellung als irgendeine sonstige abgegrenzte empirische Wissenschaft; oder sie gehört, als transzendente Konstruktion, allerdings ihr zu, aber bildet innerhalb ihrer einen abgegrenzten Sonderbereich; sie umfaßt nicht ihr Ganzes, sondern bleibt der auf den übrigen, nichtpsychischen Bereich sich beziehenden transzendent konstruierenden Philosophie lediglich koordiniert, d. h. sie ist im ersten Fall eine empirische Sonderwissenschaft, im zweiten eine Sonderphilosophie. Immerhin bleibt sie im zweiten Fall, da Philosophie ihrem Begriff zufolge eine unteilbare Einheit bilden muß, von der sonstigen Philosophie vermutlich nur auf einer unteren Stufe der Betrachtung getrennt, während sie in letzter Betrachtung mit ihr wieder eins werden muß. Jedenfalls wird dann der Psychologe als solcher notwendig, Philosoph, der Philosoph, und nur er, Psychologe sein. Dagegen gilt im Hinblick auf die Psychologie als rein empirischer Sonderwissenschaft nur eine vollständige Trennung: der Psychologe ist als solcher nicht Philosoph, der Philosoph als solcher nicht Psychologe, sondern alleinfalls nur durch Personalunion - so wie der Philosoph z. B. auch Dichter sein kann, oder der Dichter Philosoph - können beide zusammenkommen. Kaum dürfte gesagt werden, daß die Psychologie den Philosophen und die Philosophie den Psychologen mehr angeht, als etwa den Philosophen die Dichtung oder den Dichter die Philosophie. Ganz gewiß hat die Philosophie an die Dichtung ernste Fragen zu stellen und die Dichtung an die Philosophie; wie überhaupt nicht leicht eine irgendwie bedeutungsvolle Richtung menschlicher Betätigung genannt werden kann, die nicht der Philosophie - und der nicht sie - eigene Aufgaben zu stellen hätte. Sicher nicht weniger enge und innerliche Beziehungen als zur (rein empirisch verstandenen) Psychologie hat die Philosophie zur Mathematik und zur theoretischen Physik, zur Biologie, zur Sozialwissenschaft, zur Erziehungslehre, zur Kunst- und Religionswissenschaft, zur Geschichte, aufzuweisen. Es bestünde nicht mehr Grund, den akademischen Unterricht in der Psychologie dem Philosophen oder den in der Philosophie dem Psychologen aufzutragen, als dem Philosophen zugleich Mathematik, theoretische Physik, Biologie, Wirtschafts-, Rechts-, Erziehungslehre, Kunst- oder Religionswissenschaft oder Geschichte, oder (das wäre wohl die Konsequenz) dies alles zusammen, oder dem Vertreter irgendeines dieser Fächer die Philosophie, oder jedem von ihnen ein Stück von ihr.

Es ist wunderlich genug und nur aus einer besonderen Zeitlage, die vielmehr nur Notlage genannt werden kann, einigermaßen verständlich, daß dies für manchen noch eine Frage zu sein scheint. So ist in iner jüngst erschienenen, sonst trefflichen, in der Absicht der Anbahnung einer Verständigung besonders sympathischen Behandlung unserer Frage (1) es doch sehr auffallend, wie es hat übersehen werden können, daß die ganze Argumentation, welche zeigen soll, daß die Psychologie zur Philosophie eine spezifische, innerliche und durchgängige Beziehung haben soll, in entsprechender, durch sich die Sache selbst gegebener Abwandlung auf jede andere empirische Wissenschaft nicht zu kleinen Umfangs übertragen würde, beispielsweise auf die Geschichte. Philosophie kann sozusagen keinen Ton reden, ohne sich auf geschichtlich gegebene Tatsachen zu stützen; Wissenschaft, soziale Ordnungen, Kunst, Religion, worauf sie nur ihre Frage richten mag, alles liegt, als menschliche Schöpfung, auf keinem anderen als Geschichtsgrund gegeben vor; nur die Fakta der Geschichte, und diese alle, ohne irgendeine Ausnahme, stellen der Philosophie ihre Aufgabe, und zur Lösung dieser Aufgaben kann sie nicht den kleinsten Schritt tun, ohne sich auf den "positiven" Grund, den einzig die Geschichte ihr bietet, zu stellen; sie muß also diesen Grund doch auch kennen und auf die fort und fort sich vollziehende Untersuchung und Sicherung dieses Grundes, also auf die Arbeit der Geschichtswissenschaft, Rücksicht nehmen. Umgekehrt, der Historiker, der auch nur mit einem Quentchen Besinnung an seine Aufgabe herangeht, muß sich wohl darüber klar sein, daß er von dem, was das Objekt seiner historischen Forschung bildet, es sei nun Wissenschaft oder soziales (wirtschaftliches, rechtliches) Leben, Bildung, Kunst, Religion oder was auch immer, doch Begriffe und am Ende lieber richtige als falsche haben muß; diese Begriffe aber zu untersuchen, zu sichern, fortschreitend zu vertiefen ist zuletzt Aufgabe der Philosophie. Also muß gewiß der Historiker philosophisch gebildet zu sein, wie der Philosoph historisch. Aber wird man darum den Historiker auf den Lehrstuhl des Philosophen oder (da die Argumentation genauso in der Umkehrung gilt) den Philosophen auf den Lehrstuhl des Historikers berufen? Etwa LAMPRECHT auf den Stuhl RICKERTs, RICKERT auf den LAMPRECHTs? Um keinen Deut anders verhält es sich mit Philosophie und Psychologie - wenn unter dieser eine positive empirische Wissenschaft, zumal eines wie auch immer abgegrenzten Bereichs verstanden wird. Die Arbeit der Philosophie erstreckt sich, wie auf alles "Positive", so auch auf das Positive der Psychologie; aber eben nicht mehr noch anders als auf das Positive sämtlicher übrigen, zumindest der grundlegenden, positiven Wissenschaften: der Mathematik und Naturwissenschaft, der Sozialwissenschaften, der Kunst- und Religionswissenschaft.

Ein so auffälliges Übersehen allernächstliegender Einwände bei sonst sachkundigen Gelehrten wäre schwer zu verstehen, wenn nicht dem Irrtum doch irgendeine richtige, nur nicht hinreichend geklärte Tendenz zugrunde läge. Vermutlich schwebt denen, welche die Psychologie, obgleich sie in ihr nur eine empirische Sonderwissenschaft sehen, dennoch in einer inneren und wesentlichen Beziehung zur Philosophie denken, unbestimmt vor, daß sich die Psychologie irgendwie doch auf den ganzen Bereich des Erfahrbaren und nicht bloß auf ein abgegrenztes Gebiet derselben beziehen muß.

Und in diese Richtung weist allerdings vieles. Mehr und mehr hat die ehedem als selbstverständlich angenommene Scheidung des "Physischen" und "Psychischen" als zweier koordinierter, in sicherer Disjunktion [Unterscheidung - wp] sich gegeneinander abgrenzender Bereiche des Erfahrbaren, mit der ihr entsprechenden Scheidung der Erfahrung selbst (oder der Wahrnehmung oder der Erscheinungen) in "äußere" und "innere" im allgemeinen Denken der Philosophen wie der Psychologen an Boden verloren. Die Scheidung wurde und wird noch in der Regel so gedacht, daß das Gebiet des Physischen sich mit dem des räumlich-zeitlich, das des Psychischen mit dem des bloß zeitlich zu Bestimmenden, ansich aber Unräumlichen deckt; außerdem gilt als Eigenheit der Wissenschaft des Physischen, daß sie alles Qualitative quantifiziert, während im Bereich des Psychischen die Qualitäten in ihrer Sonderheit gewahrt bleiben; beides aus dem gemeinsamen letzten Grund: weil die Wissenschaft des Physischen eine für alle gemeinsame, unter Gesetzen und zwar einer schließlich einheitlichen räumlich-zeitlich-kausalen Gesetzesordnung zusammengeschlossene, eben damit dem Erleben der Individuen als "Äußeres" gegenübertretende "Welt" (eben die "Natur") aus den Erscheinungen konstruktiv darzustellen, die des Psychischen dagegen das von Individuen Erlebte und überhaupt Erlebbare, obwohl nie ohne eine Zurückbeziehung auf jene einheitliche Gesetzesordnung der Natur, doch zunächst in seiner unterschiedlichen Eigenart, seiner "inneren" Konstitution allgemein zu beschreiben und, so wie dies auch unter einem solchen Gesichtspunkt möglich bleibt, zu erklären hat. Indessen mußte es sich einer tiefer dringenden kritischen Besinnung immer mehr und mehr erschließen, daß diese Abgrenzung wohl nicht haltbar ist, daß die gedachten Unterscheidungsmerkmale, soweit sie überhaupt zutreffen, allenfalls einen Stufenunterschied innerhalb einer einzigen, dem methodischen Charakter nach absolut einheitlichen, und zwar der naturwissenschaftlichen Betrachtung, nicht aber eine radikale Scheidung der Psychologie von der Naturwissenschaft begründen könnten. Denn eine Zeitbestimmung ist von der Raumbestimmung, der Qualitäts- von einer Quantitätsbestimmung schließlich untrennbar; alle diese Bestimmungsweisen gehören aus klar einzusehenden logischen Gründen miteinander und mit dem ganzen System der objektivierenden Funktionen, welches etwa (nach KANT) in der zur Wechselwirkung im System erweiterten Kausalität gipfelt, unweigerlich zusammen.

Auch schon rein empirisch gesehen, zeigt sich die versuchte Scheidung von allen Seiten haltlos. Von dem, was sich den Individuen unterschiedlich, nicht allen gemeinsam darstellt, kann mit klar bestimmtem Sinn überhaupt nur geredet und wissenschaftliche etwas ausgemacht werden, wenn die Individuen selbst, nämlich als biologische Einheiten, gegeben sind, also in wesentlicher Rückbeziehung auf ganz bestimmte Vorgänge in der "äußeren" Natur: physiologische Prozesse in bestimmten Gattungen lebender Wesen, zunächst im Menschen; folglich ganz auf der basis und im gegebenen Rahmen der Naturwissenschaft. So und nur so untersteht der ganze "psychische" Bereich insbesondere der Experimentalforschung, die man als dem wesentlichen Charakter nach naturwissenschaftlich doch auch dann wird anerkennen müssen, wenn sie das den Individuen einer bestimmten Art und unter bestimmt begrenzten Bedingungen unterschiedlich und nicht das allen Wahrnehmenden gemeinsam sich Darstellende zum Gegenstand hat. Die so begründete Psychologie ist gewiß keine letzte, keine allgemeine Naturwissenschaft, aber in ihrem zweckmäßig zu einer besonderen Untersuchung abgegrenzten Bereich, mit ihren diesem Sonderzweck in besonderer Weise angepaßten Erkenntnismitteln und Methoden, doch immer dem Objekt und der Forschungsweise nach Naturwissenschaft und nichts anderes, mit der Biologie zunächst, durch sie mittelbar aber mit der gesamten Naturwissenschaft eng und notwendig verknüpft.

Überhaupt: solange man, gleichviel in welchem engeren oder weiteren Bereich, feststellt, zumal objektiv und allgemeingültig feststellt, was in der Zeit ist und geschieht; solange man ein zeitlich wechselndes Dasein, eben hinsichtlich dieses Wechsels, auf Gesetze zeitlichen Wechsels, auf Kausalgesetze zurückführt oder auch nur als "Vorgänge", nach ihrem zeitlichen Verlauf, oder überhaupt so, wie sie sich im zeitlichen Verlauf darstellen, untersucht und beschreibt, treibt man Naturwissenschaft, oder - wenn man einmal bei sich beschlossen hat, diese Benennung auf einen Teil der so vorhergehenden, d. h. der reinen Tatsachenforschung zu beschränken - arbeitet man in einem Gebiet der Forschung, dem ganzen methodischen Charakter nach von der Art der Naturwissenschaft, an einem Objekt, welches sich mit dem der Naturwissenschaft schließlich in einem wissenschaftlichen Zusammenhang, in der einzigen Ordnung des Gesamtgeschehens in der einzigen Zeit, dem einzigen Raum zusammenschließen muß. Diese einzige Ordnung - KANTs "mögliche Erfahrung" - ist aber doch genau das, was man mit "Natur" stets gemeint hat.

Aus solchen, meist aber mehr oder weniger unklar gebliebenen Gründen ist tatsächlich die alte Disjunktion eines "physischen" und "psychischen" Bereichs, eines Bereichs "äußerer" und "innerer" Erscheinungen oder Wahrnehmungen oder Erfahrungen mehr und mehr verlassen worden. An ihre Stelle ist bei den entschiedener Vordringenden die wesentlich davon verschiedene Entgegensetzung mittelbarer und unmittelbarer Erfahrung getreten, deren Voraussetzung vielmehr gerade die strenge Einheit der Erfahrung ist. Die "Erfahrung" der gewöhnlich verstandenen, "objektiven" Naturwissenschaft ist eine mittelbare, ist stets die Objektivierung eines zuletzt rein "subjektiv" Gegebenen; als vermittelt aber setzt sie ein letztes Unmittelbares, als objektive ein letztes Subjektives voraus; dieses ist erst das wahre und letzte "Psychische", da man doch unter dem Seelischen, "Inneren" das unmittelbar im Bewußtsein Erlebte und Erlebbare, im Unterschied von allem ihm als "Äußeres" Gegenübertretenden, d. h. nur mittelbar Gegebenen meint. So bleibt die Einheit der Erfahrung gewahrt, ohne daß doch der Unterschied psychologischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung aufgehoben würde. Denn die mittelbare Erfahrung der Naturwissenschaft beruth zwar ganz und gar auf dem subjektiv Erlebten, aber ist nicht mehr es selbst, sondern ihm ihm gegenüber ein deutlich Anderes; umgekehrt, das "Psychische" bezeichnet die Erscheinung letzter Instanz eben derselben Objekte, die nach ihrer nur mittelbar gegebenen, d. h. objektiven Beschaffenheit die Naturwissenschaft erst herauszuarbeiten hat, geht also selbst in das "Objekt" der Naturwissenschaft keineswegs ein.

In ganzer, radikaler Schärfe wird freilich diese Unterscheidung gewöhnlich nicht verstanden. Und das aus sehr begreiflichem Grund: es sind recht ernste Schwierigkeiten, welche dem Begriff des Psychischen als des unmittelbar - des Physischen als des mittelbar Erfahrenen, sofern diese Entgegensetzung nach strenger Disjunktion verstanden werden soll - anhaften. Wie soll man dem gedachten letzten Subjektiven überhaupt beikommen, wie es überhaupt zu Begriff bringen, ohne es eben damit zu - objektivieren, also seines unterscheidenden Charakters als des Subjektiven zu entkleiden? In einer solchen Objektivierung wird es zugleich wieder zum - Vermittelten, von dem auf das wahre Unmittelbare dann allenfalls erst weiter zurückzuschließen wäre; gesetzt aber auch es gäbe eine sichere Methode eines solchen Rückschlusses, so ergäbe sich die erst recht befremdliche Folge, daß das angeblich Unmittelbare gleichwohl nur mittelbar erkannt würde. So scheint das "Psychische" schließlich zu etwas ganz Unfaßbarem zu werden. Daher ist es sehr verständlich, daß das, was man das "Unmittelbare" nennt, in der Regel höchstens vergleichsweise ein solches, in Wahrheit stets schon eine deutliche Objektivierung nur niederer Stufe ist. Farbe z. B. und Ton nennt man unmittelbar, Licht- und Luftschwingung mittelbar erfahren. Und doch ist "Farbe" oder "Rot" oder "Stufe n der Farbenreihe", "Ton A" oder "Stufe n der Tonreihe" so gut Begriff, also Allgemeines, also dem letzt Empfundenen gegenüber Mittelbares, vergleichungsweise Objektives wie die Schwingungszahl; nur die Stufe der Verallgemeinerung und also Objektivierung ist eine andere. In einem solchen Begriff ist unzweifelhaft schon eine Objektivierung vollzogen; das Wahrgenommene wird als, wenn auch für verschiedene Subjekte und unter verschiedenen sonstigen Bedingungen verschieden, doch für gleich Organisierte unter sonst gleichen Umständen gleich angenommen, also durchaus als ein Objektives (nur nicht höchster Stufe) angesetzt. Und so wird sich, was man auch als Unmittelbares, Subjektives nennen mag, stets als ein nur vergleichsweise, von der nächst höheren Stufe der Objektivierung aus verstandenes Subjektives, d. h. in Wahrheit als ein Objektives nur niederer Stufe herausstellen. Aber am Ende ist auch etwas anderes gar nicht möglich; am Ende muß man es sich damit genügen lassen, wenn es zumindest ein Objektives letzter Stufe ist, welches der Forschung noch erreichbar ist. Ein absolut Subjektives entzöge sich überhaupt aller empirischen Kontrolle, entzöge sich dem ganzen Verfahren empirischer Feststellung, welche immer allgemeingültig sein will, sei es im Sinne der Gesetzeserkenntnis, oder doch einer allgemeinen Beschreibung von Tatbeständen. Psychologie aber will in jedem Fall Erfahrungswissenschaft bleiben, im ganz eigentlichen Sinn von Wissenschaft durch Erfahrung von Objekten. Sie hat (so nimmt jeder an) zum Problem nicht das Erscheinen als solches, sondern ein in der Erscheinung, oder richtiger: durch sie Erscheinendes, d. h. ein irgendwie "Seiendes", einen Gegenstand, der sich darin, gleichviel in welchem Grad der Vermittlung, darstellt. So aber muß sie eben in jedem Fall objektivierend sein; nur um verschiedene Stufen der Objektivierung also scheint es sich auch bei der Entgegensetzung unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung handeln zu können; nur daß unter dem Titel des "Unmittelbaren" eben nach der Objektivierung niederster Stufe gefragt wird, die muß dem rein Subjektiven, also Psychischen doch zumindest am Nächsten stehen, wenn auch ohne es schlechthin darzustellen. "Absolut" ist ja überhaupt die Erfahrung niemals, und braucht es auch nicht zu sein.

Immerhin bewahrt doch so "Erfahrung" ihre volle innere, methodische Einheit; gerade so erfüllt sich der große kantische Satz: Es gibt nur eine Erfahrung". Dieses Einheitsstreben wird man als in hohem Maße philosophisch unbedingt anerkennen müssen. Von der Naturwissenschaft ungetrennt, umfaßt so die Psychologie, unter ihrem eigentümlichen Gesichtspunkt, geradezu deren Ganzes, und schlägt doch zugleich die Brücke hinüber zu den weiten Reichen des "Bewußtseins". So kann sie dann am Ende wohl glauben, obgleich empirische Wissenschaft, dennoch nicht bloß zugleich philosophisch, sondern sogar die einzige, die wahre, die allein wissenschaftliche Philosophie zu sein.

Auch vor der "Welt der Werte" braucht sie mit diesem Anspruch noch nicht sofort zurückzuweichen. Denn zweifellos gehören auch die "Vorgänge" des Fühlens und Strebens, auf denen alle Wertauffassung und damit alles, was als das Gebiet der "Kultur" dem der bloßen "Natur" gegenübergestellt zu werden pflegt, sich aufbaut, als Vorgänge zu ihrem Bereich, nicht weniger als die Vorgänge des Wahrnehmens mit allem, was von diesen abhängt. Auch die Objekte des menschlichen Kulturschaffens, somit auch die auf diese wesentlich bezüglichen "geschichtlichen" Vorgänge, von der Sprachschöpfung aufwärts durch die Gestaltungen des wirtschaftlichen, rechtlichen und sittlichen Lebens, der humanen Bildung, der Kunst, der Religion - das alles gehört, sofern es doch Menschen d. h. einer bestimmten biologischen Gattung angehörige Individuen sind, die als Erlebende aktiv und passiv daran beteiligt sind, unleugbar zum Forschungsbereich der Psychologie, die insofern mit Recht als gemeinsame Grundwissenschaft für alle Zweige der "Geisteswissenschaften" angesehen wird. Auf allen diesen Gebieten gilt es zuerst Tatsachen festzustellen, solche allgemein zu beschreiben und, wenn es sein kann, zu erklären, d. h. in einem ursächlichen Zusammenhang darzustellen. Diese Tatsachen wie diese Zusammenhänge aber müssen wohl, als unzweifelhaft "psychische", schließlich der Psychologie als Probleme zufallen. Und so scheint diese, wie von der einen Seite die äußere Welt oder "Natur", so von einer anderen die gesamte "Kulturwelt" gewissermaßen zu umspannen und unter einen letzten gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen, um sich so zu einer Universalität zu erheben, wie sie keiner anderen empirischen Wissenschaft zukommt, wie dagegen von jeher die Philosophie sie beansprucht und zu behaupten versucht hat. Vielleicht möchte von diesem Standpunkt auch auf unseren Einwand: daß andere Wissenschaften, z. B. die Geschichte, eine nicht weniger enge Beziehung zur Philosophie aufweisen, als man sie der Psychologie nachsagt, sich antworten lassen: diese enge Beziehung zur Philosophie kommt der Geschichte nur darum zu, weil ihr ganzer Tatsachenbereich sich schließlich dem der Psychologie ein- und unterordnet; wirklich allumfassend aber ist doch nur die Wechselbeziehung zwischen Psychologie und Philosophie; und Dementsprechendes gilt in Bezug auf jede andere Wissenschaft oder sonstige menschliche Betätigungsrichtung, die man etwa zur Philosophie in eine nähere Beziehung setzen wollte.

Die Auffassung der Psychologie stellt wohl die größere Näherung derselben zur Philosophie dar, welche möglich bleibt, wenn "Wissenschaft" identisch sein soll mit Tatsachenforschung. Als die konkreteste unter allen Gattungen von Tatsachenforschung scheint so die Psychologie gewissermaßen deren Ganzes in letzter, konkretester Einheit zusammenzuschließen. Es liegen ja wohl die Wissenschaften nicht wie in abgeschlossenen Bezirken, gleich den Häusern einer Straßenseite, die nur mit den Brandmauern aneinanderstoßen, nebeneinander, sondern sie bauen sich in gleichsam konzentrischer Anordnung auf, so daß sich jede der logischen Ordnung nach spätere den früheren nicht koordiniert, sondern superponiert [übereinandersteht - wp]. So erstreckt sich jede logisch frühere Wissenschaft gleichsam durch alle späteren hindurch, bleibt für alle geltend und umfaßt sie gewissermaßen, ohne sie doch nach ihrer unterscheidenden Eigenart zu enthalten oder rein aus sich erzeugen zu können; während zugleich jede logisch spätere die früheren als abstrakte Momente in sich bewahrt und in sich erst konkret werden läßt. So gehört zur kantischen Einheit der "möglichen") Erfahrung (eben als ihre "Möglichkeit" mitbegründend) auch die Mathematik; in sich abstrakt, wird sie erst konkret in Physik und Chemie; diese wieder in der Biologie, und diese in der Psychologie, die aber, nach ihrem nun erreichten weitesten Begriff, auch die unermeßlichen Bereiche des Kulturschaffens sämtlich in sich begreift. Macht man sich dies klar, so wird die Meinung sehr verständlich, daß die Psychologie entweder selbst die Philosophie ist (nämlich wenn man die von dieser gesuchte Einheit der Erkenntnis eben als diese konkrete versteht) oder doch das genaue Gegenstück zu ihr (nämlich zu ihrer abstrakten Einheit die zugehörige konkrete) darstellt.

Aber eben doch nur so lange vermag sich dieser Schein zu behaupten, als man "Wissenschaft" mit "Tatsachenforschung" identifiziert; wie es den meisten derer, die mit Tatsachenforschung dauernd beschäftigt sind, freilich selbstverständlich dünkt. Soll Psychologie die konkreteste Tatsachenforschung sein, mag sie (woran allerdings noch ein Zweifel möglich ist) sogar wirklich deren Ganzes in einer konkreten Einheit zusammenfassen, so wird sie gleichwohl mit dem Ganzen der menschlichen Erkenntnis doch nur dann umfangsgleich werden, wenn die Voraussetzung gilt, daß es etwas anderes als Tatsachen überhaupt nicht zu erforschen gibt. Auch dann würde sie zwar noch nicht mit der Philosophie identisch werden, sich aber allerdings dem Problemumfang nach mit ihr decken, nämlich den gleichen Umfang von Problemen empirische, konkret (d. h. unter dem Gesichtspunkt des "Mannigfaltigen") zu behandeln haben, den die Philosophie philosophisch, d. h. abstrakt (unter dem Gesichtspunkt der "Einheit" der Erkenntnis) untersucht; es würde mit anderen Worten unter beiden die enge und durchgängige Korrelation obwalten, die zwischen Philosophie und dem Ganzen der Empirie allerdings obwalten muß.

Nun ist es zwar gewiß, daß alles, was für den Menschen erforschbar sein soll, ihm irgendwie tatsächlich gegeben sein muß, und insofern Zeitbegriffen untersteht; aber darum ist doch nicht die Auffassung unter Zeitbegriffen die einzige, den Gehalt des Erfahrbaren und also des Erforschlichen erschöpfende. Das Erfahrbare in die Ordnung der Zeit einstellen, heißt vielmehr eine Objektivierung in einseitiger Richtung vollziehen, jenseits welcher andere, jedenfalls eine andere Objektivierungsrichtung existiert, die aus dem ganzen Bereich der Zeitbestimmung von Geschehen heraustritt und auf solche in keiner Weise reduzierbar ist. Psychologie also, wenn, wie bisher stets, als Tatsachenforschung, als Wissenschaft zeitlich bestimmten Geschehens verstanden, kann den ganzen Bereich des "Bewußtseins" darum nicht umspannen, weil gerade das letzte, das ursprüngliche "Bewußtsein" als solches kein zeitlich bestimmtes oder bestimmbares Geschehen, sondern einerseits die Grundlage und Voraussetzung aller, zeitlichen wie nichtzeitlichen, Bestimmung, andererseits und eben damit selbst überzeitlich ist. Die bloße Auffassung des Psychischen als Folge von Vorgängen in der Zeit veräußerlicht das Erlebnis, ordnet es einer ansich nicht erlebten, nicht im Erlebnis selbst liegenden, sondern wie für sich dastehenden Zeit ein. "Psychische Vorgänge", nach diesem Begriff, sind gar nichts Erlebtes noch überhaupt Erlebbares, sondern gehören bereits einer dem Erlebnis sich entfremdenden, objektivierenden Konstruktion an. Das Vollerlebnis, das Urerlebnis ist vorzeitlich; es enthält zwar auch, dem subjektiven Grund nach, die Zeitordnung, aber eben nicht nur diese, sondern außerdem andere, z. B. die logische Ordnung, die als solche nichts von einem zeitlichen Charakter an sich hat. Unter die Zeitordnung gepreßt, wird das Erlebnis, gegen seine "Natur", einer ihm fremden "Natur" eingezwängt, künstlich naturalisiert. Darum bleibt alle Psychologie, die von psychischen "Vorgängen" handelt, stets von der Ordnung der Naturwissenschaft, berührt überhaupt nicht das Eigene, radikal Unterscheidende des Bewußtseins. Nicht der Individualcharakter der psychisch genannten "Vorgänge" unterscheidet diese von "Natur"vorgängen, als ob solche nicht, sobald man sie eben in der Betrachtung isoliert, auch individual wären, oder andererseits die "psychischen" Vorgänge nicht unter Allgemeinbegriffen gedacht; diese ganze Unterscheidung ist, wie sich oben ergab, überhaupt nur graduell. Und ebensowenig unterscheidet sie die (wirklich gar nicht durchführbare) Abstreifung der Raumbeziehung oder die Festhaltung der Qualitäten; ist doch Qualität so gut objektivierend wie Quantität, Zeitbeziehung wie Raumbeziehung. Es genügt, daß die "psychisch" genannten Vorgänge überhaupt, wie es sich für Vorgänge schickt, in die Zeit, die einzi vorhandene Zeit des Gesamtgeschehens, sich einfügen müssen, um die Psychologie zur Naturwissenschaft zu machen, im Unterschied von einer solchen Wissenschaft des "Bewußtseins", die von vornherein ihren Standpunkt oberhalb der bloßen Tatsachenforschung nimmt.

Es ist nun gerade in letzter zeit der tiefe Unterschied zeitlicher und überzeitlicher Betrachtung bereits von so vielen Seiten und so ausgezeichnet dargelegt worden, daß man sich fast scheut, darüber noch weiter Worte zu machen. Doch ist andererseits das Vorurteil des Naturalismus so tief eingewurzelt, daß es immerhin angezeigt erscheint, einige wenige aber radikale Erwägungen diesem Fragepunkt zu widmen.

Gerade das Zeitbewußtsein selbst und die ihm zugrundeliegende merkwürdige "Tatsache" der Erinnerung beweist, wenn irgendetwas, das Bewußtsein nicht in jedem Sinn der Zeit unterworfen, sondern in sich überzeitlich ist. Ein "Vorgang", z. B. Bewegung, "ist" nur eben dann, wenn er ist. So ist gewiß auch der "Vorgang" des Sicherinnerns allemal auf einen bestimmten Zeitpunkt festzulegen; d. h. ich erinnere mich allemal jetzt. Aber in ihrem Inhalt reicht die Erinnerung über das Jetzt hinaus. Und zwar wirkt in ihr nicht bloß ein Vergangenes, also nicht jetzt Gegebenes, ins Jetzt hinüher, so wie in einem jetzt sich vollziehenden Bewegungsvorgang ein einem früheren Moment angehöriger Bewegungsimpuls fortwirkt; Erinnerung ist nicht bloß die Erhaltung eines Daseinsmomentes durch eine gewisse Zeit, gleich der Erhaltung der Bewegung oder der Energie; sondern in ihr ist ein Nichtjetzt, gerade als Nichtjetzt, dennoch jetzt mir gegenwärtig; ein Verhältnis, wie es in nichts, was als objektiver Vorgang in Zeit und Raum beschreiblich ist, auch nur entfernt ähnlich vorkommt oder überhaupt gedacht werden dürfte. Erinnerung ist eben nicht bloß eine Wiedervorstellung des schon einmal Vorgestellten, etwa wie in einer Kreisbewegung die gleiche Lage zum Zentrum (periodisch oder nichtperiodisch) wiederkehrt; sondern ihr wesentlich unterscheidendes Merkmal ist jene gewisse Gegenwart des Nichtgegenwärtigen, und als Nichtgegenwärtiges, vor dem Bewußtsein, welches die unerläßliche Voraussetzung dafür ist, daß etwas wie Zeit (die ja stets ein Jetzt und ein Nichtjetzt, und zwar das doppelte Nichtjetzt: das Früher und Später, einschließt) überhaupt nur denkbar ist. Also ist das Zeitbewußtsein selbst nicht bloß ein zeitliches, sondern überzeitliches Bewußtsein. Gerade an ihm beweist sich das Bewußtsein als eine Instanz oberhalb der Zeitordung des Geschehens.

Unter diese Instanz des überzeitlichen Bewußtseins aber fällt überhaupt alles, was über den Bereich der "Tatsache" (d. h. ja eben: des zeitbestimmten Seins) irgendwie hinausreicht. Es mag hier als beweislose Voraussetzung stehen, daß sich das alles auf ein Grundmoment reduziert, welches sich füglich als das des Tendierens bezeichnen läßt. Zielen, oder, um noch allgemeiner zu sprechen: Richtung nehmen kann man nur auf ein gewissermaßen draußen Liegendes; und dies wird zunächst stets ein Empirisches (Zeitbestimmtes) sein; aber eine Richtung begrenzt sich niemals in einem empirisch darstellbaren Moment, einem zeitlich bestimmten Punkt des erfahrbaren Bereichs, sondern besteht als solche ins zeitlich, also überhaupt empirisch Unbestimmte, "Unendliche" fort; so im Zeitbewußtsein eben die Richtung des Bewußtseins voraus (in die Zukunft) und zurück (in die Vergangenheit); so in aller noch so "theoretischen" Erkenntnis die Richtung auf Einheit, oder abe auf das zu vereinigende Mannigfaltige; so in der "praktischen" Erkenntnis die Richtung auf ein zu Verwirklichendes, Seinsollendes; woraus sich das "Sollen" als wohl gebräuchlichster Allgemeinausdruck des über das "Sein" (im Zeitsinn, d. h. im Sinne des punktuell, oder nur von Punkt zu Punkt des erfahrbaren Bereichs zu bestimmenden Daseins) hinausliegenden Gebiets versteht.

Wer sich nur ein einziges Mal diesen evident überzeitlichen Charakter des Bewußtseins klar gemacht und in seine schlichten Konsequenzen verfolgt hat, für die ist es schlechthin und auf immer ausgeschlossen, in einer Psychologie, welche das Bewußtsein selbst lediglich als Folge von Vorgängen in der Zeit behandelt, d. h. einer empirischen und damit naturwissenschaftlichen Psychologie, die letztgültige Darstellung des Bewußtseinsbestandes zu sehen. Diese Darstellung hat unter dem Gesichtspunkt der empirischen Konstruktion der Tatsächlichkeit ihr volles Recht, aber eben nur das Recht einer einseitigen Abstraktion. Nicht etwa die Philosophie hat aus einer falschen Vornehmheit, in einer törichten Flucht vor dem Positiven, die so verstandene Psychologie in ihren Hallen nicht dulden wollen, sondern diese selbst hat, indem sie sich auf die Abstraktionsstufe des zeitbestimmten Seins und damit auf den einseitigen Standpunkt einer naturalistischen Forschung festlegte, sich von der Philosophie geschieden, die ihrerseits eine solche Beschränkung der wissenschaftlichen Betrachtung ihrem ganzen Begriff nach nun einmal nicht mitmachen kann. So bestimmt sie, in KANT, den großen Satz von der Einheit der Erfahrung aufgestellt, so tief sie ihn begründet hat, so gewiß ist in "möglicher Erfahrung", d. h. Tatsachenwissenschaft, gerade dieser Begründung zufolge, der Bereich der Erkenntnis und also des Bewußtseins nicht erschöpft.

Aber vielleicht läßt der Begriff "Erfahrung" eine Erweiterung zu, nach welcher er nicht auf die Daseinsbestimmung, auf eine Feststellung von "Vorgängen" in der Zeit beschränkt bleibt, sondern den ganzen "positiven" Bereich der Erkenntnis umspannt, der zwar stets in einer Daseinsentwicklung und also in einer zeitlichen Auseinanderlegung, insofern empirisch, sich darbietet und aufzuzeigen ist, aber nicht darum au die zeitliche Geltung beschränkt bleibt, sondern sich in bestimmten Objektsetzungen nichtzeitlichen Charakters ausprägt. Der so erweiterten "Erfahrung" gehört diie gesamte positive Wirtschafts-, Rechts- und Erziehungslehre, gehört nicht weniger das Positive der Kunstwissenschaft, der Religionswissenschaft, aber als zu einem Kulturinhalt gehörig, als selbst empirisch gegeben, auch der ganze positive Lehrbestand der "theoretischen" Wissenschaften: Mathematik, Physik, Biologie und so schließlich auch der naturalistischen Psychologie an. Für das alles gibt es eine eigene, vielmehr nicht nur eine, sondern eine doppelte Methodik ansich nichtnaturalistischen Charakters: die "dogmatische" und die "historische". Für die erstere ist das Hinausgehen über den Gesichtspunkt des zeitbestimmten Daseins ohne Weiteres ersichtlich; die letztere nimmt die zeitliche Betrachtung allerdings auf und unterstellt ihr alles Positive, welches die "Dogmatik" aufweist; aber bei näheren Zusehen findet man, daß gleichwohl nicht die Zeitordnung des Geschehens als solche ihr Interesse und ihre eigentliche Frage bildet. Nicht, was vorher, was nachher war, und wie das Nachfolgende durch das Vorausgehende bedingt war, kurz die Zeitstelle der Ereignisse ist ihr wesentliches Interesse, vielmehr arbeitet sie gerade dahin, das zeitlich Zurückliegende für die Folgezeit, ja wenn es sein könnte für die Ewigkeit zu retten, die "Vergangenheit" vor dem "Vergang" gerade zu bewahren, Gegenwart und Zukunft durch sie zu bereichnern und über sich selbst zu erheben, also gerade die zeitliche Spaltung soviel wie möglich zu überwinden. Sie strebt das zeitlich sich Darstellende gerade nach seiner überzeitlichen "Geltung" zu erfassen, und es dadurch zu "verewigen". Einseitig aber wäre es dennoch, die "Geistes"- oder "Kulturwissenschaften" mit den historischen schlechthin zu identifizieren; vielmehr fällt deren ganzer Bereich immer unter diese beiden Betrachtungen, die historische und die dogmatische, d. h. überzeitlich konstruierende, und zwar so, daß die historische Betrachtung wesentlich nur eine Vorstufe, nur eine Bereitstellung des Materials für die dogmatische Betrachtung ist.

Sollte sich nun die Psychologie, als allgemeine Wissenschaft des Bewußtseins, des bewußten Seins, auf "Erfahrung" in jedem Sinn erstrecken (da doch "Erfahren" Erleben heißt, alles Erlebbare aber zum Bereich des Bewußtseins gehört)? Dann müßte sie am Ende alles Positive der Kulturwissenschaften, welches die Naturwissenschaften (die ja selbst Kulturfakta sind) gewissermaßen in sich begreift, das Positive dogmatischer wie auch historischer Ordnung, in sich aufnehmen. Sollte also die Psychologie etwa die universale Wissenschaft des Positiven sein? - Aber man rechnet doch auch auf dem Boden der naturalistischen Auffassung nicht zur Psychologie alles Positive der Naturwissenschaft; sondern so wie in den Schranken der Abstraktion des Naturalismus die Psychologie in der letzten Konkretion der Daseinsbestimmung ihre eigentümliche Aufgabe fand, so wird, nachdem diese Schranke gefallen ist, gegenüber dem nun erweiterten Bereich des Empirischen als des Positiven jeder Ordnung die Frage der Psychologie doch immer eine eigene bleiben, nämlich die nach der letzten Konkretion positiv bestimmten Bewußtseins überhaupt. Diese "letzte Konkretion", nach welcher die Psychologie zu fragen hat, müßte also vor allem beides: die gleichsam punktuelle Bestimmung des Daseins und die Richtungsbestimmung jenes überexistenziellen (unter historischer Betrachtung) Voraus- und Zurück- wie auch (unter dogmatischer Betrachtung) gleichsam Hinauf- und Herab-Tendierens streng in eins fassen. Wie diese letzte Konkretion genau zu verstehen, wie sie methodisch zu vollziehen und welches ihr eigentümlicher Erkenntniswert ist, ist hier nicht zu untersuchen. Ist dies aber überhaupt eine Aufgabe, so ist klar, daß sie zur Philosophie eine sehr enge und innerliche Beziehung haben wird, und zwar als ganze zur ganzen, und nicht bloß als Teilgebiet eines weiteren Bereichs (des Positiven überhaupt) nur zu einem Teil von ihr.

Auch bliebe dann zwar immer der Unterschied, daß Psychologie strang auf das Konkrete, also Positive, und zwar das letzte Positive, Philosophie auf die Einheit der Prinzipien gerichtet ist. Daher würde die Psychologie nach diesem erweiterten Begriff die subjektive Gegenseite nicht zur Philosophie allein, sondern zur gesamten objektivierenden Erkenntnis bilden und insofern selbst positive, nicht philosophische Wissenschaft sein. Doch würde es einen grundlegenden Teil von ihr geben, welcher zur Philosophie, als Grundlegung aller Objektivierung, sich genau so verhalten würde, wie die eigentliche, nämlich positive Psychologie zum Ganzen der positiven Wissenschaft. Beid, Empirie wie Philosophie zum Ganzen der positiven Wissenschaft. Beide, Empirie wie Philosophie, hätten ihre "konstruktive" und ihre "rekonstruktive" Seite; die rekonstruktive Seite der Empirie wäre nicht sowohl "empirische Psychologie" als auch "Psychologie des Empirischen"; die rekonstruktive Seite der Philosophie nicht sowohl philosophische Psychologie als auch Psychologie des Philosophischen, nämlich der reinen Erkenntnisprinzipien. Hätte die Psychologie nach dieser Vorstellung (um ein früher gebrauchtes Gleichnis wieder aufzunehmen) allgemein gleichsam den absteigenden Ast der Erkenntniskurve zu beschreiben, so würde, wie der Aufstieg die objektivierende Konstruktion jeder Ordnung, die empirische wie die philosophische (d. h. die Entwicklung der selbst ja höchst objektiven Gesetze aller empirischen Objektivierung) umfaßt, so der Abstieg die Rekonstruktion jeder Ordnung, und zwar zuerst die der Konstruktionen mit Prinzipiencharakter, danach die der empirischen umfassen müssen. Da aber der Prinzipien wenige, die empirischen Objektgestaltungen aber unabsehbar viele sind, so würde der weitaus größte Teil der psychologischen Untersuchungen der Empirie, ein viel geringerer, aber allerdings grundlegender Teil der Philosophie zufallen.

Es verhielte sich demnach mit der Psychologie auch nach dieser vielleicht radikalsten möglichen Vorstellung ihrer Aufgabe und ihres Verhältnisses zur Philosophie schließich doch nicht anders als mit irgendeiner sonstigen empirischen Wissenschaft: nur hinsichtlich ihrer Grundlegung in Prinzipien gehörte sie der Philosophie an. Auch dann würde es noch fraglich und schließlich der Willkür überlassen bleiben, ob man, wie etwa die philosophische Grundlegung der Rechtwissenschaft, als allgemeinste Lehre vom Recht, der Rechtswissenschaft, die philosophische Grundlegung der Naturwissenschaft, als allgemeinste Lehre von der Natur, der Naturwissenschaft, so die philosophische Grundlegung der Psychologie, als allgemeinste Lehre vom Psychischen, der Psychologie selbst zurechnen, oder sie als Philosophie (d. h. Prinzipienlehre) der Psychologie von der eigentlich so zu benennenden, nämlich positiven Psychologie absondern will. Worauf es aber, abgesehen von allem Streit um die Benennung, sachlich und entscheidend hier ankommt, ist, daß die Philosophie (d. h. Prinzipienwissenschaft) nicht weniger als die Empirie eine "konstruktive" und eine "rekonstruktive" Seite hat, und daß in der letzteren, nenne man sie nun philosophische Psychologie oder Philosophie der Psychologie, Philosophie und Psychologie sich in engster Weise aufeinander beziehen und ineinandergreifen müssen. Da aber in der Prinzipienlehre, ebenso wie in der gesamten Empirie, die "Konstruktion" und die "Rekonstruktion" in der Weise einander korrespondieren müssen, daß jede für die andere (obwohl in einem entgegengesetzten Sinn) "begründend" genannt werden kann (nämlich jene für diese im objektiven, diese für jene in einem subjektiven Sinn), so wird die Meinung, daß in irgendeiner letzten Betrachtung Philosophie überhaupt Psychologie ist oder werden muß, immerhin begreiflich, trotz allem, was von so vielen Seiten und so überzeugend richtig für die notwendig reine, psychologiefreie Begründung aller grundlegenden Philosophie beigebracht worden ist. Selbst von einer psychologiefreien Begründung der Psychologie könnte man mit gutem Gewissen reden, wenn nämlich damit gesagt sein soll (was ich mehrfach zu begründen und durchzuführen mich bemüht habe): daß eine Wissenschaft des Subjektiven nicht anders als auf dem Fundament der Wissenschaft des Objektiven, und als selbst fundamentale nur auf dem der reinen Grundwissenschaften der Objektivierung (etwa Logik, Ethik und Ästhetik) möglich ist: so würde doch das alles daran nichts ändern, daß diese reinen, grundlegenden Objektwissenschaften selbst, gerade indem sie eine ebenso grundlegende Wissenschaft vom Subjektiven - in einem objektiven Sinn der Begründung - begründen, zugleich ihre Begründung - in einem neuen, eigentümlichen Sinn an "subjektiver" Begründung - erhalten und sich insofern gleichsam in Psychologie zurückverwandeln; "zurück", sofern alle Objektivierung doch als Gegenseite das Subjektive von Anfang an voraussetzt, nur, eben als Objektivierung, es hinter sich läßt, von ihm zunächst zu abstrahieren hatte. In einem solchen Sinn würde dann die Psychologie (wie schon anfangs gesagt wurde) gewiß nicht das Fundament, wohl aber die Krönung der Philosophie und gewissermaßen ihr letztes Wort sein.

Solange jedoch diese sehr neue, sehr weitgehende und schwer durchzuführende Auffassung der Psychologie die Anerkennung erst zu erkämpfen hat, solange unter Psychologie eine reine Tatsachenwissenschaft, wenngleich unter allen Wissenschaften dieses Charakters die konkreteste, verstanden wird, bleibt es dabei, daß sie als solche nicht der Philosophie zugehört, weder sie begründen kann, noch auf sie irgendeine spezifische oder eminente Beziehung hat, sondern sich nur ebenso wie jede andere empirische, insbesondere zum Naturgebiet gehörige Sonderwissenschaft zu ihr verhält, daher auch nicht die Philosophie in ihr Lehrgebiet einschließen noch umgekehrt in das Lehrgebiet der Philosophie eingeschlossen sein, sondern allenfalls nur, wie jede andere empirische Wissenschaft, in Personalunion mit ihr sich verbinden kann.
LITERATUR - Paul Natorp, Philosophie und Psychologie, Logos, Bd. 4, Tübingen 1913
    Anmerkungen
    1) Paul Barth, in der "Akademischen Rundschau", Bd. 1, Heft 9, Leipzig 1913.