p-4K. MarbeF. HillebrandW. WundtF. KruegerJ. EisenmeierP. J. Möbius    
 
CARL GÜTTLER
Philosophie und Psychologie

"Wozu sich mit Aristoteles beschäftigen, welcher den tausendjährigen Irrtum der ontologischen Scheidung von Materie und Form auf dem Gewissen trägt, wozu Kant interpretieren, der schon zweihundert Jahre tot ist und dessen Vernachlässigung der Psychologie einen Grundschaden seines Philosophierens bildet? Wozu überhaupt Geschichte; Geschichte ist das Vergangene, Veraltete, Überlebte, ein System löst das andere ab, fahren wir darum lieber auf der neuen Bahn der Psychologie in das freie Forschungsfeld hinaus, das wird einer gesunden Fortentwicklung des Philosophierens förderlicher sein, als das Brüten über Codices oder die mikrologische Analyse der Vernunftkritik."

Die im November und Dezember des verflossenen jahres zugunsten des dritten Internationalen Kongresses für Psychologie in München gehaltenen Vorträge lassen es als wünschenswert erscheinen, die allmähliche Verselbständigung dieser Wissenschaft sowie ihre Lostrennung von der theoretischen Philosophie einmal klar vor Augen zu führen. Gibt es doch nicht wenige Leute, welche, unbekannt mit der überraschenden Entwicklung der Literatur, noch heute der Meinung sind, Psychologie sei ein wesentlicher Bestandteil der Metaphysik, bewege sich hauptsächlich um die Unsterblichkeit der Seele; wer also in der Philosophie Hervorragendes leistet, sei ohne weiteres den Philosophen alten Stiles beizuzählen, während beide Gebiete durchaus verschieden sind.

Die Darlegung gliedert sich am Besten nach folgende drei Gesichtspunkten: erstens, welche Aufgaben stellt sich die heutige Psychologie und wie sucht sie dieselben zu lösen, zweitens, welche wissenschaftliche Definition kommt der Psychologie zu, drittens, welches ist ihr Verhältnis zur Philosophie und welchen Platz nimmt sie als Lehrfach ein.


I.

Das charakteristische Merkmal der heutigen Psychologie besteht darin, daß sie ausschließlich induktive Phänomenologie ist, daß sie nicht von einer immateriellen, für sich bestehenden Seelensubstanz ausgeht, sondern daß sie eine "Psychologie ohne Seele", eine Erscheinungslehre des Bewußtseins sein will. Darin kommt zum Ausdruck, daß allerdings die seelischen Erscheinungen in ihrer gesetzmäßigen Aufeinanderfolge und Analyse unserer Erkenntnis sich erschließen können und werden, niemals aber der Träger dieser Erscheinungen. Das persönliche Ich des Menschen, die metaphysische Grundlage des alten Idealismus, gehört zu den unerkennbaren Rätseln, hier gibt es wohl eine Mythologie, aber keine Wissenschaft. Sollte wirklich eine derartige immaterielle Substanz existieren, so ist sie doch niemals von den somatischen Zuständen getrennt zu denken. Körper und Seele bilden eine unlösbare Einheit, wollen wir demnach die Natur der Seele erforschen, so geht der einzige wissenschaftliche Weg durch den Körper, mit anderen Worten: wer immer die Natur des lebenden Körpers untersucht - und dies sind vorzugsweise die praktischen Ärzte und Mediziner - der leistet auch der Psychologie wichtige Dienste, er ist in gewisser Beziehung Psychologe. Es ist darum keineswegs ein Zufall, daß in den sechs öffentlichen Vorträgen, welche von der "Psychologischen Gesellschaft in München" am Ende des Jahres 1895 veranstaltet worden sind, nicht weniger als vier berufsmäßige Vertreter der medizinischen Wissenschaft zu Wort gekommen sind, und daß wir unter dem Titel der "Psychologie" auch die Grundzüge der "neueren Forschungen und Lehren über den Bau der Nervenzentren" vernommen haben. (1)

Klarer als die einheimische Vortragsserie spricht sich über die Ziele und Wege der Psychologie das Arbeitsprogramm des internationalen Kongresses aus. Da ausdrücklich um Weiterverbreitung ersucht wird, sei das Wesentliche daraus mitgeteilt. Nach diesem Programm zerfällt die Psychologie in folgende vier Arbeitsgebiete:

1. Die Psychophysiologie umfaßt die Anatomie und Physiologie des Gehirns und der Sinnesorgane oder die körperlichen Grundlagen des Seelenlebens: Formentwicklung der Nervenzentren, Lokalisations- und Neuronenlehre; Leitungsbahnen und Bau des Gehirns, Funktion der Zentralteile, Reflexe, Automatismus, Innervation [Entstehung von Nervenimpulsen - wp] , spezifische Energien. Hierzu gesellt sich als zweiter Teil die Psychophysik oder der Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Vorgängen, kulminierend in Erörterungen über Sinnesphysiologie (Muskelsinn, Hautsinn, Gehörs- und Lichtempfindung), über physische Wirkungen bestimmter Arzneistoffe und über die Messung vegetatier Reaktionen (Atmung, Puls, Muskelermüdung).

2. Im zweiten Arbeitsgebiet finden wir "die Psychologie des normalen Individuums" vertreten. Auch hier handelt es sich zunächst noch um körperliche Vorgänge, nämlich um die Psychologie der Sinnesempfindungen und die sich daran anschließenden Vorstellungen und Gedächtnisbilder, sowie um die Gesetze der Assoziation. Weiter gehören hierher: Bewußtsein und Unbewußtes, Aufmerksamkeit, Gewohnheit, Erwartung, Übung, Raumanschauung des Gesichtes, des Getastes, sowie der übrigen Sinne, das Tiefenbewußtsein und die geometrisch-optischen Täuschungen. Die "Erkenntnislehre" handelt von der Tätigkeit der Phantasie, von den ästhetischen, ethischen und logischen Gefühlen, von Willensgefühlen und Willenshandlungen, von Ausdrucksbewegungen, zuletzt auch vom Selbstbewußtsein und der Entwicklung der Persönlichkeit. An dritter Stelle wird der Hypnotismus, Schlaf, Traum und die Suggestion in ihrer forensischen wie pädagogischen Bedeutung der Psychologie des normalen Individuums angereiht.

3. Ist den beiden ersten Teilen dieses Arbeitsgebietes ein philosophischer Inhalt nicht abzusprechen, so macht uns das dritte Gebiet, die Psychopathologie mit den Nachtseiten der menschlichen Natur bekannt. Dem "normalen Individuum" wird fast unheimlich zumute, wenn ihm hier die Erblichkeit auf psychologisch-pathologischen Gebiet, die psychopathische Minderwertigkeit, die Entartung in ihrem Verhältnis zum Genie, sittliche und soziale Bedeutung der Erblichkeit etc. klar gelegt werden soll. Noch weniger Anmutendes läßt die Psychologie des Krimalrechts und der Sexualempfindungen ahnen. Hysterie und Epilepsie, psychische Ansteckung, Telepathie, pathologischer Hypnotismus, psychischer Transfer, Halluzinationsstatistik, Zwangsvorstellungen, Aphasie und Ähnliches bilden die Objekte der Forschung. Steht das erste Arbeitsgebiet unter dem Zeichen des Leichensaales, so atmen wir im dritten die Luft der Gefängnisse, Krankenhäuser und Irrenanstalten.

4. Verhältnismäßig harmlos nimmt sich das vierte und letzte Arbeitsgebiet, die vergleichende Psychologie aus. Gegenstand derselben bildet die Entwicklung im Seelenleben des Kindes, die Psychogenesis, die psychische Begabung der Tiere, die Völkerpsychologie und die vergleichende Schriftforschung oder die Psychologie der Graphologie. Der spiritistischen Mystik und der theosophischen Reinkarnation gönnt das Programm keinen Platz, obwohl gerade in München einige Hauptapostel dieser Gemeinde ansässig sind und ursprünglich zwischen den Spiritismusgläubigen und der "Psychologischen Gesellschaft" engere Beziehungen bestanden haben. Ebenso fehlt jener Zweig, von dem FRANZ BRENTANO 1874 prophezeit hat, daß er sich in Zukunft gleichfalls der Psychologie unterordnen wird, die Staatskunst, d. h. die Regierung des Staates gemäß den Prinzipien einer wissenschaftlich geläuterten Induktionspsychologie (2).

Soweit das Arbeitsprogramm. Ein Blick darauf zeigt, daß wir es hierbei mit neuen, höchst achtenswerten und wichtigen Sphären menschlichen Erkennens zu tun haben, die sich aber den überlieferten Begriffsmerkmalen der Psychologie nur schwer angliedern. Tatsächlich stellt ja jede Handlung des Menschen ein psychisches Phänomen dar, insofern jede ein vorstellendes und wollendes Subjekt logisch voraussetzt, wollte man nun aber sämtliche Vorgänge, oder wie der Ausdruck lautet: alle "Ereignisse" des Tages, die vegetativ-animalischen wie die noetischen [Lehre vom Erkennen geistiger Gegenstände - wp], als Objekte der Psychologie betrachten, so müßte ein Tohuwabohu [Durcheinander - wp] entstehen, in dem wir uns vor lauter Psychologie nicht mehr zu retten wüßten. Man berücksichtigt eben bei der Subordination dieser Arbeitsgebiete unter die Psychologie zu wenig, daß es sich allenthalben noch um das vorbereitende Stadium der Induktion handelt, während dem Begriff der Psychologie doch auch eine deduktive Bedeutung zukommt, insofern alle Forschung erst aufgrund einer bereits vorhandenen, mit Urteilskraft ausgestatteten Psyche in Angriff genommen werden kan. Nicht minder läßt man außer Acht, daß die Bearbeitung dieser zum Teil problematischen Gebiete dem an der Grenze des Wissens arbeitenden Gelehrten zufällt, daß aber von einer einheitlichen Wissenschaft der Psychologie solange keine Rede sein kann, als man über den Wert der Methoden und der methodischen Hilfsmittel hin und her streitet.

Wollte man wirklich diese Art von Psychologie für einen verspäteten Abkömmling der antiken oder der modernen Philosophie erklären, so würde sich changement des places [Ortswechsel - wp] in den Auditorien der Universitäten empfehlen. Jeder Philosoph, der noch sachlich mitreden will, hätte seine Studien mit einer Vorlesung über Anatomie und einem praktischen Sezierkursus zu beginnen. Hat er sich über den Bau und die Funktion der Nerven und Muskeln orientiert, so wandert er in das physiologische Institut und studiert dort die Einrichtung und Wirksamkeit der Sinnesorgane. Hierauf empfängt ihn das physikalische Kabinett, in welchem er über die Stufen und Ursachen der Tonverschmelzung, über die individuellen Unterschiede im Analysieren und Heraushören von Tönen über Licht- und Tastreiz demonstrativ belehrt wird, er lernt die Bedingungen kennen, unter welchen das "Fechner'sche Gesetz" gilt und die bei weitem häufigeren Fälle, in denen es nicht gilt, und hätte er überflüssig Zeit, so wäre ein zeitweiser Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik zwecks praktischen Studiums der Willensdefekte gleichfalls angezeigt. In dieser Weise ausgerüstet, tritt der Kandidat der Philosophie schließich an die einleitende Grundwissenschaft, an die Psychologie heran. Erst jetzt ist er in der Lage, die Wege und idealen Ziele dieser Wissenschaft zu verstehen, und erst jetzt begreift er, daß alles, was ehedem Logik, Ästhetik, Ethik, Metaphysik, Rechts- und Religionsphilosophie von der Psychologie abgetrennt wurde, in nuce [im Kern - wp] bereits darin enthalten ist. Glücklicherweise ist die synthetische Verwandtschaft zwischen Philosophen und Medizinern aufgrund der Psychologie eine gegenseitige. Gleichwie der Nachkomme des ARISTOTELES ohne Kenntnis von Innervation und Muskelsinn schon im Beginn die richtige Eingangspforte verfehlen würde, so bedarf der Jünger des GALEN, welcher über "Willensfreiheit" zu sprechen unternimmt, doch wohl einiger Vorkenntnisse dessen, was seit dem Altertum bis auf SCHOPENHAUER herab darüber geschrieben wurde. Er wird sich veranlaßt sehen, außer seinem ärztlichen Beruf der Geschichte der Philosophie und Metaphysik einige Aufmersamkeit zu widmen, und so wird dann schließlich der Philosoph die medizinischen, und der Mediziner die philosophischen Vorlesungen besuchen, die Kombination "Doktor der Medizin und der Philosophie" wird die Regel bilden, falls nicht beide Jünger der Wissenschaft in angenehmer Erinnerung an die erste Satire des HORAZ vorziehen sollten, sich zunächst auf dem Gebiet gründliche Kenntnisse zu verschaffen, in welchem sie Neigung und Beruf von Anfang an gestellt haben.

In der Tat, der böse Vorwurf des Dilettantismus wäre die unausbleibliche Folge, wenn man ohne jede Rücksicht auf Geschichte und Metaphysik unternehmen wollte, mit dem Zauberwort "empirische Psychologie" die vielen tausend Rätsel des menschlichen Daseins zu lösen. Deswegen bildet es ein Zeichen gesunden Urteils, wenn das eifrige Werben der "Psychologisten" um die Gunst von Physikern, Physiologen und Ärzten mitunter einigem Mißtrauen begegnet. Man sagt sich in diesen Kreisen wohl nicht mit Unrecht, daß weder der gute Wille, noch praktische Übung ausreichen, den "Philosophen" zu einem berufsmäßig forschenden Empiriker umzugestalten, und daß für gewöhnlich auch dem Mediziner oder Physiker jene Orientierung fehlen wird, die ihn berechtigt scheinen läßt, in metaphysischen Fragen von höchster Bedeutung ein entscheidendes Urteil zu fällen. Ausnahmen werden bereitwilligst zugestanden, aber es sind Ausnahmen. - Dies führt uns zur zweiten der aufgeworfenen Fragen: welche technische Definition der Psychologie in den Fachkreisen heute die maßgebende ist.


II.

Die Definition einer Wissenschaft scheint an die erste Stelle zu gehören, da anzunehmen ist, daß man hierüber einig ist; indessen erhellt sich schon aus der Abgrenzung der psychologischen Arbeitsgebiete durch Beiworte wie "physiologisch", "normal", "pathologisch", "individuell", "vergleichend" daß, ganz abgesehen von der alten Unterscheidung zwischen "rationaler" und "empirischer Psychologie", in dieser letzteren mindestens drei Richtungen um den Vorrang streiten. Die physiologische Psychologie legt den Hauptnachdruck auf die Physiologie und will das Seelenleben in allen seinen Vorstellungen wie Handlungen auf materielle Reize und Empfindungen gründen; die Psychologie des normalen Individuums betrachtet die Physiologie nur als eine ergänzende, aber nicht präponderierende [überwiegende - wp] Hilfswissenschaft, die psychophysische Psychlogie schließlich hat den strengen Parallelismus sämtlicher physischer und psychischer Zustände, die mächtigsten Geistesäußerungen der Genialität und Offenbarung nicht ausgeschlossen zur Voraussetzung. Einig ist man nur in der Ablehnung jeder Art von spiritualistischer Psychologie älteren Datums, welche in der Seele des Menschen eine substantia cogitans per se existens [von selbst existierende denkende Substanz - wp] sieht, sowie in der Forderung einer induktiven Methode nach Analogie der Naturwissenschaft. Nicht deswegen ist das Studium der Psychologie von besonders hohem Wert, weil wir daraus einen Beitrag für unsere Weltanschauung gewinnen können, sondern weil die seelischen Phänomene nichts anderes sind als Naturerscheinungen, die samt und sonders mit der Unparteilichkeit und Objektivität des Naturforschers untersucht werden müssen. Die Psychologie steht, wie es heißt, an einem Punkt, wo sich Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft schneiden, wo die eine in die andere übergeht.

Der Anspruch, die Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode zu behandeln und sie auf diese Weise ihres "romanhaften Charakters" zu entkleiden, geht, von der ausländischen Literatur abgesehen, in Deutschland bis auf EDUARD BENEKE (1798-1854) zurück; derselbe schreibt der Psychologie eine größere Unmittelbarkeit der Auffassung zu, infolge deren sie zu weit schnelleren und ausgedehnteren Fortschritten gelangt, als die übrigen Naturwissenschaften. Auch HERBART und seine Schule kann hierher gerechnet werden, wenngleich beide Männer ihre eigenen metaphysischen Voraussetzungen in die empirische Seelenlehre hineintragen. Eine wirklich experimentelle Methode ist erst durch FECHNER und WUNDT geschaffen worden. In ihren Anfängen bis in das 18. Jahrhundert (HARTLEY, PRIESTLEY, BONNET, TETENS) zurückgehend, basiert diese Richtung auf der Annahme, daß jedem durch innere Wahrnehmung erkennbaren psychischen Vorgang eine physische und physiologische Begleiterscheinung parallel geht. Sehr Vieles, was man sonst als Wirkung einer immateriellen Seelensubstanz zuschrieb, z. B. Reflexbewegungen und Automatismus wird völlig in den Bereich der Physiologie verwiesen. (3) Es besteht ferner zwischen körperlichen Affektionen und psychischen Vorgängen ein dem Experiment zugänglicher Zusammenhang. Zwischen Lichtreizen und Farbempfindungen, Tonintervallen und Klangwirkungen, zwischen Reizzuwachs und Empfindungsintensität lassen sich mathematisch darstellbare Proportionen konstruieren. Dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis, die Möglichkeit, sowohl das Beobachtungsmaterial wie den psychischen Zustand des Beobachters künstlich zu variieren und zu messen, die Wiederholung eines Experiments unter den verschiedensten Bedingungen bildet das eigentliche Kriterium der Psychophysik. Die notwendige Folge der Theorie ist und war, die Einrichtung psychophysischer oder psychologischer Institute, die Anschaffung von Instrumenten, Apparaten und technischen Hilfsmitteln, die in Anbetracht der Neuheit des Forschungsobjekts nicht selten erst erfunden und auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft werden müssen. Wo Laboratorien und Praktikanten sind, stellt sich naturgemäß auch das Bedürfnis von Assistenten und Dienern ein, kurz: die Psychologie ist mit der Anwendung einer experimentellen Methode der sinnlichen Anschauung aus der Philosophie herausgetreten und hat sich der Physik und Chemie angeschlossen.

Was alles in einem derartigen Laboratorium Objekt der Forschung sein kann, zeigen die Inhaltsverzeichnisse der von WUNDT herausgegebenen "Philosophischen Studien", Bd. IX, (1894) enthält "Untersuchungen über die Parallaxe des indirekten Sehens und die spaltförmige Pupille der Katze"; "akustische Versuche an einer labyrinthlosen Taube", einen Artikel über "die Wirkung des Kokain und der Gymnemasäure auf die Schleimhaut der Zunge". Band X gibt unter anderem eine "Beurteilung der zusammengesetzten Reaktion", "Beiträge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinns" und "Untersuchungen über die Gefühlsbetonung der Farben, Helligkeiten und ihren Kombinationen". Band XI (1895) veröffentlich "Versuche mit Mossos Sphygmomanometer über die durch psychische Erregungen hervorgerufenen Veränderungen des Blutdrucks beim Menschen", eine andere Abhandlung verbreitet sich über "die Wirkung akustischer Sinnesreize auf Puls und Atmung", eine zweite über den "Metallglanz und die Parallaxe des indirekten Sehens", eine dritte über die "Trugwahrnehmung zweier Punkte bei der Berührung eines Punktes der Haut" usw., Abhandlung wirklich philosophischen Inhalts bilden die verschwindende Ausnahme.

Es gereicht dem Genie KANTs zum Ruhm, daß er die heutige Sachlage der Dinge schon vor hundert Jahren richtig vorausgesagt hat. In der "Architektonik der reinen Vernunft" wirft er die Frage auf, welchen Platz die empirische Psychologie einzunehmen hat, "von welcher man in unseren Zeiten große Dinge zur Aufklärung der Metaphysik erwartet hat, nachdem man die Hoffnung aufgab, etwas Taugliches a priori auszurichten". Die Antwort lautet (4):
    "Die empirische Psychologie muß aus der Metaphysik gänzlich verbannt sein und ist schon durch die Idee derselben gänzlich ausgeschlossen. Gleichwohl wird man ihr nach dem Schulgebrauch noch immer (wenn auch nur als Episode) ein Plätzchen darin verstatten müssen, und zwar aus ökonomischen Bewegursachen, weil sie noch nicht so reich ist, daß sie allein ein Studium ausmachen und doch zu wichtig, als daß man sie ganze ausstoßen oder anderwärts anheften sollte, wo sie noch weniger Verwandtschaft als in der Metaphysik antreffen dürfte. Es ist also bloß ein solange aufgenommener Fremdling, dem man auf einige Zeit einen Aufenthalt vergönnt, bis er in einer ausführlichen Anthropologie (dem Pendant zur empirischen Naturlehre) seine eigene Behausung wird beziehen können."
Müssen wir KANTs Worten vollkommen beipflichten, so frägt es sich, ob die Psychologie der Gegenwart, sei sie nun eine physiologisch-anatomische oder eine psychophysische oder eine "introspektive" der inneren Erfahrung, diesen Mängeln abgeholfen hat, ob sie die Metaphysik wirklich perhorresziert [ablehnt - wp] und völlig zur Naturlehre übergetreten ist. Die Antwort lautet entschieden verneinend, keine einzige der genannten Richtungen entspricht dieser Erfordernis. Die physiologische Psychologie, welche die Kausalität des Seelenlebens auf der physischen Seite sucht, bewegt sich metaphysisch in den ausgetretenen Geleisen des Materialismus. Die Psychophysik verlangt in der "Apperzeption" ein Prinzip, welches bei WUNDT zur Begründung der "Aktualitätstheorie" und des "Voluntarismus" dient, die introspektive Psychologie schließlich lehnt sich an die ältere Theorie der Seelenvermögen im Sinne BENEKEs an und ergänzt die Lücken in der "inneren Erfahrung" durch ein Unbewußtes, welches allen bewußten Vorgängen zugrunde liegt und sie begleitet.
    "Aus dem Unbewußten erhebt sich das Bewußte, wenn das Glück günstig ist und sinkt dann wieder ins Unbewußte zurück."
Was aber ist dieses Unbewußte, welches hinter den Vorstellungen und Empfindungen wirkt, anderes, als die alte Seelenhypothese in moderner Form? Entweder bleibt die experimentelle Psychologie im Bereich sinnlicher Erfahrung, dann kann sie nur eine analysierende und beschreibende Wissenschaft sein, oder sie strebt, kraft einem dem Menschen eigenen Einheitstrieb, im Weg des Nachdenkens und der Hypothese die Ursachen der Erscheinungen kennenzulernen, dann sieht man nicht ein, was sie an Evidenz vor der älteren spekulativen Methode voraus haben sollte.

In welch geringem Grad diese so viel gerühmte Klarheit und Sicherheit vorhanden ist, zeigt am Besten der unter den Psychologisten herrschende Streit. In einem der neuesten Hefte der "Philosophischen Studien" verbreitet sich WUNDT ausführlich über die Definition der Psychologie. (5) Er gibt zu, daß die Psychologie auf dem Weg ist, sich aus einem Teilgebiet der Philosophie in eine selbständige positive Wissenschaft umzuwandeln. In demselben Maß wie die spekulativen Richtungen auf eine grundlegende Definition entscheidenden Wert legten, wird in der neueren empirischen Psychologie eine solche entweder durch den Hinweis auf die Aufgabe einer Analyse der Entstehung der Erfahrung überhaupt, oder durch eine provisorische Begriffsbestimmung nach Analogie der Definitionen naturwissenschaftlicher Gebiete ersetzt. Desgleichen räumt WUNDT ein, daß der Psychologe, auch wenn er verspricht, unter empirischer Flagge zu segeln, selten verfehlt, schon auf den ersten Seiten seines Werkes sein metaphysisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Es werden alsdann zwei total verschiedene Definitionen der Psychologie unterschieden; die erste umfaßt die psychischen "Erlebnisse" in ihrer Abhängigkeit von einem körperlichen Individuum, die Vollendung dieser Aufgabe macht aus der Psychologie ein Anwendungsgebiet der Physiologie. Die zweite Definition dagegen gibt über die Wechselbeziehungen der subjektiven und objektiven Faktoren der unmittelbaren Erfahrung, über die Entstehung der einzelnen Inhalte der letzteren und ihre Zusammenhang Rechenschaft, ihre Erkenntnisweise ist eine unmittelbare. Hieraus folgt, daß die Psychologie eine der Naturwissenschaft koordinierte Erfahrungswissenschaft ist, und daß die Betrachtungsweisen beider einander in dem Sinn ergänzen, daß sie zusammen erst die ganze mögliche Erfahrungserkenntnis erschöpfen. Nur die zweite dieser Definitionen entspricht der Aufgabe, die wir gegenwärtig der Psychologie stellen müssen, die erstere erklärt WUNDT für unhaltbar.

Ob nun tatsächlich die psychischen Erlebnisse derartig fest und scharf umgrenzte sind, daß man ihre Analyse mit der Analyse eines Mineralkörpers vergleichen könnte, ob nicht vielmehr überall der subjektive Erkenntnisfaktor mit all seinen Fehlerquellen sich bei der unmittelbaren Erfahrung weit mehr in den Vordergrund drängt, als bei der mittelbaren, aber desto objektiveren Erkenntnisweise der Naturwissenschaft, mag unerörtert bleiben. Es genügt das Zugeständnis WUNDTs, daß eine etwaige Definition der modernen Psychologie immer nur den Ausgangspunkt derselben und den zunächst einzuschlagenden Weg bezeichnen kann, wobei der psychophysische Parallelismus als ein Hilfsprinzip in Anspruch genommen wird, mit anderen Worten: die neuere Psychologie befindet sich noch im Stadium des Ringes nach allseitig anerkannten Grundprinzipien und hat trotz allen Geredes über Experiment und unmittelbare Erfahrung die "eigene Behausung" auch heute noch nicht bezogen.

Dieselben prinzipiellen Fragen sind jüngst auch von DILTHEY in einer längeren Abhandlung, betitelt "Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie", einer Kritik unterzogen worden. (6)
    "Ein Kampf aller gegen alle" heißt es da, "tobt auf dem Gebiet der erklärenden Psychologie nicht weniger heftig als auf dem der Metaphysik. Noch ist nirgends am Horizont etwas sichtbar, was diesen Kampf [wundt] zu entscheiden die Kraft haben möchte. Zwar tröstet sie sich mit der Zeit, in welcher die Lage der Physik und der Chemie auch nicht besser schien; aber welche unermeßlichen Vorteilen haben diese vor ihr voraus im Standhalten der Objekte, im freien Gebrauch des Experiments und der Meßbarkeit der räumlichen Welt! Zudem hindert die Unlösbarkeit des metaphysischen Problems vom Verhältnis der geistigen Welt zur körperlichen, die räumliche Durchführung einer sicheren Kausalerkenntnis auf diesem Gebiet. Niemand kann sagen, ob der Kampf der Hypothesen jemals in der erklärenden Psychologie beendet wird und was das geschehen mag."
Hypothese ist nach DILTHEY die Lehre vom Parallelismus der Nervenvorgänge und der geistigen Vorgänge, Hypothese die Zurückführung der Bewußtseinserscheinungen auf atomartig vorgestellte Elemente, Hypothese die Konstruktion aller seelischen Erscheinungen durch die beiden Klassen der Empfindungen und der Gefühle, wodurch das mächtige Wollen zu einem sekundären Schein wird, Hypothese die Zurückführung der höheren Seelenvermögen auf die Assoziation, Hypothese die Ableitung des Selbstbewußtseins aus psychischen Elementen, kurz: Hypothesen über Hypothesen, und zwar nicht als untergeordnete Bestandteile, wie sie im wissenschaftlichen Gedankengang unvermeidlich sind, sondern Hypothesen, welche als Elemente der Kausalerklärung die Elemente aller seelischen Erscheinungen ermöglichen und an sich an ihnen bewähren sollen. Auch über die Verwendung des Experiments denkt DILTHEY sehr pessimistisch. Das Experiment erweist sich allerdings auf dem Grenzegebiet des Natur- und Seelenlebens in ähnlicher Weise der Hypothese dienstbar, wie im Naturerkennen. In den Zentralgebieten der Psychologie ist nichts hiervon zu bemerken. Insbesondere die für die konstruktiv-erklärende Psychologie entscheidende Frage nach den ursächlichen Verhältnissen, welche die Beeinflussung bewußter Prozesse vom erworbenen seelischen Zusammenhang her, sowie die Reproduktion bedingen, ist ihrer Lösung noch um keinen Schritt näher geführt worden. Die Hypothesenverbindungen der erklärenden Psychologie haben, weil deren Vertreter ganz blind sind für das, was ihnen widerspricht, weil sie das der Hypothese Verderbliche oder Heterogene gar nicht an sich herankommen lassen, keine Aussicht, jemals zum Rang, den naturwissenschaftliche Theorien einnehmen, erhoben zu werden (a. a. O., Seite 1315).

Nun wäre hiermit eine Art von wissenschaftlichem Bankrott in der Psychologie ausgesprochen, wenn es nicht neben der unzulänglichen, konstruktiven Psychologie noch eine zergliedernde oder beschreibende gäbe. DILTHEY versteht darunter die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist (a. a. O., Seite 1322). An die Beschreibung und das tatsächliche Erleben dieser seelischen Zusammenhänge schließt sich die Erkenntnislehre an.

EBBINGHAUS, der Mitherausgeber der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane", hat nachzuwweisen versucht, daß zwischen der konstruktiv-erklärenden und der analytisch-beschreibenden Psychologie durchaus kein so erheblicher Unterschied obwaltet, wie DILTHEY annimmt (7). Dieses letztere zeigt gleichfalls erhebliche Lücken in der Erfahrung und die Ergänzungen, welche DILTHEY einführen will, seien genauso hypothetisch, wie die Konstruktionen der Erklärungspsychologen. Was man auch gegen Experimente und Messungen einwenden mag, die Möglichkeit einer exakten Verifikation psychischer Vorgänge hat dadurch eine ungeheure Steigerung erfahren. Der Haupteinwand, welchen EBBINGHAUS in gesperrtem Druck hervorhebt, besteht aber darin, daß die Unsicherheiten der Psychologie gar nicht erst mit ihren Erklärungen und hypothetischen Konstruktionen, sondern bereits mit der einfachen Feststellung des Tatbestandes beginnen. Die gewissenhafteste Befragung der inneren Erfahrung liefert dem Einen dieses, dem Anderen ein anderes Ergebnis. Die Frage, was ist Aufmerksamkeit, erhält die verschiedenartigsten Antworten. FECHNER bezeichnet sie als starke "Erhebung von Vorstellungen über die Bewußtseinsschwelle", STUMPF als "Lustgefühl am Bemerken eines Inhaltes", WUNDT als "innerliches Wollen oder willentliches Verhalten" (8). Dasselbe gilt vom Willensakt. Ist er eine eigenartige, nicht weiter analysierbare psychische Realität neben Empfindungen, Vorstellungen und Gefühlen oder eine eigenartige Kombination dieser Elemente? Eine einstimmige Antwort gibt es nicht und so kommt dann die beschreibende Psychologie des Tatbestandes gleichfalls nicht zu der erwünschten wissenschaftlichen Sicherheit.

Wenn das aber alles zutrifft, wenn es allgemein gültige Grundtatsachen des Seelenlebens nicht gibt, müssen wir dann nicht umso mehr zweifelhaft werden, der Psychologie den Wert einer Grund- und Zentralwissenschaft einzuräumen? Wo steckt denn in ihr jener großartige Zug ins Allgemeine, der uns in den Systemen von PLATO bis auf NIETZSCHE herab als das Interessantes in der Philosophie dünkt? Oder sollen etwa die dem einzelnen Psychologen überlassenen sinnlichen Ergänzungen der unmittelbaren Erfahrungen dafür einen Ersatz bilden?

Es würde nicht schwer fallen, eine ganze Anzahl erheblicher Differenzen nachzuweisen, sobald der Übergang der Psychologie zu irgendeiner Metaphysik sich vollziehen soll. Sind die intellektuellen Prozesse des Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens, das Fundament aller übrigen, oder haben wir die Triebe, Leidenschaften, Affekte, Gefühle als das Primäre in unserer inneren Erfahrung anzusehen, ist der sogenannte Intellektualismus oder der Voluntarismus im Recht, oder kann weder der eine noch der andere als schlechthin primär gelten, und haben sie alle beide ein gemeinsames Element zur Voraussetzung? Wäre nicht vielleicht die Substanzlehre LOTZEs eine gute Seite abzugewinnen oder müssen wir uns lediglich an jene "Aktuatlitätstheorie" halten, welche die gesamte Wirklichkeit des geistigen Geschehens, wie es unmittelbar erlebt wird, mit dem Namen Seele belegen? Der Probleme wäre kein Ende, sobald wir das Gewand der Empirie abstreifen und uns allgemeinen Gesichtspunkten zuwenden. Damit gelangen wir zur letzten der im Eingang aufgeworfenen Fragen, dem Verhältnis der experimentellen Psychologie zur Philosophie und der praktischen Folge, welche Stellung dieselbe im Lehrplan einer Universität einzunehmen hat.


IIIa.

    "Es ist eine interessante Beobachtung, welche man über die Beziehung der Philosophie zu den Forschern der Naturwissenschaft machen kann. Letztere arbeiten unmittelbar an der Quelle der Erkenntnis, sie machen sich mit den Tatsachen unseres Wissens zuerst bekannt (9) und mit ihrer Hilfe werden diese Tatsachen den Übrigen geliefert; und doch sind es die Philosophen, die dieselben erst methodologisch richtig deuten und die Schlüsse ziehen, welche die Naturforscher nicht gezogen oder zu ziehen nicht verstanden haben. Die Physiologen und Psychiater sind es, welche das Hauptmaterial der modernen psychologischen Forschung geliefert haben, aber mit einer solchen Masse von Vorurteilen und mit einer solchen populären Beleuchtung, daß es die erste Aufgabe des philosophisch geschulten Kritikers sein muß, dieses Beobachtungsmaterial gehörig zu bearbeiten, um dasselbe weiter brauchen zu können."
In dieser Weise äußert sich einer der allerneuesten Schriftsteller über die physiologische Psychologie in Deutschland.

Der Psychologe soll philosophisch geschult sein? Sicherlich, aber durch welche Disziplinen, wenn die Psychologie sich in einer gewaltigen Überschätzung ihrer Resultate selbst für die einleitende Grund- und Zentralwissenschaft ausgibt? Jahrhunderte hindurch hat man die formale Logik und Erkenntnislehre als besonders schulend erachtet. Wenn nun heute die Psychologie nicht bloß für Logik und Erkenntnistheorie, sondern ebenso für Ethik und Ästhetik Mutterrechte geltend macht, wenn das überlieferte Verhältnis zwischen Metaphysik und Psychologie auch vor dem letzten Schritt nicht zurückschreckt, wenn sie die Philosophie in ihrem gesamten Umfang als "Wissenschaft des Geistes", d. h. wieder als Psychologie definiert, woher soll die Schulung kommen? Ein unheilbarer Zirkel und das Zusammenfließen aller bisher für relativ selbständig erachteten philosophischen Lehrfächer, - Verwirrung gepaart mit Verworrenheit, - wäre die unmittelbare Folge.

Vorsichtigerweise will diese psychologische Philosophie oder philosophische Psychologie mit der Naturwissenschaft nichts zu tun haben und unternimmt mit der Behauptung, Philosophie sei ausschließlich "Wissenschaft des Geistes", eine radikale Änderung der alten universellen Definition, welche in der Philosophie das geistige Band aller einzelnen Wissenschaften, sie mögen heißen wie sie wollen, erblickt hat. Die Philosophie soll in der Naturwissenschaft gar nichts mehr zu sagen haben, während gerade die Naturwissenschaft in Gestalt von Anatomie, Physik, Physiologie und Psychiatrie die Basis der Psychologie bildet und von dort her die experimentelle Methode entlehnt hat.

Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Vereinfachung der Definition ein zweiter Vorteil. Bildet die "Wissenschaft des Geistes" Fundament und Zentrum der Philosophie, so müsen die reproduktiv-exegetischen [interpretatorischen - wp] Forschungen zurücktreten, man kann sie den Alt- und Neuphilologen überlassen, es genügt ein Abriß der in der Geschichte aufgetretenen philosophischen Systeme, ja es kann die Geschichte der Philosophie ohne besonderen Nachteil auch ganz und gar in Wegfall kommen. Wozu sich mit ARISTOTELES beschäftigen, welcher den tausendjährigen Irrtum der ontologischen Scheidung von Materie und Form auf dem Gewissen trägt, wozu KANT interpretieren, der schon hundert Jahre tot ist und dessen "Vernachlässigung der Psychologie" einen "Grundschaden seines Philosophierens" bildet? Wozu überhaupt Geschichte; Geschichte ist das Vergangene, Veraltete, Überlebte, ein System löst das andere ab, fahren wir darum lieber auf der neuen Bahn der Psychologie in das freie Forschungsfeld hinaus, das wird einer gesunden Fortentwicklung des Philosophierens förderlicher sein, als das Brüten über Codices oder die mikrologische Analyse der Vernunftkritik. EDUARD ZELLER, PRANTL, KUNO FISCHER, VAIHINGER, BENNO ERDMANN, COHEN und so viele andere, von den Neuperipatetikern und den Neuscholastikern ganz abgesehen, sie alle sind im strengen Sinn des Wortes wohl Geschichtsschreiber der Philosophie, aber keine "Philosophen".

Konsequenz wird man dieser Ansicht nicht absprechen dürfen, daß sie sich auch mit einer unwissenschaftlichen Intoleranz verbindet, gehört zu ihren weniger angenehmen psychischen Eigentümlichkeiten. Zum Glück steht sie aber vereinzelt da. Die überwiegende Majorität der heutigen "Psychologisten" ist von der Überzeugung durchdrungen, daß eine Disziplin, welche ohne Laboratorium und Apparate nicht vorwärts kommen kann, entweder schon eine positive Einzelwissenschaft geworden ist, oder im Begriff steht, es zu werden. OSWALD KÜLPE, ein aus der experimentellen Schule WUNDTs hervorgegangener Psychologe, bemerkt über das Verhältnis zwischen Psychologie und Philosophie Folgendes (10):
    "Daß alle erwähnten Forschungsgegenstände (siehe das Arbeitsprogramm des Kongresses) in eine einzelwissenchaftliche und nicht in eine philosophische Psychologie hineingerechnet werden müssen, ist schon daraus klar, daß es sich hier wie bei den sogenannten Naturphänomenen um letzte schlechthin gegebene Tatsachen handelt. Nach der Bestimmung der Philosophie als einer Wissenschaft der Prinzipien wird man ihr ein solches Gebiet nicht zuteilen dürfen. In den Kreisen der experimentellen oder physiologischen Psychologie herrscht darüber auch allgemeine Übereinstimmung."
KÜLPE weist ihr all jene Gebiete zu, die wir bereits durch DILTHEY als "Hypothesenverbindungen der erklärenden Psychologie" kennengelernt haben: die Begriffe der psychischen Kausalität, des psychischen Maßes, das Bewußtsein und das Unbewußte, das Verhältnis zwischen Seele und Körper, die Prüfung der Theorien über Raum- und Zeitvorstellung, über Sinnesempfindung, über Assoziation. Allein ist diese psychologische Philosophie auch wirklich eine "Philosophie des Geistes" oder der Geisteswissenschaften? KÜLPE verneint es,
    "sie kann, da sie die Grundbegriffe der empirischen Psychologie voraussetzt, nur als ein Teil der allgemeinen Philosophie des Geistes gelten." "Daneben würde zu letzterer zu rechnen sein: die Rechtsphilosophie, die Religionsphilosophie, die Philosophie der Geschichte und vielleicht Ethik und Ästhetik." (11) Darum ist es "geraten, auf den Begriff einer allgemeinen Philosophie des Geistes oder der Geisteswissenschaften zu verzichten, zumal ein adäquater Gegensatz zur Naturphilosophie in keiner Weise hergestellt werden kann." (Seite 70)
Das ist für Jeden, der einen Blick in eine monistische Schrift der Gegenwart, etwa HAECKELs, getan hat, ohne weiteres klar. Die Natur ist das Korrespondens des Geistes. Gleichwie Recht, Kunst, Geschichte, Sittlichkeit und Religion ihrer empirischen Seite nach als Naturvorgänge aufgefaßt werden können und aufgefaßt worden sind, so ist die Naturwissenschaft die Projektion der geistigen Idee in Raum und Zeit. Die Natur in ihrer gesetzmäßigen Entwicklung vermittelt die Erkenntnis des Geistes, des individuellen wie des absoluten, der Geist des Menschen aber erkennt sich selbst erst durch und mit der Natur. Beide sind im Absoluten identisch. Vielleicht würde es sich zur Verhütung von Mißverständnissen und leeren Wortstreitigkeiten empfehlen, die experimentelle, im Laboratorium arbeitende Psychologie ein für allemal Psychophysik, die philosophische Psychologie aber kurzweg Metaphysik zu nennen (12). Die erstere gehört ihrer Entwicklung und Methode nach an die Seite der Physiologie, die zweite lasse man dort stehen, wo sie von jeher ihren Platz gehabt hat, bei der theoretischen Philosophie im alten Sinn.


III b.

Welche Bedeutung kommt jedoch der Psychologie an den Universitäten zu, wo junge Leute in die systematische Philosophie einzuführen und zum Philosophieren anzuleiten sind? HUGO MÜNSTERBERG, ein besonnener Vertreter der experimentell-psychologischen Richtung, gibt darüber folgendes Urteil ab (13):
    "Die Psychologie", sagt er, "ist heute in Deutschland - im Gegensatz zu fast allen Ländern - im Universitätsplan ein Teil der Philosophie und zwar ein kleiner Teil nur, denn neben ihr stehen koordiniert als Lehraufgaben des philosophischen Lehrers die Erkenntnistheorie und Logik, die Ethik und Ästhetik, eventuell die Metaphysik und vor allem die gesamte Geschichte der alten, mittleren und neuen Philosophie. Nun, die Philosophie, die einst identisch war mit der gesamten menschlichen Wissenschaft, hat im Lauf der Geschichte eine Spezialdisziplin nach der anderen aus ihren Mutterarmen entlassen, und diese Trennung wurde ihr umso leichter, ja mußte ihr willkommen werden, je mehr sie ihre Aufgabe in dem Sinn faßte, das einigende Moment der menschlichen Weltanschauung gegenüber der Mannigfaltigkeit des zerstreuten Einzelwissens zu bedeuten. Seit hundert Jahren aber weiß sie, daß dieses einigende Moment nur darin liegen kann, daß sie die Erkenntnisbedingungen untersucht, unter denen die Gesamtheit der Einzelwissenschaften, der Geistes- wie Naturwissenschaften, überhaupt möglich wird. Philosophie ist somit Erkenntnistheorie geworden, während Ethik, Ästhetik und vor allem Psychologie dadurch in die Reihe der Einzelwissenschaften gerückt sind, die der Philosoph nur als lästige Bürde mitschleppt und die ihm nicht näher stehen als Mechanik oder Strafrecht. Da muß Wandel geschaffen werden, wenn sich Philosophie und Psychologie nicht wechselseitig auf das Schwerste schädigen sollen; kaum einer ist heute imstande, mit seiner Einzelkraft der Psychologie nach allen Richtungen gerecht zu werden, wie soll da der Philosoph sie nebenbei betreiben, daß er sie der jüngeren Generation übermitteln kann? Eine Trennung, sauber und klar, darf da nicht mehr auf sich warten lassen; psychologische Lehrstühle müssen, wie im Ausland, auch bei uns neben den philosophischen errichtet werden."
Daran schließt sich die Forderung psychologischer Laboratorien und einer von der Philosophie unabhängigen Prüfung in der Psychologie für Mediziner, Juristen, Theologen und Pädagogen.

Manche Punkte dieser Darlegung lassen Einwendungen zu. Es ist wohl zweifelhaft, ob die Philosophie ganz in der Erkenntnistheorie aufgeht, weil sie in der Gegenwart noch als Systeme bildend auftritt und dieser Aufgabe auch in Zukunft gerecht werden wird: ebenso dürfte die allgemeine Prüfung in der Psychologie, welche zur philosophischen Prüfung hinzukommen soll, Bedenken erregen, indessen darin hat MÜNSTERBERG den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er die Ethik und Ästhetik als unabhängige Einzelwissenschaften aus dem Gebiet der Experimentalpsychologie entfernt wissen will, wiewohl ihm FECHNERs "Vorschule der Ästhetik" sicher nicht unbekannt geblieben ist. Daß in der Tat die Vorlesungen ber derartige Gegenstände mit der modernen Psychologie wenig oder gar nichts zu tun haben, wird indirekt auch von einem anderen Hauptvertreter der Richtung, von CARL STUMPF anerkannt. In seiner Antrittsrede als Mitglied der Berliner Akademie spricht er davon, daß er mit seinen Beobachtungen und Versuchen über die Phänomene der Konstanz und Dissonanz, öfters ganz und mit dem vollen Bewußtsein der Notwendigkeit, aus den Kreisen der Philosophie herausgetreten ist (14); und im Vorwort zum zweiten Band der "Tonpsychologie" ist zu lesen, daß man von einem deutschen Professor der Philosophie selbst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht verlangen kann, daß er immerfort nur mit Pfeifen, Zungen und Gabeln umgeht, weil die Vorlesungspflich mahnt, die Breite und Höhe der Wissenschaft im Auge zu behalten (15). Dadurch werden wir aber immer deutlicher auf die Teilung der Arbeit in der Philosophie verwiesen, und es kann sich nur noch fragen, welche Lehrgegenstände dem Studierenden für seine geistige Fortentwicklung und seine Weltanschauung als die wichtigeren und notwendigeren zu empfehlen sind.

Zu den mancherlei Schriften, die sich in letzter Zeit mit der Stellung der Philosophie an den Universitäten beschäftigt haben, ist vor kurzem eine Broschüre über "Sozialimus und Philosophie" hinzugekommen (16). Wir lassen die bittere Klage des Verfassers über das siegreich Vordringen der Sozialdemokratie unter der Studentenschaft und deren einseitig-intensive Beschäftigung mit den Sozialwissenschaften beiseite. Wäre dies der Fall, so würden wir hierin kein nationales Unglück sehen, denn die akademische Jugend Deutschlands kann eben von der geistigen Teilnahme an einer sich mächtig ausbreitenden Bewegung nicht zwangsweise zurückgehalten werden. Wie sie sich für die Schriften FRIEDRICH NIETZSCHEs und die "Umwertung aller Werte" auf das Lebhafteste interessiert, so wird ihr auch BEBELs "Frau" nicht fremd bleiben. Als Erbe der Zukunft soll sie diese Bewegung limitieren und ihre falschen Ziele bekämpfen lernen. Aber wie? Durch die Fähigkeit der wissenschaftlichen Kritik, welche sich auf die Anleitung zum Denken ansich in der Philosophie oder als angewandtes Denken in einer Spezialwissenschaft gründet. Dabei kommt der Verfasser auf die nicht mehr ganz neuen Klagen vom Überhandnehmen des Spezialistentums und dem Abnehmen der "Allgemeinbildung" zu sprechen und empfiehlt als "Immunisierung des akademisch Gebildeten gegen moderne Gedankenkrankheiten" die Religion und die "Wissenschaft der Wissenschaften", die Philosophie. Bei größten Teil der akademisch Gebildeten geht der Weg von der Fachwissenschaft zur harmonischen Geistes- und Herzensbildung durch das Medium der Philosophie. Hieran knüpfen sich eine Reihe von Ratschlägen, denen wir in der Hauptsache vollkommen beipflichten können.
    "Während im Zeitalter der idealistischen Philosophie", schreibt er Seite 18, "die Naturwissenschaft von der Philosophie beherrscht wurde, ist es umgekehrt in der darauffolgenden Periode, der Naturwissenschaft und ihrer Methode gelungen, in die Philosophie Eingang zu gewinnen und ursprünglich philosophische Disziplinen in das Gebiet der Naturwissenschaft hinüberzuziehen. Aus der empirischen Psychologie hat sich in verhältnismäßig kurzer Zeit die physiologische Psychologie, die Psychophysik, die experimentelle und mathematische Psychologie entwickelt."

    "So großen Vorteil nun die Wissenschaft von dieser Entwicklung jener philosophischen Disziplinen hat, so sehr entfernt sich die Philosophie vom Verständnis des großen Publikums. Es ist hinreichend bekannt, daß sich im Allgemeinen der Naturwissenschaftler, der Arzt, der Jurist auf der Universität nur selten mit Philosophie beschäftigt und philosophische Kollegien hört. In der Praxis und im Amt denken sie noch viel weniger an Philosophie, vielmehr konzentriert sich ihr wissenschaftliches Denken und Interesse meist nur auf ihre Fachwissenschaft. Deshalb müssen gerade die verschiedensten philosophischen Vorlesungen breiten Raum gewinnen, um jedem etwas zu bieten und das mannigfaltigste Interesse zu befriedigen und zu wecken."
Und non folgt eine Charakteristik der einzelnen Vorlesungen:
    "Die am meisten besuchten philosophischen Vorlesungen sind die über Logik und Geschichte der Philosophie. Unzweifelhaft trägt der durch das Studium der Geschichte der Philosophie und der Logik Geganngene einen intellektuellen Gewinn für seine Bildung und seine Lebensanschauung davon, die ziemlich hoch angeschlagen werden muß. Er wird von der Einseitigkeit seines Fachstudiums emporgehoben zu einer allseitigen Betrachtung der höchsten Probleme, welche die Denker aller Zeiten beschäftigt haben. Er lernt die Gedanken- und Schlußfehler kennen, denen selbst die größten Denker unterlegen sind. Daran schärft sich sein Urteil."

    "Beide Vorlesungen über Geschichte der Philosophie und Logik arbeiten sich gegenseitig in die Hände und ergänzen einander. Jene gibt die zeitlich historische Entwicklung des logischen Denkens, diese die Theorie des Denkens ansich. Damit die Logik ihren Zweck vollständig erfüllt, muß sie mit der Erkenntnistheorie verbunden sein."
    Alsdann werden unter Berufung auf das anregende Wirken LOTZEs auch die psychologischen Vorlesungen warm empfohlen: "Die Psychologie, die halb Naturwissenschaft, halb Philosophie ist, kann es sich gestatten, ihren Ausgang vom naturwissenschaftlich-physiologischen Standpunkt zu nehmen, wenngleich sie als philosophische Wissenschaft nicht auf ihm beharren darf."

    "Eine Psychologie auf physiologischer Grundlage, etwa im Sinne Wundts, würde für die Universitätsvorlesungen heute als die praktischste und wirkungsvollste erscheinen."

    "Dagegen darf die sogenannte experimentelle Psychologie", fährt Dippe fort, "die sich heute einer so hohen Anerkennung und Beachtung der Professoren und der Kultusministerien erfreut und bei der Besetzung der Lehrstühle besonders bevorzugt erscheint, in den Vorlesungen nur einen bescheidenen Raum einnehmen. Denn sie hat doch nur Interesse für ganz kleine akademische Kreise und ist für die philosophische Bildung und Weltanschauung von gar keiner Bedeutung. Selbst die Psychophysik, so viel Interesse sie auch für sich beanspruchen darf, verdient nur eine episodische Behandlung.

    Im Verhältnis zur Logik und Psychologie nehmen Metaphysik oder Naturphilosophie und Ästhetik in Bezug auf ihre Wirkungsfähigkeit nur einen untergeordneten Wert ein. Auch der Ethik kann im Universitätsunterricht nicht diejenige Bedeutung zuerkannt werden, die ihr von manchen Hochschullehrern zugesprochen wird. Dagegen ist die Religionsphilosophie eine der bedeutendsten philosophischen Disziplinen auf der Universität. Denn in ihr wird wissenschaftlich das ersetzt, was dem Studenten meist praktisch fehlt oder von ihm vernachlässigt wird, die Beschäftigung mit Religion und Kirche. Hier wird dem Studenten in wissenschaftlicher Form dargeboten, worüber er sich bisher teilweise noch keine Rechenschaft abgelegt hat, was er bisher unbewußt hingenommen und woran ihm der Glaube vielleicht versagte."
Um diese Ratschläge in die Praxis umzusetzen, empfiehlt der Verfasser vor allem eine Vermehrung der Lehrstühle und die Sorge für mannigfaltige Vorlesungen aus allen Gebieten der Philosophie (a. a. O., Seite 34)

Es sei gestattet, den Ausführungen des Verfassers einige Schlußbemerkungen hinzuzufügen. Wir befinden uns gegenwärtig in einem kulurgeschichtlichen Übergangsstadium. Die Bedeutung der technischen und der sozialen Probleme steht bei ihrem großen Einfluß auf die Verbesserung aller Lebensbedürfnisse und Lebensstellungen an erster Stelle, daneben macht sich aber auch ein religiöser und philosophischer Zug bemerkbar, welcher mit dem ersten teils zu harmonisieren strebt, teils sich zu ihm in Gegensatz setzt. Der Universität, aus welcher sich die Säulen der staatlichen wie der kirchlichen Ordnung erheben sollen, fällt die Aufgabe zu, diese Gegensätze nach Möglichkeit zu mildern und auszugleichen. Die große Fülle von Vorlesungen, welche das Berufsstudium von Jahr zu Jahr mühevoller, kostspieliger und zeitraubender machen, steht mit dieser Forderung der allgemeinen Bildung nicht immer im Einklang. Räumliche Entfernungen, eine ungünstige Zeitverteilung, eine Überbürdung und noch manches andere kommt hinzu, daß den idealen Anforderungen nicht in dem Maß entsprochen werden kann, als für die Einheit aller Wissenschaft wünschenswert wäre. Daraus folgt dann, daß die Philosophie, deren Definitioin im Laufe der Zeit häufiger gewechselt hat, als die Definitioin irgendwelcher empirischen Wissenschaft, unter dem Gesichtspunkt eines "Faches" betrachtet und mit der allgemeinen Gesundheitspflege oder der allgemeinen Staatslehre in eine Parallele gestellt wird. Diese Sonderung, mag sie auch dem aus dem Altertum überlieferten Begriff durchaus widersprechen, liegt in unserer Zeitströmung. Man kann diesen Zug als die "Demokratie der Wissenschaft" bezeichnen, weil jeder Gelehrte sein Fach am liebsten hat, dasselbe am Höchsten schätzt und die ideale Überordnung eines anderen Fachs nur mit Widerstreben anerkennt. Will man hier eine Änderung herbeiführen und der Philosophie die ihr gebührende zentrale Stellung im akademischen Leben wieder zurückgeben, dann bedarf es einer Modifikation und Ergänzung der ausschließlich akroamatischen [der Lehrer trägt vor, der Schüler hört zu - wp] Lehrmethode.

Wir stimmen dem Verfasser der genannten Broschüre darin bei, daß die Logik in der aristotelisch-scholastischen Form eine überaus trockene Disziplin ist, eher geeignet, den akademischen Bürger von der Philosophie abzuschrecken, anstatt ihn anzuziehen. Allein zu leugnen bleibt nicht, daß ein guter Kursus der Logik die Klarheit und Richtigkeit des Denkens auf das Höchste fördert, vorausgesetzt, daß man darunter eine normative Wissenschaft des Denkens versteht und daß man sie mit psychologischen Tatsachen ebensowenig belastet, wie mit irgendeiner historischen Noetik. Soll jedoch ein allgemeineres Interess an philosophischen Studien erweckt werden, dann bedarf es nicht bloß in der Psychologie, sondern ebenso im Aufbau der historischen Systematik, der Übung und Aussprache. In fast allen Zweigen des philologisch-historischen Wissens gibt es Seminare, in denen über Literatur und Quellenforschung nähere Aufschlüsse erteilt werden. Soll das zukünftige Berufsstudiem eines Theologen, Juristen, Pädagogen auf philosophischer Basis beruhen, so wird man Logik und Psychologie ebenso durch eine möglichst vielseitige Erörterung aller historischen Systeme wie durch persönliche Arbeit in einem philosophischen Seminar ergänzen müssen. Die Aufgabe dieses Seminars, an welchem alle zukünftigen Staatsdienst-Aspiranten pflichtgemäß teilzunehmen hätten, wäre nicht die philologische Schrift- und Worterklärung, sondern die Grammatik und Lautlehre, wohl aber bestünde sie in der Vermittlung der Originalgedanken, welche seit mehr als einem Jahrtausend auf die Menschheit fortbildend eingewirkt haben. An dieser Stelle könnten sich Psychologie und Philosophie die Hand reichen, denn gleichwie niemand leugnen wird, daß die alte rationale Psychologie ihre wissenschaftliche Kraft eingebüßt hat, und daß uns die somatische Methode zu wichtigen Aufschlüssen über den Zusammenhang zwischen Seele und Körper verhilft, so darf andererseits von der Experimentalpsychologie niemals in Abrede gestellt werden, daß der Körper das zerbrechliche Gefäß des Geistes ist, und daß uns das Fortleben dieses Geistes in einem höheren Grad interessieren muß, als irgendein psychophysisches Experiment. Dieses geistige Fortleben wird uns teils durch die Geschichte, teils durch den religiösen Glauben, teilweise aber auch durch die Naturwissenschaft verbürgt; nach dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft kann die geistige Kraft noch viel weniger der Zerstörung unterworfen sein, als die materiale Kraft der Bewegung.

Man sage nicht, daß es sich hier um persönliche Überzeugungen, aber nicht um Wissenschaft handelt. Dieser Einwand wäre berechtigt, wenn es sich beim Glauben vom Fortleben der Seele um einen Ausnahmefall handeln würde. Tatsächlich bildet aber dieser Glaube ein Gemeingut der Menschheit, er ist Objekt der Völkerpsychologie und hat einen psychologischen Ursprung. Mag man die Eudämonie oder die Todesfurcht oder die Tätigkeit der Phantasie oder die intellektuelle Frage, was nach dem Tod sein wird, oder das Prinzip der sittlichen Vergeltung als Wurzel des Unsterblichkeitsglaubens betrachten, stets werden wir auf eine Basis verwiesen, welche uns über die historische Bestätigung dieses Glaubens Aufklärung verschafft. Die Unsterblichkeit, jenes so vielfach und vielseitig erörterte Thema der älteren Psychologie, bedarf aber zur Ergänzung des Gottesbewußtseins und so führen uns die letzten Ziele der Psychologie des normalen Individuums auch zu den letzten Zielen der Metaphysik, Kunst und Religion, zur Vervollkommnung des persönlichen Seins durch die Teilnahme an der intellektuellen Anschauung des Absoluten. "Videmus nunc per speculum in aenigmate, tunc autem facie ad faciem." [Jetzt sehen wir durch einen Spiegel in Rätseln, dann aber von Angesicht zu Angesicht. - wp]
LITERATUR Carl Güttler, Philosophie und Psychologie, München 1896
    Anmerkungen
    1) Die Themen lauteten: "Über ästhetische Raumanschauung" (LIPPS). "Über Spaltung der Persönlichkeit" (von SCHRENCK-NOTZING). "Zur Entwicklung des religiösen Gefühls bei heidnischen Völkern" (BUCHNER). "Neuere Forschungen und Lehren über den Bau der Nervenzentren" (von KUPFFER). "Willensfreiheit" (GRASHEY). "Farbenempfindung und Naturanschauung" (HIRSCHBERGER).
    2) FRANZ BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874, Seite 32. "Aristoteles nannt die Politik die baumeisterliche Kunst, der alle anderen handlangend dienen. Die Staatsunst aber, um das zu sein, was sie sein soll, muß ebenso den Lehren der Psychologie, wie geringere Künste den Naturwissenschaften ihr Ohr leihen. Ihre Lehre wird nur eine veränderte Zusammenordnung und weitere Fortentwicklung psychologischer Sätze zur Erzielung eines praktischen Zweckes sein."
    3) vgl. THEODOR ZIEHEN, Leitfaden der physiologischen Psychologie, dritte Auflage, Jena 1895
    4) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 639 [Ausgabe KEHRBACH].
    5) WILHELM WUNDT, Philosophische Studien, Jhg. XII, Heft 1, 1896.
    6) Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. II, 1894, Seite 1299-1407
    7) Zeitschrift für Psychologie etc. In Gemeinschaft mit S. EXNER, E. HERING, von KRIES, Th. LIPPS, G. E. Müller, C. Pelman, W. PREYER, C. Stumpf, herausgegeben von HERMANN EBBINGHAUS und ARTHUR KÖNIG, Hamburg 1895, Seite 161-205. Von den zehn Mitarbeitern sind vier, Professoren der Physiologie, einer Psychiater, einer Physiker und vier haben Lehrstühle für Philosophie inne.
    8) Vgl. die neueste Monographie von WLADYSLAW HEINRICH, Die moderne physiologische Psychologie in Deutschland. Eine historisch-kritische Untersuchung mit Berücksichtigung des Problems der Aufmerksamkeit, Zürich 1895. Dasselbst werden die Ansichten von 15 Autoren über die Aufmerksamkeit besprochen.
    9) HEINRICH, Physiologische Psychologie, 1895, Seite 174
    10) OSWALD KÜLPE, Einleitung in die Philosophie, 1895, Seite 69
    11) Auch KÜLPE ignoriert gänzlich die "Geschichte der Philosophie", während sie systematisch wichtiger ist als die "Philosophie der Geschichte".
    12) Vgl. G. K. UPHUES, Psychologie des Erkennens, Leipzig 1893, Bd. 1, Seite 8f.
    13) HUGO MÜNSTERBERG, Aufgaben und Methoden der Psychologie, Leipzig 1891, Seite 180.
    14) CARL STUMPF, Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 33, vom 4. Juli 1895.
    15) Das auf vier starke Bände veranschlagte Unternehmen einer "Tonpsychologie" bezweckt, die von HELMHOLTZ in der "Lehre von den Tonempfindungen" bezeichneten Bahnen weiter zu verfolgen. In ihrer Fülle von Beobachtungen und Versuchen über die Praxis der Musik und die individuell musikalischen Urteile und Gefühle, gibt sie ein umfassendes Bild der experimentellen Methode und deutschen Gelehrtenfleißes, nur ist sie keine Philosophie, denn selbst der Titel "Tonpsychologie" wird nur "in Ermangelung eines besseren kurzen Ausdrucks" gewählt.
    16) Prof. ALFRED DIPPE, Sozialismus und Philosophie auf den deutschen Universitäten, Leipzig 1895 und MATTHIAS KAPPES, Die philosophische Bildung unserer gelehrten Berufe. Ein Wort zur Reform der Universitätsstudien, 1892.