ra-3E. KappKornE. ZschimmerGoldstein    
 
MAX RIED
Technik und soziale Entwicklung

"Ist der Mensch zur Meisterung der Natur durch die Technik vermöge seiner intellektuellen Anlagen gelangt, so darf andererseits der Einfluß nicht übersehen werden, welchen umgekehrt die Technik auf die Fortbildung seiner psychischen und damit auch seiner sozialen Qualitäten ausübte."

"Eine für die Entwicklung der Erkenntnis nicht hoch genug einzuschätzende Folge der Vergrößerung des menschlichen Machtbereichs durch die Werkzeugentwicklung ist die Vervielfältigung der menschlichen Beziehungen zur Naturumgebung. Immer mehr Kräfte der äußeren Natur ersetzen die menschliche Muskeltätigkeit, während dem Menschen selbst immer mehr die Führung des Oberbefehls durch vernünftige Denk-, Gefühls- und Willenstätigkeit obliegt."

- Vorwort -

Als zweckmäßiges Handeln im Dienste der den Menschen bewegenden Absichten und erfolgreiches Überwinden entgegenstehender äußerer wie innerer Widerstände, durchdringt "Technik" alle Seite des gesellschaftlichen Lebens. Eines Technischen Einsatzes bedürfen sowohl die harmonische Gesamtausbildung und Gesamtlenkung der Sozialgemeinschaft, ihrer Anstalten und Vorkehrungen, als auch die erfolgreiche Bezwingung der gefährlichen Kräfte und Produktionswiderstände der äußeren Natur. Nur vollzieht sich die Einflußnahme, den wechselnden Zwecken angepaßt, verschieden, hier vorwiegend durch eine bildende und lenkende Einwirkung auf die Angehörigen der Gemeinschaft, dort durch eine mechanisch-physikalische Einwirkung auf Naturobjekte. Doch bedarf auch die administrativ-militärische Technik des Staates in hohem Maße äußerer stofflicher Mittel und daher werkschaffender Technik; die geistige Bildung des Volkes bedingt literarische und sonstige Symbolgüter, der Sicherhheitsschutz gegen die Elemente und gegen Feinde fordert eine mechanische Ausrüstung zur Erzeugung und steten Erneuerung seines ungeheuren Güteraufwandes. Daneben fordert aber auch die Aufrechterhaltung der organischen Naturgrundlage der sozialen Gemeinschaft, der Leibesunterhalt ihrer Bevölkerung, eine Anpassung von Naturkräften und Naturstoffen für gesellschaftlich-menschliche Lebenszwecke durch die Technik. Produktion, Formgestaltung, Umsetzung, Zuteilung, Ausmusterung der Produkte und verbrauchten Güter fordert einen unaufhörlichen Verbrauch von Gebäuden, Werkzeugen, Kommunikationsmitteln und Hilfsstoffen; durch technische Hilfsmittel wird dem quantitativen Mangel und der qualitativen Mangelhaftigkeit der für menschliche Zwecke zur Verfüung stehenden Naturstoffe abgeholfen (1).

Bei dieser engen Verkettung und Durchdringung der ganzen sozialen Gemeinschaft mit technischen Verrichtungen einerseits und der fortschreitenen Sozialisierung der technischen Arbeit andererseits, macht es naturgemäß besondere Schwierigkeiten, die Wechselwirkungen zwischen Technik und den sozialen Funktionen nach Ursache und Wirkung zu untersuchen. Denn wie fast alle Lebensgebiete, beherrscht das Prinzip einer wechselseitigen Steigerung auch das Gebiet technisch-sozialen Fortschritts; vorhandene oder zufällig und unabsichtlich erlangte technische Möglichkeiten bewirken gesellschaftlichen Fortschritt, aber die höher entwickelte Gemeinschaft trägt auch wieder umgekehrt aus sich heraus zur Vervollkommnung der Technik bei, indem sie dieselbe zur Anpassung an ihre verfeinerten Bedürfnisse zwingt.

Unter dem Einfluß der aufstrebenden Naturwissenschaften wird in letzter Zeit der Versuch in steigendem Maß gemacht, soziale Geschehnisse durch eine Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher, vorzüglich aus der Selektionstheorie entlehnter Begriffe zu erklären. Diesem Streben gegenüber ergibt die Betrachtung der Menschheitsentwicklung unter Berücksichtigung des Einflusses, den die Werkzeugtätigkeit des Menschen auf sie genommen hat, wichtige Anhaltspunkte für die Einschätzung des Wertes solcher Erklärungsversuche.

Das Tier paßt sich der Naturumgebung mit den jeweils hierzu geeignetsten Organen an; daher bedeutet jeder Forschritt in der Anpassung zugleich eine Zunahme der Einseitigkeit in der Organisation, ein unübersteigbares Hindernis für eine weitere Umformung und Entwicklung. Denn Tausende von Generationen und lange Jahrhunderte müssen dahingehen, bevor eine Tierart durch die sukzessive Veränderung des Keims in einen anderen Typus umschlägt. Anders beim Menschen. Einerseits ist er befähigt, sich den Bedingungen der Naturumgebung nicht körperlich, sondern durch eine künstliche Steigerung und äußere Ergänzung seiner Organe, oder durch ein Schaffen mit künstlichen Mitteln, mit Apparaten und Maschinen anzupassen. Zahllose, höchst spezialisierte Funktionen werden dadurch auf technische Hilfsmittel übertragen, ohne daß sich der Bau des Menschen nach einer bestimmten Richtung hin verändert, mithin für eine andere Tätigkeit unfähiger wird. Andererseits jedoch kann der Mensch umgekehrt auch die äußeren Daseinsbedingungen mit seinen inneren Funktionen in Einklang bringen, indem er sie künstlich umändert, oder ihre Schädlichkeiten herabmindert und das mit fortschreitender Entwicklung seines Intellekts in immer höherem Maß.

Da nun aber der Menschengeist eine größere Beweglichkeit und Entwicklungsfähigkeit zeigt als die organische Natur, die Kombinationen der Vorstellungen innerhalb des individuellen und gesellschaftlichen Bewußtseins ungleich rascher wechseln und sich entwickeln als die Bedingungen des Naturlaufes, erscheint die Weltgeschichte auch in einem auffallend raschen Fortschrittsgang begriffen, im Vergleich zu ihrer Schwester, der Naturgeschichte, welche uns in ihrer relativen Konstanz das Bild eines scheinbaren Stillstandes entgegenhält. Gleichzeitig aber erweitert sich beim Menschen der Spielraum verschiedener Anpassungsmöglichkeiten ins Unendliche. Die verschiedensten Anpassungsformen, die denkbar sind und bei den verschiedenen Tieren, wenn überhaupt, nur auf verschiedene Arten verteilt vorkommen, verwirklicht der Mensch auf dem Boden einer einzigen Spezies.

Die vornehmlich psychische Reaktion des Menschen auf die Einflüsse der Naturumgebung, einmal durch eine künstliche Erweiterung seiner Organe und die Schaffung künstlicher Hilfsmittel, dann durch eine willkürliche Anpassung der natürlichen Lebensbedingungen an seine inneren Funktionen, unterscheidet die menschheitlich-soziale Entwicklung in ihrem weiteren Verlauf von der organischen.

Eine erste Wechselbeziehung zwischen Technik und sozialer Entwicklung ergeben sich schon auf primitiver Stufe durch die künstliche Erweiterung der äußeren Angriffs- und Schutzorgane des Menschen, der Finger, der Faust, der Nägel, des Armes und des Gebisses, welche ihm erst eine Übermacht über seine tierischen Mitgeschöpfe verleiht und ihn in die Lage versetzt, sich der bedingungslosen Unterwerfung unter die Naturgewalten zu entziehen. Die Erfindung und Ausbildung technischer Hilfsmittel zur leichteren und reichlicheren Nahrungsbeschaffung brachte ein Haupthindernis gegen den engeren sozialen Zusammenschluß zum Verschwinden, nämlich den ständigen Nahrungsmangel, der zur individuellen Nahrungssuche zwang. Die Beschränktheit der ohne technische Ausstattung für den Menschen erreichbaren Nahrungsmittel, weiter aber auch ihre Verteilung über große Landgebiete macht eine beständige Bewegung von Ort zu Ort zur Fristung des Daseins notwendig, wobei größere Gruppen die Bewegungsunfähigkeit hindern würden; deshalb werden ja auch Kinder, Alte und Kranke auf primitiven Kulturstufen oft schonungslos beseitigt. Durch die Ausbildung der Waffen und Fangmethoden jedoch, ebenso wie die der Werkzeuge, um Wurzeln zu graben oder Bäume zu erklettern, ergibt sich eine natürliche Vermehrung der Nahrungsmenge; eine möglichste intensive Ausnutzung des vorhandenen Bodens gestattet eine Beschränkung der für die Nahrungssuch in Betracht kommenden Bodenfläche.

In dem Maße aber, wie der Mensch es lernt, das Gebiet seiner Nahrungsquellen dadurch zu erweitern, daß er sich durch eine künstliche Vermehrung seiner Waffen und Werkzeuge Nahrungsmittel beschafft, die ihm sonst nicht zugänglich wären, daß er ferner die Nahrungsmittel umzubilden und für sich verwendbar zu machen weiß, schwindet auch die Nötigung zur individuellen Nahrungssuche und mit ihr das unstete Dasein, das größte Hindernis einer fortschreitenden Vergesellschaftung. Die Gemeinschaft gewinnt ständige Beziehungen zum Boden. Diese Festwurzeln der sozialen Gemeinschaft am Boden, das als Vorbedingung eines höheren Gesellschaftslebens erscheint, wird nun wieder durch technische Zwischenglieder vermittelt und wäre ohne dieselben unmöglich. Gewinnung, Nutzbarmachung und Sicherung des Bodens, Niederlassungs- und Bauwesen, Aufführung von Schutz-, Nutz- und Wohnbauten, Herstellung von Verkehrsbauten begründen und befestigen das Verhältnis zwischen Naturumgebung und sozialer Organisation.

Während nach außen eine Fixierung der sozialen Gemeinschaft gegenüber der Naturumgebung, Gewinnung und Sicherung eines Standortes, Voraussetzung für ihre Bildung und für die Anhäufung sowie Überlieferung von Kulturbesitz ist, fordert die weitere Entwicklung eine fortschreitende Ausbildung innerer Bewegungsfähigkeit. Dadurch wird der Fortschritt in der Technik der Raumverknüpfung im Verlauf der Geschichte besonders im Hinblick auf die Staatenbildung von grundlegender Bedeutung.

Die staatliche Gemeinschaft entsteht ursprünglich aus ethnisch heterogenen Elementen, deren Zusammenfassung meist gewaltsam, durch Krieg und Eroberung erfolgt; zur inneren Festigung und Vereinheitlichung des Staatsganzen bedarf es daher erst einer der Staatenbildung folgenden Entwicklung, welche die Verschiedenartigkeit der Empfindungen, Sitten und Anschauungen der einzelnen, räumlich getrennten, staatsbildenden Gruppen zum Ausgleich bringt. Diese Nivellierung ist aber nur durch den Verkehr und seine Folgen, einen Ausgleich vorhandener Interessengegensätze, die Anbahnung von Beziehungen verschiedener Art, sowie eine körperliche Vermischung möglich; man kann geradezu den Satz aufstellen, daß der Grad des inneren Verwachsenseins einer Volksgemeinschaft im direkten Verhältnis zur Leichtigkeit, Häufigkeit und Intensität des Verkehrs zwischen den einzelnen Gruppen besteht, aus denen sie sich zusammensetzt. Aber nicht nur durch die Förderung des Inverkehrtretens der einzelnen Volksteile bildet die steigende Vervollkommnung der Verkehrsmittel einen der wichtigsten Faktoren staatlicher Entwicklung. Sie erst ermöglicht die Beherrschung, Verwaltung und Behauptung der vom Zentrum entfernt gelegenen Landesteile eines größeren Reiches und erscheint so als Grundlage für die Bildung und Erhaltung großer Territorialstaaten überhaupt.

Wie sehr die Entwicklung des Verkehrswesens die Staatenbildung und Erhaltung beeinflußt, lehrt ein Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung. Das Altertum hat es durch militärische Machtentfaltung und Beweglichkeit allerdings vorübergehend zu Administrationsgroßstaaten gebracht, aber nicht zu innerlich verschmolzenen Nationalgroßstaaten. Rom war wohl die militärische Weltherrsch- und Weltausbeutungsstadt, aber nicht die universelle Reichshauptstadt von der Art der Hauptstädte moderner Großstaaten. Auch Nomaden waren fähig, Weltreiche, jedoch ebenfalls nur von kurzer Dauer, zu gründen, weil sie zuerst die Massenbeweglichkeit auf größeren Entfernungen erlangten; es sei hier bloß an die Eroberungszüge und Gründungen der wilden Reitervölker, der Skythen, Tartaren, Mongolen erinnert. Dann ergab die Entwicklung der Fluß- und Seeschiffahrt die Möglichkeit von Strom- und Mittelmeerreichen und schließlich die Entwicklung der Landbeförderungsmittel jene kontinentaler Weltreiche.

Die fortschreitende Technik hat jedoch in ihrer Beeinflussung der staatlichen Entwicklung vor den Staatsgrenzen nicht Halt gemacht; wir sehen sie gegenwärtig langsam aber unaufhaltsam an der Arbeit, auch die zwischenstaatlichen Beziehungen der großen Kulturnationen zu verändern und auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Und zwar vornehmlich durch die Schaffung eines Zustandes weitgehender wirtschaftlicher Abhängigkeit der einzelnen Staaten voneinander. Diese Abhängigkeit wird vor allem durch das Zurückdrängen und schließliche Preisgeben der Landwirtschaft in einzelnen Industriestaaten bewirkt; diese erscheinen dann in Bezug auf ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln auf die Bodenerzeugnisse anderer Länder angewiesen. So vermag sich z. B. England von seiner inländischen Nahrungsproduktion nur noch 91 Tage im Jahr zu ernähren, für die anderen 274 Tage hängt es vom Ausland ab; Deutschland bezieht für 200 Tage des Jahres seine Nahrungsmittel von auswärts.

Des weiteren bedingt die ungleiche Verteilung der von der Industrie benötigten Rohstoffe Kohle, Eisen, usw. auf die einzelnen Länder einen lebhaften Austausch dieser Produkte zwischen den Staaten, welche von Natur aus reichlich damit gesegnet sind, und jenen, welche Mangel daran leiden. Schließlich bildet die Häufung bestimmter Industrien in gewissen Ländern, begünstigt durch den natürlichen Reichtum des Landesu und eine Betriebsamkeit der Bevölkerung einen Ansporn, Absatzgebiete für die erzeugten Produkte zu suchen, was wieder ein Inverkehrtreten mit anderen Nationen zur Folge hat. Die rapide Steigerung des Welthandels durch die enorme technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte bringt sich in der Erhöhung des Umsatzes der gesamten Weltwirtschaft zum Ausdruck. Dieser Umsatz repräsentierte 1860 einen Geldwert von 29 Milliarden Mark, im Jahr 1899 war er auf 86 Milliarden angewachsen.

Die Grundlage, auf welcher dieser steigende Austausch der Erzeugnisse zwischen den einzelnen Staaten erwuchs, ist der materielle Verkehr in seinen verschiedenen Formen als Schiffahrt und Eisenbahn zum Güter- und Personentransport, sowie als Post, Telegraphie und Telephonie zur Gedankenvermittlung.

Die Verkehrsentwicklung wird am besten durch die Entwicklung der Verkehrsmittel gekennzeichnet. Von 1860 bis 1900 ist die Zahl der Dampfschiffe von 820 auf 12 289 mit einem Fassungsraum von insgesamt 19 Millionen Tonnen gestiegen; die Gesamtlänge des Eisenbahnnetzes der Erde hat sich in derselben Zeit von 106 886 km auf 800 000 km erhöht.

Es scheint begreiflich, daß mit der wachsenden Abhängigkeit der Staaten voneinander sich das Streben nach der Sicherung eines möglichst ungestörten Verkehrs geltend macht. Ihm entspringt wieder eine Unzahl internationaler Übereinkommen und Rechtsinstitutionen, Post-, Schiffahrts-, Eisenbahnkonventionen, Handelsabkommen usw., welche in immer steigendem Maß und durch ein allmähliches Übergreifen auf sämtliche Interessensgebiete die Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten regeln und einen stufenweisen Zusammenschluß der Kulturnationen die Wege bahnen.

In einem auffallenden Gegensatz jedoch zu diesen völkerverbindenden Tendenzen steht die steigende militärische Machtentfaltung der Staaten, welche die modernsten Errungenschaften der industriellen Technik in den Dienst des Krieges stellt. Die Vervollkommnung in der Waffentechnik und die zerstörende Kraft der Kriegsmittel haben in letzter Zeit rapide Fortschritte gemacht. Geschwindigkeit, Mündungsenergie und Schußweite der Handfeuerwaffen haben sich bei sinkendem Geschoßgewicht und Gewicht der Pulverladung seit 1840 verdrei- und vervierfacht. Dazu kommt noch, daß im alten System die Flugbahn eine bedeutende Kurve beschrieb, wodurch die Geschosse zum größten Teil über die Köpfe der Kämpfenden hinwegflogen, während sie heute alles, was ihnen im Weg steht, einfach wegrasieren; überdies hat sich die Schnelligkeit des Feuers gegen 1867 mehr als verzwölffacht. Vielleicht noch großartiger, was die Kraftentfaltung und Erhöhung des Schadeneffekts anlangt, haben sich die Verhältnisse für den Seekrieg gestaltet. In kurzer Zeit ist die Durchschlagskraft der Schiffsgeschütze von 30 cm starker Stahlpanzerung auf 90 cm und darüber gesteigert worden; Torpedos und Unterseeboote können in einigen Minuten eine ganzen Panzerkoloß zerstören und zum Sinken bringen.

Die Ausbildung eines so gewaltigen Machtapparates ist nun einerseits zweifellos geeignet, die kriegerischen Instinkte der Völker wachzuhalten, gegenseitiges Mißtrauen zu verbreiten und dadurch die Gefahr einer unbedachten Anwendung mit ihren unabsehbaren Folgen für die gesamte Zivilisation nahezurücken. Andererseits jedoch darf auch die kriegshemmende Wirkung der modernen Kriegsbereitschaft nicht übersehen werden. Das Wachsen des Umfangs und der Intensität der Kriegsmittel erzeugt naturgemäßt eine wachsende Scheu vor ihrer Anwendung; die hohen Kosten der militärischen Machtentfaltung werden von den Völkern immer schwerer ertragen und lassen den Gedanken nach einer friedlichen Auseinandersetzung immer lebendiger werden. So fördert die übermäßige Entwicklung der Kriegstechnik ihrerseits ebenfalls das Aufhören der Kriege; es erscheint dies nur als ein spezieller Fall der überall in der menschlichen Entwicklung zutage tretenden Erscheinung, daß nämlich die über naturgemäße Grenzen hinausgehende Verwirklichung, aus einem prinzipiellen Standpunkt sich ergebender Konsequenzen, eine verderbliche Wirkung für die Geltung des Prinzips selbst hat. -

Mit der Umgestaltung ihrer materiellen Grundlagen ist der Einfluß der Technik auf die soziale Entwicklung jedoch bei weitem nicht erschöpft. Wurde schon eingangs darauf hingewiesen, daß der Mensch zur Meisterung der Natur durch die Technik vermöge seiner intellektuellen Anlagen gelangt, so darf andererseits der Einfluß nicht übersehen werden, welchen umgekehrt die Technik auf die Fortbildung seiner psychischen und damit auch seiner sozialen Qualitäten ausübte.

Auf den mächtigen Anteil der Technik an der Vernunftentwicklung, welcher bei den Versuchen, letztere genetisch zu erklären, noch vielfach vernachlässigt wird, hat schon 'ALBERT SCHÄFFLE hingewiesen.
    "Technik ist wesentlich die Verwirklichung von Ideen in Äußerem", bemerkt er darüber in  Bau und Leben,  "werktätige und symbolisierende Objektivierung von Innerlichem. Sie schuf daher in ihren Werk- und Darstellungsgebilden Stützpunkte der Apperzeption und bewahrte so einmal gewonnene Funken der menschlichen Vernunft. Der Fortschritt des Intellekts und des Willens zu höherer Vernunft war hiermit durch den Fortschritt der Technik bedingt; ohne die scharfe Beobachtung des menschlichen Geistes und der Natur, durch welche es erst eine höhere Technik gibt, ohne die technische Fixierung einer selbstgeschaffenen Welt innerer Bildung und äußeren Gütervermögens, worin der Geist sich projiziert und durch welche er Gesamtzusammenhänge in Zeit und Raum gewinnt, wäre eine höhere Ausbildung der menschlichen Seele nicht möglich gewesen."
In welchem Maß der materielle Kulturbesitz durch die Vermittlung des geistigen Zusammenhangs aufeinanderfolgender Generationen an der menschlichen Entwicklung beteiligt ist, zeigt am besten die Betrachtung jener primitiven Völker, bei denen gewisse mystische Vorstellungen die Vererbung unmöglich machen. Es ist dies neben der Gespensterfurcht, welche dazu führt, dem Toten das Seine ins Grab mitzugeben, die Vorstellung, daß die Gegenstände und Personen, zu welchen der Mensch Zeit seines Lebens in nähere, dauernde Beziehungen tritt, ein Teil seines Wesens werden. Diese Verbindung des Ich mit dem, was zu ihm gehört, läßt sich bei niederen Völkern fast allgemein beobachten. Aus ihr ist die grausame Sitte erklärt worden, dem Toten Weiber und Sklaven mitzugeben, die ihre Existenz ja gleichsam nur durch die Anlehnung an den Herrn haben und mit ihm daher auch sterben müssen; sie ist aber auch der Grund, weshalb solche Völker Jahrtausende lang auf der gleichen Stufe verharren können, ohne einen merklichen Fortschritt zu zeigen. Denn nicht nur Weiber und Kinder, auch der ganze materielle Besitzstand geht mit dem Besitzenden ins Grab und verhindert so die Sammlung und Vererbung von Erfahrungen und Kenntnissen. Erst allmählich vollzieht sich die Loslösung der Umgebung von der eigenen Persönlichkeit im Denkbewußtsein des Menschen, wodurch die Bahn für eine Fortentwicklung freigelegt erscheint.

Eine für die Entwicklung der Erkenntnis nicht hoch genug einzuschätzende Folge der Vergrößerung des menschlichen Machtbereichs durch die Werkzeugentwicklung ist die Vervielfältigung der menschlichen Beziehungen zur Naturumgebung. Der Mensch gewinnt durch eine Bearbeitung der Naturobjekte mit Werkzeugen neue Korrelationen zu Gegenständen der äußeren Natur, die sonst immer seinem Gesichtskreis entrückt blieben, da sie außerhalb des Aktionsbereichs der ihm natürlichen Organe liegen. Er bereichert dadurch seine Kenntnis der umgebenden Natur wie der Beschaffenheit ihrer Objekte; denn jede Bearbeitung eines Dings muß Aufschluß geben über Natur und Beschaffenheit dieses Dings. Zugleich findet er aber im bloßen Besitztum und in der Verwendung technischer Vorrichtungen einen steten Ansporn zur Ergründung der in ihnen wirksamen Naturgesetze durch erklärende Rückschlüsse von der Beschaffenheit, dem Zweck und dem Gebrauchserfolg des Werkzeugs. Anstelle eines zufälligen empirischen Findens mechanischer Talente tritt dadurch immer mehr eine bewußte Indienststellung der Naturkräfte zu menschlichen Zwecken. Immer mehr Kräfte der äußeren Natur ersetzen die menschliche Muskeltätigkeit, während dem Menschen selbst immer mehr die Führung des Oberbefehls durch vernünftige Denk-, Gefühls- und Willenstätigkeit obliegt.

Diese fortschreitende Vergeistigung der technischen Arbeit stellt dem Menschen Kraftmodifikationen zur Verfügung, in welche die mechanische Bewegung seiner Leibesmuskeln selbst überhaupt gar nicht umgesetzt werden könnte. Die Folge ist ein ungeheurer Aufschwung der industriellen Technik, welche, da sie neben ihrer materiellen Ausrüstung noch bedeutender menschlicher Körper- und vor allem Geisteskräfte bedarf, immer größere Menschenmassen an sich heranzieht und in Großstädten oder Industriezentren vereinigt. Dies bewirkt aber seinerseits ein fortschreitendes Zurücktreten der landwirtschaftlichen Bevölkerung gegenüber der nichtlandwirtschaftlichen, das sich, wie bereits erwähnt, in manchen Ländern bis zur völligen Preisgabe der Landwirtschaft steigert, welcher die Industrie die bodenständige Bevölkerung dadurch entzieht, daß sie ihr eine bessere Lebensführung ermöglicht. In England, wo Industrie und Landwirtschaft 1841 noch im Gleichgewicht standen, hatte die Industrie im Jahr 1891 bereits nahezu 60% aller verdienenden Menschen an sich gefesselt, während die Zahl der in landwirtschaftlichen Betrieben tätigen auf 10% herabsankt. Ähnlich in Deutschland, wo sich der Anteil der Landwirtschaft von ⅔ des Volkes in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf 38% im Jahre 1895 reduzierte; in den letzten Jahren haben sich die Verhältnisse für die Landwirtschaft noch vielfach verschlechtert.

Die Konzentration großer Arbeitermassen, verbunden mit einer systematischen Erziehung der Arbeiter zur technischen Arbeit, die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten, ihres Begriffsvermögens und ihres Verständnisses für die technischen Vorgänge im Interesse eines industriellen Fortschritts, haben jedoch Wirkungen gezeitigt, die der aufstrebenden industriellen Technik selbst zum Hemmnis wurden, und wir sind heute an einem Punkt angelangt, auf welchem die sozialen Schwierigkeiten die technischen bereits überwiegen und lähmend auf die volle Entfaltung der technisch-wirtschaftlichen Möglichkeiten wirken.

Durch die örtliche Vereinigung ist die Macht der unteren Klassen erst einer Zusammenfassung und Sammlung fähig geworden und die geistige Aufklärung hat die bisher gedrückten, von allen höheren Genüssen der Kultur ausgeschlossenen Volksklassen zum Bewußtsein ihrer Kraft erwachen lassen und sie gleichzeitig veranlaßt, ihre natürliche Macht für die Durchsetzung höherer Ansprüche zu betätigen. Die politischen Umgestaltungen der letzten Jahrzehnte haben hier ihren Ursprung. Der rechtliche Einfluß des Standes ist geschwunden und hat die wirtschaftlichen und rein sozialen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens nunmehr umso schärfer hervortreten lassen (2). Die moderne Technik hat die alte Rechtsordnung der Gewerbe über den Haufen geworfen und der Rechtsentwicklung neue Bahnen gewiesen; die Gebiete des nationalen und internationalen Privatrechts, wie des öffentlichen Rechts haben sich geweitet. Eine Fülle sozialer Probleme, die in der industriellen Entfaltung der Gegenwart ihren Ursprung haben und von denen frühere Zeiten nichts wußten, geben der Gesetzgebung und Verwaltung, ebenso wie der privatwirtschaftlichen Initiative wichtige sozialpolitische Aufgaben zu lösen. Das Ende oder auch nur der wahrscheinliche Verlauf dieser Entwicklung sind nicht abzusehen. Voraussichtlich aber wird dem Techniker, als Leiter der Arbeiterschaft im technischen Betrieb und als ihr natürlicher Führer, in der künftigen Ordnung der Dinge eine wichtige Rolle über seine rein fachliche Tätigkeit hinaus, beschieden sein.
LITERATUR: Max Ried, Technik und soziale Entwicklung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 66. Jhg, Tübingen 1910
    Anmerkungen
    1) ALBERT SCHÄFFLE, Bau und Leben des sozialen Körpers, Bd. 1
    2) EUGEN SCHWIEDLAND, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Wien 1910.