p-4K. MarbeF. HillebrandW. WundtF. KruegerJ. EisenmeierH. Cornelius    
 
FELIX KRUEGER
(1874-1948)
[mit NS-Vergangenheit]

Ist Philosophie
ohne Psychologie möglich?


"Wovon die Psychologie ausgehen muß und allein ausgehen darf, das sind die unmittelbar gegebenen Bewußtseinserscheinungen, in Bezug auf die kritische Bedenken und Zweifel sinnlos sind. Es kann nicht gefragt werden, ob die Erscheinungen unseres Bewußtseins als solche wahr oder falsch sind; dieselben stehen außerhalb der Frage nach der Wahrheit."

"Wie will man die Grenzen des menschlichen Erkennens bestimmen, wie den Sinn eines Urteils, etwa der Existenzbehauptung, prüfen, wie unsere Begriffe, z. B. den Dingbegriff, kritisch untersuchen ohne diese psychologischen Tatbestände genau zu kennen?"

Unter dem vielverheißenden Titel "Psychologie und Philosophie- Ein Wort zur Verständigung" - ist vor einigen Tagen eine kleine Schrift des Privatdozenten Dr. CARL GÜTTLER in München erschienen, die es sich zur Aufgabe macht, die Ziele und den Charakter der modernen Psychologie, sowie ihr Verhältnis zur Philosophie zu erörtern. Die Broschüre wendet sich offenbar an ein größeres Publikum und gewiß ist ihr Gegenstand von hohem allgemeinem Interesse. Die vom Verfasser vertretenen Anschauungen sind in Psychologenkreisen nicht ohne Beachtung geblieben und haben teilweise lebhaften Widerspruch gefunden. Da nun derartige literarische Erscheinungen von den berufenen Vertretern der Wissenschaft nicht immer namentlich selten in einer weiteren Kreisen leicht zugänglichen Form besprochen werden, sei es einem jüngeren Anhänger der modernen Psychologie gestattet, den Inhalt der genannten Schrift noch einmal kurz zusammenzufassen und einige kritische Bemerkungen daran zu knüpfen. Dabei wird sich zugleich ein kleiner Beitrag zur Klärung der Frage, um die es sich handelt, hoffentlich ergeben.

Das charakteristische Merkmal der modernen Psychologie erblickt der Verfasser darin, daß sie "ausschließlich induktive Phänomenologie" oder, wie das Schlagwort lautet, eine "Psychologie ohne Seele" ist und sein will. Als bloße "Erscheinungslehre des Bewußtseins" geht sie nicht "von einer immateriellen, für sich bestehenden Seelensubstanz" aus und verzichtet damit von vornherein darauf, den "Träger" der psychischen Erscheinungen, "das persönliche Ich des Menschen" seinem Wesen nach zu erforschen. Andererseits begrüßt sie mit Freuden alles, was unsere Kenntnis von der "Natur des lebenden Körpers" zu fördern geeignet ist, - in der Überzeugung, daß der "einzige wissenschaftliche Weg", "die Natur der Seele zu erforschen" durch den Körper geht.

Mit Rücksicht auf die Themata einiger vor kurzem von der "Psychologischen Gesellschaft in München" veranstalteter Vorträge und auf das Arbeitsprogramm des für 1896 geplanten internationalen Psychologenkongresses werden dann die Aufgaben skizziert, die die psychologische Wissenschaft sich heute stellt. Sie will ihre Tätigkeit keineswegs auf die Forschung des normal entwickelten individuellen Bewußtseins beschränken. Rein physiologische Tatsachen, wie Nerven- und Gehirnprozesse, ferner die Probleme der Psychophysik zum "Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Vorgängen", ja selbst die "unheimlichen" "Nachtseiten der menschlichen Natur", die Gegenstände der Psychopathologie, schließlich auch die sogenannte vergleichende Psychologie, (als Psychologie des Kindes, der Tiere, Völkerpsychologie und dgl.) -, all das sollen in unseren Tagen Gegenstände eines, wie man glaubt, psychologischen Interesses sein, neben den im eigentlichen Sinn psychologischen Tatsachen, der Sinnesempfindung, des Gefühls, des Selbstbewußtseins usw.

Der Verfasser dieser Schrift hält es beim gegenwärtigen Stand der Forschung für unmöglich, alle diese Wissensgebiete unter dem Begriff einer einheitlichen Wissenschaft der Psychologie zusammenzufassen. Man berücksichtigt bei diesem Versuch
    "zu wenig, daß es sich allenthalben noch um das vorbereitende Stadium der Induktion handelt, während dem Begriff der Psychologie doch auch eine deduktive Bedeutung zukommt, insofern alle Forschung erst aufgrund einer bereits vorhandenen, mit Urteilskraft ausgestatteten Psyche in Angriff genommen werden kann."
Wollte man von einem Philosophen heutzutage im Ernst verlangen, daß er zugleich Psychologe in jenem modernen Sinn des Wortes sein soll, so könnten ihm unter anderem auch anatomische, physiologische, physikalische, ja medizinische Studien nicht erspart bleiben. Andererseits hätten die Mediziner heute die Neigung, ohne hinreichende historische Vorkenntnisse in philosophische Fragen hineinzureden, während der für eine empirische Forschung durchaus ungeeignete "Philosoph" sich um die Gunst der Naturforscher bemüht und seinerseits sich dem Wahn hingibt, als könnte er
    "ohne jede Rücksicht auf Geschichte und Metaphysik es unternehmen, mit dem Zauberwort empirische Psychologie die vielen tausend Rätsel des menschlichen Daseins zu lösen."
Über die Definition ihrer Wissenschaft sind sich die heutigen Psychologen keineswegs einig. Zumindest müsse man innerhalb der "empirischen Psychologie" drei Richtungen unterscheiden: die physiologische Psychologie, die Psychophysik und die "Psychologie des normalen Individuums". Einig ist man sich nur
    "in der Ablehnung jeder Art von spiritualistischer Psychologie älteren Datums, welche in der Seele des Menschen eine substantia cogitans per se existens [von selbst existierende denkende Substanz - wp] sieht, sowie in der Forderung einer induktiven Methode nach Art der Naturwissenschaft."
Dementsprechend wird, wo immer es angängig ist, das Experiment in den Dienst der psychologischen Forschung gestellt; damit aber ist die Psychologie in den Augen des Dr. GÜTTLER endgültig "aus der Philosophie herausgetreten". Eine Prophezeiung KANTs dient dieser Ansicht zur Unterstützung.

Wie wenig im Grund auch durch die Anwendung der experimentellen Methode erreicht worden ist, das läßt unser Autor sich durch die vor kurzem erschienenen Ausführungen DILTHEYs über "beschreibende und zergliedernde Psychologie" bestätigen. Er wiederholt die Klagen dieses Gelehrten über die zahllosen unvermittelt nebeneinander stehenden Hypothesen in der heutigen Psychologie und seinen Hinweis auf die engen Grenzen, die der Anwendung des Experiments gezogen sind.

Es gibt nach GÜTTLER überhaupt keine "allgemeingültigen Grundtatsachen des Seelenlebens". Und deshalb ist der Psychologie auch nicht der Wert einer Grund- und Zentralwissenschaft einzuräumen", wie sie nach der Meinung unseres Autors unentbehrlich ist für die kritische Sichtung des von den Naturwissenschaften gelieferten Beobachtungsmaterials, zur Schulung der Geister im methodischen Denken, endlich als "geistiges Band aller einzelnen Wissenschaften". Die Psychologie erhebt heute mit Unrecht, und nur in "gewaltiger Überschätzung ihrer Resultate" den Anspruch, selbst diese vielseitige "Grund- und Zentralwissenschaft" zu sein. - Allerdings erfahren wir gleich darauf zu unserer Überraschung, daß, der Naturwissenschaft gegenüber diese psychologische Philosophie sich eine große Zurückhaltung auferlegt: "Vorsichtigerweise" will sie, (die doch eben noch um die Gunst von Medizinern und Naturforschern geworben hat!) doch "mit der Naturwissenschaft nichts zu tun haben". Als sogenannte "Wissenschaft des Geistes" glaubt die philosophische Psychologie unserer Tage im Mittelpunkt zumindest der philosophischen Disziplinen zu stehen; die "reproduktiv-exegetischen", d. h. philosophiegeschichtlichen Forschungen würden dadurch ungebührlich in den Hintergrund gedrängt.

Das Resultat, zu dem der Verfasser auf diesen vielverschlungenen Pfaden gelangt, ist etwa folgendes: die experimentelle, "im Laboratorium arbeitende" Psychologie ist als Einzelwissenschaft von der Philosophie loszulösen und der Naturwissenschaft anzugliedern. Daneben gibt es eine andere, nicht nach empirisch-induktiver Methode verfahrende, philosophische Psychologie, die man am besten "kurzweg Metaphysik" nennen und dort stehen lassen sollte, "wo sie von jeher ihren Platz gehabt hat, bei der theoretischen Philosophie im alten Sinn."

Die nachfolgenden Ausführungen über die Stellung der Psychologie und der Philosophie an den deutschen Universitäten gehen größtenteils von praktischen und pädagogischen Gesichtspunkten aus, sodaß sie hier, wo es sich nur um eine sachliche Prüfung der theoretischen Fragen handelt, übergangen werden können. Es wird sich jedoch im Verlauf der nachfolgenden Kritik Gelegenheit bieten, auch diese Punkte kurz zu berühren. Die Schrift schließt mit religiösen Betrachtungen, die mit den vorhergehenden Erörterungen in keinem logisch notwendigen Zusammenhang stehen.


Bei der kritischen Prüfung der Ergebnisse, zu denen unser Autor gelangt, erhebt sich zunächst die notwendige Vorfrage, ob die Schilderung, dier er von der Eigenart und den Zielen der heutigen Psychologie entwirft, den tatsächlichen Verhältnissen entspricht. Diese Frage muß auf das Bestimmteste verneint werden. Ein klares Bild davon, was sich der Verfasser unter dem Begriffe der heutigen Psychologie vorstellt, kann man allerdings aus der Schrift kaum gewinnen. Im wesentlichen aber wird hier unter moderner Psychologie die experimentelle Psychologie verstanden. Dabei werden die Begriffe der experimentellen, der naturwissenschaftlichen und der empirischen Methode fortgesetzt miteinander vertauscht, während sie natürlich keineswegs Identisches bezeichnen. Die heute maßgebende Psychologie verfährt allerdings lediglich empirisch; darin müssen wir dem Verfassesr vollkommen recht geben. Sie hat zum Gegenstand die jedem unmittelbar gegebenen und aufzeigbaren Tatsachen, die wir als psychische oder als Tatsachen des Bewußtseins zu bezeichnen pflegen, und sucht diese Tatsachen auf dem Weg der Induktion als gesetzmäßige zu begreifen. Wenn sie dabei den Begriff der Seele oder der Psyche beibehält, so ist das eben nur ein zusammenfassender Allgemeinbegriff, der erst durch die Resultate der Forschung mit einem immer bestimmteren Inhalt erfüllt werden kann. Was diese Seele "ansich" ist, unabhängig von ihren "Erscheinungen", diese Frage wird vielleicht nie aufhören, Gegenstand metaphysischer Spekulationen zu sein, obgleich neuere erkenntniskritische Überlegungen es zweifelhaft erscheinen lassen, ob sich mit ihr überhaupt ein verständlicher Sinn verbinden läßt. Sie hat jedenfalls in der Wissenschaft keine Existenzberechtigung, was seit KANTs "Kritik der reinen Vernunft" eigentlich nicht mehr gesagt zu werden braucht. Wer daher von der Psychologie fordert, sie soll von einer immateriellen, unveränderlichen und "für sich bestehenden" Seelensubstanz, kurz von einem scholastisch-theologischen Begriff der Seele ausgehen und daraus deduktiv die Tatsachen des Bewußtseins ableiten, der verlangt von einer Wissenschaft, daß sie das Bekannte, ja in gewissem Sinne Allerbekannteste, auf ein Unbekanntes und völlig Unerkennbares zurückführt. Die Psychologie ist, wie die Naturwissenschaften eine Erfahrungswissenschaft, und kann nicht einseitig auf die "sinnliche Erfahrung" beschränkt werden. Als Naturwissenschaft darf die Psychologie nur dann bezeichnet werden, wenn man die psychischen Phänomene zusammen mit den materiellen dem gemeinsamen Oberbegriff "Naturerscheinungen" unterordnet. Damit wären sämtliche Wissenschaften als Naturwissenschaften charakterisiert, was jedenfalls dem bisher üblichen Sprachgebrauch nicht entspräche.

Die empirische, d. h. die allein wissenschaftliche Methode ist allen Wissenschaften gemeinsam; aber sie modifiziert sich naturgemäß nach dem speziellen Forschungsgebiet, um das es sich handelt. Und so hat auch die Psychologie heutzutage ihre eigene Verfahrensweise oder vielmehr eine ganze Anzahl eigener Methoden. Dazu gehört auch die experimentelle Methode, die in die Psychologie eingeführt zu haben, unserer deutschen Wissenschat immer zum Ruhm gereichen wird. Der Gelehrte, und vor allem der Philosoph, hat doch wohl die Pflicht, jedes Mittel anzuwenden, das zur Lösung der ihm vorliegenden Probleme geeignet erscheint. Daß man heute psychologische Resultate auf einem experimentellen Weg zu gewinnen sucht und zwar - wie die Gedächtnisversuche von EBBINGHAUS beweisen - nicht nur "auf dem Grenzgebiet des Natur- und Seelenlebens", - daß dementsprechend auch in der Psychologie das Bedürfnis nach "Apparaten und technischen Hilfsmitteln", ja sogar nach "Assistenten und Dienert" sich fühlbar macht, - diese Tatsachen dürften allein noch nicht die Notwendigkeit in sich schließen, eine unüberbrückbare Kluft zwischen Philosophie und Psychologie zu konstruieren. Daß die experimentelle Methode nicht überall anwendbar ist, und daß die psychischen Erscheinungen dem Experiment ungleich schwerer zugänglich sind, als etwa ein physikalischer Vorgang, das brauchen sich unsere Psychologen nicht erst von Fernerstehenden sagen zu lassen. Gewiß hat man - wie das neuen Errungenschaften zu begegnen pflegt - vielfach übertriebene Hoffnungen auf die Psychometrie gesetzt; aber die heute maßgebenden Gelehrten sind in dieser Beziehung wohl sämtlich vom Vorwurf eines allzu kritiklosen Optimismus freizusprechen. Sie betrachten das Experiment als ein willkommenes Hilfsmittel zur Demonstration einfacherer psychischer Vorgänge und zur Prüfung vorliegender Theorien; aber sowenig ist die gesamte empirische Psychologie der Gegenwart mit der "experimentellen Psychologie" zu identifizieren, daß man noch heute an deutschen Universitäten wertvolle psychologische Vorlesungen hören kann, bei denen - (oft aus sehr naheliegenden Gründen) - von jedem Experiment Abstand genommen wird. Übrigens gilt das Gesagte nur vom Experiment in jener engen, prägnanten Bedeutung des Wortes, die Dr. GÜTTLER im Auge zu haben scheint. Prinzipiell läuft es schließlich auf dasselbe hinaus, ob ich, etwa um den Unterschied des einäugigen Sehens vom doppeläugigen zu untersuchen, einfach das eine Auge schließe, ob ich ein anderes Mal, zum Studium optischer Täuschungen, ein paar Linien auf Papier zeichne, oder ob ich schließlich, etwa zum Zweck "psychischer Messungen", mich komplizierter Apparate bediene. Alle diese Verfahrensweisen können in einem weiteren Sinn des Wortes als "Experimente" bezeichnet werden und sind nur relativ äußerlich voneinander verschieden.

Der physiologischen Psychologie im Sinne WUNDTs scheint Herr Dr. GÜTTLER im Anschluß an einen anderen Schriftsteller (1) eine größere Bedeutung beizumessen als der experimentellen Psychologie, die von der physiologischen demnach prinzipiell unterschieden wird. Tatsächlich macht neben der Psychophysik kein Zweig der modernen Psychologie einen so ausgiebigen Gebrauch von der experimentellen Methode, als eben die von WUNDT begründete physiologische Psychologie. Aber - was uns wichtiger ist - gerade sie wird von den führenden Geistern der heutigen Wissenschaft ebenso wie die sogenannte Tier-, Kinder- und Völkerpsychologie als ein bloßes Grenzgebiet oder eine Hilfswissenschaft der reinen empirischen Psychologie angesehen. Freilich ist diese Erkenntnis noch nicht so allgemein durchgedrungen, wie man das im Interesse unsere Wissenschaft wünschen muß. Und wenn im Eingang der uns vorliegenden Schrift die dilettantenhafte Verquickung physiologischer Tatsachen und Erklärungen mit den psychologischen getadelt wird, so ist damit eine Unklarheit angedeutet, mit der wir heute in der Tat vielfach zu kämpfen haben (2). Es gibt gegenwärtig eine Anzahl von Physiologen, die die Psychologie schon wesentlich zu fördern meinen, wenn sie gewisse Gehirn- und Nervenvorgänge, die wir als notwendige Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge aufzufassen gelernt haben, einfach mit den Ausdrücken einer populären Psychologie bezeichnen. Wor wir gewisse Bedingungen psychischer Erscheinungen lokalisieren müssen, im Körper und speziell im Kopf, da wird von dieser Seite zuweilen auch der "Sitz" der Vorstellungen oder der ganzen Seele vermutet! Das alles sind Nachklänge aus der Blütezeit der Metaphysik - denn auch der theoretische Materialismus ist Metaphysik - der Metaphysik, in deren mütterliche Arme Herr Dr. GÜTTLER die Psychologie, soweit sie nicht experimentell verfährt, heute zurückführen möchte.

Unser Historiker der Philosophie läßt die empirische Psychologie im 19. Jahrhundert, bei BENEKE und HERBART, eigentlich sogar erst bei FECHNER und WUNDT ihren Anfang nehmen. Hat er dann von der englischen Psychologie des 17. und 18. Jahrhunderts, von LOCKE, BERKELEY und HUME noch gar nichts gehört? Diese Männer, die eigentlichen Begründer der wissenschaftlichen Psychologie, trieben weder experimentelle noch physiologische Psychologie und doch waren sie empirische Psychologen ersten Ranges. Man denke nur an LOCKEs Vernichtungskampf gegen die "angeborenen Ideen" der Metaphysiker, an BERKELEYs grundlegende Untersuchungen zur Psychologie der Tiefenwahrnehmung oder an HUMEs psychologische Analyse des Kausalitätsbegriffs.

Und auch heute gibt es zum Glücke eine rührige empirische Psychologie, die mehr ist und sein will als Psychometrie und Psychophysiologie. Gerade in München, vor den Augen unseres Kritikers, beginnt sich eine Psychologenschule zu bilden, die in einem bewußten Gegensatz zur Einseitigkeit einzelner physiologischer Psychologen und psychologisierender Naturforscher in erster Linie die Psychologie des "normalen Individuums", diese aber in ihrer ganzen Breite und Tiefe, empirisch zu erforschen sich bemüht, weil sie überzeugt ist, daß erst aufgrund dieser "Individualpsychologie" ein fruchtbares Studium der Gehirn- und Nervenphysiologie, (ebenso wie der Tier-, Kinder- und Völkerpsychologie, der Psychopathologie usw.) möglich ist.

Gerade an der Münchener Universität wirken gegenwärtig zwei Vertreter der modernen Psychologie (3), die darin völlig miteinander übereinstimmen, daß es für die Psychologie keine andere wissenschaftliche Methode geben kann, als die empirische, daß aber speziell die experimentelle Methode und die Hilfsdisziplinen der Psychophysiologie, sowie der "vergleichenden Psychologie" in ihrer heutigen Bedeutung für die Erkenntnis des psychischen Lebens nicht überschätzt werden dürfen.

Der Vorwurf also, daß die heutige Psychologie physische und psychische Erscheinungen nicht reinlich voneinander unterscheidet, ist keineswegs als ein allgemein und ohne Einschränkung berechtigter anzuerkennen. Er richtet sich billigerweise in erster Linie gegen gewisse dilettantische Freunde der Wissenschaft, wie wir ihnen auf allen Gebieten menschlichen Forschens begegnen. Auch die Philosophie "alten Stils" pflegt ja wegen der Mannigfaltigkeit und Allgemeinheit ihrer Probleme Mitarbeiter sehr verschiedener Art zu finden. Wie schwer es aber dem psychologischen Laien gelingt, die physische und die psychische Erscheinungsreihe auseinanderzuhalten, dafür liefert unser Kritiker selbst einen unfreiwilligen Beweis, wenn er die "Sinnesempfindungen und die sich daran anschließenden Vorstellungen und Gedächtnisbilder" als "körperliche Vorgänge" (!) bezeichnet oder wenn er Untersuchungen über "die Stufen und Ursachen der Tonverschmelzung" oder "über die individuellen Unterschiede im Analysieren und Heraushören von Tönen" der Physik glaubt zuweisen zu müssen. Daß die den Bewußtseinserscheinungen parallel laufenden Vorgänge im Gehirn und im Nervensystem überhaupt, den Psychologen auch interessieren müssen, liegt auf der Hand, und es ist nur freudig zu begrüßen, daß hier eine Art Arbeitsteilung Platz gegriffen hat, derart, daß sich ein Zweig der Psychologie, ausschließlich mit den Wechselbeziehungen zwischen Leib und Seele beschäftigt; nur darf niemals, wie das von Seiten der neueren Metaphysiker bis auf EDUARD von HARTMANN so häufig geschieht, anstelle eine Parallelismus die Identität von Physischem und Psychischem behauptet werden. Auch dieser Parallelismus, der keinesweg allgemein als ein "Parallelismus sämtlicher physischer und psychischer Zustände" aufgefaßt wird, gilt dem empirischen Forscher nicht als ein unbezweifelbares metaphysisches Dogma. Es ist vielmehr lediglich ein "regulatives" oder heuristisches Prinzip im Sinne KANTs (4), dessen Psychophysik sich bedient, wenn sie ihre Forschungen zunächst unter der Voraussetzung unternimmt, daß jedem Vorgang des Bewußtseins ein materieller, der sogenannte psychophysische Vorgang zugrunde liegt, daß ferner einer Gleichheit, Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der psychophysischen Prozesse entspricht und umgekehrt.

Dieses Prinzip, das auch der Physiologie schon manchen wichtigen Dienst geleistet hat, trägt genauso weit, aber auch nicht weiter, als es durch die Erfahrung bestätigt wird. Vielleicht wird es niemals gelingen, für kompliziertere psychische Tatsachen, insbesondere auch für die Gefühle, die physiologischen Äquivalente in zureichender Weise aufzuzeigen. Aber diese Unmöglichkeit darf nicht ohne Beweis a priori behauptet werden. Den wissenschaftlichen Erkenntnistrieb würde es jedenalls in hohem Grad befriedigen, wenn wir dereinst für alle Tatsachen des Seelenlebens, - "die mächtigsten Geistesäußerungen der Genialität und Offenbarung nicht ausgenommen" - zugleich physiologische Parallelerscheinungen nachweisen könnten.

Die Polemik des Dr. GÜTTLER schließt sich, wie schon bemerkt, teilweise an DILTHEYs "Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie" an. Diese Arbeit ist von EBBINGHAUS, einem Hauptvertreter der heutigen wissenschaftlichen Psychologie, einer scharfsinnigen Kritik unterzogen worden, auf die an dieser Stelle nur hingewiesen werden soll (5). Fast alles, was da DILTHEYs Arbeit gegenüber gesagt worden ist, muß auch gegen unseren Autor geltend gemacht werden. DILTHEYs Kampf gegen die moderne Psychologie ist in allen wesentlichen Punkten ein Kampf gegen Windmühlen, insofern die große Mehrzahl der von ihm unserer Wissenschaft nachgesagten Mängel schon seit Jahrzehnten in den ausschlaggebenden Kreisen überwunden ist. Die "beschreibende und zergliedernde" Psychologie, die er empfiehlt, ist prinzipiell genau das, was heute allgemein unter wissenschaftlicher Psychologie verstanden wird. Der "Nebel von Hypothesen", der angeblich auf allen Gebieten der Psychologie lastet, erscheint dem aus der Vogelperspektive der Spekulation vornehm herniederblickenden Auge weit dichter, als den unbefangenen Forschern, die auf den einzelnen Gebieten selber die mühevolle Arbeit verrichten. Und wo ein solcher undurchdringlicher Nebel noch besteht, wird er, so hoffen wir, nicht für alle Zeit undurchdringlich bleiben, sondern nach und nach der gewissenhaften Einzelforschung oder der erkenntnistheoretisch richtigeren Fragestellung, teilweise auch schon der größeren terminologischen Klarheit weichen. Denn das hat ohne Frage unsere Wissenschaft als ein Erbübel von ihrer Mutter, der Philosophie "alten Stils" übernommen, daß ihre Jünger teilweise ohne zwingenden Grund sehr verschiedene Sprachen sprechen, und daß daher mancher heftige Streit lediglich um Worte von ihnen geführt wird.

Vor allem aber ist eine Hypothese ja nicht ansich ein Übel, sondern eine wissenschaftliche Notwendigkeit und wissenschaftlich wertvoll in dem Maß, wie sie auf dem festen Boden der Erfahrung ruht. Eine Wissenschaft, die nicht von Vorurteilen oder "Offenbarungen" ausgeht, also eine wirkliche Wissenschaft, kann ohne Hypothesen um keinen Schritt vorwärts kommen. Und es ist deshalb unzulässig, da, wo es sich um wissenschaftliche Hypothesen handelt, die, aus empirischer Beobachtung erwachsen, unter steter Kontrolle der Erfahrung verwendet werden, schon von "metaphysischen Voraussetzungen" zu reden. Hypothese ist im Grunde jedes durch Induktion gewonnene allgemeine Urteil. Fortwährend müssen sich unsere allgemeinen Sätze und Begriffe einer Prüfung und Korrektur, Erweiterungen bzw. Einschränkungen aller Art gefallen lassen. Insofern ist selbstverständlich die Psychologie, wie jede empirische Wissenschaft "zum Teil problematisch". Die Einordnung des Einzelnen unter das übergeordnete Allgemeine oder seine Ableitung daraus geschieht auf dem Weg der Deduktion.

Das führt uns zum dem gegen die moderne Psychologie erhobenen Vorwurf, sie berücksichtige zu wenig, daß
    "dem Begriff der Psychologie doch auch eine deduktive Bedeutung zukommt, insofern alle Forschung erst aufgrund einer bereits vorhandenen, mit Urteilskraft ausgestatteten Psyche in Angriff genommen werden kann."
Dieser Vorwurf steht in einem seltsamen Widerspruch zu der ohne Kritik von DILTHEY übernommenen Behauptung, daß die heutige Psychologie mittels "hinzugedachter oder erschlossener" Elemente nur hypothetische "Konstruktionen" der seelischen Zusammenhänge bietet. Diese Behauptung ist zweifellos richtig, insofern die Psychologie, wie jede Erfahrungswissenschaft die Lücken im Zusammenhang der Erfahrung durch Ergänzungen aufgrund anderweitiger Erfahrungen und der daraus gewonnenen allgemeinen Urteile und Begriffe auszufüllen sich bemüht: und insofern enthält sie keinen Vorwurf. Keine empirische Wissenschaft verzichtet auf das Erkenntnismittel der Deduktion, d. h. der versuchsweisen Anwendung ihrer induktiv gewonnenen allgemeinen Begriffe und Sätze auf die Tatsachen der Erfahrung. Ja, alle Wissenschaften streben danach, so früh wie möglich mit diesem deduktiven Verfahren zu beginnen, ihm unter beständiger Kontrolle der Erfahrung einen immer breiteren Raum innerhalb ihres Gebietes zu verschaffen. Ein Vorwurf gegen die Psychologie hätte nur soweit eine Berechtigung, als sich nachweisen läßt, daß einzelne Psychologen ohne Rücksicht auf die Erfahrung aufgrund unbewiesener oder unbeweisbarer Voraussetzungen deduktiv verführen. Und dieser Vorwurf würde gegen eine etwaige Psychologie GÜTTLERs in vollem Umfang zu erheben sein. Denn unser Kritiker verlangt von der Psychologie - nur die physiologische und die "experimentelle" Psychologie scheint er von dieser Forderung auszunehmen, - daß sie eine "für sich bestehende" Seelensubstanz mit bestimmten metaphysischen Attributen dogmatisch voraussetzt und aus diesem Begriff die Gesetze des psychischen Geschehens deduktiv ableitet. In den Kreisen der wissenschaftlichen Psychologie unserer Tage ist man, im Gegensatz zu dieser Auffassung, darüber einig, daß Psychologie als Wissenschaft nicht in dieser Weise dogmatisch betrieben werden darf. Ja, gewisse erkenntnistheoretische Voraussetzungen, wie sie die Naturwissenschaften, teilweise mit gutem Recht, zu machen pflegen, können gerade der Psychologie nicht gestattet werden.

Solche Voraussetzungen, wie die der absoluten Existenz von Raum und Zeit, Materie und Bewegung, hat eben die psychologische Philosophie in ihrem erkenntnistheoretischen Zweig erst einer kritischen Analyse zu unterwerfen.

Wovon die Psychologie ausgehen muß und allein ausgehen darf, das sind die unmittelbar gegebenen Bewußtseinserscheinungen, in Bezug auf die kritische Bedenken und Zweifel sinnlos sind. Es kann nicht gefragt werden, ob die Erscheinungen unseres Bewußtseins als solche wahr oder falsch sind; dieselben "stehen außerhalb der Frage nach der Wahrheit."

Auf diese unmittelbar gegebenen und aufzeigbaren Tatsachen des Bewußtsen muß auch die Definition der psychologischen WIssenschaft, wie jede Definition der Psychologie "nur der Ausgangspunkt derselben und den zunächst einzuschlagenden Weg" bezeichnen kann, ist nicht als ein besonderer Mangel unserer Wissenschaft geltend zu machen. Denn eine völlig erschöpfende und unanfechtbare Definition müßte ja auch die Resultate schon in sich enthalten und gehört daher bei einer Erfahrungswissenschaft keineswegs, wie in der uns vorliegenden Arbeit behauptet wird, an den Anfang der betreffenden Untersuchungen, sondern könnte sich erst mit ihrer idealen Vollendung ergeben. Die Bewußtseinserscheinungen selbst, die den Ausgangspunkt der Psychologie bilden, sind als etwas Letztes und jedem unmittelbar Gegebenes einer Definition weder fähig noch bedürftig.


Die Psychologie ist eine empirische oder Erfahrungswissenschaft; denn von Tatsachen der Erfahrung hat sie auszugehen.

Die empirisch gegebenen Bewußtseinserscheinungen will sie beschreiben und klassifizieren; sie will durch eine Analyse und Vergleichung komplizierterer Phänomene auf einfachere zurückführen, zusammengehörige unter eine gemeinsame Bezeichnung begrifflich zusammenordnen; schließlich strebt sie und darin besteht ihre eigentliche Aufgabe, das psychische Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit als ein gesetzmäßiges zu begreifen. Das zugrundeliegende Tatsachenmaterial in zwei voneinander scharf getrennte Gruppen zu teilen, die dann zwei verschiedenen Wissenschaften zuzuweisen wären, ist wegen der immer im Auge zu behaltenden Einheit des Bewußtseins unmöglich, abgesehen davon, daß es aus methodologischen Gründen unzulässig wäre. Was soll den überhaupt die von Herrn Dr. GÜTTLER geforderte metaphysische Psychologie, die er von der empirischen genau unterschieden wissen will, zum Gegenstand haben? "Die Prüfung der Theorien über Raum- und Zeitvorstellung, über Sinnesempfindung, über Assoziation" ist doch wohl Aufgabe der empirischen Psychoogie und kann, wie es seit Jahrzehnten geschieht, nur von ihr mit Erfolg betrieben werden. Als das Hauptproblem der philosophischen Psychologie im Sinne GÜTTLERs soll offenbar die Frage nach dem Fortleben der Seele nach dem Tod angesehen werden. Diese Frage bildete eines der wichtigsten Themata der alten "rationalen Psychologie", von der an der betreffenden Stelle zugegeben wird, daß sie "ihre wissenschaftliche Kraft eingebüßt hat". Heute ist das Unsterblichkeitsproblem, weil man seine wissenschaftliche Unlösbarkeit eingesehen hat, hoffentlich für immer, aus der wissenschaftlichen Psychologie ausgeschieden und wird mit Recht nach seiner historischen Seite der Geistesgeschichte, im Übrigen aber der Religion und der Metaphysik, im eigentlichen Sinne des Wortes, überlassen. (Dasselbe gilt von der Frage des "Gottesbewußtseins", die unser Kritiker auch selbst nicht für einen Gegenstand möglicher wissenschaftlicher Diskussion zu halten, sondern im Sinne des Theismus dogmatisch zu entscheiden scheint. Für die Unsterblichkeit der Seele wird ein "Beweis" versucht, der wenig geeignet ist, das Vertrauen zu einer "metaphysischen Psychologie" im vorgeschlagenen Sinn zu stärken. Wir erfahren da Folgendes:
    "Dieses geistige Fortleben wird uns teil durch die Geschichte, teils durch den religiösen Glauben, teilweise aber auch durch die Naturwissenschaft verbürgt; nach dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft kann die geistige Kraft noch viel weniger der Zerstörung unterworfen sein, als die materielle Kraft der Bewegung."
Diese "Beweisführung" beruth auf einem Mißverständnis des Prinzips von der Erhaltung der Energie, dessen Gültigkeit sich lediglich auf wägbare Massen und messbare Bewegungen erstreckt. Aber selbst wenn dieses Gesetz auf das geistige Geschehen übertragbar wäre, würde damit nicht das Geringste für die Unsterblichkeit der individuellen Seele, die allein dem gläubigen Menschen am Herzen liegt, bewiesen werden.

Diese metaphysische Psychologie soll zum Glück nur einen kleinen Teil der Aufgaben desjenigen Forschers bilden, der nach Dr. GÜTTLER auf den Ehrentitel eines Philosophen Anspruch erheben darf. Damit kommen wir zur Beurteilung seiner Ausführungen über das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie, die sich aus dem bisher Gesagten teilweise von selbst ergibt.

Ästhetik und Metaphysik (im Sinne von "Naturphilosophie", Ethik, Logik und Erkenntnistheorie, vor allem aber Religionsphilosophie sollen neben einer Geschichte der Philosophie die eigentlichen Arbeitsgebiete des Philosophen sein.

Alle diese Wissenschaften - das ist das Entscheidende - haben nach Herrn Dr. GÜTTLERs Meinung mit der empirischen Psychologie wenig oder gar nichts zu tun; offenbar sollen sie nach einer anderen als der empirischen Methode betrieben werden; denn die eigentümliche Veranlagung des Philosophen nach dem Herzen unseres Autors ist dadurch charakterisiert, daß - von wenigen Ausnahmen abgesehen - "weder der gute Wille, noch praktische Übung hinreichen", ihn "zu einem berufsmäßig forschenden Empiriker umzugestalten". (Er ist somit eigentlich ein für die wissenschaftliche Beschäftigung herzlich schlecht veranlagter Mensch.) Die anderen früher "philosophisch" genannten Disziplinen, die jetzt zu selbständigen Einzelwissenschaften geworden sind, sind nur zu beglückwünschen, daß sie sich mit Erfog gegen die "Mutterrechte" dieser Philosophie aufgelehnt haben. In der Tat hat z. B. - um nur eine dieser "Töchter der Philosophie" zu nennen - die Nationalökonomie die großen Erfolge, die sie in diesem Jahrhundert zu verzeichnen hat, erst erzielen können, als sie mit gewissen "philosophischen" Voraussetzungen endgültig gebrochen hatte, vor allem mit der Annahme eines idealen Naturzustandes der Menschen, die - ursprünglich latuer freie und gleichgeartete Robinsons - aus "wohlverstandenem Eigentinteresse" eines Tages auf den Einfall kamen, sich zu einem Volk zusammenzuschließen und den "Vertragsstaat" zu gründen, kurz: mit der ganzen physiokratischen Lehre von der natürlichen Volkswirtschaft. Was dieser Anschauung zugrunde lag, das war neben einer historischen Unkenntnis der völlige Mangel einer empirischen Untersuchung des psychologischen Tatbestandes. Psychologische Voraussetzungen sind der allgemeinen Nationalökonomie - man denke nur an die Lehre vom Wert oder von den das Wirtschaftsleben bestimmenden Bedürfnissen! - in der Tat unentbehrlich. Die Psychologie ist diejenige philosophische Diszipline, auf die sich, wie das heute auch ziemlich allgemein anerkannt wird, die theoretische Volkswirtschaftslehre allerdings stützen muß; und zwar die empirische Psychologie, denn mit Spekulationen über die Unsterblichkeit der Seele ist ihr nicht gedient. Was von der Nationalökonomie behauptet wurde, das gilt mutatis mutandis [unter vergleichbaren Bedingungen - wp] für alle Wissenschaften, in erster Linie aber von denjenigen Disziplinen, die heute noch zur Philosophie gerechnet zu werden pflegen.

Soll die Philosophie als Wissenschaft überhaupt möglich sein, so muß sie notwendig von Gegebenem und Erfahrbarem ausgehen, und die Philosophie kann als "Wissenschaft der Prinzipien" nur in dem Sinne definiert werden, daß sie auf die letzten - oder, wenn man will: ersten - Daten der Erfahrung, auf die Bewußtseinserscheinungen selbst zurückgeht. Mit Inhalten des Bewußtseins hat es in letzter Linie alle Wissenschaft zu tun - denn die Welt ist Bewußtseinsinhalt -: aber die im engeren Sinne philosophischen Wissenschaften, Logik, Ästhetik usw., nehmen insofern eine Sonderstellung ein, als sie das psychische Geschehen gewissermaßen von der Wurzel aus untersuchen und dann in seine wichtigsten Verzweigungen hinein verfolgen müssen. Was sind dielogischen "Gesetze" anderes, als Gesetze des psychischen Geschehens? Die Forschritte, die die Logik, im Gegensatz zu den unfruchtbaren scholastischen Begriffsspielereien, in der neueren Zeit gemacht hat, waren nur möglich aufgrund der genaueren psychologischen Analyse des Denkens oder Erkennens, des Urteilens und der Begriffsbildung, zu der die bedeutenderen Logiker, etwa seit LOCKE und HUME, sich bequemt haben. Dasselbe gilt von der Erkenntnistheorie, die gerade den Metaphysiker besonders interessieren sollte; denn er pflegt ja seine Spekulationen mit einem Hinweis auf die engen Schranken, die der empirischen Forschung gesetzt sind, zu rechtfertigen. Aber, wie will man die Grenzen des menschlichen Erkennens bestimmen, wie den Sinn eines Urteils, etwa der Existenzbehauptung, prüfen, wie unsere Begriffe, z. B. den Dingbegriff, kritisch untersuchen ohne diese psychologischen Tatbestände genau zu kennen? Und eine solche genaue Kenntnis ist doch wohl nur durch eine eingehende psychologische Analyse möglich. Die Erkenntnistheorie ruht unmittelbar auf der Psychologie; ja, sie ist, als Wissenschaft vom Denken, ein Teil der Psychologie, wie das in letzter Zeit von maßgebender Seite wiederholt worden ist (6). Der ganze Gegensatz zwischen "normativen" und erklärenden Wissenschaften ist insofern ein völlig äußerlicher und psychologisch unberechtigter, als geltende Normen und ihre Befolgung genausogut psychische Tatbestände sind, wie ihre Übertretung, und es sich nur darum handeln kann, psychologisch zu untersuchen, was in dem einen, und was im anderen Fall psychisch vorliegt. Der Erkennnistheoretiker und Logiker muß deshalb in erster Linie Psychologe sein, und KANT, der, in seltsamer Verkennung ihrer grundlegenden Bedeutung, der empirischen Psychologie eine so bescheidene Stelle innerhalb der Philosophie glaubt zuweisen zu müssen, - derselbe KANT ist doch Psychologe in jedem Abschnitt seiner Werke, nur daß er es leider nicht immer ganz und nie mit vollem Bewußtsein gewesen ist. Wie man sich eine Logik oder Erkenntnistheorie denken soll, die "mit psychologischen Tatsachen" überhaupt nicht "belastet" wäre, ist mir unverständlich.

Auch die Ästhetik und die Ethik haben es unmittelbar mit psychologischen Tatsachen zu tun. Sie untersuchen bestimmte Arten des psychischen Verhaltens in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang und haben sich wohl nur deshalb zu besonderen Einzelwissenschaften entwickelt, weil sie zugleich die Kenntnis komplizierterer sozialer Erscheinungen, - der einzelnen Künste bzw. (Ethik) der Sitte, des Rechts, der wirtschaftlichen und staatlichen Institutionen der Völker und dgl. - bis zu einem gewissen Grad voraussetzen. Wenn Herr Dr. GÜTTLER behauptet, daß "die Vorlesungen über derartige Gegenstände mit der modernen Psychologie wenig oder gar nichts zu tun haben", so weiß ich nicht, welche Universitätsdozenten er dabei im Auge hat. Nach meinen, glücklicherweise der jüngsten Vergangenheit angehörigen Erfahrungen kann ich diese Behauptung keineswegs bestätigen. Wo aber z. B. in der Ästhetik oder auch in der Erkenntnistheorie, auf eine gründliche und umfassende psychologische Fundamentierung Verzicht geleistet wird, da geschieht es nach den übereinstimmenden Mitteilungen verschiedener hier in Betracht kommender Geschlechter nur mit einem lebhaften Bedauern wegen der völlig mangelnden psychologischen Vorbildung der allermeisten Hörer, die eben zum Teil immer noch auf dem Standpunkt stehen, daß Philosophie ohne Psychologie möglich ist. Tatsächlich ist, wie das historisch nachgewiesen werden kann, jeder Fortschritt in der Lösung ästhetischer oder moralphilosophischer Probleme bedingt durch Fortschritte in der psychologischen Erkenntnis des ästhetischen bzw. ethischen Verhaltens. Die Geschichte der englischen Ethik namentlich des 18. und 17. Jahrhunderts und die der neueren deutschen Ästhetik bieten dafür interessante Belege.

Was die sogenannte Religionsphilosophie betrifft, so weiß ich nicht, was man, abgesehen von der Geschichte der Religionen, die in die allgemeine Geistesgeschichte gehört, mit diesem Namen anderes bezeichnen soll, als die psychologische Untersuchung der religiösen Gefühle; denn die Apologetik [Rechtfertigung - wp] einer bestimmten einzelnen Religion und ihrer Dogmen bleibt doch wohl mit Recht der Theologie überlassen.

Aber auch die Geschichte der Philosophie, wenn sie mehr sein will, als Bibliographie und Literaturgeschichte, wird schwerlich von anderen, als von psychologisch gebildeten und geschulten Denkern fruchtbringend betrieben und gelehrt werden können. Nach dem Gesagten versteht es sich ja von selbst, daß auch die historisch überlieferten Lösungsversuche ästhetischer, logischer, ethischer und verwandter Probleme, bewußt oder unbewußt, auf psychologischen Anschauungen basieren; und auch die metaphysischen Lehren namentlich der neueren Zeit enthalten im Wesentlichen nur eine "Umdeutung" psychologischer Grundanschauungen der betreffenden Philosophen. Wie will man beispielsweise SCHOPENHAUER kritisch behandeln - und alles wissenschaftliche "Berichten" ist zugleich ein "Richten" - ohne der Psychologie des Willens und der Gefühle selbst näher getreten zu sein?

Was schließlich die Metaphysik im Sinne einer "Naturphilosophie" angeht, so geht sie entweder von der äußeren Erfahrung aus und bleibt innerhalb der Grenzen, der äußeren Erfahrung: dann ist sie (eventuell eine "vergleichende") Naturwissenschaft; oder, was häufiger der Fall ist, sie überschreitet spekulativ die Grenzen möglicher Erfahrung: dann ist sie keine Wissenschaft. Die hypothetischen Ergänzungen der Lücken in der bisherigen Erfahrung, wie sie jede empirische Wissenschaft vornehmen muß, die Schlüsse, die aus den Beobachtungen zu ziehen sind, und dergleichen pflegen die modernen Naturforscher, als den interessantesten Teil ihrer Arbeit, sich selbst vorzubehalten. Mit gutem Grund; denn diese Vollendung ihrer Aufgabe hat eine genaue Kenntnis aller angewandten Methoden und gewonnenen Resultate zur Voraussetzung. Am wenigsten dürften sie geneigt sein, einem naturwissenschaftlichen Laien, wie es der Idealphilosoph des Herrn Dr. GÜTTLER ist, diese Aufgabe zu überlassen. Diese Art Philosophen hat es seit jeher vorgezogen, sich der mühevollen empirischen Forschung durch erfahrungsmäßig nicht kontrollierte oder nicht kontrollierbare apriorische Behauptungen zu entziehen. Und einer solchen metaphysischen "Naturphilosophie", wie sie noch in unserem Jahrhundert eine unverdiente Beachtung gefunden, dann aber ein umso gründlicheres Fiasko gemacht hat, wird die Naturwissenschaft, wie jede echte Wissenschaft, mit Recht äußerst skeptisch gegenüberstehen.

Soll überhaupt von einem einigenden "geistigen Band aller einzelnen Wissenschaften" die Rede sein, so kann nur die empirische Psychologie - eine andere gibt es nicht - hierfür in Betracht kommen. Und in der Tat wird man unserer Wissenschaft eine derartige Rolle mit Recht zuweisen dürfen. Denn alle Wissenschaften haben es mit Inhalten des Bewußtseins zu tun; sie alle, außer der Psychologie, machen gewisse unbewiesene psychologische Voraussetzungen, deren Prüfung sie wegen der Fülle und Schwierigkeit ihrer eigenen speziellen Probleme mit gutem Grund (arbeitsteilig) einer besonderen Wissenschaft, eben der Psychologie überlassen. Die sogenannten Geisteswissenschaften, Jurisprudenz, Nationalökonomie, Thelogie usw. können allerdings nicht ganz darauf verzichten, die besonderen psychologischen Tatbestände, mit denen sie es zu tun haben, auch ihrerseits einer (naturgemäß mehr oder weniger oberflächlichen) psychologischen Analyse zu unterwerfen. Sie stehen deshalb der Psychologie näher, als die Naturwissenschaften, die eben darum einer noch gründlicheren namentlich erkenntnistheoretischen Vor- und Nacharbeit bedürfen.

Die im engeren Sinne des Wortes "philosophischen" Disziplinen, Logik, Erkenntnistheorie, Ethik usw. beruhen am unmittelbarsten auf psychologischer Erkenntnis; sie sind nur Teile oder spezielle Gebiete der allgemeinen Psychologie. Sie wenden deren Resultate auf besondere Gebiete und Ausgestaltungen des geistigen Lebens an, und können deshalb vielleicht mit einem zusammenfassenden Namen als angewandte im Unterschied von der reinen Psychologie bezeichnet werden, mit der sie jedoch, wie das soeben begründet wurde, immer untrennbar verbunden bleiben.

Wenn daneben auch der viel mißbrauchte Name der Philosophie in der Wissenschaft seinen Platz behalten soll, und man ihn den bisher so genannten philosophischen Disziplinen belassen will, so ist zu allererst die Psychologie, die notwendige Grundlage aller übrigen, besonders aber der "philosophischen" Wissenschaften, als Philosophie zu bezeichnen.

Es bleibt noch übrig, auf den von verschiedenen Seiten, so auch in der von uns kritisierten Schrift erhobenen Vorwurf zu antworten, daß die empirische Psychologie oder die soeben charakterisierte psychologische Philosophie gewisse "letzte und höchste" Fragen nicht beantworten will oder kann, daß sie nicht, wie die alte Metaphysik zu einer einheitlichen und abgerundeten Weltanschauung verhilft. Darauf ist zunächst zu sagen, daß man darüber sehr verschiedener Meinung sein kann, welche Probleme als "letzte und höchste" zu bezeichnen sind. Es wird wohl immer Menschen geben, denen ihr empirisches geistiges Leben und dessen Gesetzmäßigkeit wichtiger und interessanter ist, als Spekulationen über die "Teilbarkeit" oder die "Aseität" [unbedingtes Sein - wp] der Seele. Ferner hat die Geschichte der neueren Philosophie gezeigt, daß eine große Anzahl der von der Metaphysik aufgeworfenen Fragen von der wissenschaftlichen Psychologie übernommen und teilweise ihrer Lösung entgegengeführt worden sind. Das Problem des Mitleids beispielsweise und der Sympathie überhapt, das noch SCHOPENHAUER als ein "transzendentales" und mit den Mitteln der Empirie unlösbares bezeichnete, wird heute allgemein als ein Problem der empirischen Psychologie angesehen und als solches mit Erfolg bearbeitet (7). Vom weiteren Ausbau gerade der Gefühlslehre haben wir die Lösung mancher metaphysischer "Rätsel" zu erhoffen. Auch die Frage nach dem "persönlichen Ich des Menschen", dem "Träger" der Bewußtseinserscheinungen wird von der modernen Psychologie keineswegs völlig umgangen. Soweit es sich dabei um den "empirischen Begriff" des Ich und seine Entstehung handelt, wird die Frage sicherlich in der nächsten Zukunft die Psychologen und Erkenntnistheoretiker noch intensiver beschäftigen, als das bisher der Fall gewesen ist. Die Frage freilich nach dem Ich "unabhängig von seinen Erscheinungen" oder nach dem metaphysischen "Urgrund des Bewußtseins", diese Frage wird von der wissenschaftlichen Psychologie überhaupt nicht aufgeworfen. Und sie hat als Wissenschaft die Pflicht dieser Resignation überall, wo die Zumutung an sie herantritt, die Grenzen möglicher Erfahrung zu überschreiten.

Aber ist denn eine überempirische, apriorische Metaphysik imstande, solche Fragen in wissenschaftlich befriedigender Weise zu beantworten?

Psychologie als Erfahrungswissenschaft verzichtet prinzipiell auf die Lösung wirklich "transzendentaler" Fragen und läßt somit für alle möglichen metaphysischen und religiösen "Weltanschauungen" den breitesten Spielraum. Eine dogmatische Metaphysik dagegen tritt, konsequent durchgeführt, zu jedem anderen metaphysischen oder religiösen "Weltbild" - und es gibt deren bekanntlich unzählige - in einen entschiedenen Gegensatz.

Der wissenschaftliche Psychologe wird, statt von metaphysischen Voraussetzungen auszugehen, höchstens den Resultaten seiner empirischen Forschung hinterher eine metaphysische "Krönung" geben, wie das die bedeutendsten modernen Psychologen, ein FECHNER, LOTZE, WUNDT, auch nicht unterlassen haben; aber immer wird der erkenntnistheoretisch geschulte Denker den auf einem wissenschaftlichen Weg gewonnenen Teil seines Weltbildes sorgfältig von einem spekulativ hinzugefügten unterscheiden und nur, was er empirisch nachweisen kann, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit behaupten.

Mit all dem soll keineswegs geleugnet werden, daß etwas Großes und Erhabenes in den meisten metaphysischen Systemen vielseitig und tief gebildeter Denker steckt, daß namentlich ein hoher ästhetischer und oft auch ethischer Wert diesen Erzeugnissen einer kühn die Grenzen der Erfahrung überspringenden Genialität innewohnt. Ein metaphysisches System ist die allerpersönlichste Sache von der Welt und interessant wie alles Persönliche. Aber eben weil Metaphysik und metaphysisches Spekulieren etwas so Persönliches und so Subjektives sind, deshalb kann dergleichen überhaupt nicht gelehrt und am wenigsten an den Stätten der Wissenschaft der wissenschaftlichen, d. h. empirischen Forschung übergeordnet werden.

Der Mensch nach seiner geistig-geschichtlichen Seite ist immer das interessanteste Rätsel für denkende Köpfe, das Hauptproblem aller Philosophie gewesen. Eben dieses Problem, oder diese Summe von Problemen, bildet den Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie, (die ihre Aufgaben auf empirischem, d. h. auf dem allein wissenschaftlichen Weg zu lösen sucht). Philosophie als Wissenschaft ist daher völlig unmöglich ohne empirische Psychologie. Diese bildet die notwendige und einzig mögliche Grundlage aller philosophischen Forschungen: alle wissenschaftliche Philosophie ist empirische Psychologie.
LITERATUR Felix Krueger, Ist Philosophie ohne Psychologie möglich?, München 1896
    Anmerkungen
    1) Es ist bei der Fülle der Zitate oft schwer, die eigene Meinung des Verfassers zu erkennen. Wo in der Schrift ohne Kritik oder Einschränkung zitiert wird, muß natürlich das Einverständnis des Verfassers mit seinem Gewährsmann vorausgesetzt werden.
    2) Haben wir doch in den letzten Jahren sogar "Physiologien" der Liebe, des Schönen und dgl. erlebt.
    3) THEODOR LIPPS und HANS CORNELIUS
    4) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 412f (Ausgabe KEHRBACH).
    5) "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane" - Bd. IX, Seite 161-205.
    6) GERARD HEYMANS, Erkenntnistheorie und Psychologie, in NATORPs "Philosophischen Monatsheften", Bd. 25, Seite 1-28. - CARL STUMPF, Erkenntnistheorie und Psychologie. - THEODOR LIPPS, Grundzüge der Logik, Seite 1f.
    7) zum Beispiel THEODOR LIPPS in "Der Streit über die Tragödie", Seite 41f und anderwärts.