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JULIUS FRAUENSTÄDT
(1813-1879)
Arthur Schopenhauer
und seine Gegner

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"Der Wille, welcher der ästhetischen Freude zugrunde liegt, ist nicht mehr der enge, auf die individuellen Zwecke der unter bestimmten räumlich-zeitlichen Verhältnissen lebenden Person, sondern der erweiterte, auf die Ideen gerichtete, der Wille, welcher will, daß die einzelnen Dinge ihren allgemeinen Ideen adäquat sind, und der daher am Anblick adäquater Abbilder der Ideen, sei es in der Natur oder in der Kunst, seine Freude findet."

"Das Kind, in den ersten Wochen seines Lebens, empfindet mit allen Sinnen; aber es schaut nicht an, es apprehendiert nicht; daher starrt es dumm in die Welt hinein. Bald jedoch fängt es an, den Verstand gebrauchen zu lernen."

"Kant und Schopenhauer wußten . . . , daß nicht alle Menschen geborene Denker und Forscher, nicht alle von einem Trieb nach Ergründung des ursächlichen Zusammenhangs der Erscheinungen beseelt, nicht alle von jenem Erstaunen ergriffen sind, das die Mutter der Wissenschaft und Philosophie ist. Sie wußten recht gut, daß es nur wenigen um eine wissenschaftliche Ergründung der Dinge zu tun ist, die meisten hingegen ihren Intellekt nur im Dienst der persönlichen Zwecke ihres Willens anstrengen."

"Die größten Philosophen aller Zeiten haben sich Widersprüche zuschulden kommen lassen, und doch enthalten ihre Systeme mächtige Wahrheiten, durch die das Menschengeschlecht bedeutend gefördert worden ist."

Nachdem ich im ersten Artikel LIEBMANN, HAYM und TRENDELENBURG zu widerlegen gesucht habe, gehe ich zu THILO über. Dieser ist zwar nüchterner, ruhiger, leidenschaftsloser als die anderen Gegner SCHOPENHAUERs, kommt aber, was das Verständnis seiner Lehre betrifft, auch nicht über das Nachweisen von allerlei Widersprüchen hinaus. THILO findet einen Grundwiderspruch der von SCHOPENHAUERs Lehre in Folgendem:
    "Auf der einen Seite behauptet er, daß die durchgängige Relativität der idealistischen Ansicht über dieselbe hinaustreibt, also zur Annahme eines oder mehrerer Dinge-ansich führt, denn sonst wäre die Welt weiter nichts als ein gespensterhaftes Luftgebilde, das an uns vorüberzieht. Auf der anderen Seite aber verbietet ihm seine Ansicht von der Kausalität, dieser unwesentlichen Erscheinungswelt etwas absolut Seiendes vorauszusetzen. Denn da das Kausalgesetz eben nur ein Gesetz dieser unwesentlichen Erscheinungen ist, so darf er nicht einmal die Frage aufwerfen: woher diese Erscheinung? Damit würde er nach ihrer Ursache fragen, er darf also auch nicht ein Was setzen, dessen Erscheinung diese Welt der Vorstellung ist. Die Folgen also jener beiden Sätze widersprechen einander. Der eine verlangt, daß etwas Absolutes gesetzt wird, der andere verbietet es. Einer von diesen beiden Sätzen hätte also aufgegeben werden müssen. Schopenhauer aber behält beide - um gegen beide zu sündigen!" (1)
Von der Behauptung THILOs, daß SCHOPENHAUERs Ansicht von der Kausalität ihm verbietet, der Erscheinungswelt etwas absolut Seiendes vorauszusetzen, ein Was zu setzen, dessen Erscheinung sie ist - ist gerade das Gegenteil wahr. SCHOPENHAUERs Ansicht von der Kausalität verbietet nicht, sondern gebietet, ein Was anzunehmen, dessen Erscheinung die dem Kausalitätsgesetz unterworfene Phänomenenwelt ist. Denn was lehrt SCHOPENHAUER von der Kausalität? Er lehrt: Der wahre und ganze Inhalt des Gesetzes der Kausalität ist der, daß jede Veränderung in der materiellen Welt nur eintreten kann, sofern eine andere ihr unmittelbar vorhergegangen ist. Der Begriff der Kausalität sei von den Philosophen, zum Vorteil ihrer dogmatischen Absichten, stets viel zu weit gefaßt worden, wodurch hineinkam, was gar nicht darin liegt, wie z. B. der Satz: "Alles was ist, hat seine Ursache." Der allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität ist vielmehr dieser: jede Veränderung hat ihre Ursache in einer anderen, ihr unmittelbar vorhergängigen. Wenn etwas geschieht, d. h. ein neuer Zustand eintritt, d. h. etwas sich verändert, so muß gleich vorher etwas anderes sich verändert haben; vor diesem wieder etwas anderes und so aufwärts ins Unendliche; denn eine erste Ursache ist so unmöglich zu denken wie ein Anfang der Zeit oder eine Grenze des Raums. Mehr als das Angegebene besagt das Gesetz der Kausalität nicht; also treten seine Ansprüche erst bei Veränderungen ein. Solange sich nichts verändert, ist nach keiner Ursache zu fragen. Durch die zu weite Fassung des Begriffs der Kausalität schlich sich der Mißbrauch ein, daß man die Kausalität auf das Ding schlechthin, also auf sein ganzes Wesen und Dasein, folglich auch auf die Materie ausdehnte, und nun sich am Ende berechtigt hielt, sogar nach einer Ursache der Welt zu fragen, woraus der unhaltbare kosmologische Beweis entsprungen ist. Das Gesetz der Kausalität findet auf alle Dinge in der Welt Anwendung, jedoch nicht auf die Welt selbst; denn es ist der Welt immanent, nicht transzendent, mit ihr ist es gesetzt und mit ihr aufgehoben. Auf alle Dinge in der Welt, versteht sich ihrer Form nach, auf den Wechsel dieser Formen, also auf ihre Veränderungen, findet das Gesetz der Kausalität volle Anwendung und leidet keine Ausnahme; es gilt vom Tun des Menschen wie vom Stoß des Steines, jedoch, wie gesagt, immer nur in Bezug auf Vorgänge, auf Veränderungen. Allein infolge der getadelten zu weiten Fassung des Begriffs Ursache hat man mit demselben den Begriff der Kraft verwechselt; diese, von der Ursache völlig verschieden, ist jedoch das, was jeder Ursache ihre Kausalität, d. h. die Möglichkeit zu wirken, erteilt (2).

Und diese Lehre SCHOPENHAUERs von der Kausalität soll nun, wie THILO behauptet, ihm verbieten, nach dem Was, dem Ansich der Erscheinungswelt zu fragen? Es soll ein Widerspruch sein, die Kausalität als der Erscheinungswelt immanent zu erklären und doch bei der Erscheinungswelt nicht stehen zu bleiben, sondern über dieselbe hinaus zu dem Was, das in ihr erscheint, zum Ding-ansich fortzugehen? Ja, ein Widerspruch wäre es allerdings, wenn die Frage nach dem Was der Welt identisch wäre mit der Frage nach ihrer Ursache. Das ist sie aber nach SCHOPENHAUERs ausdrücklicher Erklärung nicht. SCHOPENHAUER unterscheidet ausdrücklich seine nach dem Was der Welt forschende Philosophie von jenen Systemen, die nach der Ursache der Welt fragen. Sein Begriff von der Kausalität, als lediglich auf Veränderungen innerhalb der Welt sich beschränkend, verbietet ihm also nicht nach dem ursprünglich Seienden, das in diesen Veränderungen zur Erscheinung kommt, zu fragen. Vielmehr gebietet sein Begriff der Kausalität diese Frage. Denn Veränderungen sind ja nichts Ursprüngliches, sondern setzen ein Was voraus, dessen Zustände sie sind. Der Begriff der Erscheinung treibt ja durch sich selbst zur Voraussetzung eines Was fort, das in ihr erscheint.

Einen zweiten Widerspruch SCHOPENHAUERs findet THILO darin, daß er nicht bei der kantischen Unwissenheit über das Ding-ansich stehen geblieben ist, sondern das Ding-ansich näher zu bestimmen gesucht und es als Wille bestimmt hat. THILO sagt nämlich:
    "Schwerlich wird man behaupten können, daß Schopenhauer den Scharfsinn, den er sonst wohl bei der Beurteilung anderer zeigt, auf die Konstruktion seiner eigenen Lehre angewandt hat, was freilich ein sehr häufiger Fehler ist, sonst hätte er sehen müssen, daß seine Bemühungen, über die kantische völlige Unwissenheit in Betreff dessen, was die Dinge ansich sind, hinauszukommen und positiv auszusagen: was das Ding ansich sei, dem Steinwälzen des Sisyphus gleichen. Denn wie er auch seine Worte drehen und wenden mag, es zeigt sich am Ende immer, daß er nicht vom Ding-ansich, sondern von einer Erscheinung spricht. So haben wir vorhin gehört, daß, wenn man das Dasein der gegebenen Dinge als Vorstellung des Subjekts beiseite setzt, das dann noch übrig Bleibende seinem inneren Wesen nach dasselbe ist, was wir an uns Wille nennen. Offenbar aber bleibt nichts übrig, wenn man vom Gegebenen das abstrahiert, was es als Vorstellung ist, denn es ist eben weiter nichts als unsere Vorstellung; alles, was wir von einem Ding wissen, wissen wir eben nur, indem wir es vorstellen. Nimmt man also von einem Ding das Vorgestellte weg, so bleibt nichts übrig. Denn im Inhalt des Gegebenen kann unmöglich etwas anderes liegen, das nicht Vorgestelltes wäre. Das ist ein identischer Satz . . . Soll der Wille in Wahrheit das Ding-ansich sein, so darf er gar nicht in die Form der Vorstellung eingehen, denn alle Vorstellung ist Erscheinung; er darf sich gar nicht, auf keine Weise kundgeben; denn alles, was uns in unserem Bewußtsein kund wird, ist Erscheinung für uns. Wir kennen also nur Erscheinungen und haben gar kein Mittel das zu wissen, dessen Erscheinungen sie sind. Aber freilich, das ist es eben, was Schopenhauer gern wissen möchte, und da er doch seinen eigenen früheren Behauptungen nicht geradezu widersprechen mag, so muß das Ding-ansich im Bewußtsein vorkommen und auch wieder nicht, es muß in die Erscheinung eingehen, aber nicht völlig. Das sind lauter verschämte Eingeständnisse, daß hier ein Widerspruch begangen wird." (Seite 342f)
Hiergegen ist zu sagen: Unter Ding-ansich versteht SCHOPENHAUER das ursprünglich Reale, dasjenige, das sein Dasein nicht dem Vorgestelltwerden verdankt, sondern das ist, auch wenn es nicht vorgestellt wird, also ein vom Intellekt Unabhängiges. Diesem Ansich-Seienden widerspricht es nun zwar, seine Realität, gleich einer bloßen Vorstellung vom Vorstellenden zu erhalten - denn es ist ja seinem Begriff nach das vom Vorstellen Unabhängige - aber es widerspricht ihm nicht, vorgestellt zu werden, d. h. Objekt für ein vorstellendes Subjekt zu werden und in die Formen desselben einzugehen. Denn wenn das Vorgestelltwerden überhaupt dem Ding-ansich widerspräche, so könnte ja auch nicht einmal von einem Ding ansich die Rede sein. Indem von einem Ding ansich gesprochen wird, wird es ja vorgestellt. Aber es wird vorgestellt als dasjenige, was eben nicht bloß Vorstellung ist, sondern was unabhängig vom Vorstellen ein Sein für sich hat. Also verliert das Ding-ansich durch sein Vorgestelltwerden nicht sein Ansichsein.

Zweitens widerspricht es dem Ding-ansich aber auch nicht als ein bestimmtes vorgestellt zu werden. Es widerspricht ihm bloß, ihm solche Bestimmungen beizulegen, die lediglich dem ihm vorstellenden Subjekt und seiner Art vorzustellen angehören; hingegen widerspricht es ihm nicht, ihm Qualitäten beizulegen, die erwiesenermaßen vom Vorstellen und dessen Formen unabhängig sind, die ein Sein-ansich haben. Nun glaubt aber SCHOPENHAUER vom Willen eben dieses bewiesen zu haben, daß er eine vom Vorstellen unabhängige Qualität ist, während er hingegen Raum, Zeit und Kausalität für Formen des vorstellenden Subjekts, des Intellekts hält und sie deshalb dem Ding-ansich abspricht.

Also war SCHOPENHAUER nach seinem Begriff vom Ding-ansich [shop] und nach seinem Begriff vom Willen nicht bloß berechtigt, das Ding-ansich überhaupt vorzustellen, sondern auch, es als ein Bestimmtes und zwar als Wille vorzustellen. Einen Widerspruch hat er weder mit dem einen noch mit dem andern begangen. Es ist ganz falsch, wenn THILO behauptet, es bleibe nichts übrig, wenn man vom Gegebenen das abstrahiert, was es als Vorstellung ist, denn es sei eben weiter nichts als unsere Vorstellung. Es ist zwar richtig: "Alles, was wir von einem sogenannten Ding wissen, wissen wir eben nur, indem wir es vorstellen"; aber daraus folgt nicht, daß alles, was wir von einem Ding vorstellen, bloß Vorstellung ist und sonst nichts. Denn sonst gäbe es ja überhaupt kein Ding-ansich, sondern nur Vorstellungen, ein absoluter Idealismus, den SCHOPENHAUER mit KANT bestreitet.

Die Verwirrung, die THILO darin findet, daß SCHOPENHAUER die Vielheit durch den Intellekt bedingt sein läßt und doch dem Intellekt schon eine reale Vielheit in den Objektivationsstufen des Willens voraussetzt, habe ich bereits oben berührt und gelöst.

THILO wirft SCHOPENHAUER zu den alle Unterschiede aufhebenden Monisten und sagt:
    "Wenn aber Schopenhauer mit den übrigen Monisten rechtmäßigerweise aus dem einen unterschiedslosen und endlosen Streben weder die Mannigfaltigkeit der Erscheinung, noch das Erscheinen überhaupt erklären kann, so wird es ihnen noch weniger gelingen, die Zweckmäßigkeit einiger Erscheinungen damit zu vereinen." (Seite 351)
Daß SCHOPENHAUER zu den Monisten gehört, ist richtig; aber falsch ist es, daß sein Monismus jener absolute, alle Unterschiede in einem All-Einen austilgende ist, der die Vielheit zu erklären unfähig ist. Der Weltwille SCHOPENHAUERs ist zwar einer, aber dieser eine, das Wesen der Welt bildende Wille vereinigt in sich unterschiedliche Strebungen. Die Vielheit der Erscheinung ist ihm nicht fremd, weil das Erscheinen ihm nicht fremd ist. Unmittelbar vervielfältigt er sich in den Ideen und mittelbar in den Individuen.

So wenig aber als der Monismus SCHOPENHAUERs die Vielheit unerklärt läßt, so wenig läßt er die Zweckmäßigkeit unerklärt. THILO sagt:
    "Schopenhauer ist wenigstens so scharfsichtig und ehrlich, daß er dem gesamten Wollen, also dem Willen ansich, keinen Zweck zugesteht. Da er aber die besonderen zweckmäßigen Formen nicht leugnen kann, so verlegt er die Zweckmäßigkeit in die einzelnen Willensakte. Nun gerät er aber in eine sonderbare Klemme. Die Zweckmäßigkeit, meint er nämlich, verstehe sich für diese einzelnen Akte, Formen oder Ideen von selbst, da die verschiedenen Vorgänge, z. B. in einem Organismus, nur die in Zeit und Raum auseinandergelegte Einheit der Idee sind. Nun aber sind Zeit und Raum nur Formen des Intellekts; folglich liegt die Zweckmäßigkeit nicht in dem einen Willensakt ansich, sondern wird nur durch unseren subjektiven Intellekt hineingetragen, der das ansich Eine in den Formen des Raums, der Zeit und der Kausalität als ein Vieles schaut. In dem wirklich Einen kann ja auch keine Zweckmäßigkeit liegen, sondern nur in dem zu einem Zweck zusammenstimmenden Mannigfaltigen. Diese Ansicht, daß im Intellekt allein der Grund liegt, weshalb etwas als zweckmäßig angeschaut wird, ist auf dem kantischen Standpunkt konsequent. Nun aber läßt Schopenhauer den Intellekt selbst erst aus einem teleologischen Grund entstehen und gibt überhaupt keinen anderen Grund für das Entstehen desselben an, als daß er zur Selbsterhaltung der Tiere und Menschen notwendig ist. So wird also bald der Intellekt der Zweckmäßigkeit als Voraussetzung vorgeschoben, bald aber wiederum das zweckmäßige Verhalten des Wollens als Voraussetzung für die Entstehung des Intellekts angesehen." (Seite 352)
Auch dieser "unvereinbare Widerspruch", wie ihn THILO nennt, löst sich, wie der in Bezug auf die Vielheit behauptete, durch eine Unterscheidung der realen und idealen Seite der Zweckmäßigkeit. Aus dem ansich zweckmäßigen Wirken des Naturwillens geht der Intellekt als Organ hervor, und aus dem durch die reale Zweckmäßigkeit erzeugten Intellekt wiederum geht die Auseinanderlegung des einheitlichen, konspirierenden Naturwirkens in Zweck und Mittel, also die vorgestellte Zweckmäßigkeit hervor. Diejenige Seite der Zweckmäßigkeit also, die im Naturwillen ihren Ursprung hat. SCHOPENHAUER unterscheidet beide Seiten in der Schrift "Über den Willen in der Natur" (dritte Auflage, Seite 57f), indem er sagt:
    "Das wahre Wesen jeder Tiergestalt ist ein außerhalb der Vorstellung, folglich auch ihren Formen Raum und Zeit, gelegener Willensakt, der ebenfalls kein Nach- und Nebeinander kennt, sondern die unteilbare Einheit hat. Erfaßt nun aber unsere zerebrale Anschauung jene Gestalt und zerlegt gar das anatomische Messer ihr Inneres, so tritt an das Licht der Erkenntnis, was ursprünglich und ansich tiefer und ihren Gesetzen fremd ist, in ihr aber nun auch ihren Formen und Gesetzen gemäß sich darstellen muß. Die ursprüngliche Einheit und Unteilbarkeit jenes Willensaktes, dieses wahrhaft metaphysischen Wesens, erscheint nun auseinandergezogen in ein Nebeneinander von Teilen und Nacheinander von Funktionen, die aber dennoch sich darstellen als genau verbunden, durch die engste Beziehung aufeinander, zu wechselseitiger Hilfe und Unterstützung als Mittel und Zweck gegenseitig. Der dies so apprehendierende [zusammenfassende - wp] Verstand gerät in Bewunderung über die tiefdurchdachte Anordnung der Teile und Kombination der Funktionen, weil er die Art, wie er die aus der Vielheit sich wiederherstellende ursprüngliche Einheit gewahr wird, auch der Entstehung dieser Tierform unwillkürlich unterschiebt."
Ähnlich sagt SCHOPENHAUER im Kapitel "Zur Teleologie" (3):
    "Die staunende Bewunderung, welche uns bei der Betrachtung der unendlichen Zweckmäßigkeit im Bau der organischen Wesen zu ergreifen pflegt, beruth im Grunde auf der zwar natürlichen, aber dennoch falschen Voraussetzung, daß jene Übereinstimmung der Teile zueinander, zum Ganzen des Organismus und zu seinen Zwecken in der Außenwelt, wie wir dieselbe mittels der Erkenntnis, also auf dem Weg der Vorstellung, auffassen und beurteilen, auch auf demselben Weg hineingekommen ist; daß also, wie sie für den Intellekt existiert, sie auch durch den Intellekt zustande gekommen wäre. Wir freilich können etwas Regelmäßiges und Gesetzmäßiges, dergleichen z. B. jeder Kristall ist, nur zustande bringen unter Leitung des Gesetzes und der Regel, und ebenso etwas Zweckmäßiges nur unter Leitung des Zweckbegriffs; aber keineswegs sind wir berechtigt, diese unsere Beschränkung auf die Natur zu übertragen, als welche selbst ein Prius allen Intellekts ist und deren Wirken von unserem sich der ganzen Art nach unterscheidet."
Es geht aus diesen Stellen klar hervor, daß SCHOPENHAUER unter derjenigen Zweckmäßigkeit, der er den Intellekt "als Voraussetzung vorgeschoben", nur unsere Auffassung des einheitlichen Wirkens der Natur, unsere Zerlegung desselben in Zweck und Mittel versteht, nicht aber dieses Wirken selbst, das er für die Entstehung des Intellekts zur Voraussetzung macht, daß also kein Widerspruch ist zwischen seinem Ableiten der Zweckmäßigkeit aus dem Intellekt und des Intellekts aus der Zweckmäßigkeit des Wirkens der Natur, weil der Sinn der Zweckmäßigkeit beidemale nicht derselbe ist.

Doch THILO hat noch andere Einwendungen gegen die Teleologie SCHOPENHAUERs. Man höre:
    "Jenes blinde, unbewußte Wollen, das Ding-ansich, schafft sich nach ihm selbst die Mittel, seinen Drang zu befriedigen, oder - nach der idealistischen Seite seiner Lehre - der Intellekt ist es, welcher die Zweckmäßigkeit in die Dinge hineinträgt, indem er mittels seiner Formen, Zeit, Raum und Kausalität, den einen unteilbaren Willensakt, welcher einer besonderen organischen Form zugehört, in zeitliche und räumliche zusammenstimmende Ursachen und Wirkungen auseinanderlegt. Aber zunächst bleibt es bei ihm, wie bei allen, welche es leugnen, daß die vorhandene Zweckmäßigkeit auf eine schöpferische Intelligenz hinweist, bei der bloßen Behauptung, daß der immanente Zweck sich selbst die Organe seiner Ausführung schafft. Es heißt wohl: Zähne, Schlund, Magen usw. sind der objektivierte Hunger, die Genitalien sind der objektivierte Geschlechtstrieb, der Organismus überhaupt ist die objektivierte Idee des Lebens und dgl. aber den Nachweis, daß dergleichen mehr als leere Phrasen sind, hat noch niemand geführt. Denn wo und wie liegt denn im Begriff eines Triebes die Notwendigkeit, daß er sich selbst solche Mittel schafft, welche zum Zweck seiner Befriedigung passen? Vielmehr sind solche Organe die Voraussetzung, unter der allein solche Triebe als möglich gedacht werden können. Die gegenteilige Behauptung ist nur ein Resultat jener sehr wohlbekannten Metaphysik, welche Abstraktionen realisiert, hypostasiert [vergegenständlicht - wp] und wohl gar apotheosiert [zu einem göttlichen Wesen erheben - wp]." (4)
Es ist eine völlige Umkehrung des wahren Verhältnisses von Zweck und Mittel, deren sich THILO hier schuldig macht, indem er die Organe zur Voraussetzung der Triebe macht, zu deren Befriedigung sie da sind. Sollte dieses Verhältnis gelten, so müßte z. B. auch THILOs Feder die Voraussetzung seines Triebes zu schreiben sein. Hätte er keine Feder gehabt, so würde es ihm nicht in den Sinn gekommen sein, gegen SCHOPENHAUER zu schreiben. Die Absurdität der Abhängigmachung der Triebe von den zu ihrer Befriedigung dienenden Organen liegt auf der Hand. Alle tieferen Denker haben bisher noch immer zwar die Ausführung des Zwecks von den Mitteln abhängig gemacht, aber nicht das Wollen des Zwecks. Dieses haben sie vielmehr zur Voraussetzung des Schaffens der Mittel gemacht. Demgemäß haben sie zwar das wirkliche Sehen, Hören, Tasten usw. als bedingt gedacht von den entsprechenden Organen, haben jedoch diese Organe selbst wiederum bedingt sein lassen durch den Trieb oder Willen zu sehen, hören, tasten usw., ganz wie zwar das wirkliche Schreiben bedingt ist durch die Feder, die Feder selbst aber ihr Dasein dem Willen zu schreiben zu verdanken hat.

Von der Behauptung THILOs, daß im Begriff des Triebes nicht die Notwendigkeit liegt, daß er sich selbst die zu seiner Befriedigung dienenden Mittel schafft, lehrt die Erfahrung das gerade Gegenteil. Überall, wo ein lebendiger Trieb ist, sehen wir ihn geschäftig, die Mittel zu seiner Befriedigung zu schaffen. Kann er sie auch nicht der Materie nach schaffen, sondern ist an die gegebene Materie gebunden, so schafft er sie doch der Form nach. Die Form ist ja aber gerade das, was die Materie erst zum geeigneten Mittel für den Zweck macht. Die Materie der Feder wird erst durch die ihr gegebene Form zum Mittel für den Zweck des Schreibens. Auch die Intelligenz, die etwa zum Formieren der Materie, damit sie Mittel für den Zweck wird, nötig ist, empfängt ihren Impuls erst vom Trieb, der auf den Zweck gerichtet ist, und so ist für die Schaffung der Mittel zu einem Zweck immer der Trieb das Erste und Wesentlichste. Mag der Trieb die Mittel unmittelbar oder mittelbar schaffen, immer ist er es, der sie schafft, immer geht die Initiative von ihm aus.

Schwach, wie das ist, was THILO gegen die realistische Seite von SCHOPENHAUERs Teleologie vorbringt, ist auch das, was er gegen die idealistische Seite derselben einwenddet. Er sagt:
    "Unser Intellekt soll es (nach der idealistischen Ansicht) sein, welcher, indem er den ansich unteilbaren Willensakt, der sich in der Erscheinung eines Tieres darstellt, mittels seiner eigenen Formen Raum, Zeit und Kausalität als Objekt auffaßt, die Vielheit und Verschiedenheit der Teile und ihrer Funktionen erst hervorbringt und dann über die aus der ursprünglichen Einheit hervorgehende vollkommene Übereinstimmung und Konspiration derselben in Erstaunen gerät und also in gewissem Sinne sein eigenes Werk bewundert, da der Organismus ja bloß die im Gehirn zustande gekommene Sichtbarkeit des hier vorhandenen Willens ist! Aber zunächst ist gar nicht abzusehen, wie der Intellekt, wenn ihm nur etwas Unteilbares, Unterschiedsloses gegeben ist, daraus eine Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit hervorbringen kann. Denn auf das ansich Einfache können die Formen des Raums, der Zeit und der Kausalität gar nicht angewandt werden, da diese die Vielheit und Verschiedenheit schon voraussetzen. Wo nur Eins ist, kann von solchen Verhältnissen nicht die Rede sein; es kann also auch nicht mit jenen Formen aufgefaßt werden." (5)
Diese Polemik beruth auf der falschen Ansicht vom Monismus SCHOPENHAUERs, als höbe derselbe alle Unterschiede im Realen, im Willen auf und verlegte die Unterschiede lediglich in den Intellekt. Diese falsche Ansicht ist schon oben widerlegt worden. Der Intellekt bringt nach SCHOPENHAUER nicht die Übereinstimmung der Teile und Funktionen der Organismen, die er bewundert, hervor, sondern er bringt nur, die ursprüngliche Quelle dieser Übereinstimmung in einem einheitlichen Willensakt verkennend und meinend, die Übereinstimmung sei auf dem Weg der Reflexion zustande gekommen, die Bewunderung derselben hervor. Dies ist der Sinn der Lehre SCHOPENHAUERs, daß die bewunderte Zweckmäßigkeit der Natur erst durch unseren Verstand in dieselbe kommt. Nicht die Zweckmäßigkeit ansich, sondern die Art, wie wir sie uns bewirkt denken, ist hier gemeint.

Da THILO sich nicht damit begnügt, die Teleologie SCHOPENHAUERs zu bekämpfen, sondern derselben seine eigene vom Standpunkt der "exakten", d. h. der Philosophie HERBARTs, entgegengesetzt, so ist man wohl berechtigt, sich diese Teleologie etwas näher anzusehen. Ist sie vielleicht besser geeignet, das Rätsel der Zweckmäßigkeit zu lösen, als die SCHOPENHAUERs? Wir wollen sehen. Nach THILO ist der Monismus als wissenschaftliches System gänzlich unhaltbar; denn es ist logisch unmöglich, überhaupt ein Werden, Geschehen oder Tun absolut zu setzen. Aus dem Begriff des absoluten Denkens können bestimmte Gedanken oder Formen des Denkens nicht abgeleitet werden, und es ist eine Erschleichung, dem bloßen Begriff des Denkens sofort den der Vernünftigkeit zuzugesellen. Daher ist jede Meinung, als ob dem immanenten Prinzip der Welt die Zweckmäßigkeit oder Vernünftigkeit seines Tuns eo ipso [schlechthin - wp] inhäriert [innewohnt - wp], eine wissenschaftlich durchaus unhaltbare. Aber auch bei der entgegengesetzten Ansicht, welche der erscheinenenden Welt viele immanente Prinzipien zugrunde legt, treten sie nun als Atomismus oder als System der absoluten einfachen, realen Wesen auf, kann nach THILO in den Atomen oder Monaden kein Grund gefunden werden, weshalb das aus ihrem Füreinandersein entstehende Geschehene ein Zweckmäßiges sein soll. Denn die realen Wesen stehen nicht in einer ursprünglichen, wesenhaften Beziehung zueinander und noch viel weniger in einer solchen Beziehung, daß aus derselben ein Zweckmäßiges, Schönes und Gutes notwendig sich ergeben müßte. Denn alle derartigen Beziehungen, als dem Wesen der Realen inhärierend gedacht, würden die absolute Setzung derselben unmöglich machen. Bleibt man daher in diesen Systemen des Atomismus und Monadismus innerhalb der Schranken des strengen Wissens, so kann man eine Antwort auf die Frage nach der Ursache des Zweckmäßigen in der Welt nicht geben.

Um diese Frage zu beantworten, muß man nach THILO die Grenzen des strengen Wissens überschreiten, und dann kann es nur zwei mögliche Antworten geben. Das vernünftige Geschehen verdankt seinen Ursprung entweder dem absoluten Zufall oder einer schöpferischen Intelligenz. Der Zufall ist gegen alle Analogie der Erfahrung über unser zweckmäßiges Tun. Wir wissen, daß, wenn von uns Zweckmäßiges getan werden soll, eine vernünftige Einsicht die unerläßliche Bedingung ist.
    "Auf diese Analogie gestützt, wird der Glaube, daß eine schöpferische Intelligenz, welche nicht zu den immanenten Weltprinzipien gehört, immer den Sieg über den Glauben an einen absoluten Zufall davontragen."
Woher dann aber das physische Übel und das moralische Böse in der Welt? Wegleugnen oder für einen bloßen Schein erklären will THILO dieselben nicht. Er sucht vielmehr einen Weg, auf welchem man die Überzeugung von einem persönlichen, weisen und gültigen Weltschöpfer mit dem dagegen scheinbar streitenden Übel und Bösen in der Welt in rechtmäßigem Einklang setzen kann. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu einer Unmöglichkeit, daß die Welt anders habe geschaffen werden können, seine Zuflucht zu nehmen. Diese Unmöglichkeit könnte nun möglicherweise ebensowohl in einem Unvermögen des Schöpfers als in dem des Geschöpfes ihren Grund haben. Allein die Untersuchung der ersten Annahme wird überflüssig, wenn man zeigen kann, aß auch bei unbeschränkt gedachter Intelligenz und Güte des Schöpfers dennoch eine vollkommene Welt nicht möglich war. Die Ausführung, die schon LEIBNIZ diesem Gedanken gegeben hat, findet THILO ungenügend, zu neuen Verlegenheiten führend. Nur die Metaphysik HERBARTs schafft hier Abhilfe. Auf ihre Prinzipien gestützt, könne man einerseits einsehen, daß eine ursprünglich vollkommene Welt nur durch ein absolutes Wunder hätte geschaffen werden können, und andererseits die Aussicht gewinnen, daß die im Anfang unvermeidliche Unvollkommenheit der Welt durch eine wirkliche Fortbildung derselben aufgehoben werden kann.
    "Wenn man nämlich nicht annehmen will, daß die unermeßlich reichen und komplizierten System von inneren Zuständen, welche die ansich absolut einfachen realen Wesen fähig machen, integrierende Bestandteile von Organismen zu werden, und die in noch höherem Grad erforderlich sind, damit in der ansich einfachen Seele Vernünftiges und Sittliches geschieht, durch ein absolutes Wunder ihnen anerschaffen sind, so könnte diese zum organischen und geisten Leben notwendige innere Bildung nur durch ein darauf berechnetes wechselndes, also in der Zeit verlaufendes Füreinandersein mit vielen verschiedenen anderen Wesen entstehn. Nur in einer wirklichen Weltgeschichte konnte es zu immer höheren und edleren Bildungen gelangen, und nur in einer wirklichen Menschengeschichte konnte sich die Menschheit zu der jetzigen Höhe ihrer intellektuellen und sittlichen Bildung, wie niedrig sie auch noch immer sein mag, erheben. Eben dieser Begriff einer in den einfachen Weltwesen entstehenden und durch zweckmäßig geordnetes Füreinandersein derselben im zeitlichen Verlauf sich erhöhenden inneren Bildung weist nun auch auf die Möglichkeit hin, daß die anfänglich notwendige Unvollkommenheit oder richtiger Unvollendetheit der Welt sich zur Vollkommenheit erhebt . . . "

    "Von diesem Punkt aus", mein THILO, "können wir nicht allein in berechtigtem Maß anerkennen, daß das Übel und das Böse Flecken sind, welche in einer vollendeten Welt nicht sein dürfen, sondern können auch das vielfach Lückenhafte, Unvollendete, der Zweckmäßigkeit Widerstrebende auf dem physischen Gebiet getrost zugeben, ohne uns in dem Glauben an einen weisen und guten Welturheber und Weltenlenker stören zu lassen, denn wir erkennen in der vorhandenen Welt nicht eine vollendete, sondern erst der Vollendung zustrebende. Wir sind daher mit Schopenhauer allerdings nicht jenem Optimismus zugetan, welcher in der vorhandenen Welt eine vollkommene zu sehen sich vergeblich abmüht, aber wir glauben den Grund zu haben, denjenigen Optimismus festzuhalten, der eine vollendete Welt hofft." (6)
In diesem Glauben, daß die Welt unter der Regierung eines überweltlichen Gottes einer endlichen physischen und moralischen Vollendung entgegengeführt wird, welche ihr von vornherein zu erteilen auch einer göttlichen Allmacht nicht möglich war, sieht THILO
    "die allein mögliche Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp]", und meint, "die der göttlichen Allmacht hiermit beigelegte Unfähigkeit werde für diejenigen nichts Auffälliges enthalten, welche erkannt haben, daß es absolute, von jedem Wollen unabhängige Gesetze gibt." (7)
Es ist nur gut, daß THILO selbst diese ganze Ansicht als einen Glauben bezeichnet, denn wissenschaftlichen Wert hat dieser dem Monismus entgegengesetzte Dualismus, der auf der einen Seite die innerweltlichen, ansich beziehungslosen Realen und auf der anderen die überweltliche zweckmäßig ordnende Intelligenz Gottes hat, durchaus nicht. Diese ihre Ordnung von außen empfangenden Realen sind keine wahrhaft Reale, und dieser an den innerweltlichen Realen seine Schranke findende Gott ist kein wahrhafter Gott. Das Denken kann allein durch den Monismus befriedigt werden und daher wird jedes dualistische System immer unterliegen. Der Dualismus zwischen Gott und den Realen bei HERBART ist längst als unhaltbar erkannt. Ihm gegenüber wird freilich ein Monismus, der, in das andere Extrem fallend, alle Unterschiede im All-Einen austilgt, keine Berechtigung haben, wohl aber ein Monismus, der in der Einheit den Unterschied und im Unterschied die Einheit erkennt. Ein solcher aber ist der Monismus SCHOPENHAUERs. Denn die Beschuldigung, daß SCHOPENHAUER die Vielheit und Verschiedenheit zum bloßen Schein erklärt, ist, wie ich bereits gezeigt habe, falsch. Die Wahl zwischen der Teleologie HERBARTs und der SCHOPENHAUERs wird daher, hoffe ich, keinem Denkenden schwer fallen. Die "exakte Philosophie" mit ihrem sehr inexakten Monadismus und Dualismus ist am allerunfähigsten, einem Denker wie SCHOPENHAUER gerecht zu werden.

THILO findet einen Grundfehler in SCHOPENHAUERs Philosophie darin, daß sie, indem sie den Willen zum Prinzip erhoben und damit das Geschehen absolut gesetzt hat. Aber der Wille ist nach SCHOPENHAUER kein Geschehen, sondern das Prinzip allen Geschehens. Gäbe es keinen Willen, so würde auch nichts geschehen. Alles Geschehen deutet schließlich auf einen Willen hin, dessen Äußerung es ist und zu dessen Befriedigung es dient. Da SCHOPENHAUER den Willen vom Geschehen unterscheidet, so darf man ihm auch nicht vorwerfen, wie THILO tut, daß er mit der Leugnung der Veränderlichkeit des Willens die Veränderlichkeit des Geschehens geleugnet und aus diesem Grund keine andere Erlösung vom Übel für möglich gehalten hat als die Verneinung des Grundwesens, des Willens (8). SCHOPENHAUER hat nirgends die Veränderlichkeit des Geschehens geleugnet, hat diese vielmehr ausdrücklich der Unveränderlichkeit des Willens, der Konstanz des Charakters gegenüber behauptet (9). Die "Verneinung des Willens" bei SCHOPENHAUER entsprang daher nicht aus einer Leugnung der Veränderlichkeit des Geschehens, sondern daraus, daß er in der bloßen Veränderung des Geschehens bei unverändert bleibendem Prinzip des Geschehens keine radikale Heilung vom Übel gesehen hat. Es ist gar nicht einzusehen, wie durch bloßes Geschehen eine Erlösung vom Übel möglich sein soll, wenn das Prinzip des Geschehens durch seine ursprüngliche Qualität notwendig zum Übel führt. Nach SCHOPENHAUER führt aber der Wille zum Leben notwendig zum Übel. Es war daher ganz konsequent, daß er in Übereinstimmung mit dem Christentum für die Erlösung vom Übel die bloßen Werke (das bloße Tun und Geschehen) nicht für ausreichend, sondern die gänzliche Wiedergeburt für eine unumgängliche Bedingung gehalten hat. THILO meint zwar von Standpunkt nach HERBART aus, zur Beseitigung der Sünde und des Übels sei es nicht nötig, daß sich die Realen ändern, sondern nur, daß die Relationen zwischen ihnen, das Geschehen sich ändert. Wenn aber die Realen ansich nichts taugen, wie soll da aus der Veränderung ihrer Beziehungen etwas Taugliches zustande kommen? Aus lauter giftigen Ingredenzien [Zutaten - wp] wird man keine nährende Speise machen, wenn man die Relationen jener zueinander auch noch so sehr ändert. Es ist eine flache Ansicht, wenn THILO sagt,
    "daß der Wert oder Unwert eines Willens nicht sowohl auf der qualitativen Beschaffenheit der inneren Zustände, sondern auf ihren qualitativen oder formalen Verhältnissen beruth. Wenn daher auch die einfache Qualität eines jeden einzelnen inneren Zustandes unveränderlich dieselbe bleibt, so bleibt daneben doch eine endlose Möglichkeit der Veränderung in den quantitativen Verhältnissen der Menge, der Stärke, der Konfiguration, der mannigfachen Arten des Wechsels usw. übrig. Und da nun eben auf diesen Verhältnissen das Wohl und Übel wie das sittlich Löbliche und Schändliche beruth, so macht es gar keine Schwierigkeit, die Möglichkeit anzunehmen, daß das Geschehen in der Welt zu einer derartigen inneren Bildung der Weltwesen führen kann, daß Übel und Böses auf ein Kleinstes zurückgebracht werden, wenn nicht gänzlich verschwinden." (10)
Diese Annahme macht allerdings keine Schwierigkeit, wenn ihre Voraussetzung, daß nicht die Qualität, sondern die Quantität über Wert und Unwert des Willens entscheidet, richtig ist. Aber daß diese Voraussetzung richtig ist, dies eben bezweifle ich. Überhaupt ist auf dem Weg, den THILO einschlägt, dem Pessimismus SCHOPENHAUERs nicht beizukommen. Die einzig haltbare Kritik des Pessimismus im Allgemeinen und SCHOPENHAUERs Pessimismus im Besonderen ist die, welche ich in meinem neuesten Werk "Blicke in die intellektuelle, physische und moralische Welt" (Seite 301-304), geliefert habe. Inn dieser Schrift ist SCHOPENHAUERs Pessimismus aus seinen eigenen Prinzipien heraus widerlegt, nicht aber aus fremden, bezweifelbaren Voraussetzungen, seien es welche von HERBART oder sonst eines anderen Systems.

Ehe ich von THILO scheide, sei noch dessen Kritik von SCHOPENHAUERs "Lehre vom willensfreien Erkennen", welches die Ideen zum Gegenstand hat (11), beleuchtet.

THILO meint, aus SCHOPENHAUERs Theorie von der Erkenntnis als lediglich zum Dienst des Willens hervorgebracht, würde sich die Konsequenz ergeben, daß von einer willensfreien Erkenntnis und einer aus dieser hervorgehenden willenlosen Beurteilung des Wollens gar nicht die Rede sein kann. Dies wäre aber der Tod aller echten Wissenschaft und aller Moral. Allein SCHOPENHAUER hat jene Konsequenz nicht gezogen, sondern begeht den Fehler, mit seiner Ansicht vom Erkennen die Möglichkeit einer vom Willen freien Erkenntnis verbinden zu wollen. Mit der Beschreibung, die SCHOPENHAUER von diesem willensfreien, nur unter Aufhebung der Individualität im erkennenden Subjekt möglichen, auf die Ideen gerichteten Erkennen gibt, könnte man sich leicht einverstanden erklären, wenn man keine wissenschaftliche Genauigkeit verlangt.
    "Es ist nur schade, daß ein solches selbstloses, rein objektives Erkennen am wenigsten in das System Schopenhauers paßt. Denn die Reden, daß das erkennende Subjekt sich von seinem Willen losreißt, seine Individualität aufgibt, müßten im allerbittersten Ernst genommen werden, d. h. der erkennende Mensch müßte aufhören zu existieren, wenn er die Ideen, welche von Zeit, Raum und Kausalität unabhängig sind, erkennen sollte. Man bedenke doch nur, daß Schopenhauer am Anfang ganz allgemein gesagt hat, daß alles, was ins Bewußtsein fällt, Objekt für das Subjekt ist, und daß die apriorischen Formen des Erkennens Raum, Zeit und Kausalität sind. Alles, was also im Bewußtsein ist, ist diesen Formen notwendig unterworfen. Damit ist der Strenge nach selbst das sogenannte Abstraktionsvermögen verworfen, d. h. die Möglichkeit allgemeine Begriffe zu bilden, denn diese Möglichkeit ergibt sich nicht aus jenen Formen, welche das Dasein des Intellekts konstituieren. Und wollte man selbst dies zugeben, so würde das Ergebnis jener Abstraktion von Zeit, Raum und Kausalität nur unwirkliche Allgemeinbegriffe sein, nicht aber reale Ideen, welche sich selbst in den einzelnen Dingen verwirklichen. Und wie soll es denn endlich das erkennende Subjekt machen, sich von seinem Willen loszureißen? Es ist ja weiter nichts als ein auf besondere Weise geformter Wille! Alle Vorgänge in ihm können ihren Grund nur in diesem besonderen Wollen haben, alles Vorstellen kann nur im Dienst dieses Wollens stehen, d. h. nur ein Werkzeug desselben, also auch weiter nichts sein als ein auf besondere Weise geformtes Wollen. Ein reines, von seinem Wollen losgerissenes Subjekt des Erkennens ist nach Schopenhauers Prinzipien eine bare Unmöglichkeit." (12)
Ja wenn man nicht in den Geist von SCHOPENHAUERs Lehre eindringt, sondern am Buchstaben kleben bleibt, so ist das vom Wollen losgerissene Erkennen allerdings eine bare Unmöglichkeit. Der Wille ist ja alles in allem nach SCHOPENHAUER, wie sollte es also etwas geben können, was ihm entwischt? Dieser Einwand liegt ja zu sehr auf der Hand, als daß er nicht jedem sofort einfallen sollte. Aber eben, weil er so auf der Hand liegt, darum ist ihm nicht zu trauen. Sieht man näher zu, so findet man, daß die Losreißung des Erkennens vom Wollen in der ästhetischen auf die Ideen gerichteten Kontemplation nach SCHOPENHAUER keine absolute, sondern nur eine relative ist, nur eine Losreißung von den Zwecken des individuellen Willens, nicht aber vom Willen zum Leben überhaupt; denn auch das ästhetisch kontemplierende Subjekt bejaht noch den Willen zum Leben, da es ja Freude findet am Anschauen der Ideen oder Stufen dieses Willens. Freude ist ja, wie überhaupt das Gefühl nach SCHOPENHAUER ohne Willen nicht möglich. Aber der Wille, welcher der ästhetischen Freude zugrunde liegt, ist nicht mehr der enge, auf die individuellen Zwecke der unter bestimmten räumlich-zeitlichen Verhältnissen lebenden Person, sondern der erweiterte, auf die Ideen gerichtete, der Wille, welcher will, daß die einzelnen Dinge ihren allgemeinen Ideen adäquat sind, und der daher am Anblick adäquater Abbilder der Ideen, sei es in der Natur oder in der Kunst, seine Freude findet. Dem objektiven Erkennen in der ästhetischen Kontemplation liegt also ein objektiver Wille zugrunde, und folglich ist die von SCHOPENHAUER behauptete Losreißung des Erkennens vom Wollen keine absolute, sondern nur eine relative. In der ästhetischen Kontemplation entwischt das Erkennen dem Wollen nicht gänzlich, sondern es entwischt nur dem Dienst des persönlichen Willens und tritt dafür in den Dienst des die Ideen bejahenden Willens.

Daß dieses der Sinn des willensfreien Erkennens bei SCHOPENHAUER ist, bedarf zwar für den Kundigen keines Beweises, aber da eben nicht alle, welche über SCHOPENHAUER urteilen, Kundige sind, so will ich hier noch besonders auf eine Stelle aufmerksam machen, aus der deutlich genug hervorgeht, daß SCHOPENHAUER auch dem willensfreien Erkennen noch einen Willen zugrunde legt, nur einen Willen höherer Art als den, worin er es für frei erklärt. SCHOPENHAUER leugnet nämlich, daß der Künstler, um eine schöne menschliche Gestalt zu bilden, die an viele Menschen einzeln verteilten schönen Teile empirisch zusammensucht und zusammensetzt. Er erklärt dies für eine besinnungslose Meinung; denn es frägt sich, woran der Künstler erkennen soll, daß gerade diese Formen die schönen sind und jene nicht? Rein a posteriori ist überhaupt keine Erkenntnis des Schönen möglich. Welches ist denn nun aber die apriorische Quelle derselben? SCHOPENHAUER antwortet:
    "Daß wir alle die menschliche Schönheit erkennen, wenn wir sie sehen, im echten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß er sie zeigt, wie er sie nie gesehen hat, und die Natur in seiner Darstellung übertrifft; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille, dessen adäquate Objektivation auf ihrer höchsten Stufe hier beurteilt und gefunden werden soll, ja wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der Tat eine Antizipation dessen, was die Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzustellen sich bemüht; welche Antizipation im echten Genius von einem Grad der Besonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Ding dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Wort versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt, ihr gleichsam zurufend: « Das war es, was du sagen wolltest"» «Ja das war es!» hallte es aus dem Kenner wieder . . . Die Möglichkeit solcher Antizipationen des Schönen a priori im Künstler wie seiner Anerkennung a posteriori im Kenner liegt darin, daß Künstler und Kenner das Ansich der Natur, der sich objektivierende Wille sind. Denn nur vom Gleichen, wie Empedokles sagte, wird das Gleiche erkannt: nur Natur kann sich selbst verstehen; nur Natur wird sich selbst ergründen: aber auch nur vom Geist wird der Geist vernommen." (13)
Aus dieser Stelle geht deutlich hervor, daß SCHOPENHAUER das willensfreie ästhetische Erkennen so wenig für ein absolut willenloses hält, daß er es sogar aus dem mit dem Naturwillen identischen Willen des Künstlers und Kenners ableitet. Also hat die Willensfreiheit des ästhetischen Erkennens nur eine relative Bedeutung.

Ebenso verhält es sich aber auch mit der von THILO angegriffenen Raum- und Zeitlosigkeit der Ideen bei SCHOPENHAUER. Auch diese haben eine relative Bedeutung. Die Ideen sind nach SCHOPENHAUER nicht absolut raum- und zeitlos. Denn SCHOPENHAUER unterscheidet ja die Ideen als anschauliche, durchgängig bestimmte Allgemeinheiten von den Begriffen als unanschaulichen abstrakten, und nimmt viele voneinander unterschiedene und eine zeitlich Stufenfolge bildende Ideen an. Wo aber Anschaulichkeit, Vielheit und zeitliche Stufenfolge ist, da sind ja Raum und Zeit. Also konnte es nicht SCHOPENHAUERs Meinung sein, daß die Ideen absolut raum- und zeitlos sind. Die Freiheit der Ideen von Raum und Zeit konnte demnach bei ihm nur einen relativen Sinn haben, und dieser geht klar genug aus folgender Stelle hervor:
    "Die Idee und das das reine Subjekt des Erkennens treten als notwendige Korrelata immer zugleich ins Bewußtsein, bei welchem Eintritt auch aller Zeitunterschied sogleich verschwindet, da bei dem Satz vom Grunde in allen seinen Gestaltungen völlig fremd sind und außerhalb der durch ihn gesetzten Relationen liegen, dem Regenbogen und der Sonne zu vergleichen, die an der steten Bewegung und Sukzession der fallenden Tropfen keinen Teil haben. Daher, wenn ich z. B. einen Baum ästhetisch betrachte, also nicht ihn, sondern seine Idee erkenne, es sofort ohne Bedeutung ist, ob es dieser Baum oder sein vor tausend Jahren blühender Vorfahr ist, und ebenso, ob der Betrachter dieses oder irgendein anderes irgendwann und irgendwo lebendes Individuum ist; mit dem Satz vom Grunde ist das einzelne Ding und das erkennende Individuum aufgehoben, und nichts bleibt übrig als die Idee und das reine Subjekt des Erkennens, welche zusammen die adäquate Objektivität des Willens auf dieser Stufe ausmachen. Und nicht allein der Zeit, sondern auch dem Raum ist die Idee enthoben; denn nicht die mir vorschwebende räumliche Gestalt, sondern der Ausdruck, die reine Bedeutung derselben, ihr innerstes Wesen, das sich mir aufschließt und mich anspricht, ist eigentlich die Idee und kann ganz dasselbe sein bei großem Unterschied der räumlichen Verhältnisse der Gestalt." (14)
Es geht aus dieser Stelle hervor, daß SCHOPENHAUER den Ideen nur im Vergleich zu den wechselnden Individuen, von deren räumlichen Verhältnissen und von deren Entstehen und Vergehen sie so wie der Regenbogen von der Sukzession der Tropfen unberührt bleiben, ein unräumliches und unzeitliches Dasein zuschreibt, nicht aber im absoluten Sinn, gerade so wie er den intelligiblen Willensakt, als dessen zeitliche Erscheinung er den empirischen Charakter betrachtet, nur in einem relativen Sinn, nur der Zeitreihe des empirisch sich enthaltenden Charakters gegenüber für unzeitlich erklärt, nicht aber in einem absoluten Sinn; weshalb ich LIEBMANNs Polemik gegen die von SCHOPENHAUER behauptete Zeitlosigkeit des intelligiblen Willensaktes unverständlich gefunden habe.

Überhaupt kann man die Gegensätze, die SCHOPENHAUER macht, nicht richtig verstehen, wenn man ihre relative Bedeutung verkennt und sie absolut nimmt. Sowie das Nichts, in welches die Welt nach Verneinung des Willens zum Leben zurückkehrt, nach SCHOPENHAUERs eigner ausdrücklicher Erklärung nur ein relatives ist, so ist auch die von ihm behauptete Willenlosigkeit des ästhetischen Erkennens nur eine relative und die Raum- und Zeitlosigkeit der Ideen ebenfalls nur eine relative. Ja der Wille, SCHOPENHAUERs Ding-ansich, ist nur in einem relativen Sinn das Ding ansich, nicht in einem absoluten; denn er ist Ding-ansich nur in Beziehung auf diese unsere Erscheinungswelt als das Wesen derselben, aber nicht im Sinne einer absoluten Substanz. Denn sonst könnte ja SCHOPENHAUER seine Aufhebung nicht für möglich halten, und könnte nicht, wie er tut, die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt und als die Welt darstellt, zuletzt schlechthin ansich selbst da ist? (15) Ausdrücklich erklärte SCHOPENHAUER in einem Brief an mich (vom 6. August 1852) den Willen nur in einem relativen Sinn für das Ding-ansich.
    "Der Wille ist Ding-ansich bloß in Bezug auf die Erscheinung; er ist das was diese ist, unabhängig von unserer Wahrnehmung und Vorstellung; das eben heißt ansich: daher ist er das Erscheinende in jeder Erscheinung, der Kern jedes Wesens. Als solches ist er Wille, Wille zum Leben. Daß er vom Wollen loskommen kann, bezeugt, im Menschen, die Askese in Asien und Europa durch Jahrtausende. Dieses Loskommen oder vielmehr dessen Resultat ist für uns geradezu ein Übergang ins Nichts; aber alles Nichts ist relativ. Das über diese Erkenntnisse hinausgehende ist absolut transzendent, daher die Philosophie hier aufhört und die Mystik eintritt. Das Ding-ansich haben sie stets nur in der Erscheinung zu suchen, als bloß in Bezug auf diese vorhanden, nicht aber in Wolkenkuckucksheim, dahin können wir nicht; dies heißt, es ist transzendent . . . Meine Philosophie unternimmt nicht zu erklären, wie es zu einer Welt wie diese ist hat kommen können, sondern bloß uns darin zu orientieren, d. h. zu sagen, was sie ist." (16)
Hätten die Gegner der Relativität der von SCHOPENHAUER dem Willen und den Ideen sowie dem Erkennen beider beigelegten Prädikate erkannt, so hätten sie sich manche Einwendung, die sie machen, erspart, hätten manches, worin sie einen Widerspruch finden, für keinen Widerspruch mehr gehalten. SCHOPENHAUER macht z. B. einen Gegensatz zwischen der Art, wie wir den Willen in uns erkennen, und der Art, wie wir den Leib und die Dinge außerhalb von uns erkennen. Jener sei uns im Selbstbewußtsein unmittelbar bekannt, diese hingegen sind uns nur mittelbar als Vorstellung gegeben. HAYM polemisiert hiergegen und sucht nachzuweisen, daß auch das Selbstbewußtsein selbst nicht über das Gebiet der Vorstellung hinausführt. (17) Aber dies hat SCHOPENHAUER selbst nicht geleugnet. Er hat die Unmittelbarkeit, die er dem Erkennen des Willens in uns im Gegensatz zum Erkennen des Leibes und der Außendinge beilegt, nicht in einem absoluten, sondern nur in einem relativen Sinn genommen. Er hat nur sagen wollen, daß der Wille in uns unmittelbarer als alles andere bekannt ist. Er hat nicht leugnen wollen, daß, indem wir von unserem Willen wissen, der Wille von uns vorgestellt wird, also ebensogut in das Gebiet der Objekte, der Vorstellungen gehört, wie alles andere, was wir vorstellen, sondern hat nur sagen wollen, daß uns im Selbstbewußtsein der Wille nicht als bloße Vorstellung, sondern als reales Wesen gegeben ist, während uns die anderen Dinge zunächst nur als Vorstellungen gegeben sind.

Daß dies der Sinn sein soll, in welchem SCHOPENHAUER den Willen als das uns unmittelbar Bekannte bezeichnet, geht aus der Auseinandersetzung in der "Welt als Wille und Vorstellung" (Bd. II, Seite 219-221) deutlich genug hervor. SCHOPENHAUER bekennt dort ausdrücklich, daß auch der Wille in der inneren Wahrnehmung uns noch als Objekt, als Vorstellung gegeben ist.
    "Aber dennoch ist die Wahrnehmung, in der wir die Regungen und Akte des eigenen Willens erkennen, bei weitem unmittelbarer als jede andere; sie ist der Punkt, wo das Ding-ansich am unmittelbarsten in Erscheinung tritt und in größter Näher vom erkennenden Subjekt beleuchtet wird, daher eben der also intim erkannte Vorgang der Ausleger jedes anderen zu werden allein geeignet ist." (18)
Während SEYDEL, HAYM, THILO, TRENDELENBURG das ganze System SCHOPENHAUERs zum Gegenstand ihrer Angriffe machten, haben andere nur gegen einzelne Teile, einzelne Lehren desselben ihre Angriffe gerichtet, so BERTHOLD SUHLE gegen SCHOPENHAUERs Lehre von der Kausalität in der Schrift: "Arthur Schopenhauer und die Philosophie Gegenwart. Antimetaphysische Untersuchungen mit besonderer Rücksicht auf die Denker des 18. Jahrhunderts" (1. Teil, Berlin, 1862). VIKTOR KIY hat sich vorzugsweise SCHOPENHAUERs Pessimismus zu seiner Kritik gewählt in der Schrift: "Der Pessimismus und die Ethik Schopenhauers" (Berlin 1866).

Da auch diese beiden bei SCHOPENHAUER Widersprüche in den von ihnen zum Gegenstand ihrer Kritik gemachten Lehren finden, so steht hier noch meine Ansicht auch über diese angeblichen Widersprüche.

SUHLE findet zwar sehr gut die Schwächen bei anderen Kritikern SCHOPENHAUERs heraus; so hat er die Schwächen von SEYDELs preisgekrönter Kritik und den wunderlichen Charakter von GWINNERs Darstellung und Kritik von SCHOPENHAUERs Lehre treffend geschildert (Seite 19f). Aber für die Schwächen seiner eigenen Hyperkritik war SUHLE blind.

SUHLE findet einen Grundwiderspruch zwischen SCHOPENHAUERs Lehre von der unmittelbaren apriorischen Gewißheit des Kausalitätsgesetzes, welche aller Erfahrung vorangeht, ja dieselbe erst möglich macht, und der dicht danebenstehenden Lehre, daß das Kind und der operierte Blindgeborene die Anwendung des Kausalitätsgesetzes erst lernen müssen. Er stellt folgende Stellen aus "Die Welt als Wille und Vorstellung" (Bd. I, Seite 13f) und aus der Schrift "Über das Sehen und die Farben" (Seite 10) als einander widersprechend einander gegenüber:
    A. "Die Veränderungen, welche jeder tierische Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, d. h. empfunden, und indem sogleich diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen wird, entsteht die Anschauung der letzteren als eines Objekts. Diese Beziehung ist kein Schluß in abstrakten Begriffen, geschieht nicht durch Reflexion, nicht mit Willkür, sondern unmittelbar, notwendig und sicher. Sie ist die Erkenntnisweise des reinen Verstandes, ohne welchen es nie zur Anschauung käme, sondern nur ein dumpfes, pflanzenartiges Bewußtsein der Veränderungen des unmittelbaren Objekts übrigbliebe, die völlig bedeutungslos aufeinanderfolgen, wenn sie nicht etwa als Schmerz oder Wollust eine Bedeutung für den Willen hätten. Aber wie mit dem Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht, so verwandelt der Verstand mit einem Schlag, durch seine einzige, einfache Funktion, die dumpfe, nichtssagende Empfindung in eine Anschauung." (Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, Seite 13f)

    B. "Das Kind, in den ersten Wochen seines Lebens, empfindet mit allen Sinnen; aber es schaut nicht an, es apprehendiert nicht; daher starrt es dumm in die Welt hinein. Bald jedoch fängt es an, den Verstand gebrauchen zu lernen usw." (Über das Sehen und die Farben", Seite 10).

    "Seit Chessaldins berühmt gewordenen Blinden hat der Fall sich oft wiederholt und es sich jedesmal bestätigt, daß diese spät den Gebrauch der Augen erlangenden Leute zwar gleich nach der Operation Licht, Farben und Umrisse sehen, aber noch keine objektive Anschauung der Gegenstände haben: denn ihr Verstand muß erst die Anwendung seines Kausalgesetzes auf die ihm neuen Data und ihre Veränderungen lernen." (Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, zweite Auflage, Seite 70; dritte Auflage, Seite 72)
Sieht man diese beiden einander gegenübergesetzten Stellen oberflächlich an, ohne in ihren Sinn einzudringen, so scheinen sie einander freilich zu widersprechen; der Widerspruch markiert sich nach SUHLE hauptsächlich durch die gesperrt gedruckten Worte. Unter A wird ein unmittelbares, notwendiges und sicheres Erkennen des reinen Verstandes, also ein apriorisches Erkennen, unter B ein Lernen, ein Üben, ein Vergleichen des a posteriori Gegebenen gelehrt. Dort schafft der Verstand durch Anwendung des ihm a priori gewissen Kausalitätsgesetzes mit einem Schlag die Anschauung der objektiven Welt, hier muß das Kind aus den Datis, welche die Sinne liefern, durch einen Vergleich der Eindrücke, welche vom selben Objekt die verschiedenen Sinne erhalten, die Anschauung erst mühsam erlernen. Ist nun nicht zwischen jener Unmittelbarkeit und dieser Mittelbarkeit, jener Apriorität und dieser Aposteriorität ein komplexer Widerspruch?

Ich sage Nein. Das Angeborensein einer Funktion schließt nicht aus, daß die Anwendung derselben auf den empirisch gegebenen Stoff erst gelernt werden muß. Die Unmittelbarkeit und Sicherheit, die SCHOPENHAUER dem Verstand in seiner Funktion des Anschauens zuschreibt, bezieht sich nur auf die Anwendung des Kausalitätsgesetzes, auf den Übergang von der Sinnesempfindung als Wirkung zu ihrer äußeren Ursache überhaupt, aber nicht auf die Erkenntnis einer bestimmten Beschaffenheit dieser äußeren Ursache. Diese bestimmte Erkenntnis ist vielmehr, wie SCHOPENHAUER nachgewiesen hat, eine höchst vermittelte. Also nur das Erkennen einer Ursache, eines äußeren Objekts überhaupt, auf welches die Sinnesempfindung bezogen wird, ist unmittelbar eine apriorische Tat des Verstandes. Das Erkennen hingegen der empirischen Beschaffenheit der a priori vorausgesetzten Ursachen ist Sache des Lernens, der Übung, des Vergleichens der Data der Sinnesempfindung. So löst sich dieser Widerspruch.

Darum ist es auch kein Widerspruch, wenn SCHOPENHAUER die Funktion des Verstandes eine sichere, untrügliche nennt und dennoch einen Schein als Trug des Verstandes (19) annimmt. Sicher, untrüglich ist nur die Funktion im Allgemeinen, das Voraussetzen einer Ursache überhaupt zu der in der Sinnesempfindung gegebenen Affektion des Leibes, hingegen in die nähere Bestimmung dieser Ursache kann sich Schein, Trug einmischen.

Es verhält sich mit der Verstandesfunktion wie mit jeder anderen angeborenen Funktion. Jede ist nur als eine bestimmte Form der Tätigkeit angeboren. Aber die Anwendung dieser Form auf gegebenen Inhalt oder Stoff muß erlernt werden. Dem Angeborensein widerspricht also das Lernen nicht. Jedes Lernen setzt vielmehr eine angeborene Funktion voraus.

Hätte SUHLE dies bedacht, so hätte er sich die Bemerkung erspart:
    "Wer sich nur entschließen will, einmal unbefangen zu überlegen, wie weit denn seine Einsicht in die unübersehbare und tausendfältig verschlungene Kette der Ursachen und Wirkungen in der Tat reicht, wer sich nur über die einer einzigen Wissenschaft zur Erforschung vorliegenden unzähligen Kausalverhältnisse aufrichtig Rechenschaft zu geben versucht, kann der wohl einer menschlichen Gehirnfunktion allen materiellen Objekten gegenüber die Allmacht und Unfehlbarkeit zuschreiben, womit der Idealismus sie begabt? Mögen ferner die Anhänger Kants und Schopenhauers einen Augenblick absehen von ihrem eigenen vielleicht eminenten Verstand und auf die Menge ihre Aufmerksamkeit richten! Nicht einmal einen angeborenen unbezähmbaren Trieb, ein unablässiges Bedürfnis, von jeder Empfindung oder gar jedem Ereignis die Ursache zu suchen, werden sie an unserer Gattung entdecken, geschweige denn eine angeborene Fähigkeit, immer die rechte zu finden. Vielmehr zeigen sich die Menschen dazu häufig wenig aufgelegt, träge und ungeschickt, und das reine Interesse, welches den Philosophen, den Naturforscher, den Historiker, den Philologen für die Erkenntnis der Ursachen und Gründe beseelt, ist eine Seltenheit; dem Volk ist jenes Erstaunen fremd, das dem Denken keine Ruhe läßt." (20)
Diese gegen den Idealismus gerichtete Bemerkung SUHLEs trifft den Idealismus gar nicht und kann folglich dessen Lehre von der Apriorität des Kausalitätsgesetzes nicht erschüttern. Denn der Idealismus behauptet keine "Allmacht und Unfehlbarkeit" des Verstandes, keine unmittelbare "Einsicht in die unübersehbare und tausendfältig verschlungene Kette der Ursachen und Wirkungen", die uns alles Lernens und Forschens und Erfahrens entheben würde. Er läßt nicht die Kenntnis empirischer Ursachen angeboren sein, sondern nur die formelle Funktion, jede Veränderung als Wirkung einer Ursache aufzufassen und folglich zu jeder eine Ursache vorauszusetzen, welche Funktion die Grundbedingung des Forschens nach den empirischen Ursachen bildet.

Sowenig aber wie der Idealismus eine unmittelbar angeborene Kenntnis der empirischen Kausalverhältnisse behauptet, so wenig behauptet er auch, daß alle unserer Gattung einen angeborenen unbezähmbaren Trieb haben, von jeder Empfindung oder jedem Ereignis die empirische Ursache zu erforschen. KANT und SCHOPENHAUER wußten so gut wie SUHLE, daß nicht alle Menschen geborene Denker und Forscher, nicht alle von einem Trieb nach Ergründung des ursächlichen Zusammenhangs der Erscheinungen beseelt, nicht alle von jenem Erstaunen ergriffen sind, das die Mutter der Wissenschaft und Philosophie ist. Sie wußten recht gut, daß es nur wenigen um eine wissenschaftliche Ergründung der Dinge zu tun ist, die meisten hingegen ihren Intellekt nur im Dienst der persönlichen Zwecke ihres Willens anstrengen. Das hielt sie aber dennoch nicht ab, die allgemeine Angeborenheit der Verstandesfunktionen, vermöge welcher wir zu jeder Veränderung eine Ursache voraussetzen, zu behaupten, ein Beweis, daß die Annahme der allgemeinen Angeborenheit dieser Funktion mit der Tatsache, daß nicht jeder zur Erforschung jeder Ursache einen unbezähmbaren Trieb hat, sehr wohl verträglich ist. Und warum sollte auch beides nicht verträglich sein? Folgt doch auch aus der allgemeinen Angeborenheit des Sprachvermögens in der menschlichen Gattung nicht, daß jeder jede Sprache zu lernen einen unbezähmbaren Trieb haben muß. Man muß sich wundern, daß ein so scharfsinniger Kopf wie SUHLE dies übersehen konnte. Aber diese subtilsten Köpfe sehen oft das Allereinfachste nicht. Vor lauter Subtilität kommen sie nicht auf simpelste Wahrheiten.

Ich gehe nun zu VIKTOR KIYs Kritik von SCHOPENHAUERs Pessimismus über. Die Idee des Pessimismus ist nach KIY nur dadurch möglich, daß rein empirisch dem Einzelnen, Individuellen, Unwesentlichen die Gattung des Allgemeinen, Universellen, Wesentlichen beigelegt wird. Auch SCHOPENHAUER hört nicht auf zu wiederholen, daß wahrhafte Erkenntnis des Wesens der Welt erst eintritt, wenn das principium individuationis (Raum und Zeit) durchschaut, der Schleier der maja [Schein, Trugbild - wp] zerrisen ist. Nichtsdestoweniger ist er selbst bei der Behauptung seiner pessimistischen Lebensansicht noch in jener principio individuationis befangen; er gelangt nicht wie auf dem Gebiet der Metaphysik auch auf dem der Ethik von der Betrachtung des Einzelnen zur Erkenntnis des Wesens und nimmt das "Hier" und die Gegenwart als die Erscheinungsform allen Lebens. Die Substituierung der Gegenwart für den Begriff der Zeit überhaupt scheint für SCHOPENHAUER formalerweise der erste Anlaß gewesen zu sein, seiner Ethik eine pessimistische Färbung zu geben, welche dem Grundprinzip seines Systems an und für sich fremd ist. SCHOPENHAUER sei dadurch auf den Standpunkt des Einzelnen, Zufälligen, Empirischen gedrängt und habe sich nicht zur Zusammenfassung desselben in der Idee als dem Allgemeinen, Notwendigen erheben können (21).

Dies ist nach KIY die Genesis von SCHOPENHAUERs Pessimismus. Was nun aber den Widerspruch betrifft, der durch den Pessimismus in die Philosophie SCHOPENHAUERs gekommen ist, so besteht er nach KIY darin, daß SCHOPENHAUER
    "einerseits die Wesenseinheit des Universums behauptet und deshalb von der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen jenes Wesens als des einen Willens spricht, ja sogar darüber hinaus im Einzelnen die absolute Herrschaft der Vernunft anerkennt, andererseits aber diese Zugeständnisse, in denen doch das Grundprinzip seiner Philosophie enthalten ist, in der Lehre von der schlechtesten Welt, in einem pessimistischen Anflug, den er seiner Ethik gibt, wieder aufhebt."
Hierzu beruft sich KIY noch auf das Urteil ROSENKRANZ' (22): "Wenn Gesetze in der Welt herrschen, so ist die Omnipotenz des Pessimismus ein Irrtum." (Seite 67)

Zunächst die Genesis von SCHOPENHAUERs Pessimismus betreffend, ist das von KIY Gesagte falsch. Nicht dadurch ist SCHOPENHAUER Pessimist geworden, daß er mit seinem Blick an den einzelnen, zufälligen empirischen Übeln der Welt und des Lebens klebend sich nicht zur Betrachtung des Allgemeinen und des Wesens erhoben, sondern dem Einzelnen, Individuellen, Unwesentlichen die Geltung des Allgemeinen, Universellen, Wesentlichen beigelegt hat; vielmehr hat SCHOPENHAUERs Pessimismus seinen Ursprung in seiner Auffassung des allgemeinen Wesens des Lebens. Alles Leben ist nach SCHOPENHAUER wesentlich Leiden (23).
    "Sahen wir", sagt Schopenhauer, "schon in der erkenntnislosen Natur das innere Wesen derselben als ein beständiges Streben, ohne Ziel und ohne Rast, so tritt uns bei der Betrachtung des Tiers und des Menschen dieses noch viel deutlicher entgegen. Wollen und Streben ist sein ganzes Wesen, einem unlöschbaren Durst gänzlich zu vergleichen. Die Basis allen Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon früh ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt, so befällt ihn eine furchtbare Leere und Langeweile, d. h. sein Wesen und sein Dasein selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also gleich einem Pendel hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langeweile, welche beide in der Tat dessen letzte Bestandteile sind." (24)
Ferner sagt SCHOPENHAUER:
    "Wer etwas tiefer zu denken fähig ist wird bald absehen, daß die menschlichen Begierden nicht erst auf dem Punkt anfangen können, sündhaft zu sein, wo sie, in ihren individuellen Richtungen einander zufällig durchkreuzend, Übel von der einen und Böses von der anderen Seite veranlassen, sondern daß, wenn dieses ist, sie auch schon ursprünglich und ihrem Wesen nach sündhaft und verwerflich sein müssen, folglich der ganze Wille zum Leben selbst ein verwerflicher ist. Ist ja doch aller Greuel und Jammer, deren die Welt voll ist, bloß das notwendige Resultat der gesamten Charaktere, in welchen sich der Wille zum Leben objektiviert, unter den an der ununterbrochenen Kette der Notwendigkeit eintretenden Umständen, welche ihnen die Motive liefern; also der bloße Kommentar zur Bejahung des Willens zum Leben." (25)
Auf diesen Stellen, sowie überhaupt aus allem, was SCHOPENHAUER zur "Charakteristik des Willens zum Leben", ferner "von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens", endlich gegen den "Optimismus" sowohl in der "Welt als Wille und Vorstellung" wie auch in den "Parergis" sagt, geht zur Genüge hervor, daß ihn nicht, wie KIY behauptet, der Blick auf Einzelnes, Unwesentliches, Zufälliges, sondern der tiefe Blick in das innere allgemeine Wesen der Dinge zum Pessimisten macht. Die einzelnen empirischen Übel, von denen die Welt voll ist, sind nach SCHOPENHAUER nichts Zufälliges, Unwesentliches, sondern sind die notwendige Folge des inneren allgemeinen Wesens der Welt, des Willens. Gerade weil SCHOPENHAUER das Übel der Welt für notwendig aus dem inneren Wesen derselben entspringend und darum nicht bloß jetzt und hier, sondern immer und allerorten gegenwärtig hielt, darum lehrte er, daß keine andere Erlösung vom Übel möglich ist als die Verneinung jenes Wesens. Es ist daher auch falsch, was KIY behauptet, daß die "Substituierung der Gegenwart für den Begriff der Zeit überhaupt", d. h. die Verwechslung eines vorübergehenden Jetzt mit dem Immer, für SCHOPENHAUER der Anlaß zum Pessimismus gewesen ist. Der Wille, der das innere Wesen und den Kern der Welt bildet und aus dessen Natur die Übel hervorgehen, ist ja nach SCHOPENHAUER allgegenwärtig, also nicht bloß jetzt und hier, sondern immer und überall tätig.

Was den zweiten Vorwurf KIYs betrifft, daß ein Widerspruch zwischen SCHOPENHAUERs Metaphysik und Ethik besteht, weil er in jener die Wesenheit des Universums behauptet und deshalb von der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen des Willens spricht, in dieser hingegen durch die pessimistische Lehre von der schlechtesten Welt jenes Zugeständnis, in welchem doch das Grundprinzip seiner Philosophie enthalten ist, wieder aufhebt, so habe ich hiergegen Folgendes zu sagen:

SCHOPENHAUER lehrt allerdings die Einheit des Willens auf allen Stufen seiner Erscheinung, auf allen Objektivationsstufen. Aber diese Einheit ist nach ihm voll des Streits und Zwiespalts. Jede höhere Idee oder Willensobjektivation kann nur durch die Überwältigung der niedrigeren hervortreten, erleidet aber ebendarum den Widerstand dieser, welche, wenngleich zur Dienstbarkeit gebracht, doch immer noch streben, zur unabhängigen und vollständigen Äußerung ihres Wesens zu gelangen. Wie der Magnet, der ein Eisen gehoben hat, einen fortdauernden Kampf mit der Schwere unterhält, welche, als die niedrigste Objektivation des Willens, ein ursprüngliches Recht auf die Materie jenes Eisens hat, ebenso unterhält jede und auch die Willenserscheinung, welche sich im menschlichen Organismus darstellt, einen dauernden Kampf gegen die vielen physischen und chemischen Kräfte, welche, als niedrigere Ideen, ein früheres Recht auf jene Materie haben. Daher sinkt der Arm, den man eine Weile, mit Überwältigung der Schwere, gehoben gehalten hat; daher ist das behagliche Gefühl der Gesundheit, welches den Sieg der Idee des sich seiner bewußten Organismus über die physischen und chemischen Gesetze, welche ursprünglich die Säfte des Leibes beherrschen, ausdrückt, doch so oft unterbrochen, ja eigentlich immer begleitet von einer gewissen und größeren oder kleineren Unbehaglichkeit, welche aus dem Widerstand jener Kräfte hervorgeht, und wodurch schon der vegetative Teil unseres Lebens mit einem leisen Leiden beständig verknüpft ist. Daher deprimiert auch die Verdauung alle animalischen Funktionen, weil sie die ganze Lebenskraft in Anspruch nimmt zur Überwältigung chemischer Naturkräfte durch die Assimilation. Daher also überhaupt die Last des physischen Lebens, die Notwendigkeit des Schlafes und zuletzt des Todes, indem endlich, durch Umstände begünstigt, jene unterjochten Naturkräfte dem selbst durch den steten Sieg ermüdeten Organismus die ihnen entrissene Materie wieder abgewinnen und zur ungehinderten Darstellung ihres Wesens gelangen.
    "So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden eben darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen. Jede Stufe der Objektivation des Willens macht der anderen die Materie, den Raum, die Zeit streitig . . . Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Tierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Tier die Beute und Nahrung eines anderen wird, d. h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellt, zur Darstellung einer anderen abtreten muß, indem jedes Tier sein Dasein nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann, sodaß der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht, dasselbe Geschlecht jedoch auch in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart und homo homini lupus [Der Mensch ist des Menschen Wolf. - wp] wird ... usw." (26)
Dieser Art ist die Einheit des Willens, welche SCHOPENHAUER lehrt. Es ist eine mit sich selbst entzweite, gegen sich selbst streitende Einheit, welche durch den inneren Widerstreit die Quelle allen Übels wird, indem der eine Wille, sich selbst verkennend, in einers einer Erscheinungen gesteigertes Wohlsein sucht durch die Hervorbringung großen Leidens in der andern, und so im heftigen Drang "die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt". (27) Es ist der "Thyestes", der sein eigenes Fleisch verzehrt". (28)

Kann man nun noch mit KIY sagen, daß SCHOPENHAUER durch seinen ethischen Pessimismus seiner metaphysischen Lehre von der Einheit des Wesens der Welt widersprochen hat? War nicht vielmehr sein Pessimismus eine notwendige Folge der Art, wie er diese Einheit auffaßte?

Weit gegründeter als der Vorwurf KIYs wäre, scheint mir, dieser, daß SCHOPENHAUERs Lehre vom Mitleid in Widerspruch steht mit seinem Pessimismus. Der Wille, der das Wesen der Welt bildet, ist doch nach SCHOPENHAUER kein bloß gegen sich wütender, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlagender, sondern auch, wie in den Akten des Mitleids zur Erscheinung kommt, ein das principium individuationis durchschauender, ein sich in den fremden Individuen wiedererkennender und fremdes Wohl und Wehe wie eigenes fühlender. Im Mitleid sehen wir
    "die Scheidewand, welcher nach dem Licht der Natur (wie alte Theologen die Vernunft nennen) Wesen von Wesen durchaus trennt, aufgehoben und das Nicht-Ich gewissermaßen zum Ich geworden." (29)
Es ist also doch der eine Wille, der das Wesen der Welt bildet, nach SCHOPENHAUER selbst kein bloß mit sich entzweiter, sondern auch, wie die Akte der Liebe und des Mitleids beweisen, ein mit sich einiger, ein seine innere Einheit fühlender und erkennender. Die Welt hat ein Gegengewicht gegen den Egoismus, die Bosheit und Grausamkeit aufzuweisen: die Hingebung und Aufopferung der Wesen füreinander. Es gibt nicht bloß eine vom principium individuationis geblendete, sondern auch eine es durchschauende Erkenntnis. Nicht bloß das homo homini lupus, sondern auch das homo homini deus [Der Mensch ist des Menschen Gott. - wp] hat Wahrheit.

Aus diesem Grund durfte SCHOPENHAUER nicht pessimistisch die Welt die schlechteste von allen möglichen nennen, keineswegs aber aus dem von KIY angegebenen Grund, daß SCHOPENHAUER die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen des Willens anerkennt. Die bloße Gesetzmäßigkeit von Erscheinungen involviert noch nicht ihre Güte. Das Schlechteste, Verderblichste geschieht ebenso nach Gesetzen, wie das Beste und Heilsamste. Krankheit und Laster haben ebenso ihre Gesetze aufzuweisen, wie Gesundheit und Tugend. Auf den Inhalt dessen, was nach Gesetzen geschieht, kommt es an, nicht aber auf die bloß formale Gesetzmäßigkeit, um ihm das Prädikat "gut" beizulegen.

Ich habe die hauptsächlichsten der Widersprüche, deren SCHOPENHAUER von seinen bedeutendsten neueren Gegnern beschuldigt wird, vorgeführt und gezeigt, welche Bewandtnis es mit diesen angeblichen Widersprüchen hat, daß sie nämlich bei tieferem Eindringen in seiner Lehre und bei besserem Willen, ihn zu verstehen und Gerechtigkeit gegen ihn zu üben, verschwinden. Gesetzt aber auch, es blieben noch manche ungelöste Widersprüche stehen - und meine Absicht ist keineswegs, SCHOPENHAUER für völlig widerspruchsfrei zu erklären - so wäre damit noch keineswegs bewiesen, daß SCHOPENHAUERs Philosophie so wertlos ist, wie die Gegner gerne möchten glauben machen. Welches der bisher aufgetretenen Systeme ist dann überhaupt widerspruchsfrei? "Wo ist das System, das von Widersprüchen völlig frei wäre?", sagt selbst der erbittertste Gegner SCHOPENHAUERs, RUDOLF HAYM (30). Die größten Philosophen aller Zeiten haben sich Widersprüche zuschulden kommen lassen, und doch enthalten ihre Systeme mächtige Wahrheiten, durch die das Menschengeschlecht bedeutend gefördert worden ist.

Der Wert eines Systems besteht nach meinem Dafürhalten nicht in seiner formalen Richtigkeit, sondern in seinem materiellen Wahrheitsgehalt. Es ließe sich sehr wohl ein widerspruchsloses System denken, das dennoch wertlos wäre, weil es aus lauter Begriffen und Sätzen bestände, denen keine Realität entspricht, aus puren Hirngespinsten; während daneben ein anderes mit starken Widersprüchen sich denken läßt, das dennoch großen Wert hat, weil unter den einander widersprechenden Sätzen desselben zumindest der eine Teil eine bedeutende Wahrheit enthält. Denn von zwei einander widersprechenden Aussagen kann doch wenigstens die eine wahr sein, während von zwei einander nicht widersprechenden Aussagen alle beide falsch sein können. So einige dogmatische Systeme gibt es nicht, die trotz ihrerer inneren Konsequenz und Widerspruchslosigkeit doch nur ein Luftschloß sind, während es anderersesits an inneren Widersprüchen leidende Systeme gibt, die, als zumindest nach einer Seite im realen Boden wurzelnd, tiefe Wahrheiten enthalten.

Weit verhängnisvoller als ein innerer Widerspruch, ist für die Systeme ihr Widerspruch gegen die Erfahrung, gegen die Tatsachen. Nicht diejenigen System sind die eigentlich wertlosen und aus der Geschichte verschwindenden, die bloß innerlich, in der Zusammenstellung ihrer verschiedenen Sätze fehl gehen und sich Widersprüche zuschulden kommen lassen, sondern diejenigen, deren Sätze mit der Erfahrung unvereinbar sind, von den Tatsachen Lügen gestraft werden.

Sieht man das System SCHOPENHAUERs von diesem Gesichtspunkt aus an, so wird man finden, daß es trotz aller etwaigen Widersprüche, die sich in ihm nachweisen lassen, doch wertvoller ist als alle jene a priori konstruierenden künstlichen Systeme, die zwar innerlich widerspruchslos sein mögen, die aber umso stärker und greller mit den Tatsachen in Widerspruch stehen.

Der tiefe und nachhaltige Eindruck, den die Philosophie SCHOPENHAUERs auf jeden Unbefangenen macht, läßt sich gar nicht anders erklären als aus ihrem bedeutenden Wahrheitsgehalt. Man fühlt bei der Lektüre der Werke SCHOPENHAUERs, daß hier keine Hirngespinste vorliegen, sondern die Natur der Dinge, in Begriffen abgespiegelt.

Statt allerlei Widersprüche in SCHOPENHAUERs System aufzustöbern, hätten sich die Gegner desselben ein größeres Verdienst erworben, wenn sie diejenigen Sätze nachgewiesen hätten, welche der Erfahrung, den Tatsachen gegenüber unhaltbar sind. Durch Aussonderung dieser aus dem System hätte sich alsdann ergeben, was der bleibende Wahrheitsgehalt desselben ist.
LITERATUR - Julius Frauenstädt, Arthur Schopenhauer und seine Gegner, in "Unsere Zeit - Deutsche Revue der Gegenwart", Neue Folge, Fünfter Jahrgang, Zweite Hälfte, Leipzig 1869
    Anmerkungen
    1) Vgl. Christfried Albert Thilo, Über Schopenhauers ethischen Atheismus, Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. VII, 4. Heft, Seite 336f (erster Artikel).
    2) vgl. Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, 4., Seite 41-52.
    3) vgl. vgl. Welt als Wille und Vorstellung, dritte Auflage, Bd. 2, Kapitel 26, Seite 373.
    4) vgl. Thilo, a. a. O., Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. VIII, erstes Heft, Seite 21f (zweiter Artikel).
    5) vgl. Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. VIII, Seite 23.
    6) vgl. Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. VIII, Seite 25-31.
    7) ebd. Seite 21
    8) vgl. Thilo, a. a. O., Bd. VIII, Seite 19f.
    9) vgl. "Die beiden Grundprobleme der Ethik", zweite Auflage, Seite 52.
    10) vgl. Thilo, a. a. O., Seite 20f.
    11) Vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Buch 3.
    12) vgl. Thilo, a. a. O., Bd. VIII, Seite 353-355.
    13) vgl. Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, Seite 261-263.
    14) vgl. Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, § 41, Seite 247.
    15) vgl. Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Seite 221
    16) Vgl. Frauenstädt, "Arthur Schopenhauer - von ihm über ihn", Seite 549f.
    17) Rudolf Haym, Arthur Schopenhauer, Seite 20.
    18) vgl. Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Seite 221.
    19) Über das Sehen und die Farben, Seite 15.
    20) vgl. Suhle, a. a. O., Seite 57f.
    21) vgl. Kiy, a. a. O., Seite 42f.
    22) vgl. Karl Rosenkranz "Wissenschaft der logischen Idee", Bd. 1, Seite 329.
    23) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. I, Seite 366.
    24) ebd. Seite 367f.
    25) vgl. Parerga und Paralipomena, Bd. 2, zweite Auflage, § 165.
    26) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 1, § 27, Seite 173f.
    27) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 1, Seite 418.
    28) ebd. Seite 441.
    29) vgl. "Die beiden Grundprobleme der Ethik", zweite Auflage, Seite 209.
    30) Haym, Arthur Schopenhauer, Seite 50