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ADOLPH CORNILL
Materialismus und Idealismus

"Gemäß dieser Ansicht über die Erfahrung - er meint die in den Worten Baco von Verulams dargelegte Ansicht - als die alleinige Quelle oder das Fundament der Philosophie, betrachtet Schopenhauer natürlich auch die Übereinstimmung mit der (äußeren und inneren) Erfahrung als das einzige Kriterium der Wahrheit einer Philosophie. Da, sagt er, die Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr Erscheinende, also das richtige universelle Verständnis der Erfahrung, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes, die Aufgabe der Philosophie ist, so muß eine solche Entzifferung ihre Bewährung aus sich selbst erhalten, durch die Übereinstimmung, in welche sie die so verschiedenartigen Erscheinungen der Welt zueinander setzt, und welche man ohne sie nicht wahrnimmt."

Vorwort

So sehr wir auch die Überzeugung festhalten müssen, daß sich in der ganzen Geschichte einer Wissenschaft ein gemeinsamer Entwicklungsprozeß offenbart, so können wir doch nicht verkennen, daß wir gegenwärtig in einer besonders bedeutungsvollen Übergangsepoche stehen, wenn auch der oberflächliche Blick wohl nur eine Auflösung aller philosophischen Forschung in derselben gewahren mag.

Die jetzigen philosophischen Bestrebungen vollziehen sich zwar mehr im Stillen, als die unserer glänzenden Vergangenheit; aber für die Vorbereitung einer sich neubildenden Weltanschauung sind sie von Wichtigkeit. Der frühere Glaube an eine die Erfahrung überfliegende, sich in das verborgenste Wesen der Dinge, ja in den innersten Geist der Gottheit vertiefende Spekulation bildet sich um in die gemäßigteren Ansprüche einer die Erfahrung ergründenden, auf Erfahrung begründeten Wissenschaftslehre, deren Gesetze auf allen Gebieten der Forschung und des Lebens ihre Anwendung finden. Die mehr in unmittelbarer Genialität erfaßten Spekulationen der Früheren sucht die gegenwärtige Forschung sogar auf metaphysischem Gebiet in ihren einzelnen festen Voraussetzungen induktiv zu ergründen.

Der gegenwärtige Kampf zwischen Materialismus und Idealismus ließ den Charakter unserer heutigen Weltanschauung als Übergangsepoche am offenbarsten hervortreten, obgleich derselbe sämtlichen neueren Systemen aufgedrückt ist. Der Streit über das Verhältnis von Seele und Leib bildet den eigentlichen Schwerpunkt, um welchen sich jede philosophische Weltanschauung dreht: denn analog dem anthropologischen Verhältnis dieser beiden Potenzen bildet sich auch das Urteil über das metaphysische Verhältnis von Gott und Welt, von Geist und Materie. Erschütterungen der anthropologischen Theorien müssen sich demnach auch über die ganzen metaphysischen Grundlagen der Systeme verbreiten. Daher die gegenwärtigen Streitigkeiten, wenn auch praktisch vorerst von geringem Wert, dennoch theoretisch recht eigentlich die Lebensfragen der Systeme berühren.

So einig die philosophischen Systeme in der Abwehr der eindringen materialistischen Prinzipien sind, so groß ist ihre Verschiedenheit, wenn man die Art und Weise der Abwehr näher untersucht, oder gar wenn man die Streitigkeiten der einzelnen philosophischen Weltanschauungen untereinander weiter verfolgt. Allein ebenso haben die materialistischen Prinzipien schon wieder die verschiedenartigsten Modifikationen erfahren und stimmen auch ihrerseits mehr nur in der Opposition gegen Philosophie und Religion, als in ihren Theorien überein. Die bunte Mannigfaltigkeit der letzteren tritt uns am deutlichsten aus den von J. B. MEYER schon im Winter 1855 auf 56 zu Hamburg gehaltenen "Vorlesungen zum Streit über Leib und Seele" entgegen. Wie viel unterdessen über dieses Thema geschrieben worden ist - zu einem Abschluß, zu einem festen Urteil über diese Streitigkeiten sind wir noch nicht gelangt. Die Resultatlosigkeit, welche man MEYER vorgeworfen hat, liegt im Gegenstand und ist von ihm, wegen der Schärfe seines Urteils und der Vorurteilsfreiheit seines Standpunktes, nur klarer eingesehen worden, als von Anderen. Mir erschien seine Schrift gerade dadurch besonders interessant und führte mich zu dem Versuch, an einer Besprechung derselben ein gemeinsames Resultat über die nach der allgemeinen Ansicht so ziemlich übereinstimmend für resultatlos gehaltenen Streitigkeiten zu gewinnen.

Dies schien mir aber nur dann erreichbar, wenn es gelänge, gemeinsame Gesetze herauszufinden, welche die Gegensätze der materialistischen und idealistischen Theorien auf gleiche Weise beherrschten und zu einem gleichen Ziel hindrängten. Dem tiefer eindringenden Beobachter werden auch wirklich nach und nach gewisse Entwicklungskrisen sichtbar, die bei diesen entgegengesetzten Weltanschauungen in entgegengesetzter Weise zutage treten. Er wird bei den Prinzipien des Materialismus idealistische, bei denen des Idealismus materialistische Krisen entdecken. Er wird, wenn er dieser gewiß interessanten Tatsache weiter nachspürt, herausfinden, daß aus beiden entgegengesetzten Entwicklungskrisen eine gemeinsame höhere, realistische Anschauung hervorbricht; daß beide Gegensätze in derselben ihre Errungenschaften ergänzen, ihre Widersprüche auflösen, und daß beide die werdende gemeinsame Weltanschauung auf einem besonderen Gebiet induktiv zu begründen und spekulativ zu erweitern bemüht sind.

Ich habe diese allgemeinen Gesichtspunkte weiter unten aufgestellt, in der nachfolgenden Abhandlung die Bedeutung derselben für eine Beurteilung der besonderen Probleme an einer Kritik der Systeme LOTZEs und FICHTEs nachgewiesen, und die letzteren in ihrem Verhältnis zu den materialistischen und idealistischen Theorien charakterisiert, um daran die Krisen innerhalb der entgegengesetzten Standpunkte noch bestimmter im Einzelnen hervortreten zu lassen. Beide Denker gehen, wie der Materialismus, von der Überzeugung aus, daß auch bei der Behandlung metaphysischer Probleme ein induktives Verfahren angebahnt werden müsse. Beide haben mit demselben den Zug nach Atomtheorien gemein, und suchen für die Welt des Geistes und der Natur einen gleichen Gesichtspunkt geltend zu machen, nur mit dem Unterschied, daß sie das Wesen der gleichen Grundbestandteile allen Lebens nach den Erscheinungen der inneren Wahrnehmung denken, während der Materialismus dieselben nur nach denen der äußeren Erfahrung beurteilt.

Gegen den Materialismus stehen LOTZE und FICHTE in einer sowohl erkenntnistheoretischen als metaphysischen Opposition. Ich habe die Einzelkritiken beider auf einen gemeinsamen Gesichtspunkt zurückzuführen und nachzuweisen gesucht, daß der Materialismus irrtümlicherweise die Erscheinungen der äußeren Erfahrung für das ganze Wesen der Dinge nimmt; und daß sich aus diesem Irrtum die ganze Einseitigkeit der materialistischen Ansichten von den letzten Bestandteilen allen Seins (den Atomen), von Mechanismus und Leben, von Leben und Bewußtsein, von Bewußtsein und Seelensubstanz, gleichmäßig erklärt. Dabei zeigt sich, daß die materialistischen Prinzipien ihre Einseitigkeiten nicht allein von außen, durch Anfeindungen entgegengesetzter idealistischer Theorien, zu berichtigen gezwungen werden; sondern daß sie auch von innen, durch sich selbst, bereits anfangen sich umzubilden, indem sie sich in Widersprüche verwickeln und hierdurch über ihre eigene Grundanschauung hinausdrängen.

Aber die idealistischen Theorien unterliegen einem ähnlichen Schicksal, indem sie sich die entgegengesetzte Einseitigkeit zu Schulden kommen lassen, welche wir von demselben Gesichtspunkte aus zu erklären und aufzuheben suchen. Sie begehen eben den erkenntnistheoretischen Fehler, welchen sie dem Materialismus vorwerfen, und welchen dieser an ihnen ebenso klar erkennt. Wie der Materialismus die äußere, so nimmt der Idealismus die innere Erfahrung für das wahre, ganze Wesen der Dinge, indem er letzterem die vermeintliche Natur der Begriffe zuschreibt. Diesen Idealismus bekämpfen nicht nur materialistische Denken an LOTZEn und FICHTEn, sondern merkwürdigerweise beide aneinander: LOTZE an FICHTEn vorzüglich bei der Welt der äußeren Erfahrung, FICHTE an LOTZEn besonders bei der inneren. Jeder greift den andern von einem realistischen Standpunkt aus an und meist gerade da, wo der andere in Idealismus zurückfällt; und gleichwohl gelingt es keinem von beiden, sich selbst ganz vom Idealismus frei zu machen. LOTZE geht empirisch von einem realistischen Standpunkt aus und verfällt spekulativ nachher in einen idealistischen. Diesem Real-Idealismus LOTZEs gegenüber, bekennt sich FICHTE zu einem Ideal-Realismus, indem er  a priori  von idealistischen Hypothesen ausgeht, und, sich  a posteriori  der Erfahrung anbequemend, in einen Realismus gerät. Beide schwanken zwischen diesen entgegengesetzten Anschauungsweisen; aber bei beiden erweist sich das realistische Element als das lebenfähige, während das idealistische, erschüttert, sich in sich selbst aufzulösen beginnt.

Diesen Durchbruch einer realistischen Weltanschauung herauszustellen, ist Aufgabe des vorliegenden Werkes. Wenn wir auch nur negativ die Notwendigkeit eines solchen realistischen Standpunktes nachgewiesen haben; so erlangt derselbe doch durch die Übereinstimmung in den Resultaten eine immer größere positive Wahrscheinlichkeit für sich. Er ermöglicht uns ein tieferes Einsehen in die scheinbar so labyrinthischen, jedes gemeinsamen Zusammenhaltes entbehrenden philosophischen Bestrebungen und Befehdungen der Gegenwart; er schließt uns sowohl die lebensfähigen Seiten, als auch die inneren Widersprüche in den bedeutenden Leistungen LOTZEs und FICHTEs auf und bildet uns ein Gemeinurteil über deren Verhältnis zu den herrschenden Richtungen; er zeigt uns, daß selbst diejenigen Erscheinungen, welche kaum in die Entwicklungsgeschichte der Philosophie passend einzureihen sind, dennoch den Charakter ihrer Zeit an sich tragen, nämlich den Charakter von Übergangsformationen aus einer idealistischen in eine realistische Weltanschauung, wie wir dies am originellen System des geistreichen SCHOPENHAUER in einem früheren Werkchen nachzuweisen gesucht haben.

In der ersten hier eingerückten Abhandlung habe ich diese Auffassung SCHOPENHAUERs und meinen Standpunkt gegen einen Anhänger desselben verteidigt, welcher unter der Aufschrift "Die Philosophie und die Naturwissenschaft" im Frankfurter Museum die Behauptung aufstellte, daß der realistische Standpunkt zur Auflösung alles philosophischen Denkens führe. Diese vom Frankfurter Museum nicht aufgenommene Erwiderung folgt hier in ganz unveränderter Gestalt. Die Seiten 9 - 21 können umso mehr als eine Einleitung in dieses Werk betrachtet werden, als ich hier in den allgemeinsten Umrissen die Ansicht ausgesprochen habe, daß der Standpunkt einer induktiven Wissenschaftslehre die erkenntnistheoretischen Gegensätze des Sensualismus und der Spekulation auszugleichen und eine hierauf gegründete realistische Weltanschauung auch die metaphysischen Gegensätze des Idealismus und Materialismus zu versöhnen geeignet sei.

Möchte es den folgenden Untersuchungen gelingen, bei Leser den Eindruck zu erwecken von einer Zeit, welche sich in ihrem ganzen Ideenkreis zu orientieren sucht, da sich ihr die Unhaltbarkeit von so manchen altgewohnten Anschauungen aufgedrängt hat, für deren frühere Würde und Bedeutung ihr gleichwohl noch eine stille Pietät geblieben ist. Möchten sie insbesondere dazu beitragen, bei den Vielen, welche den Beruf der Philosophie für erloschen betrachten, die Überzeugung wieder hervorzurufen, daß die Philosophie in vielen Punkten längst schon wahre Naturwissenschaft war, indem sie gewisse Erscheinungen der inneren und äußeren Welt spekulativ zu fassen suchte, wenn sie dieselben auch nur erst in den allgemeinsten Umrissen zu erkennen vermochte und vielleicht manchmal zu rasch zu bestimmten Hypothesen fortschritt. Fängt ja doch jede positive Wissenschaft damit an, zuerst ihren Gegenstand herauszustellen, dann die äußersten Konturen seiner Erscheinung zu fixieren und allmählich immer tiefer in das Wesen und die Gesetze desselben einzudringen. Sollten sich nicht die Gesetze des gleichen Erkenntnisvermögens auch bei der Philosophie geltend machen?

Gerade aus den Streitigkeiten zwischen Materialismus und Idealismus kann man die feste Überzeugung gewinnen, daß der kühne ahnungsvolle Aufschwung des spekulativen Denkens von der Anschauung mancher Tatsachen bestimmt worden ist, deren Übersehen bis zum heutigen Tag noch die Einseitigkeit des Materialismus bildet. Mag in der gegenwärtigen Entwicklungsepoche des philosophischen Bewußtseins auch manche Hypothese zusammenbrechen, ja das ganze idealistische Gerüst weggenommen werden müssen: es wird sich zeigen, daß dadurch die eigentlichen Tatsachen noch schärfer hervortreten, und sich in ihrer geistigen Bedeutung umso freier in einer realistischen Weltanschauung enthüllen werden.



I.
Die Philosophie als Naturwissenschaft
[Eine Entgegnung auf die Rezension meiner Kritik Schopenhauers in den
kritischen Blättern des Frankfurter Museums vom 14. Februar, Nr. 4]

Das Frankfurter Museum brachte jüngst eine Kritik meines Werkchens über die Philosophie ARTHUR SCHOPENHAUERs. Der Referent gibt darin zuerst eine Darstellung des Standpunktes, von dem aus ich dieses System beurteilt habe; sucht mir sodann "ein prinzipielles Mißverständnis in meiner Auffassungsweise über den Begriff der Transzendentalphilosophie" nachzuweisen; ist ferner bemüht darzutun, daß ich in noch einigen "wesentlichen Punkten SCHOPENHAUER unrichtig wiedergegeben und ihm Widersprüche unterstellt habe, von welchen SCHOPENHAUER frei sei;" und schließt endlich, indem er die vorsorgliche Befürchtung laut werden läßt, daß der von mir auch für die Philosophie geltend gemachte Standpunkt einer induktiven Begründung - welcher allerdings einem in göttlichen Dingen unproduktiven Zeitalter entspreche - unsere Wissenschaft direkt in diejenige Phase der Entwicklung führen müsse, von welcher der Verfasser im Eingang seiner Schrift sehr bezeichnend angebe: daß "Viele sich dieselbe heutzutgae gern als ein gänzliches Erlöschen dieser altgeheiligten Disziplin deuten."

Ich hätte zwar auf die vorliegenden Einwürfe nicht einzugehen brauchen, und mich nur auf das Urteil anderer wissenschaftlicher Blätter berufen können, welche der Referent widerlegen mußte, wenn er seiner Meinung wissenschaftliche Geltung zulegen wollte indem diese gerade die Darlegung der inneren Widersprüche für das Interessantest und Wichtige an meiner Arbeit übereinstimmend anerkennen. Ich hätte ganz besonders die Auffassung desjenigen englischen Blattes für mich anführen können, welches nach FRAUENSTAEDTs "Briefen über die Schopenhauersche Philosophie" uns in Deutschland zuerst durch eine ausführliche Darstellung derselben auf die Bedeutung SCHOPENHAUERs aufmerksam gemacht haben soll. Gerade die  Westminster Review  nämlich erklärt sich in ihrer Besprechung meines Werkchens ganz einverstanden, daß sich aus dem von mir aufgedeckten Grundwiderspruch in der Erkenntnistheorie die übrigen in der Metaphysik usw. mit innerer Notwendigkeit ergeben. Ich hätte also schweigen können, wenn nicht Achtung vor dem greisen Denker mich die Angriffe eines seiner Verehrer beachten ließe, denen andere leicht das Vorurteil entgegenbringen könnten, als müsse dieser am besten wissen, was SCHOPENHAUER mit seinen Lehren gewollt und was ich an denselben mißverstanden und denselben unterstellt habe. Ich halte es daher für meine Pflicht, eine Antwort nicht schuldig zu bleiben, werde sie aber bis ans Ende verschieben, da ein Eingehen auf diese Einwände und die notwendig damit verbundenen kleinen Plänkeleien weder wissenschaftlich erbaulich, noch literarisch anmutig, also aller Wahrscheinlichkeit nach den Meisten sehr gleichgültig sind. Solche mögen diese Blätter dann auch aus den Händen legen.

Zuerst werden wir das Verhältnis der Philosophie zu den Naturwissenschaften beleuchten, welches auch selbst für einen ausgedehnteren Leserkreis nicht ohne Interesse sein dürfte; wir werden dabei die Ansicht zu widerlegen suchen, als müsse durch eine Behandlung der Philosophie als Naturwissenschaft die Erstere ihren "göttlichen" Charakter, ihre Würde als "Königin" verlieren und in notwendigen Verfall geraten. Diese Meinung des Referenten werden wir untersuchen, obgleich sie von demselben nur angedeutet, aber durchaus nicht begründet worden ist; während freilich die Aufschrift seiner Besprechung "die Philosophie und die Naturwissenschaften" ein näheres Eingehen auf dieses Thema hätte vermuten lassen sollen: wir werden sie untersuchen, weil sie gegenwärtig noch von Vielen geteilt wird und weil aus einem solchen Vorurteil gar manche unbegründete Besorgnisse gegen die Philosophie, so wie Vorwürfe gegen dieselbe hervortreten können.

Die Furcht meines Referenten, den Standpunkt eines induktiv wissenschaftlichen Verfahrens auch auf die Probleme der Philosophie anzuwenden, kann ich vor allen Dingen durchaus nicht als im System SCHOPENHAUERs begründet anerkennen; da es bekanntlich er ist, welcher, der nachkantischen Spekulation, ja sogar dem von ihm so sehr verehrten KANT gegenüber, gerade die Erfahrung als die wahre Quelle unseres Wissens geltend zu machen sucht. So hat ihn auch sein bekannter Apologet FRAUENSTAEDT aufgefaßt, indem er in seinen Briefen Seite 68 sagt:
    "Gemäß dieser Ansicht über die Erfahrung - er meint die in den Worten BACO von Verulams dargelegte Ansicht - als die alleinige Quelle oder das Fundament der Philosophie, betrachtet SCHOPENHAUER natürlich auch die Übereinstimmung mit der (äußeren und inneren) Erfahrung als das einzige Kriterium der Wahrheit einer Philosophie. Da, sagt er, die Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr Erscheinende, also das richtige universelle Verständnis der Erfahrung, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes, die Aufgabe der Philosophie ist, so muß eine solche Entzifferung ihre Bewährung aus sich selbst erhalten, durch die Übereinstimmung, in welche sie die so verschiedenartigen Erscheinungen der Welt zueinander setzt, und welche man ohne sie nicht wahrnimmt."
In den §§ 7 und 8 meiner Kritik suchte ich nachzuweisen, daß SCHOPENHAUER mit dieser Auffassung nicht mehr vereinzelt dasteht, daß sich die neuere Philosophie auf den Gebieten der Erkenntnistheorie und der Logik an den verschiedensten Partien allmählich auf einen ähnlichen Standpunkt hinüber zu bilden beginnt. BENEKE behauptete jüngst, die auf innere Erfahrung gestützte Psychologie müsse als Naturwissenschaft behandelt werden, welchen Vorgang z. B. auch WAITZ in seinem tüchtigen Lehrbuch dieser Wissenschaft gefolgt ist. Und zwei der bedeutendsten Erscheinungen auf dem Gebiet der neuesten Philosophie, die Anthropologien von LOTZE und FICHTE, zeigen deutlich an, daß man sich von der Notwendigkeit durchdrungen fühlt, auch auf anderen Gebieten die Methode induktiver Forschung zu ergreifen. IMMANUEL HERRMANN FICHTE, welcher zwei Jahrzehnte bereits auf der Hochwarte der Philosophie gestanden und gegen die Extreme materialistischer Empirie und absolutistischer Spekulation gleichmäßig angekämpft hat, versucht bei seiner Behandlung von den metaphysischen Problemen der Anthropologie den Boden der Induktion zu betreten, wie Franzosen, Italiener, Nordamerikaner und Engländer das längst getan haben, was BENEKE in den erläuternden Aufsätzen zu seiner neuen Psychologie gezeigt hat. Sollten denn bei uns allein die Wenigen, welche in den ungünstigsten Zeiten bei der so äußerst mühevollen Bebauung des schwierigen Bodens der Philosophie treu beharrten, sich noch durch den Traum von einer besonderen Königskrone für die Philosophie oder wohl gar für einzelne Vertreter derselben täuschen lassen, eine Überhebung, durch welche unsere Wissenschaft bei den Schwesterwissenschaften leider so sehr in Mißkredit gekommen ist? Wir sollten uns in unserem ohnehin genug zersplitterten Deutschland noch länger in abgesonderte Schulen zerspalten, uns noch länger vom Ausland absondern und uns nicht lieber dem vereinigenden und erhebenen Glauben hingeben, daß auch in der Philosophie, wie bei allen übrigen wissenschaftlichen Disziplinen, durch Gemeinstreben das Erzielen einer gemeinsamen Wahrheit möglich sei? Es ist endlich Zeit, daß auch die Philosophie als positive Wissenschaft betrachtet und begründet werde; es ist Zeit, daß man erkenne, wie das Erschauen eines tieferen Zusammenhangs der Dinge erst durch tieferes Erfassen der einzelnen Probleme möglich sei und wie durch eine ernste und gründliche Vertiefung und Durcharbeitung von Einzelfragen die wahre Wissenschaftlichkeit auch auf diesem Gebiet mehr gefördert werden könne, als durch vorschnelle Aufstellung vollständiger Systeme, welche sogleich nicht nur einzelne philosophische Disziplinen ganz, sondern sogar alle Höhen und Tiefen am Himmel und auf Erden, in menschlichen und im göttlichen Wesen zugleich durchmessen und umfassen zu können meinen.

Ich sehe zwar recht wohl ein, daß das Verlangen, die Philosopie als Naturwissenschaft zu behandeln und auf dieselbe das Verfahren induktiver Forschung zu behandeln und auf dieselbe das Verfahren induktiver Forschung anzuwenden, der Versuch, den Geist als ein Gebilde der Natur zu fassen und die Erscheinungen des inneren Lebens durch innere Erfahrung, wie die der Außenwelt durch äußere begreifen zu wollen, noch große Bedenken gegen sich hat; ich kann es sehr wohl verstehen, daß den Meisten dadurch das Wesen der Geisteswelt und der Bestand der Spekulation eher gefährdet als gefördert zu werden scheint. Den Meisten mit der Philosophie nicht Vertrauten wird es scheinen, als sei es überhaupt unmöglich, daß sich aus den Erscheinungen unseres Seelenlebens und unserer bewußten Geisteswelt eine nur einigermaßen gegründete Wissenschaft ergeben könne; und die Meisten, welche in dieser Wissenschaft selbst tätig sind, werden, wie unser Referent, entgegnen, daß man gerade durch diese Auffassung der Philosophie ihren wesentlichen Charakter abstreife, nämlich das Streben, durch dialektisches Verfahren eine Erkenntnis zu erzielen, welche den menschlichen Geist in höherem Aufschwung über die vergängliche Sinnenwelt übertrage, und ihm den Einblick in eine Welt des Ewigen, Göttlichen eröffne. Gehen wir daher auf diese beiden Bedenken hier näher ein.

Der für innere Vorgänge ungeübte Beobachter und derjenige, welchem die Entwicklungsgeschichte der Philosohie ganz unbekannt ist, wird allerdings nicht einsehen, daß man in den leicht beweglichen, wechselvollen, so reich und mannigfaltig gestalteten Erscheinungen der Geisteswelt gewisse ewige Gesetze zu erkennen vermöge. Allein verhält es sich denn mit Uneingeweihten bei anderen Wissenschaften anders? Man stelle einen mit den Erscheinungen des Himmels ebenso Unbekannten unter das weite, nächtliche Firmament mit seinen unzähligen Weltenheeren, die als glitzernde Punkte das Auge verwirren und doch die Seele so geheimnisvoll bewegen; und er wird auch kaum eine Ahnung haben von der hehren Wissenschaft, welche den Lauf dieser scheinbar so chaotischen Massen verfolgt, die einzelnen Sterngebilde in Gruppen ordnet und ihr gegenseitiges Verhältnis einer, wenn auch noch so ungenauen, doch annähernden Berechnung unterwirft und mit den uns bekannten Weltmaßen den unendlichen Himmelsraum zu durchmessen versteht. - Aber ähnlich wie sich dem in jene Wissenschaft Eindringenden das, was ihm vorher als Chaos erschien, allmählich aufhellt und ordnet, werden sich auch demjenigen nach und nach die Augen für die innere Welt des Geistes öffnen, welcher mit liebevoller Hingebung, mit denkendem Scharfsinn und mit ausdauerndem Studium die allerdings nicht weniger mannigfaltigen, ja Anfangs den inneren Sinn noch unmittelbarer verwirrenden Erscheinungen unseres Seelenlebns zu erforschen strebt. Es ist freilich eine mühevolle und langsam fortschreitende Tätigkeit, die flüchtigen Erscheinungen als Probleme auf dem dunklen und schwankenden Grund der Geisteswelt herauszufinden, zu fixieren und einer eindringenderen Beobachtung zu unterwerfen. Auch hier tauchen zwar aus der ewig unergründlichen Nacht der Bewußtlosigkeit, welche über den eigentlichen inneren Kern unseres Wesens ausgegossen ist, als leuchtende Punkte die einzelnen Erscheinungen unseres geistig bewußten Lebens auf. Doch während die Himmelskörper in fest geregeltem Wandel vor unseren Augen kreisen und wir sie in ihren Wegen und Erscheinungen anhaltend verfolgen, in ihren Verhältnissen zueinander vergleichen können; tauchen die hellen Erscheinungen der bewußt gewordenen Innenwelt immer wieder in die Nacht des Unbewußten unter, und andere, neue drängen sich in immer wechselnder Gestaltenfülle blenden und verwirrend vor dem Geist empor und erfüllen ihn mit ahnungsvoller Bewunderung vor der unergründlichen Tiefe und Mannigfaltigkeit seiner, nicht minder als das Firmament, in ihrem wahren Wesen unbegriffenen Innenwelt.

Und doch ist es dem langsamen Fortschritt derjenigen Wissenschaft, welche das Geistesauge des Menschen nach diesen geheimnisvollen Vorgängen richtet, durch die rastlosen Bemühungen ihrer hervorragendsten Geister in vereinter, Jahrtausende fortgesetzter Arbeit gelungen, allmählich ein gewisses Wiederkehren in den einzelnen Erscheinungen, festere Gesetze in ihrem Werden und Verschwinden zu entdecken, zusammengehörige Phänomene in bestimmte Gruppen zu unterscheiden, unter diesen durch Vergleichung gewisse Ähnlichkeiten herauszufinden, und einen inneren Zusammenhang in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander zu entdecken. Kurz es ist ihnen gelungen, auch die Tatsachen innerer Wahrnehung zu Problemen einer wissenschaftlichen induktiven Forschung zu erheben und die Philosophie zur Wissenschaft heranzubilden.

Zwar möchten die sogenannten Naturwissenschaften sich jetzt oft für allein induktiv begründbar, ja sogar oft allein für Wissenschaft halten, und den sogenannten spekulativen oder Geisteswissenschaften diesen Charakter ganz absprechen. Zu keiner Zeit ist vorschneller über diese abgeurteilt worden als gegenwärtig, wo sich die Versuche immer mehr häufen, über die Probleme des Geistes von einem Standpunkt aus zu entscheiden, welcher nicht einmal den ersten Faktor, die unmittelbare sinnliche Empfindung, aus welcher man doch gern das ganze Denkleben herleiten möchte, rein empirisch zu begründen versteht. Es ist daher als ein ebenso einseitiger wissenschaftlicher Irrtum zu verwerfen, jetzt über die Probleme der inneren Wahrnehmung durch Bestimmungen der äußeren entscheiden zu wollen; wie es mit Recht als verfehlt betrachtet worden ist, daß die frühere Naturphilosophie durch bloße Vernunftbegriffe über das Wesen der vor unseren Augen zu empirischer Forschung daliegenden Natur abzuurteilen und letzterer die apriorischen Gesetze des Geistes aufzudringen versuchte. Allein wie jener Überbegriff der Philosophie eine neue Anregung auf dem Gebiet der Naturwissenschaft hervorrief und in neuem Eifer antrieb, dem tieferen Zusammenhang der entdeckten Tatsachen nachzuspüren; ebenso haben die gegenwärtigen, nicht minder ungerechtfertigten und unwissenschaftlichen Überbegriffe der Naturwissenschaften das Gute, daß sie die spekulative Forschung antreiben, auf den eigentlichen erfahrungsgemäßen Grund ihrer Begriffe zurückzugehen und für die Tatsachen der inneren Wahrnehmung eine ebenso feste Gültigkeit zu beanspruchen, als für die der äußeren. Und weit entfernt den Bestand der Philosophie durch ein solches Verfahren für bedroht zu erachten, sind wir vielmehr der Überzeugung, daß einzig durch ein bewußtes Einschlagen, und rastlos wissenschaftliches Verfolgen eines solchen Weges der Forschung die Philosophie unter den Wissenschaften den ehrenvollen Platz wieder einnehmen wird, welchen einst in begeistertem Drang ihre großen Geister kühn erobert hatten.

Nun hätten wir noch einige wesentliche Vorurteile zu betrachten, welche einer solchen Auffassung der Philosophie von Seiten vieler ihrer tüchtigsten Vertreter im Weg stehen. Diese verdienten freilich eine eingehendere Betrachtung, als ich mir hier erlauben darf: allein die wesentlichen Differenzen sollen wenigstens berührt und eine Lösung der angeregten Fragen angedeutet werden.

Vor allen Dingen haben wir eine ziemlich allgemein verbreitete Ansicht zu beleuchten, welche auch jetzt noch vereinzelte Anhänger zählen mag, welche aber von den hervorragendsten Denkern, besonders dem verdienstvollen TRENDELENBURG, gründlich widerlegt und antiquiert worden ist. Einstmals glaubte man nämlich allerdings die Philosophie durch eine ganz besondere Methode von allen übrigen Wissenschaften unterscheiden zu müssen. Sie sollte die Fähigkeit besitzen, im voraussetzungslosen Anfang zu beginnen, und aus ihrem ersten Grundsatz das ganze reich gegliederte System ihrer Begriffe herausdemonstrieren zu können. Daß ein solcher Gedanke die Geister blenden mußte, ist begreiflich. Allein er ist als das Grundgebrechen des selbst in seinen Irrtümern noch so großartigen HEGELschen Systems allgemein anerkannt. TRENDELENBURG hat unwiderlegt nachgewiesen, daß der Fortgang in einem System nicht mit Notwendigkeit aus dem inneren Gehalt des frühreren Begriffs herausgeschält werden könne, sondern daß aller Fortschritt, selbst in der spekulativen Entwicklung des Systems der Metaphysik, nur durch ein unbewußtes Hinzuziehen von aus erneuter Anschauung des Gegenstandes gewonnenen Begriffen erlangt werde. Mit anderen Worten, TRENDELENBURG hat die Methode der formalen und materialen Logik KANTs und HEGELs durch die der induktiven beurteilt und berichtigt.

Nicht so allgemeine Anerkennung hat sich dagegen eine andere Seite dieser induktiven Methode erworben, welche behauptet, daß auf dem Boden der Empirie und Spekulation ein gemeinsames Verfahren eingeschlagen werden könne. Auf dem Boden der äußeren Wahrnehmung sollen wir nämlich den Gegenständen entgegenstehen, so daß wir durch alle unsere wissenschaftlichen Bemühungen sie nur zu erkennen imstande sind, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie ansich, in ihrem wahren Wesen, in ihrer Ursachlichkeit beschaffen sind. Auf dem Boden der inneren Wahrnehmung dagegen glaubt die Philosophie sogar noch ziemlich übereinstimmendd an eine Offenbarung des wahren ewigens Wesens des Geistes und meint durch eine Übertragung derselben auch in das übersinnliche Wesen der Außendinge einzubringen. Im Geist nämlich sollen Erkennendes und Erkanntes gleich sein; hier also soll uns das wahre ideale, ewige Wesen unserer eigenen Natur zu einer höheren Einsicht offen stehen. Die verschiedenen philosophischen Systeme lassen diese spekulative Intuition entweder durch das Gefühl, wie die Glaubensphilosophen, oder durch die Vernunft, wie die eigentlichen Dialektiker, oder endlich durch den Willen geschehen, wie SCHOPENHAUER und andere. Allein wir können sämtlichen Systemen hierin nicht beistimmen, weil diese Ansichten uns nicht mit der unmittelbaren Wahrnehmung einer inneren Erfahrung zu harmonisieren scheinen. Wäre uns im Geiste wirklich unser innerstes Wesen ansich unmittelbar bloßgelegt, unsere Wissenschaft der Psychologie wäre vollendet. Aber eben weil wir noch immer so sehr entfernt sind von einer tieferen Erkenntnis des wahren Wesens unserer Seele; weil wir nur immer Erscheinungen dieses Wesens wahrzunehmen imstande sind, und erst mittels der immer genauer konstatierten, immer zusammenhängender untersuchten Erscheinungen uns nur Rückschlüsse auf das Wesen der Seele ansich erlauben können: eben deshalb halten wir auch dafür, daß sogar auf dem Boden innerer Wahrnehmung, dem eigentlichen Gebiet philosophischer Forschung, keine andere als eine induktive Methode genügen kann.

Und welche großartige Übereinstimmung erschließt sich uns von diesem Gesichtspunkt aus mit einem Mal zwischen den solange als feindliche Gegensätze behandelten Disziplinen der Empirie und Spekulation! Haben doch beide bei gleicher Methode nur verschiedene Gebiete der Forschung, die Empirie das der äußeren, die Spekulation das der inneren Wahrnehmung. Unvereinbar können sie nur solange scheinen, bis man zur Einsicht kommen wird, daß das gleiche Denkvermögen sich nach der äußeren wie nach der inneren Wahrnehmung hinzuwenden, und durch ein gleiches Denkverfahren den Inhalt beider erst zu einer wissenschaftlich bewußten Erfahrung zu erheben hat. Die Empirie kann nur solange im Gegensatz zur Spekulation stehen, als man bei derselben lediglich nur auf die unmittelbare äußere Wahrnehmung hinblick, welche das Material liefert und die verarbeitende Tätigkeit des Denkens ganz aus den Augen läßt; und die Spekulation kann nur solange von der Empirie getrennt bleiben, als man bei ihr nur auf die Vorgänge des Denkens und nicht auf die das Material liefernde Funktion der inneren Wahrnehmung sieht. Nur durch das Übersehen des einen Teils vom ganzen Erkenntnisprozeß entstehen die Gegensätze; nur durch eine Beachtung beider werden Empirie und Spekulation auf den Standpunkt induktiver Wissenschaft erhoben.

Allein wenn sich auch wohl mancher überzeugen mag, daß  ein  wissenschaftliches Verfahren für beide möglich sein könne, werden sich doch die Meisten dagegen auflehnen, die Philosophie als Naturwissenschaft zu betrachten. Nimmt man die Natur freilich nur für den Bereich äußerer, sinnlicher Wahrnehmung, so müssen wir selbstverständlich die Philosophie für eine spezifische Geisteswissenschaft erklären. Wenn wir die Philosophie dennoch als Naturwissenschaft bezeichnen, so soll damit nichts anderes gesagt sein, als daß sie weder durch ihr Verfahren, noch durch ihren Inhalt in einem absolut unvereinbaren Gegensatz zur Welt äußerer Erfahrung steht. Gerade durch unsere oben ausgesprochene Ansicht, nach welcher unsere beiden Erkenntnisquellen ihre Objekte, Natur und Geist, nur als Erscheinungen, nicht aber in ihrem wahren Wesen fassen lassen, haben wir auch die Überzeugung, daß sich Geist und Natur nicht als durchaus unvereinbare Gegensätze zueinander verhalten, sondern auf eine für uns freilich unerforschte Weise, gleichmäßig im letzten urgrund bedingt sind und sich als in einer höheren realen Einheit auflösbar erweisen. Zu einer solchen Ansicht drängt den menschlichen Geist auch seine nach Einheit und Übereinstimmung ringende Natur, und zwar von den verschiedensten Standpunkten aus. Die materialistische Empirie glaubt diesen letzten einheitlichen Urgrund allen Seins und Werdens in der Materie, die idealistische Spekulation in der absoluten Idee gefunden zu haben: allein beide irren deswegen auf gleiche Weise, weil sie denselben beide nur einseitig bestimmen, der Materialismus nur nach den Bestimmungen der äußeren, der Idealismus nur nach denen der inneren Erfahrung. Jedoch auch Materialismus und Idealismus können nur so lange unvereinbare Gegensätze bleiben, als jeder die Tatsachen des entgegengesetzten Erfahrungsfeldes in seinem metaphysischen Prinzip übersieht. Daß jedoch beide metaphysische Gegensätze durch eine innere Durchbildung ihrer Probleme innerhalb ihrer eigenen Weltanschauungen Krisen erzeugen, welche eben zu einer Berücksichtigung der einseitig ausgeschlossenen Tatsachen des andern Erfahrungsfeldes führen, wird die zweite Abhandlung darzulegen suchen. Dabei wird sich zeigen, daß sich vom Standpukt unserer realistischen Anschauung und ihrer induktiven Methode aus die Aussicht auch auf eine höhere Aussöhnung der metaphysischen Gegensätze des Idealismus und des Materialismus eröffnet; und daß sich daraus eine klarere Übersicht der jüngsten Streitigkeiten über das Verhältnis von Leib und Seele" ergibt, woraus das Entgegenstreben auch der anthropologischen Gegensätze zu einer höheren einheitlichen Verschmelzung sichtbar wird. Daselbst werde ich darzutun suchen, daß der realistische Standpunkt keineswegs den idealen Charakter der philosophischen Systeme bedroht, sondern im Gegenteil die sichere Gewähr einer spiritualistischen Durchbildung derselben verspricht.

Auch bei meiner Kritik des SCHOPENHAUERschen Systems habe ich diesen Standpunkt geltend gemacht, und in spezieller Beziehung auf dasselbe nachgewiesen, daß bei Durchführung seiner realistischen Erkenntnistheorie nicht allein das System von seinen inneren Widersprüchen an den verschiedensten Punkten auf gleiche Weise befreit werden, sondern auch aus seiner unverkennbar materialistischen Anschauung zu einer spiritualistischen Entwicklung gelangen würde. Diese ganze wichtige Seite meiner Kritik hat der Referent durchaus unberührt gelassen.
LITERATUR - Adolph Cornill, Materialismus und Idealismus in ihren gegenwärtigen Entwicklungskrisen, Heidelberg 1858