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JULIUS FRAUENSTÄDT
(1813-1879)
Arthur Schopenhauer
und seine Gegner

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"Schopenhauers Lehre von der Intellektualität der Anschauung ... daß das Ganze der wahrgenommenen Welt ein Phänomen innerhalb unseres Bewußtseins ist, bestehend aus subjektiven Empfindungen, diszipliniert, gedeutet räumlich versetzt und objektiviert durch unabweisbare Regeln unseres Verstandes, denen wir gehorchen, ohne zu wissen warum; dem Ganzen kommt also kein absolutes, sondern nur ein relatives Dasein zu, denn es existiert nur unter Voraussetzung unserer Sensibilität, vermöge unserer Intellektualität, in unserem Bewußtsein ..."

"Nur durch ein solches Absehen von dem, was bloß einer Art zukommt, werden überhaupt Gattungsbegriffe gewonnen. Nie würde man zum allgemeinen Begriff des Lebens gekommen sein, wenn man immer bloß die menschliche oder tierische Art des Lebens für Leben gehalten hätte, und nie würde man zu einem allgemeinen Begriff der Seele gekommen sein, wenn man immer nur die denkende oder empfindende Seele für Seele gehalten hätte."

Ich habe mehr als ein Dutzend gegnerische Schriften über SCHOPENHAUER gelesen und in allen gefunden, daß sie SCHOPENHAUER Widersprüche vorwerfen, ihm, der sich rühmte, der konsequenteste Philosoph zu sein und ein System aus einem Guß geliefert zu haben.

Ehe ich nun meine Ansicht über diese angeblichen Widersprüche mitteile, will ich zuvor, da SCHOPENHAUER selbst noch einige dieser ihn der Widersprüche beschuldigenden Schriften erlebt hat, sagen, wie er selbst darüber dachte. Als ADOLPH CORNILLs Buch "Arthur Schopenhauer als Übergangsformation von einer idealistischen in eine realistische Weltanschauung" (Heidelberg 1856) erschienen war, schrieb SCHOPENHAUER an mich in einem Brief vom 11. Juli 1856 unter anderem:
    "Alles wirft er durcheinander, schleppt das Heterogenste zusammen und will mir überall, nicht etwa Irrtümer, sondern Widersprüche beweisen. Widerspruch in einem Autor soll man nicht eher annehmen, als bis zwei völlig unvereinbare Lehren nachgewiesen sind und alles erschöpft ist, sie zu vereinen. Ich aber hätte, nach Cornill, auf jeder Seite mir widersprochen: da müßte ich ein Mensch sein, der nicht weiß was er redet; denn das heißt Widerspruch. Zum Beispiel Seite 30 redet er von meiner Dianoiologie [Epistemologie - wp], dem Erkenntnisprozeß, und bringt einen Satz bei aus Buch 3, von der Metaphysik des Schönen, der Auffassung platonischer Ideen. So geht es durchweg auf seiner Jagd nach Widersprüchen, bei mir, dem konsequentesten und einheitlichsten aller Philosophen." (1)
In einem späteren Brief vom 14. August 1856 kam SCHOPENHAUER noch einmal auf CORNILLs Buch zurück und schrieb an mich:
    "Der Cornill, mit seinen Widersprüchen und seinem Dualismus! Sein Kopf ist unfähig, meinen großen Gedanken in seiner Einheit zu erfassen: daher geht er darum herum, bricht hier ein Stück ab und dort ein Stück, hält sie dann beide zusammen, und weil sie sich nicht aneinanderfügen, schreit er Widerspruch! Das ist freilich leichter als einzugehen auf ein großes, tief durchdachtes Gedankensystem und dem Urheber desselben in alle Gänge zu folgen, und dann zu sagen, was man etwa dagegen hat, wie Aenesidemus gegen Kant getan hat. Aber wo, auf jenem Gang, der Mut und die Kraft das Herrchen verläßt und seine Beinchen einknicken, bleibt er liegen und schreit lieber Widerspruch!" Ebenso Tallandier: ici commencent les contradictions! [Hier beginnen die Widersprüche! - wp] Wir nur solche ... Köpfe glauben können, daß Geister meines Schlages nicht das simpelste aller logischen Gesetze, den Satz vom Widerspruch beobachten werden, oder ihr Leben hindurch an einem System arbeiten, ohne von dem, was sie lehren, einen durchdachten, deutlichen Begriff und ein klares Bild vor Augen zu haben, wobei die Möglichkeit allen Widerspruchs wegfällt, sondern wähnen, daß sie warten müßten auf Kerle, die so gemein sind wie die Fliegen an der Wand, Kerle, wie sie jeder Hans unfehlbar macht, wenn er sich zu seiner Grete legt. Ihr Name ist Legio; wir gehen einzeln durch die Jahrhunderte. Dualismus! 1) woher wißt ihr, daß ein solcher überall falsch sein muß? Und 2) wenn ich sage, der Mond hat zwei Seiten, davon wir die eine sehen, die andere nie; ist das Dualismus? Erscheinung und Ding-ansich, Wille und Vorstellung, ebensowenig." (2)
Diese brieflichen Äußerungen SCHOPENHAUERs über die ihm von CORNILL vorgeworfenen Widersprüche werden noch ergänzt durch einige ebenfalls briefliche Äußerungen an DAVID ASHER. An diesen schrieb SCHOPENHAUER am 12. November 1856:
    "Cornills Buch ist keineswegs boshaft; er sagt mir sogar viel Gutes nach. Aber der gute Mensch hat nichts gelernt und darum versteht er wenig. Er hat gar keine kantische Philosophie inne, spricht daher als unschuldiger, naiver Realist, und wenn er dann bei mir, wie es nicht anders sein kann, auf manches stößt, das er nicht begreift und zusammenreimen kann, da schreit er über Widerspruch und belegt das durch allerlei hier und dort abgerissene Stellen. Widerspruch einem Autor vorwerfen, heißt sagen, daß er ein Pinsel ist, der nicht weiß, was er redet. Daher soll man Widerspruch nie eher annehmen und behaupten, als bis gar keine Möglichkeit ist, die Sache auszulegen. Mir ist oft meine strenge Konsequenze nachgerühmt worden. Wenn er nur erst etwas Ordentliches gelernt hat, werden die Widersprüche von selbst verschwinden." (3)
Als SEYDELs Buch "Schopenhauers philosophisches System. Gekrönte Preisschrift" (Leipzig 1857) erschienen war, schrieb SCHOPENHAUER an DAVID ASHER am 15. Juli 1857 darüber:
    "Wer ein philosophisches System umstoßen will, muß es ganz fassen, tief darauf eingehen und dann die Grundgedanken als falsch nachweisen." (4)
SCHOPENHAUER war mit Recht ein Gegner jener äußerlichen Auffassung und Beurteilung eines Systems, die sich an einzelne Sätze hält, statt alles Einzelne aus dem Ganzen heraus, aus dem Grundgedanken, aus der Seele des Systems zu verstehen. Aus einzelnen Sätzen, sagte er, kann man machen was man will, auf den Sinn kommt es an, diesen muß man, möglichst tief geschöpft, im Großen und Ganzen erfassen, um einem Autor gerecht zu werden. Als ob er ahnte, daß es ihm so gehen würde, wie es ihm tatsächlich gegangen ist, daß man von außen an sein System herantreten, Einzelnes aus dem Zusammenhang gerissen ins Auge fassen und dann über Widersprüche, Ungereimtheiten, Inkonsequenzen usw. schreien würde, sprach er sich schon in der Vorrede zur ersten Auflage der "Welt als Wille und Vorstellung" darüber aus, wie er zu lesen ist, um verstanden zu werden. Er machte darauf aufmerksam, daß, obwohl es nur ein einziger einheitlicher Gedanke ist, den er mitzuteilen hat, dieser eine Gedanke doch weltumfassend ist und nun daraus, daß er nach allen seinen Seiten nur sukzessiv [aufeinanderfolgend - wp] dargestellt werden kann, für den Leser die Schwierigkeit des Eindringens in denselben entsteht.
    "Ein einziger Gedanke muß, so umfassend er auch sein mag, die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Zweck seiner Mitteilung, sich in Teil zerlegen, so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Teile ein organischer, d. h. ein solcher sein, wo jeder Teil ebensosehr das Ganze enthält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Teil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden ist. Ein Buch muß inzwischen eine erste und eine letzte Zeile haben und wird insofern einem Organismus allemal sehr unähnlich bleiben, so sehr diesem ähnlich auch immer sein Inhalt sein mag; folglich werden Form und Stoff hier im Widerspruch stehen. Es ergibt sich von selbst, daß unter solchen Umständen, zum Eindringen in den dargelegten Gedanken, kein anderer Rat ist als das Buch zweimal zu lesen und zwar das erste Mal mit viel Geduld, welche allein zu schöpfen ist aus dem freiwillig geschenkten Glauben, daß der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetzt als das Ende den Anfang und ebenso jeder frühere Teil den späteren beinahe so sehr als dieser jenen."
Außer der Geduld bei der ersten Lektüre, "aus der Zuversicht geschöpft, bei der zweiten vieles oder alles in ganz anderem Licht erblicken zu werden", empfahl SCHOPENHAUER auch in jedem der vier Bücher der "Welt als Wille und Vorstellung" sich besonders zu hüten, nicht über die notwendig abzuhandelnden Einzelheiten den Hauptgedanken, dem sie angehören, und die Fortschreitung der ganzen Darstellung aus den Augen zu verlieren.

So sprach sich SCHOPENHAUER schon in der Vorrede zur ersten Auflage seines Hauptwerks aus. Als er die zweite, um einen Band "Ergänzungen" vermehrte herausgab, fühlte er die großen Ungleichheiten zwischen dem ersten und den zweiten Band und ergriff daher wieder in der Vorrede die Gelegenheit, sich darüber zu äußern, wie er gelesen zu werden wünscht. Die seit der ersten Abfassung der "Welt als Wille und Vorstellung" verstrichenen 25 Jahre hatten in der Darstellungsweise und im Ton des Vortrags des Autors eine "so merkliche Veränderung" herbeigeführt, daß es nicht wohl anging, den Inhalt des zweiten Bandes mit dem des ersten in ein Ganzes zu verschmelzen, bei einer solchen Fusion beide zu leiden gehabt haben würden. SCHOPENHAUER gab daher beide Arbeiten gesondert und änderte an der früheren Darstellung oft selbst da, wo er sie gegenwärtig ganz anders ausgedrückt haben würde, nichts, weil er sich hüten wollte, nicht durch die Krittelei des Alters die Arbeit seiner jüngeren Jahre zu verderben. Beide Bände will SCHOPENHAUER daher in demselben ergänzenden Verhältnis zueinander angesehen wissen, wie das eine Lebensalter des Menschen in intellektueller Hinsicht die Ergänzung des anderen ist. Wenn die erste Hälfte seines Werkes vor der zweiten das voraus hat, was nur das Feuer der Jugend und die Energie der ersten Konzeption verleihen kann, so übertrifft dagegen diese wiederum jene durch die Reife und vollständige Durcharbeitung der Gedanken.
    "Denn als ich die Kraft hatte, den Grundgedanken meines Systems ursprünglich zu erfassen, ihn sofort in seine vier Verzweigungen zu verfolgen, von ihnen auf die Einheit ihres Stammes zurückzugehen und dann das Ganze deutlich darzustellen, da konnte ich noch nicht imstande sein, alle Teile des Systems mit der Vollständigkeit, Gründlichkeit und Ausführtlichkeit durchzuarbeiten, die nur durch eine vieljährige Meditation desselben erlangt werden, als welche erforderlich ist, um es an unzähligen Tatsachen zu prüfen und zu erläutern, es durch die verschiedenartigsten Belege zu stützen, es von allen Seiten hell zu beleuchten, die verschiedenen Gesichtspunkte danach kühn in Kontrast zu stellen, die mannigfaltigen Materien rein zu sondern und wohlgeordnet darzulegen."
Wegen dieses Verhältnisses nun zwischen dem ersten und zweiten Bande rät SCHOPENHAUER denen, die mit seiner Philosophie noch nicht bekannt sind, zuvörderst den ersten Band, ohne Hinzuziehung der Ergänzungen im zweiten Band, durchzulesen und letztere erst bei einer zweiten Lektüre zu benutzen, weil es ihnen sonst zu schwer sein würde, das System in seinem Zusammenhang zu fassen, in welchem es allein der erste Band darlegt, während im zweiten die Hauptlehren einzeln ausführlicher begründet und vollständig entwickelt werden.

SCHOPENHAUER gab also zwar zu, daß zwischen der ersten Darstellung seines Systems und der 25 Jahre später erschienenen näheren Ausführung und Begründung ein Unterschied ist wie zwischen Jugend und Alter, aber daß beide sich widersprechen, gab er so wenig zu, als daß die Natur sich widerspricht, indem sie dem Alter andere Eigenschaften gibt als der Jugend. Ja, SCHOPENHAUER erklärte es sogar für einen Vorzug seiner Schrifen vor denen anderer großer Philosophen, daß in allen, so weit sie auch der Zeit nach auseinanderliegen, dieselbe einheitliche Welt- und Lebensansicht enthalten ist. Denn, als ich in meinen "Briefen über die Schopenhauer'sche Philosophie" zur Darstellung der Hauptpunkte seiner Lehre Stellen aus seinen verschiedenen Schriften zusammengerückt hatte, die der Zeit ihrer Abfassung nach sehr weit auseinanderlagen, schrieb er mir am 28. Januar 1854:
    "Habe Ihr Buch zweimal mit unendlichem Plaisir gelesen, ist mir, als sähe ich in einem Konvexspiegel mein verkleinertes Bild. Ist eine vollkommen ähnliche Miniatur. Sie haben es machen können, weil Sie nicht nur eine vollständige Kenntnis und Verständnis meiner Philosophie haben, sondern so tief eingedrungen sind und sie so durchdacht und durchdrungen haben, daß Sie so viel davon wissen wie ich selbst. Dies beweisen besonders die drei letzten apologetischen Briefe, und durch das viele Studium sind Sie so zuhause in meinen Schriften, daß Sie aus den entlegensten Winkeln heranschleppen, was Sie eben brauchen, oft Dinge, die 40 Jahre voneinander abgefaßt seind. Daß aber das alles ganz zusammenpaßt und fügt, beweist die Einheit und Festigkeit meiner Lebens- und Weltansicht. Wie anders z. B. Schelling, sogar Spinoza, auch Kant; bei keinem ließe sich das so machen: sie alle haben gefackelt." (5)
Nicht minder ausdrücklich als in diesem Brief behauptet SCHOPENHAUER die Einheit und Übereinstimmung seiner Lehre auch noch an einigen Stellen seiner Schriften. In der "Hinweisung auf die Ethik" in der Schrift "Über den Willen in der Natur" (dritte Auflage, Seite 142) sagt er:
    "Überhaupt darf ich kühn behaupten, daß nie ein philosophisches System so ganz aus einem Stück geschnitten war wie meins, ohne Fugen und Flickwerk. Es ist, wie ich in der Vorrede zu demselben gesagt habe, die Entfaltung eines einzigen Gedankens."
In den Bemerkungen über seine eigene Philosophie im ersten Band der "Parerga" (6) sagt SCHOPENHAUER:
    "Wohl kaum ist irgendein philosophisches System so einfach und aus so wenigen Elementen zusammengesetzt wie das meinige, daher sich dasselbe mit einem Blick leicht überschauen und zusammenfassen läßt. Dies beruth zuletzt auf der völligen Einheit und Übereinstimmung seiner Grundgedanken und ist überhaupt ein günstiges Zeichen für seine Wahrheit, die ja der Einfachheit verwandt ist."
Er hebt daselbst auch den Unterschied hervor zwischen der Art, wie in seinem und wie in anderen Systemen die Konsequenz zu Wege gebracht ist. In anderen Systemen sei sie dadurch zu Wege gebracht, daß Satz aus Satz gefolgert wird; hierzu aber müsse notwendigerweise der eigentliche Gehalt des Systems schon in den allerobersten Sätzen vorhanden sein, wodurch dann das Übrige, als daraus abgeleitet, schwerlich anders als monoton, arm, leer und langweilig ausfallen kann, weil es eben nur entwickelt und wiederholt, was in den Grundsätzen schon ausgesagt war. In seinem System hingegen beruhen die Sätze meistens nicht auf Schlußketten, sondern unmittelbar auf der anschaulichen Welt selbst, und die in seinem System so sehr wie in irgendeinem vorhandene strenge Konsequenz ist in der Regel nicht eine auf bloß logischem Weg gewonnene, vielmehr sei sie diejenige natürliche Übereinstimmung der Sätze, welche unausbleiblich dadurch eintritt, daß ihnen sämtlich dieselbe intuitive Erkenntnis, nämlich die anschauliche Auffassung desselben, nur sukzessive von verschiedenen Seiten betrachteten Objekts, also der realen Welt, in allen ihren Phänomenen, unter Berücksichtigung des Bewußtseins, darin sie sich darstellt, zugrunde liegt. Deshalb hat er auch über die Zusammenstimmung seiner Sätze stets außer Sorgen sein können, sogar noch dann, wenn einzelne derselben ihm, wie bisweilen eine Zeit lang der Fall gewesen ist, unvereinbar schienen; denn die Übereinstimmung hat sich nachher richtig von selbst eingefunden in dem Maße, wie die Sätze vollständig zusammenkamen, weil sie bei ihm eben nichts anderes ist als die Übereinstimmung der Realität mit sich selbst, die ja niemals fehlen kann.

Kurz: aus allem bisher Angeführten geht hervor, daß SCHOPENHAUER von der Einheit und Konsequenz seiner Philosophie fest überzeugt war, ja daß er sogar seine Philosophie für eine einheitlichere und konsequentere hielt als die der anderen großen Denker.

Demgegenüber nimmt sich nun die Beschuldigung der Gegner SCHOPENHAUERs, daß seine Philosophie voller Widersprüche, ja ein Mischmasch der heterogensten, unvereinbarsten Elemente, eine greuliche Konfusion sei, etwas wunderlich aus. Ich will zwar nicht behaupten, daß die eigenen Aussagen eines Philosophen über sein System immer wahr sein müssen, daß ein Philosoph sich nicht über sich selbst täuschen kann. Aber eine solche Selbstverblendung, die es möglich macht, ein in sich widerspruchsvolles System, also ein an allen Ecken und Enden gegen das erste Denkgesetz verstoßende System, ür das einheitlichste und konsequenteste aller je dagewesenen zu erklären, wäre doch zu kolossal, als daß sie glaubhaft sein sollte, zumal bei einem Denker, der sich so besonnen und so wahrheitsliebend zeigt wie SCHOPENHAUER. SCHOPENHAUER müßte entweder, wie er selbst sagt, ein "Pinsel" gewesen sein, wenn er in lauter Widersprüchen sich bewegt haben sollte, ohne es zu merken, oder der unredlichste Mensch von der Welt, wenn er die Widersprüche, die er begeht, zwar gemerkt, aber aus Rechthaberei, aus Unfehlbarkeitsdünkel sie weggeleugnet und behauptet hätte, daß in seinem System alles wohl zusammenstimmt. Nun gibt es zwar gehässige Gegner SCHOPENHAUERs genug, die ganz zufrieden wären, wenn man denselben entweder als einen Pinsel oder als einen Unredlichen aus der Geschichte der Philosophie ausstreicht. Ich aber wäre geneigt, die Widersprüche, deren die Gegner SCHOPENHAUER beschuldigen, teils auf Rechnung ihrer Unkenntnis und ihres Unverständnisses seiner Philosophie, teils auf Rechnung ihres Übelwollens gegen ihn zu setzen. Denn beides habe ich in reichem Maße in den gegnerischen Schriften gefunden.

Hören wir z. B., was einer der neuesten Gegner SCHOPENHAUERs, Dr. OTTO LIEBMANN in seiner neuesten Schrift "Über den objektiven Anblick" (Stuttgart 1869), sagt. Nachdem LIEBMANN, auf SCHOPENHAUERs Lehre von der Intellektualität der Anschauung fußend, richtig, jedoch ohne SCHOPENHAUER als seinen Vorgänger, von dem er es gelernt hat, anzugeben, auseinandergesetzt hat, daß das Ganze der wahrgenommenen Welt ein Phänomen innerhalb unseres Bewußtseins ist, bestehend aus subjektiven Empfindungen, diszipliniert, gedeutet, räumlich disloziert [versetzt - wp] und objektiviert durch unabweisbare Regeln unseres Verstandes, denen wir gehorchen, ohne zu wissen warum; dem Ganzen kommt also kein absolutes, sondern nur ein relatives Dasein zu, denn es existiert nur unter Voraussetzung unserer Sensibilität, vermöge unserer Intellektualität, in unserem Bewußtsein, nachdem er dieses in Übereinstimmung mit SCHOPENHAUER richtig auseinandergesetzt hat, fährt er fort:
    "Sonach ferner ist es ganz komischer lapsus [Aussetzer - wp], wenn ein neuerer Philosoph (SCHOPENHAUER), der in höchst sonderbarer Weise Wahrheit und Widersinn miteinander amalgamiert, völlig Unvereinbares, wie Wasser und Feuer einander Widerstreitendes harmlos zusammenpostiert, mit den Worten anhebt: »Der Mensch kennt keine Sonne und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt.«; wenn er den Leib »Das unmittelbare Objekt«, alle übrigen wahrnehmbaren Dinge aber »mittelbare Objekte« betitelt; wenn er dann in seinem Lobgesng auf Kants große Verdienste behauptet: »Locke hatte vom Ding-ansich den Anteil, welchen die Sinnesorgane an der Erscheinung desselben haben, abgezogen; Kant aber zog den Anteil der Gehirnfunktionen ab«, wobei »Intellekt, Verstand« als gleichbedeutend mit "Gehirn" gesetzt wird und Raum, Zeit, Kausalität, welche Kant wie noch mehrere allgemeine Erkenntnisformen als a priori gegeben, d. h. als conditiones sine quibus non [Grundvoraussetzungen - wp] jeder Empirie nachgewiesen hat, »Gehirnfunktion« sein sollen. Die haarsträubende Konfusion solcher Behauptungen wird nur noch durch die Keckheit überboten, dgl. sinnloses Gewäsch einem Kant halb in die Schuhe schieben zu wollen, welcher sehr gut gewußt hat, daß die palpable [berührbare - wp] Hirnmasse in ihrem knöchernen Gehäuse samt ihren zwölf Nervenpaaren usw. ein Phänomen ganz gleicher Sorte ist wie die ganze wahrnehmbare Welt, also etwas durchaus Relatives, nicht aber absolut unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Verstand ein selbständiges Dasein Führendes." (7)
In einer Anmerkung (Seite 178) wiederholt LIEBMANN diesen Vorwurf, indem er sagt: "Völlig absurd ist die Behauptung Schopenhauers, der Raum sei eine »Gehirnfunktion«. Sie involviert einen ganz greifbaren, faustdicken circulus vitiosus."

Ich bin aber vielmehr der Ansicht, daß die hier geübte Polemik LIEBMANNs einen ganz greifbaren "faustdicken" Irrtum involviert. Wie, SCHOPENHAUER sollte nicht gewußt haben, daß das Gehirn, für dessen Funktion er Raum, Zeit und Kausalität erklärt, als räumliches Objekt so gut nur ein Phänomen ist wie andere Objekte, die es anschaut? Hätte LIEBMANN sich die Polemik gegen SCHOPENHAUER minder leicht und bequem, hätte er aus SCHOPENHAUERs Schriften ein gründlicheres tiefer eingehendes Studium gemacht, so hätte er gefunden, daß, wenn SCHOPENHAUER die Welt Gehirnphänomen nennt, damit das Gehirn nicht aus der Reihe der Phänomene, in die es seiner räumlichen Ausdehnung nach gehört, ausstreicht und zu einem Letzten, Absoluten macht. Denn was objektiv angesehen ein Gehirn ist, ist nach SCHOPENHAUER subjektiv Intellekt, also Phänomen dessen, was, objektiv angeschaut, Gehirn, folglich selbst ein Phänomen ist. SCHOPENHAUER sagt ausdrücklich:
    "Was ein Selbstbewußtsein, also subjektiv der Intellekt ist, das stellt im Bewußtsein anderer Dinge, also objektiv, sich als das Gehirn dar, und was im Selbstbewußtsein, also subjektiv, der Wille ist, das stellt im Bewußtsein anderer Dinge, also objektiv, sich als der gesamte Organismus dar." (8) Ferner

    "Wie der Intellekt physiologisch sich als die Funktion eines Organs des Leibes ergibt, so ist er metaphysische anzusehen als ein Werk des Willens, dessen Objektivation oder Sichtbarkeit der ganze Leib ist. Also der Wille zu erkennen, objektiv angeschaut, ist das Gehirn; wie der Wille zu gehen, objektiv angeschaut, der Fuß ist; der Wille zu greifen, die Hand; der Wille zu verdauen, der Magen; der Wille zu zeugen, die Genitalien usw. Diese ganze Objektivation ist freilich zuletzt nur für das Gehirn da als seine Anschauung; in dieser stellt sich der Wille als organischer Leib dar. Aber sofern das Gehirn erkennt, wird es selbst nicht erkannt, sondern ist das Erkennende, das Subjekt aller Erkenntnis. Sofern es aber in der objektiven Anschauung, d. h. im Bewußtsein anderer Dinge, also sekundär, erkannt wird, gehört es als Organ des Leibes zur Objektivation des Willen." (9)
Wo ist denn nun der circulus vitiosus, den SCHOPENHAUER begangen haben soll? Ich glaube, er steckt lediglich in LIEBMANNs Kopf. Denn es ist doch klar, daß, indem SCHOPENHAUER die Welt ein Gehirnphänomen nennt, er hier nur vom physiologischen Standpunkt redet, die physiologische Erklärung ihm aber keine letzte ist, da er ja ausdrücklich alles Physische zuletzt auf ein Metaphysisches zurückführt.

Dieses, daß SCHOPENHAUER alles Physische auf ein Metaphysisches zurückführt, hat ein anderer Kritiker SCHOPENHAUERs sehr gut gewußt, EDUARD von HARTMANN, der Autor der "Philosophie des Unbewußten"; denn er setzt sogar vor den Abschnitt A seines Werkes, der die Erscheinung des Unbewußten in der Leiblichkeit behandelt, SCHOPENHAUERs Worte als Motto:
    "Die Materialisten bemühen sich zu zeigen, daß alle Phänomene, auch die geistigen, physisch sind: mit Recht; nur sehen sie nicht ein, daß alles Physische andererseits zugleich ein Metaphysisches ist."
Dennoch beschuldigt HARTMANN SCHOPENHAUER, daß er den Intellekt rein materialistisch faßt wie MOLESCHOTT, BÜCHNER, VOGT (10). Dies ist entschieden unrichtig und stimmt schlecht zu dem von HARTMANN selbst angeführten Motto. SCHOPENHAUER ist darum, daß er die Vorstellungen zu Gehirnfunktionen erklärt, noch kein reiner Materialist wie MOLESCHOTT, BÜCHNER, VOGT; denn die Materialisten bleibem beim Physischen, beim Materiellen, als einem Letzten stehen, nach SCHOPENHAUER aber ist "alles Physische andererseits ein Metaphysisches", und die Materie ist nur Sichtbarkeit des Willens.

Kehren wir zu LIEBMANN zurück. Derselbe hat nicht etwa erst in seiner letzten Schrift "Über den objektiven Anblick", sondern auch in seiner früheren "Über den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens" (Stuttgart 1866), an den Tag gelegt, wie wenig befähigt und berechtigt er ist, über SCHOPENHAUER zu urteilen, da er ihn teils nicht kennt, teils nicht versteht oder nicht verstehen will. So wie in seiner letzten Schrift seine Polemik gegen SCHOPENHAUERs Lehre von Raum, Zeit und Kausalität als Gehirnfunkion unverständig ist, so ist auch in seiner früheren Polemik gegen SCHOPENHAUERs Freiheitslehre unverständig. Da lesen wir z. B. Seite 70 Folgendes gegen SCHOPENHAUER:
    "Es ist eine offenbare Absurdität, daß der selbstbewußte Mensch nicht für die Tat, die er mit Wissen und Willen begeht, sondern für den Charakter, der zum guten Teil durch einen ihm selbst unbekannten Kausalzusammenhang herbeigeführt ist, verantwortlich gemacht werden soll; oder gar noch für den »intelligiblen«, von dem er gar nichts wissen kann; wir sehen demnach: Bei Schopenhauer soll der Mensch nicht für seine Tat verantwortlich sein, weil diese mit Notwendigkeit aus der Einwirkung des Motivs auf den Charakter erfolgt, also unfrei ist, und weil Verantwortlichkeit nur da sein kann, wo Freiheit ist; andererseits kann er auch nicht für den Charakter verantwortlich sein, weil das selbstbewußte Subjekt nur darüber Rede zu stehen vermag, was mit seinem Wissen vor sich geht, also z. B. nicht über die Genesis des ihm angeborenen Charakters. Die Identität des Angeklagten mit dem Täter, welche Bedingung der Verantwortlichkeit ist, fällt in beiden Fällen weg. Also ist die Tatsache der Verantwortlichkeit in diesem Philosophen nicht erklärt."
Weiterhin sucht LIEBMANN zu beweisen, daß SCHOPENHAUERs Lehre, die Freiheit liegt im esse [Sein - wp] nicht im operari [Handeln - wp], logisch undenkbar, widersinnig, widersprechend ist.

Ich kann gegen diese Polemik nur wiederholen, was ich bereits anderswo auseinandergesetzt habe: daß der Mensch für seine Tat nicht verantwortlich ist, weil sie notwendig, das lehrt SCHOPENHAUER nirgends. Vielmehr lehrt er, daß die moralische Verantwortlichkeit des Menschen zwar zunächst und ostensibel [offensichtlich - wp] das betrifft, was er tut, im Grunde aber das, was er ist, da, dieses vorausgesetzt, sein Tun beim Eintritt der Motive nie anders ausfallen konnte, als es ausgefallen ist. Aber so streng auch die Notwendigkeit ist, mit welcher bei gegebenem Charakter die Taten von den Motiven hervorgerufen werden, so wird es doch keinem, selbst dem nicht, der hiervon überzeugt ist, jemals einfallen, sich dadurch diskulpieren [rechtfertigen - wp] und die Schuld auf die Motive wälzen zu wollen; denn er erkennt deutlich, daß hier der Sache und den Anlässen nach, also objektiv, eine ganz andere, sogar eine entgegengesetzte Handlung sehr wohl möglich war, ja eingetreten sein würde, wenn nur er ein anderer gewesen wäre. Daß aber er, wie es sich aus der Handlung ergibt, ein solcher und kein anderer ist, das ist es, wofür er sich verantwortlich fühlt; hier im esse liegt die Stelle, welche der Stachel des Gewissens trifft (11).

Also lehrt SCHOPENHAUER nicht, wie ihm HARTMANN vorwirft, daß der Mensch für seine Tat verantwortlich ist, weil diese notwendig ist, sondern er lehrt, daß er für dieselbe verantwortlich ist, trotzdem, daß sie notwendig ist, weil diese Notwendigkeit keine absolute, kein Fatum [Schicksal - wp], sondern eine relativ, eine durch die eigene Willensrichtung bedingte ist. SCHOPENHAUER leugnet also die Verantwortlichkeit für die Taten nicht, sondern erklärt sie nur für eine mittelbare, sekundäre. Primär ist der Mensch für sein esse, d. h. seine Willensrichtung, seinen Charakter verantwortlich; da aber aus diesem die Taten auf Anlaß der Motive mit Notwendigkeit hervorgehen, so ist er sekundär auch für die Taten verantwortlich, obgleich dieselben notwendig sind. Dies ist der Sinn der SCHOPENHAUERschen Lehre.

Man kann nun zwar bestreiten, daß das Individuum der Urheber seines empirischen Charakters, seines esse, und also für denselben verantwortlich ist, und man muß es bestreiten, wenn man das Individuum ganz und gar nur für ein Produkt von außerhalb seiner gelegenen Ursachen hält. Aber ein logischer Widerspruch, eine logische Undenkbarkeit, wie LIEBMANN behauptet, läßt sich in SCHOPENHAUERs Lehre, daß die Freiheit im esse liegt, nicht finden oder doch nur dann finden, wenn man dieselbe wie LIEBMANN gar nicht verstanden hat. LIEBMANN nörgelt zuerst an dem Ausdruck "das Sein ist frei" herum. Derselbe klingt ihm ungefähr so wie: "Der Geist ist nicht viereckig", "die Tugend ist nicht gelb", "das Wasser ist nicht pflichtwidrig". Alsann aber doch einsehend, daß SCHOPENHAUER unter dem Sein, welchem er die Freiheit beileg, einen transzendenten "Willen", einen außerzeitlichen Willensakt versteht, nimmt er zwar den Vorwurf der Ungereimtheit zurück, erklärt aber jenen außerzeitlichen Willensakt, dessen zeitliche Erscheinung nach SCHOPENHAUER der empirische Charakter ist, für undenkbar. Er sagt nämlich (12):
    "Ich habe an einem anderen Ort (13) auf die Unhaltbarkeit und den Widersinn dieser Ansicht hingewiesen und komme deshalb hier nur kurz und beiläufig darauf zurück. Es ist nämlich ein solcher Willensakt, der nach Schopenhauer unser eigentliches inneres Wesen bildet, erstens deshalb undenkbar, weil er von niemand ausgeht, eine Tat ohne Täter, ein Entschluß ohne Entschließenden sein, d. h. gänzlich zusammenhanglos in der Luft schweben soll; wobei also vergessen ist, daß der Wille immer nur die Funktion eines wollenden Subjekts und daher ebensowenig ohne vorausgesetztes Subjekt gedacht werden kann, als überhaupt irgendeine Funktion ohne Fungierendes. Zweitens aber soll er noch »außerzeitlich« gedacht werden, was für unseren Intellekt, der selbst nur in der Zeit vorstellt, und dessen Vorstellungen deshalb nur einen einige Zeit hindurch dauernden Inhalt haben können, eine Forderung ohne Sinn ist. Mit der sogenannten Freiheit des Seins wäre es also nichts; der Sinn dieses Ausdrucks ist undenkbar; er selbst aber ein leeres Wort, kenophonia." [leeres Geschwätz - wp]
Diese Polemik hätte sich LIEBMANN erspart, wenn er sich bemüht hätte, in den Sinn von SCHOPENHAUERs, mit KANTs im wesentlichen Freiheitslehre einzudringen. Nach SCHOPENHAUER bedeutet "frei" das Gegenteil von "notwendig", notwendig aber bedeutet: Folge aus einem Grund. Folglich kommt das Prädikat "frei" nur demjenigen zu, was nicht Folge aus einem Grund, sondern das grundlose Ursprüngliche ist. Dieses nun aber ist nicht die Tat, sondern der Wille. Folglich fällt auf ihn alle Schuld und Verantwortlichkeit zurück. Was die Außerzeitlichkeit jenes Willensaktes betrifft, dessen in der Zeit sich auseinanderlegende Erscheinung der empirische Charakter ist, so hat sie nur den Sinn, daß jener Willensakt das Prinzip der ganzen Zeitreihe ist, in der sich der empirische Charakter entfaltet, also nicht selbst in dieser Zeitreihe liegt, sondern gleichsam über ihr schwebt. Diese Außerzeitlichkeit ist also nur eine relative. In Vergleichung nämlich mit seiner sukzessiven empirischen Erscheinung ist der intelligible Willensakt, der immer das Prinzip bildet, außerzeitlich. Was endlich die Beschuldigung betrifft, der intelligible Willensakt soll undenkbar sein, weil er eine Tat ohne Täter, ein Entschluß ohne sich entschließendes Subjekt, eine Funktion ohne Fungierendes ist, so ist sie ganz einfach damit widerlegt, daß ja bei SCHOPENHAUER der Wille als Ding ansich das Subjekt, der Täter der sich Entschließende zu jenem Willensakt ist. Der Wille ist ja nach SCHOPENHAUER das Ursubjekt. Also schwebt der außerzeitliche Willensakt, als dessen in der Zeit sich entfaltende Folge SCHOPENHAUER den empirischen Charakter betrachtet, keineswegs "in der Luft", wie LIEBMANN behauptet.

Kurz: die Undenkbarkeit, der Widersinn, den LIEBMANN da SCHOPENHAUERs Freiheitslehre vorwirft, ist nirgends in dieser zu finden, sondern nur bei LIEBMANN selbst zu suchen. Und nun wird der Leser wissen, was davon zu denken ist, wenn LIEBMANN (14) SCHOPENHAUER einen waren "Tragelaphen" [uneinheitliches Werk - wp] nennt, in dessen Schriften "tiefe, bedeutende Einsichten mit barem nonsense verquickt" sind. Freilich, man hat nonsense in die Schriften eines Philosophen hineingetragen, so ist es auch leicht, den nonsens wieder herauszuziehen!

Doch, wird der Leser fragen, haben nicht schon lange vor LIEBMANN, diesem zuletzt aufgetretenen Gegener SCHOPENHAUERs, andere und zwar bedeutendere Gegner, wie SEYDEL, HAYM, TRENDELENBURG, THILO, ihn ebenfalls der Widersprüche und des nonsense beschuldigt? Und sollten diese alle die Widersprüche, die sie in SCHOPENHAUERs System finden, nur in dasselbe aus Mangel an Verständnis hineingetragen haben?

Wir wollen sehen! Wir fangen mit RUDOLF SEYDELs gekrönter Preisschrift an, welche unter dem Titel "Schopenhauers philosophisches System dargestellt und beurteilt" (Leipzig 1857) erschien und auf welche sich manche spätere Gegner SCHOPENHAUERs als auf eine vortreffliche Gegenschrift berufen haben. So beruft sich z. B. Professor ÜBERWEG
in Königsberg in seinem "Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart" ebenfalls auf SEYDEL.

SEYDEL wirft SCHOPENHAUER ein Schwanken zwischen idealistischer und realistischer Auffassung der "Objektivationen" des Willens vor. Einerseits werde von ihm die Objektivation nicht als reale Betätigung des Willens, sondern als Objektivation nur im Verstand und für denselben erklärt (15):
    "Ich verstehe unter Objektivation das Sichdarstellen in der realen Körperwelt. Inzwischen ist diese selbst, wie im ersten Buch und dessen Ergänzungen ausführlich dargetan, durchaus bedingt durch das erkennende Subjekt, also den Intellekt, folglich außerhalb seiner Erkenntnis schlechterdings als solche undenkbar; denn sie ist zunächst nur anschauliche Vorstellung und als solche ein Gehirnphänomen. Nach ihrer Aufhebung würde das Ding-ansich übrigbleiben" -
andererseits aber, in der naturphilosophischen Durchführung, wird der Intellekt ausdrüclich als erst nach Ablauf seiner erkenntnislosen Objektivationsreihe eintretend aufgefaßt. Dieser seiner Oszillation [Hin- und Herschwingen - wp] zwischen idealistischer und realistischer Auffassung sei sich SCHOPENHAUER bisweilen selbst bewußt geworden, z. B. in jenem Paragraphen der "Parerga", wo er sagt:
    "Wenn man einerseits zugeben muß, daß alle jene physischen, kosmogonischen, chemischen und geologischen Vorgänge, da sie notwendig sind, als Bedingungen dem Eintritt eines Bewußtseins lange vorhergehen mußten, auch vor diesem Eintritt, also außerhalb eines Bewußtseins existieren, so ist andererseits nicht zu leugnen, daß eben die besagten Vorgänge außerhalb eines Bewußtseins, da sie in und durch dessen Formen allererst sich darstellen können, gar nichts sind, sich nicht einmal denken lassen." (16)
In diesem Zwiespalt zwischen erkenntnistheoretischem Idealismus und naturphilosophischem Realismus findet SEYDEL den "Grund- und Hauptwiderspruch" von SCHOPENHAUERs System (17). Noch kein Anhänger SCHOPENHAUERs hat auch nur versucht, diesen von allen Kritikern des Systems unermüdlich ans Licht gezogenen Hiatus [Kluft - wp] zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik zu beseitigen. Als ob SCHOPENHAUER selbst nichts zur Beseitigung desselben getan hätte! In dem von SEYDEL zitierten Paragraphen der "Parerga" über die kosmogonischen und geologischen, dem Eintritt eines Bewußtseins lange vorhergehenden Vorgänge sagt ja SCHOPENHAUER ausdrücklich zur Lösung der hier in Rede stehenden Antinomie:
    "Allenfalls ließe sich sagen, das Bewußtsein bedingt die in Rede stehenden physischen Vorgänge vermöge seiner Formen, ist aber wiederum durch sie bedingt vermöge ihrer Materie."
Warum hat denn SEYDEL diese die Lösung des Widerspruchs enthaltenden Worte in seinem Zitat unterdrückt? Vielleicht, weil alsdann SCHOPENHAUER nicht mehr als ein so gedankenloser, Widersprüche zusammenschweißender Philosoph erschienen und dies doch schade gewesen wäre.

Weit ausführlicher übrigens als in dem von SEYDEL zitierten Paragraphen der "Parerga" hat SCHOPENHAUER die Antinomie des Bedingtseins der objektiven Welt durch das Bewußtsein und des Bedingtseins des Bewußtseins durch die objektive Weltentwicklung zur Sprache gebracht in "Die Welt als Wille und Vorstellung" (Bd. 1, § 7), wo er an die Stelle der vier kantischen Antinomien, die nach ihm "grundlose Spiegelfechtereien" sind, zwei andere setzt, eine chemische und eine physiologische. Die physiologische aber ist die hier in Rede stehende.
    "Kein Objekt ohne Subjekt", sagt Schopenhauer dort, "ist der Satz, welcher auf immer allen Materialismus unmöglich macht. Sonnen und Planeten , ohne ein Auge, das sie sieht, und einen Verstand, der sie erkennt, lassen sich zwar mit Worten sagen, aber diese Worte sind für die Vorstellung ein Sideroxylon [eiserner Baum - wp]. Nun leitet aber dennoch andererseits das Gesetz der Kausalität und die ihm nachgehende Betrachtung und Forschung der Natur uns notwendig zu der sicheren Annahme, daß in der Zeit jeder höher organisierte Zustand der Materie erst auf einen roheren gefolgt ist, daß nämlich die Tiere früher als die Menschen, Fische früher als Landtiere, Pflanzen auf früher als diese, das Unorganische vor allem Organischen dagewesen ist; daß folglich die ursprüngliche Masse eine lange Reihe von Veränderungen durchzugehen gehabt hat, bevor sich das erste Auge öffnen konnte. Und dennoch bleibt immer von diesem ersten Auge, das sich öffnete, und habe es einem Insekt gehört, das Dasein jener ganzen Welt abhängig, als von dem notwendig Vermittelnden der Erkenntnis, für die und in der sie allein ist und ohne die sie nicht einmal zu denken ist; die sie ist schlechthin Vorstellung und bedarf als solche des erkennenden Subjekts als Träger ihres Daseins; ja jene lange Zeitreihe selbst, von unzähligen Veränderungen gefüllt, durch welche sich die Materie steigerte von Form zu Form, bis endlich das erste erkennende Tier geworden ist, diese ganze Zeit selbst ist ja allein denkbar in der Identität des Bewußtseins, dessen Folge von Vorstellungen, dessen Form des Erkennens sie ist und ohne die sie durchaus alle Bedeutung verliert und gar nichts ist. So sehen wir einerseits notwendig das Dasein der ganzen Welt abhängig vom ersten erkennenden Wesen, ein so unvollkommenes dieses auch immer sein mag, andererseits ebenso notwendig dieses erste erkennende Tier völlig abhängig von einer langen ihm vorhergegangenen Kette von Ursachen und Wirkungen, in die es selbst als ein kleines Glied eintritt."
So stellt SCHOPENHAUER diese "Antinomie" im siebten Paragraphen des ersten Bandes der "Welt als Wille und Vorstellung" dar. Er läßt dieselbe aber auch dort nicht ungelöst stehen, sondern gibt ihre Lösung. Denn er sagt:
    "Der sich uns hier zuletzt notwendig ergebende Widerspruch findet jedoch seine Auflösung darin, daß, in Kants Sprache zu reden, Zeit, Raum und Kausalität nicht dem Ding-ansich zukommen, sondern allein seiner Erscheinung, deren Form sie sind; welches in meiner Sprache so lautet, daß die objektive Welt, die Welt der Vorstellung nicht die einzige, sondern nur die eine, gleichsam die äußere Seite der Welt ist, welche noch eine ganz und gar andere Seite hat, die ihr innerstes Wesen, ihr Kern, das Ding-ansich ist. Die Welt als Vorstellung hebt allerdings erst an mit dem Aufschlagen des ersten Auges, ohne welches Medium der Erkenntnis sie nicht sein kann, also auch nicht vorher war. Aber ohne jenes Auge, d. h. ohne die Erkenntnis, gab es auch kein Vorher, keine Zeit. Dennoch hat deswegen nicht die Zeit einen Anfang, sondern aller Anfang ist in ihr; da sie aber die allgemeinste Form der Erkennbarkeit ist, welcher sich alle Erscheinungen mittels des Bandes der Kausalität einfügen, so steht mit dem ersten Erkennen auch sie (die Zeit) da mit ihrer ganzen Unendlichkeit nach beiden Seiten, und die Erscheinung, welche diese erste Gegenwart füllt, muß zugleich erkannt werden als ursächlich verknüpft und abhängig von einer Reihe von Erscheinungen, die sich unendlich in die Vergangenheit erstrekct, welche Vergangenheit selbst jedoch ebensowohl durch diese erste Gegenwart bedingt ist als umgekehrt diese durch jene, sodaß wie die erste Gegenwart so auch die Vergangenheit, aus der sie stammt, vom erkennenden Subjekt abhängig und ohne dasselbe nichts ist, jedoch die Notwendigkeit herbeiführt, daß diese erste Gegenwart nicht als die erste, d. h. als keine Vergangenheit zur Mutter habend und als Anfang der Zeit sich darstellt, sondern als Folge der Vergangenheit nach dem Grund des Seins in der Zeit und so auch die sie füllende Erscheinung als Wirkung früherer jene Vergangenheit füllender Zustände nach dem Gesetz der Kausalität."
Man mag nun mit dieser Lösung zufrieden sein oder nicht - keinesfalls wird man SCHOPENHAUER, wie seine Gegner tun, als einen gedankenlosen in Widersprüchen sich Bewegenden darstellen dürfen, der keine Ahnung vom Widerspruch seiner entgegengesetzten, bald idealistischen, bald realistischen Aussagen hat und nicht den geringsten Versuch macht, den Widerspruch zu lösen. SCHOPENHAUER, wie ich ihn verstehe und wie ich ihn bereits in meinen "Briefen über die Schopenhauersche Philosophie" dargestellt habe, ist weder absoluter Idealist noch absoluter Realist, sondern er ist Idealist auf realistischem Grund. Die Welt als Vorstellung ist ihm kein bloßer Schein, sondern sie ist eine Erscheinung des Realen, des Willens, in den Formen des vorstellenden Subjekts, des Intellekts. Dieser Intellekt ist real, er ist ja keine bloße Vorstellung, sondern ist die reale Bedingung der Vorstellung, aber seine Formen, Zeit, Raum und Kausalität sind ideal, gehören also nicht dem Ding-ansich an, sondern nur dem Bild des Intellekts von demselben. Das raum-, zeit- und grundlose Wesen ansich der Welt stellt sich in der Erscheinung, d. h. in der Vorstellung mittels des Intellekts dar als eine Vielheit neben- und nacheinander existierender und aufeinander wirkender Individuen.

Das erste Reale ist also nach SCHOPENHAUER der Wille, das zweite Reale ist der Intellekt mit seinen apriorischen Formen als ein Organ des Willens. Das dritte von diesen beiden, die Welt als Vorstellung, ist weder real noch bloß ideal, sondern ist gemischt aus Realität und Idealität. Ihrem inneren Wesen, ihrem Kern oder dem in ihr Erscheinenden nach ist sie real, ist Willensmanifestation, ihrer äußeren Form nach hingegen ist sie ideal. SCHOPENHAUER betont es wiederholt, daß im Aposteriorischen der Vorstellung, in dem aus den apriorischen Formen nicht Abzuleitenden und zu Erklärenden das ursprünglich Reale, das Ding-ansich, der Wille sich kundgibtk, die apriorischen Formen (Raum, Zeit und Kausalität mit ihren Gesetzen) hingegen dem Intellekt als das ihnen Eigentümliche angehören. Er fordert also den realen vom idealen Teil der Vorstellung, legt dem aposteriorischen Stoff derselben Realität, der apriorischen Form Idealität bei, und es ist daher ein ungerechter Vorwurf, daß zwischen seinem Realismus und seinem Idealismus ein Widerspruch ist. Ein solcher wäre nur dann vorhanden, wenn SCHOPENHAUER die Prädikate real und ideal ein und demselben beilegen würde. Dies ist aber nicht der Fall; denn nur der Stoff der Vorstellung oder Erscheinung ist ihm real, die Form hingegen ideal.
    "Ich lasse", sagt Schopenhauer, "ganz und gar Kants Lehre bestehen, daß die Welt der Erfahrung bloße Erscheinung ist, und daß die Erkenntnisse a priori bloß in Bezug auf diese gelten; ich aber füge hinzu, daß sie gerade als Erscheinung die Manifestation desjenigen ist, was erscheint, und nenne es mit ihm das Ding-ansich. Dieses muß daher sein Wesen und seinen Charakter in der Erfahrungswelt ausdrücken, folglich solcher aus ihm herauszudeuten sein, und zwar aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Form der Erfahrung. Demnach ist die Philosophie nichts anderes als das richtige, universelle Verständnis der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinns und Gehalts. Dieser ist das Metaphysische, d. h. in die Erscheinung bloß Gekleidete, und in ihre Formen Verhüllte, ist das, was sich zu ihr verhält wie der Gedanke zu den Worten." (18)
Auch noch aus der folgenden Stelle geht die erwähnte Verteilung der Realität und Idealität an zwei verschiedene Elemente der Vorstellung, an das Aposteriorische und Apriorische derselben, deutlich hervor:k
    "Alles dasjenige an den Dingen, was nur empirisch, nur a posteriori erkannt wird, ist ansich Wille; hingegen soweit die Dinge a priori bestimmbar sind, gehören sie allein der Vorstellung an, der bloßen Erscheinung. Daher nicht die Verständlichkeit der Naturerscheinungen in dem Maße ab, als in ihnen der Wille sich immer deutlicher manifestiert, d. h. als sie immer höher auf der Wesenleiter stehen; hingegen ist ihre Verständlichkeit umso größer, je geringer ihr empirischer Gehalt ist, weil sie umso mehr auf dem Gebiet der bloßen Vorstellung bleiben, deren uns a priori bewußte Formen das Prinzip der Verständlichkeit sind. Demgemäß hat man völlige, durchgängige Begreiflichkeit nur so lange, als man sich ganz auf diesem Gebiet hält, folglich bloße Vorstellung ohne empirischen Gehalt vor sich hat, bloße Form; also in den Wissenschaften a priori, in der Arithmetik, Geometrie, Phoronomie [Lehre vom Energieaufwand - wp] und in der Logik; hier ist alles im höchsten Grad faßbar, die Einsichten sind völlig klar und genügend und lassen nichts zu wünschen übrig, indem es uns sogar zu denken unmöglich ist, daß irgendetwas sich anders verhalten könnte, welches alles daher kommt, daß wir es hier ganz allein mit den Formen unseres eigenen Intellekts zu tun haben." (19)
Denselben Gedanken findet man auch in der "Welt als Wille und Vorstellung" (dritte Auflage, Bd. 1, § 24, Seite 142-145) ausgeführt.

Es geht aus dem Angeführten zur Genüge hervor, daß SCHOPENHAUER in Bezug auf die Erscheinung weder Idealist noch Realist ist, sondern Idealist und Realist, uns zwar nicht in widersprechender Weise, da es nicht ein und dasselbe Element der Erscheinung ist, in Bezug worauf er Idealist und Realist ist, sondern zwei verschiedene Elemente, nämlich apriorische Form und empirischer Stoff.

Deshalb ist es aber auch ein ungerechter Vorwurf, wenn man wie TRENDELENBURG in seiner Kritik von SCHOPENHAUERs Philosophie (20) tut, SCHOPENHAUER beschuldigt, daß er die Erscheinungswelt zum bloßen "Gaukelgebilde" in unserem Kopf macht. "Die Erscheinungen macht er zu einer bloßen Vorstellung in unserem Kopf, zum Schein." (Seite 108) TRENDELENBURG stempelt also SCHOPENHAUER zum puren Idealisten. Hiergegen habe ich schon in der Schrift "Arthus Schopenhauer. Von ihm, über ihn" (Seite 432-438) das Nötige beigebracht. Ich habe dort diejenigen Stellen aus "Die Welt als Wille und Vorstellung", aus den "Parergis" und aus SCHOPENHAUERs "Briefen" an mich sowie aus seinen Gesprächen mit mir hervorgehoben, aus denen schlagend hervorgeht, wie falsch die Beschuldigung ist, daß SCHOPENHAUER die Erscheinung zum bloßen Schein, zum Gaukelgebilde macht, z. B. die Stelle der "Parerg" (erste Auflage, Bd. 2, § 102b; zweite Auflage, § 103b), wo SCHOPENHAUER, von den verschiedenen Tiergestalten und den verschiedenen Pflanzenformen redend, fortfährt:
    "Im Ganzen jedoch läßt sich sagen, daß in der objektiven Welt, also der anschaulichen Vorstellung, sich überhaupt nichts darstellen kann, was nicht im Wesen der Dinge-ansich, also in dem der Erscheinung zugrunde liegenden Willen ein genau dem entsprechend modifiziertes Streben hätte. Denn die Welt als Vorstellung kann nichts aus eigenen Mitteln liefern, ebendarum aber auch kann sie kein eitles, müßig ersonnenes Märchen auftischen. Die endlose Mannigfaltigkeit der Formen und sogar der Färbungen der Pflanzen und ihrer Blüten muß doch überall der Ausdruck eines ebenso modifizierten subjektiven Wesens sein, d. h. der Wille als Ding-ansich, der sich darin darstellt, muß durch sie genau abgebildet sein",
wozu noch die Erläuterung zu nehmen ist, die SCHOPENHAUER im 38. Brief an mich gibt:
    "Ich meinerseits lehre: nicht in den Eigenschaften, weder den apriorischen noch den empirischen, stellt sich das Wesen des Dings-ansich dar; wohl aber müssen die speziellen und individuellen Unterschiede dieser Eigenschaften, die Unterschiede in abstracta genommen, irgendwie ein Ausdruck des Dinges ansich sein, z. B. weder die Gestalt noch die Farbe der Rose; wohl aber dies, daß die eine sich in roter, die andere in gelber Farbe darstellt: oder, nicht die Form noch die Farbe des Menschengesichts, aber, daß der eine diese, der andere jene Physiognomie hat." (21)
Ich habe an einem anderen Ort (22) gezeigt, daß SCHOPENHAUER in der ersten Auflage der "Welt als Wille und Vorstellung" allerdings noch überwiegend Idealist war, da er dort von der Vielheit und Verschiedenheit der Dinge so gesprochen hat, als berührte sie das Ding-ansich gar nicht, sondern gehört lediglich der Vorstellung an. Ich habe aber auch gezeigt, wie SCHOPENHAUER diesen einseitigen Idealismus in den späteren Auflagen und in den durch die "Parerga" gegebenen Erläuterungen korrigiert hat. Wenn man nun die wahre Meinung KANTs nicht aus der ersten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" schöpft, sondern aus der zweiten, warum verfährt man mit SCHOPENHAUER nicht ebenso, schöpft vielmehr seine wahre Meinung aus den ersten überwiegend idealistischen Äußerungen, statt aus den späteren realistischen Ergänzungen und Erläuterungen, oder sucht gar einen Widerspruch zwischen beiden nachzuweisen? Ist dies nicht gerade so, als wenn man, statt KANTs wahre Meinung aus der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" zu schöpfen und durch diese die mit ihr nicht übereinstimmenden Äußerungen der ersten Auflage für verworfen zu halten, beide zugrunde legen und nun zeigen wollte, wie KANT sich widersprochen hat?

Nach meinem Dafürhalten hat man bei der Auslegung eines Systems vor allen Dingen diejenige Auslegung zu Rate zu ziehen, die der Autor desselben selbst in späteren Auflagen oder in Erläuterungen und Ergänzungen ihm gegeben hat; folglich hat man den Idealismus des ersten Bandes der "Welt als Wille und Vorstellung", der von der ersten Konzeption des Systems hier noch stehen geblieben ist, nach den Erläuterungen und Ergänzungen des zweiten Bandes sowie nach denen der Schrift "Über den Willen in der Natur" und der "Parerga" auszulegen. Was tun aber die Gegner? Sie stempeln, entweder sich an die überwiegend idealistischen Äußerungen des ersten Bandes der "Welt als Wille und Vorstellung" haltend, SCHOPENHAUER zum puren, die Welt in ein Gaukelbild, ein leeres Hirngespinst verwandelnden Idealisten, oder sie stellen diesen Äußerungen die mehr realistischen des zweiten Bandes und der späteren Schriften gegenüber und rufen aus: "Welche Widersprüche!" In diesem Verfahren kann ich weder wissenschaftlichen Geist noch Redlichkeit bemerken. SCHOPENHAUER hat sein im ersten Band der "Welt als Wille und Vorstellung" dargelegtes System selbst ausgelegt in den Ergänzungen des zweiten Bandes in der Schrift "Über den Willen in der Natur" und in den "Parergis". Im Sinne dieser seiner eigenen Auslegungen daher ist sein System aufzufassen, nicht aber sind, um Widersprüche herauszubringen, diese Auslegungen dem System entgegenzusetzen.

TRENDELENBURG sagt:
    "Schopenhauer steht auf Kant, aber wo er an Kant anknüpft, biegt er ihn. So biegt er den transzendentalen Idealismus in die Lehre von der Maja." (Seite 108)
Diese Darstellung ist nicht richtig. Vielmehr verhält sich die Sache so: SCHOPENHAUER findet, daß mit seiner Lehre von der Relativität der dem Satz vom Grune unterworfenen Erscheinungswelt die Lehren aller großen Philosophen sowie auch die indische Lehre von der Maja übereinstimmt, daß alle in Bezug auf die Erscheinung im wesentlichen dasselbe lehren, nämlich, daß ihr kein wahres, kein absolutes Sein zukommt, daß sie keinen Halt in sich selbst hat.
    "Das Wesentliche dieser Ansicht", sagt Schopenhauer in einem Hinweis auf seine Lehre, "daß alles, was in Raum und Zeit ist, alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht, nur ein relatives Dasein hat, ist alt; Heraklit bejammert in ihr den ewigen Fluß der Dinge; Platon würdigt ihren Gegenstand herab als das immer Werdende, aber nie Seiende; Spinoza nannte es bloße Akzidentien [Merkmale - wp] der allein seienden und bleibenden einzigen Substanz; Kant setzte das so Erkannte als bloße Erscheinung dem Ding-ansich entgegen; endlich die uralte Weisheit der Inder spricht, es ist die Maja, der Schleier des Truges usw. Was alle diese aber meinten oder wovon sie reden, ist nichts anderes als was auch wir jetzt eben betrachten, die Welt als Vorstellung unterworfen dem Satz des Grundes." (23)
Dieser Hinweis auf das Identische des Sinnes der Lehren aller großen Philosophen halte ich für sehr verdienstlich, und statt SCHOPENHAUER dafür zu tadeln, sollte man ihn vielmehr loben. Zugleich geht aus den angeführten Stelle hervor, daß SCHOPENHAUER, indem er die Erscheinungswelt der Maja vergleicht, ihr damit nicht das Sein abspricht,, sondern nur das absolute Sein, das Ansichsein. Zum Trug wird in SCHOPENHAUERs Sinn die räumlich-zeitliche, dem Satz vom Grunde unterworfene Erscheinungswelt erst dann, wenn man sie wie die das principium individuationis nicht Durchschauenden für die wahre, die absolute hält, statt ihr lediglich relatives Dasein zu erkennen.

Doch ein solches Eingehen in den eigentlichen Sinn von SCHOPENHAUERs Lehre paßt nicht in den Plan der animosen Gegner SCHOPENHAUERs. Sie kleben lieber am Buchstaben, als daß sie den Geist erfassen. Da lassen sich bequem allerlei Widersprüche und Ungereimtheiten nachweisen.

Zu den animosen Gegnern SCHOPENHAUERs gehört auch RUDOLF HAYM in seiner 1864 in Berlin erschienenen Streitschrift "Arthur Schopenhauer", besonders abgedruck aus dem 14. Band der "Preußischen Jahrbücher". Auf die persönlichen Verunglimpfungen SCHOPENHAUERs bei HAYM einzugehen, ist hier nicht meine Absicht, ist auch nicht nötig, da alle diese Verunglimpfungen bereits hinlänglich und gründlich widerlegt sind durch meine mit LINDNER gemeinschaftlich herausgegebene Verteidigungsschrift "Arthur Schopenhauer. Von ihm, über ihn." HAYM nennt zwar diese Schrift "eine in der Form der Verteidigung vergröbernde Bestätigung von Gwinners Charakteristik", aber dieses Urteil beweist nur, daß er aus unserer Schrift eben nur das herausgelesen hat, was seiner Feindseligkeit gegen SCHOPENHAUER Nahrung bot, das andere hingegen beiseite liegen gelassen. Zwischen unserer und der Schrift GWINNERs ist Übereinstimmung nur im Stofflichen, Tatsächlichen. Was hingegen die Auffassung und Beleuchtung des Stoffes betrifft, so ist ein himmelweiter Unterschied, für den nur die animosen Gegner SCHOPENHAUERs kein Auge haben, weil bei ihnen in der Beurteilung SCHOPENHAUERs der Wille seinen Primat über den Intellekt geltend macht.

HAYM findet einen Widerspruch darin, daß SCHOPENHAUER, dem der Satz vom Grunde nur innerhalb des Gebiets der Vorstellung Geltung hat, nach dem Grund der Vorstellung fragt.
    "Nach dem Grund der Vorstellung kann der nicht fragen, dem ja der Satz vom Grunde nur innerhalb der Welt, nur erst auf dem Boden der Vorstellung selbst Geltung erhält." (Seite 14 bei HAYM)
Diese Einwendung hätte sich HAYM erspart, wenn er bedacht hätte, daß nach SCHOPENHAUER das Vorstellen als Gehirnfunktion zu den innerweltlichen Erscheinungen, also in das Gebiet der nach dem Satz vom Grunde verknüpften Phänomene gehört. Nur nach seiner metaphysischen Seite als Erkenntniswille ist das Vorstellen dem Satz vom Grund enthoben, aber nicht nach seiner physischen Seite.

Damit ist dann auch widerlegt, was HAYM an einer späteren Stelle vorbringt. Über die Ergänzung nämlich, die SCHOPENHAUER dem kantischen Idealismus dadurch gegeben hat, daß er ihn physiologisch begründet, indem er sich nicht bloß begnügt hat, wie KANT zu zeigen, daß das Vorstellen auf Erscheinungen beschränkt ist, sondern auch den physiologischen Grund angeben hat, warum es so ist, weil nämlich das Vorstellen nur Funktion eines Organs des Leibes, also nur den Zwecken des im Leib erscheinenden Lebenswillens zu dienen bestimmt ist. Über diese Ergänzung sagt HAYM: "Naiver sind wohl niemals zwei sich gegenseitig aufhebende Ansichten "versöhnt", das will sagen aneinandergeschweißt worden. Die Lehre von der Welt als Vorstellung schließt jede ursächliche Erklärung, die hinter die Vorstellung zurückgeht, aus; nichtsdestoweniger wird uns hier ausdrücklich eine Einsicht in die von KANT unbeachtete "Genesis" des Bewußtseins angeboten. Der Sinn von KANTs transzendentaler Ästhetik und Analytik ist der, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung vor der Erfahrung nachgewiesen werden; nichtsdestoweniger werden diese Bedingungen hier in einem handgreiflichen Zirkel rückwärts wieder in der durch sie bedingten Erfahrung aufgesucht. Es ist im zweiten Band der "Parerga", daß SCHOPENHAUER dieses Beginnen durch die Bemerkung zu rechtfertigen sucht, daß ein voraussetzungsloses Verfahren in der Philosophie wie überall unmöglich ist, und daß es sich daher allemal darum handelt, ein solches einstweilen als gegeben Genommenes nachträglich weiter zu kompensieren. Eine ansich gewiß richtige Bemerkung, und so rechtfertigt sich in der Tat die relative "Willkürlichkeit" des kantischen Ausgangspunkts durch den nachträglichen Beweis, daß die Erfahrung durch die Data der Erfahrung eben nicht erklärt werden kann. Behauptungen dagegen, von denen die eine die andere aufhebt, leisten einander den Dienst gegenseitiger Rechtfertigung nur insofern, als sie sich gefallen lassen, nach wie vor absolute Willkürlichkeiten zu sein. SCHOPENHAUER hat die Wahl, seinen zweifachen Standpunkt für eine zweifache absolute Willkürlichkeit oder seinen Wechselbeweis für ein klassisches Muster eines circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] hat, habe ich schon oben bei LIEBMANN, der ja SCHOPENHAUER desselben circulus beschuldigt, gezeigt. HAYM hat auch selbst eine Ahnung davon, daß es mit dieser Beschuldigung keine Richtigkeit hat; denn er fährt nach der eben angeführten Stelle fort: "Es müßte denn sein, daß ein Umstand ihn rettet." HAYM meint den Umstand, daß SCHOPENHAUER in letzter Instanz für den Intellekt ein metaphysisches Prinzip, den Willen, annimmt. Aber diese Rettung zerrinnt nach HAYM wieder in Nichts, ein neuer circulus vitiosus tut sich auf.
    "Denn es sei so: in letzter Instanz soll nicht das Gehirn, sondern der Wille die Vorstellung erzeugen. Wie erzeugt er sie denn? Er erzeugt sie nur insofern - wir berufen uns vorzugsweise auf Bd. 2, Seite 310 - sofern er zunächst Vielheit und Individuation erzeugt hat; denn nur an der Individuation hängt das Bedürfnis der Erkenntnis; zur Befriedigung dieses Bedürfnisses schafft der Wille das Gehirn mit der demselben eigentümlichen Funktion. Das Erkennen also soll durch die Individuation notwendig werden, oder die Individuation wird erst wieder möglich durch Zeit und Raum, also durch die Formen des Erkennens! Wir sind in einen anderen, keineswegs in einen verständlicheren Zirkel hineingeworfen."
Ich will nun nicht leugnen, daß das, was SCHOPENHAUER selbst über diesen Zirkel sagt, keine Lösung desselben ist. Aber daraus folgt nicht, daß dieser Zirkel aus SCHOPENHAUERs Voraussetzungen heraus unlösbar ist. Es kommt öfters vor, daß ein Philosoph das Rechte, was im Sinne seines Systems gegen die sich erhebenden Schwierigkeiten zu sagen wäre, selbst nicht sagt, und daß andere für ihn es sagen müssen. Dieser Fall liegt hier vor.

SCHOPENHAUER selbst sagt über den von ihm keineswegs vertuschten, sondern ehrlich eingestandenen Zirkel, daß das Bedürfnis der Erkenntnis überhaupt aus der Vielheit und dem getrennten Dasein der Wesen, also aus der Individuation entsteht, andererseits aber wieder Vielheit des Gleichartigen erst möglich wird durch Zeit und Raum, also durch die Formen unserer Erkenntnis, daß also Erkenntnis durch Vielheit und Verschiedenheit bedingt ist, Vielheit und Verschiedenheit aber wiederum durch die Erkenntnis - er sagt: "Also die Erkenntnis und die Vielheit oder Individuation stehen und fallen miteinander, indem sie sich gegenseitig bedingten." (24)

Dies ist keine Lösung. Denn dies soll ja eben erklärt werden wie die Erkenntnis, welche durch die Vielheit bedingt ist, selbst wieder das Bedingende der Vielheit sein kann. Der Zirkel kann im Sinne von SCHOPENHAUERs Philosophie nur durch das gelöst werden, was ich bereits oben über die Bedeutung der Erscheinung bei SCHOPENHAUER gesagt habe, daß nämlich die Erscheinung eine reale und deine ideale Seite hat, ein aposteriorisches und ein apriorisches Element. Hieraus ergibt sich, daß auch die Vielheit als Erscheinung eine reale und eine ideale Seite hat. Von ihrer realen Seite wurzelt sie im Ding-ansich, im Willen, von ihrer idealen Seite hingegen im Intellekt. Die Vielheit ist also nicht in demselbem Sinn durch das Erkennen bedingt, in welchem das Erkennen durch sie bedingt ist. So löst sich der Zirkel. Der sich real individuierende Wille führt das Bedürfnis der Erkenntnis herbei;
    "denn denkt man sich, es sei nur ein einziges Wesen vorhanden, so bedarf ein solches keiner Erkenntnis, weil nichts da ist, was von ihm selbst verschieden wäre, und dessen Dasein es daher erst mittelbar durch Erkenntnis, d. h. Bild und Begriff in sich aufzunehmen hätte. Bei der Vielheit der Wesen hingegen befindet jedes Individuum sich in einem Zustand der Isolation von allen übrigen und daraus entsteht die Notwendigkeit der Erkenntnis." (25)
Der durch das Erkenntnisbedürfnis erzeugte Erkenntnisapparat aber wiederum führt die Anschauung der äußeren Vielheit herbei.
    "Das Nervensystem, mittels dessen das tierische Individuum zunächst sich seiner selbst bewußt wird, ist durch seine Haut begrenzt; jedoch, im Gehirn bis zum Intellekt gesteigert, überschreitet es diese Grenze mittels seiner Erkenntnisform der Kausalität, und so entsteht ihm die Anschauung als ein Bewußtsein anderer Dinge, als ein Bild von Wesen in Raum und Zeit, die sich verändern, gemäß der Kausalität."
Mit dieser Untersuchung zwischen der realen und idealen Seite der Vielheit ist dann auch die Verwirrung gelöst, deren ein anderer Gegner SCHOPENHAUER beschuldigt, nämlich THILO in seinem in der "Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. VII, Heft 4 und Bd. VIII, Heft 1 erschienenen und alsdann im Separatabdruck herausgegebenen Artikel: "Über Schopenhauers ethischen Atheismus". THILO ist zwar frei von dem animosen Ton der anderen Gegner SCHOPENHAUERs, er befleißigt sich einer ruhigen, nüchternen wissenschaftlichen Untersuchung, aber sein Verständnis SCHOPENHAUERs ist auch nicht besser als das der anderen Gegner. Nachdem THILO auf die Unfähigkeit allen Monismus, das Viele aus dem Einen zu erklären, hingewiesen hat, fährt er fort:
    "Bei Schopenhauer aber findet sich die ihm eigentümliche gründliche Verwirrung, daß er Zeit und Raum, diese Formen des Intellekt, für die Ursachen der Vielheit in der Erscheinung erklärt, und doch diesem Intellekt schon verschiedene Stufen der Objektivation, also eine unabhängig vom Intellekt vorhandene Vielheit voraussetzt." (26)
Nun, die "eigentümliche Verwirrung" ist bereits durch das von mir Auseinandergesetzte gelöst. Diejenige Seite der Vielheit, die den Intellekt zur Voraussetzung hat, ist eine andere als die, welche den Willen zur Voraussetzung hat. Jenes ist die vorgestellte, dieses die reale Seite der Vielheit.

Ich kehre zu HAYM zurück. HAYM findet in Übereinstimmung mit TRENDELENBURG das proton pseudos [erste Irrtum, erste Lüge - wp] der SCHOPENHAUERschen Philosophie in der Verallgemeinerung des Willens, in der Erhebung des Willens zur Gattung, von der die Naturkräfte und der menschliche Wille nur Arten bilden. TRENDELENBURG hatte gesagt:
    "Wenn die Kraft unter den Willen subsumiert werden soll, so ist dieser der allgemeinere Begriff, jener der besondere; und es muß also gezeigt werden, welcher artbildende Unterschied zum Begriff des Willens hinzutritt, um den Begriff der Kraft aus dem allgemeineren zu erzeugen. Dieser Nachweis ist weder versucht noch so lange möglich, als man den Begriff der Kraft in den Grenzen des bisherigen Sprachgebrauchs hält. Jede Zurückführung führt zu einem Allgemeineren; aber Schopenhauer hat nirgends gesagt, wie der Begriff des Willens der allgemeinere ist. . . . Die vermeintliche Zurückführung ist nur eine Analogie, aber die Analogie muß trügen, weil sie das fassen läßt, was das Wesen unseres Willens ausmacht; sie nimmt den Willen nicht spezifisch, und daher nicht mehr als Willen, aber in der Anwendung auf die Welt der Kräfte schiebt sie stillschweigend ein Analogon unseres Willens, des Willens in der spezifischen Bedeutung des aus Grund und Zweck bestimmbaren Willens unter, wie z. B. bei der Erklärung der Tretralogie [Folge von 4 selbständigen Werken - wp] in der Natur. Wir hantieren, wenn wir Schopenhauer lesen, von selbst mit dem Willen, wie wir ihn kennen; aber wir sollen ihn nur nehmen, wie wir ihn nicht kennen. In dieser Amphibolie [Mehrdeutigkeit - wp] liegt das proton pseudos." (27)
Auf diese Stelle spielt HAYM an, indem er sagt:
    "Schopenhauers Meinung, d. h. der klare Kern seiner unklaren Bestimmungen (mit recht von Trendelenburg als das proton pseudos bezeichnet) ist der: wir sollen vom Spezifischen unseres Willens abstrahieren, damit es keine Schwierigkeit hat, die Identität desselben mit aller und jeder Naturkraft anzuerkennen, und sofort und gleichzeitig doch sollen wir dieses Allgemeine nicht Kraft, sondern Willen nennen, damit nach Belieben nun wieder in die Naturkräfte alles Mögliche hineingedichtet werden kann, was in Wahrheit nicht ist, sondern den menschlichen Willen charakterisiert." (Seite 24 bei HAYM)
Gegen diese Polemik TRENDELENBURGs und HAYMs habe ich Folgendes zu sagen: Die Berechtigung zur Verallgemeinerung des Begriffs liegt überall da vor, wo sich nachweisen läßt, daß das, was bisher ausschließlich unter diesen Begriff subsumiert wurde, nur eine Art desselben bildet, es aber außer dieser noch andere Arten gibt, daß also die wesentlichen Merkmale des Begriffs sich viel weiter erstrecken, als man bisher geglaubt hat. Ja, die glänzendsten Fortschritte der Wissenschaften bestehen gerade in solchen Begriffserweiterungen, in solchen Verallgemeinerungen. Als die Psychologie zuerst nachgewiesen hat, daß die menschliche Seele nur eine Art von Seele ist, daß außer dem Menschen auch den Tieren, ja sogar den Pflanzen eine Seele zukommt, daß ernährende, empfindende und denkende Seele nur Arten der Seele sind, da machte sie einen glänzenden Fortschritt.

Nun, was die Psychologie in Bezug auf den Begriff der Seele getan hat, ihn von dem, was zunächst und ausschließlich unter ihn subsumiert wurde, auf das auszudehnen, was unter einen anderen Begriff zu gehören schien, das hat SCHOPENHAUER in Bezug auf den Begriff des Willens getan und hat sich gerade durch diese Erweiterung nach meiner Ansicht eines seiner größten Verdienste erworben, hat durch sie wirklich die Wissenschaft bereichert.

Gerade durch das Absehen vom Spezifischen des menschlichen Willens, was TRENDELENBURG und HAYM SCHOPENHAUER zum Vorwurf machen, hat dieser einen Fortschritt gemacht, der über die bisherige Philosophie hinausgeführt hat. Nur durch ein solches Absehen von dem, was bloß einer Art zukommt, werden überhaupt Gattungsbegriffe gewonnen. Nie würde man zum allgemeinen Begriff des Lebens gekommen sein, wenn man immer bloß die menschliche oder tierische Art des Lebens für Leben gehalten hätte, und nie würde man zu einem allgemeinen Begriff der Seele gekommen sein, wenn man immer nur die denkende oder empfindende Seele für Seele gehalten hätte.

Es ist eine falsche Beschuldigung SCHOPENHAUERs, daß dieser die artbildenden Unterschiede des allgemeinen Willens nicht gezeigt hat. Er hat sie scharf und deutlich und wiederholt gezeigt, indem er das Bewegtwerden des Willens durch Ursachen, durch Reize und durch Motive als die artbildenden Unterschiede charakterisiert hat. Die ganze Schrift "Über den Willen in der Natur" ist eine Auseinandersetzung dieser artbildenden Unterschiede des Willens. Im wichtigsten Kapitel dieser Schrift, welches von der "physischen Astronomie" handelt, faßt SCHOPENHAUER das Resultat seiner Untersuchungen dahin zusammen, daß, wenn wir die äußere mit der inneren Erkenntnis in Verbindung bringen,
    "so erkennen wir, trotz aller akzidentiellen Verschiedenheiten, zwei Identitäten, nülich die der Kausalität mit sich selbst auf allen Stufen, und die des zuerst unbekannten X (d. h. der Naturkräfte und Lebenserscheinungen) mit dem Willen in uns." (28)
Im Nachweis dieser beiden großen Identitäten sehe ich den Grundgedanken und das Hauptverdienst der SCHOPENHAUERschen Philosophie. Er hat mit diesem Nachweis den beiden Forderungen wissenschaftlicher Methode, welche er selbst in Übereinstimmung mit PLATO und KANT für die wesentlichsten hält, den beiden Forderungen nämlich, dem Gesetz der Homogenität und dem der Spezifikation (29) Genüge getan. SCHOPENHAUER hat über der Identität des Willens nicht den spezifischen Unterschied in den Arten des Wollens übersehen, hat aber auch ebensowenig über den Arten das identische Wesen übersehen. Ebenso hat er über dem identischen Wesen der Kausalität nicht die Arten derselben, noch über diesen das identische Wesen übersehen.

Wer SCHOPENHAUER wegen der Verallgemeinerung des Begriffs des Willens einerseits und des Begriffs der Kausalität andererseits tadelt, der weiß nicht, was Wissenschaft ist, worin die Aufgabe und worin die Verdienste der Wissenschaft bestehen. Nur solche Begriffserweiterungen sind zu tadeln, die ein Merkmal, welches nur einer besonderen Art des allgemeinen Begriffs zukommt, auf alle Arten übertragen. Dies hat aber SCHOPENHAUER nicht getan. Er hat weder ein Merkmal, das nur dem menschlichen Wollen als spezifisch menschlichem zukommt, auf das Wollen der Naturkräfte übertragen, noch ein Merkmal, das nur der auf den Menschen als solchen wirkenden Kausalität zukommt, auf die Kausalität in der unorganischen und organischen Natur.

HAYM stimmt mit TRENDELENBURG noch in einem anderen Vorwurf überein, als dem eben beleuchteten, in dem Vorwurf nämlich, daß SCHOPENHAUER den Willen für erkenntnislos, für blind erklärt und ihm doch Zwecke, Absichten beilegt. Hierin finden beide einen Widerspruch. TRENDELENBURG sagt:
    "Wille ohne Vorstellung, ohne Grund im Antrieb, ohne Zweck im Auge, seien diese nun hell gedacht oder dunkel empfunden, ist kein Wille; im Leben heißt ein solcher Caprice [Laune - wp]; stat pro ratione voluntas [Statt des Verstandes gilt der Wille. - wp] Der Wille zum Dasein, der Wille zum Leben ist, wie Schopenhauer es oft wiederholt, grundloser Wille. Aber blinder Wille ist Wille ins Blaue - und doch erscheint dieser grundlose Wille in Gesetzen, in Zwecken! Dieses Wunder verdeckt sich uns nur dadurch, weil wir statt jenes Willens vor dem Intellekt, aus welchem keine enggefügte Ordnung fließen kann, unwillkürlich ein Analogon unseres Willens denken, aus welchem durch den Intellekt Notwendigkeit stammt." (Seite 110)
Ähnlich sagt HAYM:
    "Der Wille, von welchem Schopenhauer redet, ist offenkundig der erkenntnislose, der Wille vor der Geburt der Vorstellungsformen, unter der Hand dagegen der menschliche, dem der Intellekt sehen hilft. Der blinde Wille benimmt sich als ein sehender, absichtsvoller; stillschweigend werden ihm Zwecke und mit den Zwecken Gedanken, wir müssen wohl sagen ungedachte Gedanken geliehen. Im selben Atem wird uns die Zumutung gemacht, alle Erkenntnis von ihm ausgeschlossen und dennoch Erkenntnis, weil Absicht, in ihm latent zu denken. In diesem Widerspruch bleibt Schopenhauer mit einer bewunderungswürdig harmlosen Zuversichtlichkeit hängen; in dieser Zuversicht nimmt er keinen Anstand, an und aus der Vorstellungswelt Hergänge zu beweisen, die vor der Vorstellung, im puren Willen, keinerlei Sinn haben." (Seite 26)
Setzt man, wie hier TRENDELENBURG und HAYM tun, voraus, daß zweckmäßiges Wirken ohne vorgängige Erkenntnis des Zwecks unmöglich ist, dann freilich ist es notwendig, SCHOPENHAUER eines Widerspruchs zu beschuldigen, daß er dem Naturwillen Zwecke beigelegt und ihm doch die Erkenntnis abgesprochen hat. Aber jene Voraussetzung ist eine unbewiesene. Tatsächlich liegt im organischen Bilden, im Instinkt, in der Naturheilkraft, ja im künstlerischen Produzieren des Menschen ein zweckmäßiges Wirken und Schaffen ohne Erkenntnis des Zwecks vor, wie außer SCHOPENHAUER auch HARTMANN in seiner "Philosophie des Unbewußten" neuerdings ausführlich nachgewiesen hat. Im Kapitel "Vom Instinkt und Kunsttrieb" ("Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Kapitel 27) hat SCHOPENHAUER gezeigt, wie sich die Instinkte und die tierische Organisation wechselseitig erläutern, wie in beiden ein Hinarbeiten der Naturwesen auf einen Zweck stattfindet, der vom Wesen selbst nicht erkannt wird.
    "Mittels der Instinkte und Kunsttriebe sorgen die Tiere für die Befriedigung solcher Bedürfnisse, die sie noch nicht fühlen, ja, nicht nur der eigenen, sondern sogar der ihrer künftigen Brut; sie arbeiten also auf einen ihnen noch unbekannten Zweck hin; dies geht, wie im »Willen in der Natur« (dritte Auflage, Seite 47) am Beispiel des Bomber (?) gezeigt ist, so weit, daß sie die Feinde ihrer künftigen Eier schon im Voraus verfolgen und töten. Ebenso nun sehen wir in der ganzen Korporisation eines Tieres seine künftigen Bedürfnisse, seine einstigen Zwecke, durch die organischen Werkzeuge zu ihrer Erreichung und Befriedigung antizipiert, woraus dann jene vollkommene Angemessenheit des Baus jedes Tieres zu seiner Lebensweise, jene Ausrüstung desselben mit den ihm nötigen Waffen zum Angriff seiner Brut und zur Abwehr seiner Feinde, und jene Berechnung seiner ganzen Gestalt auf das Element und die Umgebung, in welcher er als Verfolger aufzutreten hat, hervorgeht, welche in der Schrift »Über den Willen in der Natur« unter der Rubrik »Vergleichende Anatomie« ausführlich geschildert ist. Alle diese sowohl im Instinkt als in der Organisation der Tiere hervortretenden Antizipationen könnten wir unter den Begriff einer Erkenntnis a priori bringen, wenn denselben überhaupt eine Erkenntnis zugrunde läge. Allein dies ist, wie gezeigt, nicht der Fall; ihr Ursprung liegt tiefer als das Gebiet der Erkenntnis, nämlich im Willen als dem Ding-ansich, der als solcher auch von den Formen der Erkenntnis freibleibt; daher im Hinblick auf ihn die Zeit keine Bedeutung hat, folglich das Zukünftige ihm so nahe liegt wie der Gegenwärtige." (30)
Entweder also müssen die Gegner SCHOPENHAUERs leugnen, daß das Wirken des organischen Bildungstriebes und des Instinkts ein zweckmäßiges Wirken ohne Erkenntnis des Zwecks ist, oder sie müssen aufhören, SCHOPENHAUER des Widerspruchs zu beschuldigen, weil er dem Naturwillen Zwecke beilegt und doch ihm die Erkenntnis abspricht. Mir scheint es sehr unbedachtsam von TRENDELENBURG, wenn er sagt: "Blinder Wille ist Wille ins Blaue", dann müßte ja auch der blinde Wille des Steins zur Erde und der blinde Wille der gravitierenden Himmelskörper ein Wille "ins Blaue" sein! Kann denn nicht ein blinder Wille durch seine ursprüngliche Beschaffenheit und Richtung auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten, und kann dieses Ziel nicht ein gutes sein? Ist nicht z. B. der Geschlechtstrieb auch in blinder Trieb, ein blinder Drang und doch kein Trieb ins Blaue? Ist nicht der Erhaltungstrieb ein blinder Wille und doch kein Wille ins Blaue?

Wenn SCHOPENHAUER dem Naturwillen, obgleich er seinem Wirken Gesetz und Zweckmäßigkeit beilegt, Erkenntnis abspricht, so muß man, um dies richtig zu verstehen, auf die Motive sehen, weshalb er es tut. SCHOPENHAUER versteht unter Erkenntnis jene dem individuellen Willen eines animalischen Wesens die Anschauung der Gegenstände, welche Motive für seinen Willen sind, vermittelnde Gehirnfunktion, welcher das Wort Erkenntnis bezeichnet. Diese an die Schranken des Raumes und der Zeit gebundene Funktion, die erst auf einer bestimmten Stufe der Natur eintritt, hält SCHOPENHAUER für eine viel zu beschränkte, viel zu untergeordnete, um sie dem Naturwillen beizulegen. Die Werke der Natur sind nach SCHOPENHAUER so erhaben über die verstandesmäßigen Werke des Menschen, letztere sind gegen erstere so stümperhaft (31), daß, wenn der Natur Erkenntnis beigelegt werden sollte, es jedenfalls eine ganz andersartige, höhere, weisere, durchdringendere Erkenntnis sein müßte, als die uns allein bekannte des animalischen Intellekts (Gehirns). SCHOPENHAUER, der tiefer als irgendeiner in die innere Zweckmäßigkeit der Natur einzudringen und die Weisheit der Natur zu bewundern verstanden hat, würde gewiß nichts dagegen gehabt haben, dem Naturwillen Erkenntnis beizulegen, wenn man ihm nur zugegeben hätte, daß das die Schranken des Raums und der Zeit durchbrechende Erkennen des Naturwillens, dieses Hellsehen, welches noch in das somnambule Hellsehen und in den Instinkt hineinspielt, ein andersartiges und weit erhabeneres ist als das beschränkte Erkennen des animalischen Individuums.

Doch eine solche Vertiefung in den Sinn und Geist der Lehre SCHOPENHAUERs ist freilich von den sich ihm überlegen dünkenden Gegnern nicht zu verlangen. Sie ziehen es vor, Ungereimtheiten und Widersprüche aus ihr herauszubringen und legen sie zu diesem Zweck in sie hinein. Sie ziehen dem Auslegen das Unterlegen vor.

HAYM ist ein besonderer Virtuose in diesem Unterlegen statt des Auslegens. HAYM beschuldigt SCHOPENHAUER, ein doppeltes Spiel sowohl mit dem Willen als mit der Erkenntnis zu spielen. Zu dieser Beschuldigung gibt ihm SCHOPENHAUERs Lehre vom willensfreien Erkennen des Genies Anlaß.
    "Wunderbarerweise", sagt Haym, "sehen wir in der Genialität auf einmal den Intellekt, durch die Lösung seines sekundären Verhältnisses zum Willen, eine Würde erlangen, die ihn eigentlich über den Willen erhebt. Das Individuum wird zum »willenlosen Subjekt der Erkenntnis«, d. h. in der Tat, es reißt sich los vom Ansich der Welt, wird zum déserteur de l'ordre général [Abtrünniger der allgemeinen Ordnung - wp]! Ein doppeltes Spiel, wer sieht es nicht, wird hier abermals mit dem Willen gespielt. Zuerst wird seine Willensnatur aufgeboten, um die die ganze Welt aus ihm zu erzeugen; dann plötzlich wendet sich das Blatt; sein Charakter als Ding-ansich, sein hoher Titel in partibus infidelium [im Gebiet der Ungläubigen - wp] wird geltend gemacht, um die Welt wieder verschwinden zu lassen, um sie zunächst in die Ideen, weiterhin in das reine Nichts aufzuheben. Auf der ersten Hälfte des Weges, in der Naturphilosophie, wird mehr und immer mehr latente Vernunft und endlich frei werdende Vernunft in ihm sichtbar; auf der zweiten Hälfte des Weges wird er dieser immanenten Vernünftigkeit und Unterschiedenheit wieder entleert, bis er zuletzt, in der Ethik, in ein absolutes Dunkel zurücktritt. Und ein doppeltes Spiel wird, dementsprechend, mit der Erkenntnis gespielt. Erst wird an ihr die Seite hervorgekehrt, vermöge deren sie das Prinzip der nichtigen Erscheinung ist, dann die, vermöge deren doch nur sie das Mittel ist, um das Ansich zu ergreifen und zu realisieren. Nur ein Schritt noch, und von der Genialität gelangen wir zur Heiligkeit, von der intuitiven, ästhetischen zur rein metaphysischen Erkenntnis. In der Ethik hält das System Schopenhauers ein letztes Gericht über sich selbst, von dessen Verdikt [Urteil - wp] keine Appellation [Einspruch - wp] mehr möglich ist. Vom Willen als dem Ansich ausgehend, konstatiert es selbst, daß dieser Begriff ein sich selbst aufhebender Widerspruch und die Lösung dieses Widerspruchs - das Nichts ist." (Seite 31f)
Gegen diese schiefe Darstellung ist Folgendes zu sagen. Auf induktivem Weg, also anhand der Erfahrung, gelangt SCHOPENHAUER zu der Annahme eines entgegengesetzten Erkennens und eines entgegengesetzten Willens. Dem Erkennen nach dem Satz vom Grunde steht entgegen das Erkennen, welches unabhängig ist vom Satz des Grundes, jenes erstere im praktischen Leben und in den den Zwecken desselben dienenden Wissenschaften, das letztere in der Kunst sich äußernd, jenes die Regel, dieses eine Ausnahme bildend, weil nur in den genialen Individuen vorkommend. Dem das Leben bejahenden Willen sodann steht entgegen der es verneinende, jener die Regel bildend, dieser nur ausnahmsweise, nur in den Heiligen vorkommend. Das geniale Erkennen erhebt nur momentan über den Willensdrang, gründlich und dauernd befreit nur die Resignation, die Heiligkeit, von demselben. Würde die in den Heiligen nur vereinzelt zur Erscheinung kommende Verneinung des Willens zum Leben eine allgemeine, so würde damit die ganze Welt, welche nur eine Erscheinung der Bejahung dieses Willens ist, wegfallen. Was alsdann übrig bleibt, wäre kein absolutes, sondern nur ein relatives Nichts. Denn die Verneinung des Willens zum Leben ist keine Verneinung des Urseienden, der absoluten Substanz, sondern nur eine Verneinung jenes intelligiblen Willensaktes, dessen Erscheinung diese unsere räumlich-zeitliche Welt ist. Diesen Willensakt kann das Urseiende als frei wieder aufheben, dem velle [wollen - wp] kann es durch nolle [ganz nach Belieben - wp] ein Ende machen. Die Welt, wenn einmal da, ist allerdings in ihrem Verlauf durchweg notwendig; aber ihr Dasein ist kein unabwendbares Faktum. (32)

Dies ist die Lehre SCHOPENHAUERs. Man kann nun diese Lehre als transzendent verwerfen, da sie sich mit der Ableitung der Welt aus einem intelligiblen Willensakt, der auch wieder zurückgenommen werden kann, in ein Gebiet versteigt, das jenseits aller menschenmöglichen Erfahrung liegt. Man kann ihr auch vorwerfen, daß SCHOPENHAUER mit ihr seiner eigenen Absicht, nur eine immanente, d. h. eine nur das innere Wesen, nur das Was der Welt enthülltend Philosophie liefern zu wollen, nicht aber eine historische, die den Anfang und das Ende des Weltprozesses in ihren Bereich zieht, man kann ihm, sage ich, vorwerfen, dieser seiner eigenen Absicht untreu geworden zu sein und zuwidergehandelt zu haben. Aber ein "doppeltes Spiel" mit Wille und Erkenntnis gespielt zu haben, wie ihm HAYM vorwirft, das können ihm nur die vorwerfen, die seine Lehre entweder nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Solche klare und unzweideutige Bestimmungen, wie sie SCHOPENHAUER vom zweifachen Erkennen und dem zweifachen Wollen gibt, verdienen wohl eine andere Bezeichnung als "doppeltes Spiel". Das doppelte Spiel wird hier nicht von SCHOPENHAUER, sondern von HAYM gespielt.
LITERATUR - Julius Frauenstädt, Arthur Schopenhauer und seine Gegner, in "Unsere Zeit - Deutsche Revue der Gegenwart", Neue Folge, Fünfter Jahrgang, Zweite Hälfte, Leipzig 1869
    Anmerkungen
    1) vgl. Frauenstädt und Lindner, "Arthur Schopenhauer. Von ihm, über ihn (Seite 695f)
    2) a. a. O., Seite 700f
    3) vgl. die im "Deutschen Museum" (1865, Nr. 34, Seite 278) mitgeteilten Briefe Schopenhauers an Dr. David Asher.
    4) ebd. Seite 282.
    5) vgl. Frauenstädt/Lindner a. a. O., Seite 597f.
    6) vgl. "Parerga und Paralipomena" (zweite Auflage, Seite 141f).
    7) vgl. Otto Liebmann, Über den objektiven Anblick, Seite 141.
    8) "Die Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Kapitel 20, Seite 277.
    9) ebd. Seite 293f.
    10) vgl. Eduard von Hartmann, "Über die notwendige Umbildung der Schopenhauerschen Philosophie aus ihrem Grundprinzip heraus", in Bergmanns "Philosophischen Monatsheften", Bd. 2, Heft 6, Seite 459 und "Philosophie des Unbewußten", Seite 18.
    11) vgl. "Die beiden Grundprobleme der Ethik", Seite 177.
    12) vgl. Liebmann, "Über den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens", Seite 80f.
    13) vgl. "Kant und die Epigonen", Seite 186f.
    14) vgl. Liebmann, "Über den objektiven Anblick", Seite 141.
    15) vgl. "Die Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, § 20, Seite 277.
    16) vgl. "Parerga", Bd. 2, § 85 der ersten Auflage, § 87 der zweiten Auflage.
    17) vgl. Seydels gekrönte Preisschrift, Seite 69f.
    18) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Seite 204.
    19) vgl. "Über den Willen in der Natur", dritte Auflage, Seite 86.
    20) Trendelenburg, "Logische Untersuchungen", Bd. 2, zweite Auflage, Seite 107f.
    21) vgl. "Arthur Schopenhauer. Von ihm, über ihn." Seite 594
    22) a. a. O., Seite 434f.
    23) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 1, § 3, Seite 8f.
    24) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Seite 311.
    25) a. a. O., Seite 310.
    26) vgl. "Zeitschrift für exakte Philosophie", Bd. VII, viertes Heft, Seite 350.
    27) vgl. Trendelenburg, "Logische Untersuchungen", Bd. 2, zweite Auflage, Seite 110.
    28) vgl. "Über den Willen in der Natur", dritte Auflage, Seite 92.
    29) vgl. "Über die vierfache Wurzel etc.", § 1.
    30) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Seite 397f.
    31) a. a. O., Seite 304
    32) vgl. "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Seite 221f und 340; "Parerga", zweite Auflage, § 162; "Arthus Schopenhauer. Von ihm, über ihn." Seite 430-432, 555, 559.