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WILHELM TOBIAS
Grenzen der Philosophie
[konstatiert gegen Riemann und Helmholtz,
verteidigt gegen von Hartmann und Lasker.]

[3/7]

"Ich selbst bin nicht in Bewegung, aber ich gebe die Möglichkeit, ich allein, Bewegtes als existierend zu erkennen; folglich, da diese Möglichkeit des Erkennens bewegter Dinge ganz ausschließlich mir, dem Bewußtsein, verdankt wird, so stammen diejenigen Vorstellungen auch ausschließlich von mir her, durch welche das Bewegte ein Wahrnehmbares ist; diese Vorstellungen sind eben die Faktoren des Produkts Bewegung und heißen Raum und Zeit; es sind die Mittel, welche ich, das Bewußtsein, darbiete, um eine Welt, in der es weder Raum noch Zeit gibt, zu einer Welt der Erscheinungen zu machen."

"Erfahrung kommt nach Kant erst dadurch zustande, daß Empfindungen in den ausschließlich subjektiven und apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit zu Wahrnehmungen geordnet und von den gleichfalls ausschließlich subjektiven und apriorischen Verstandesbegriffen zu Erkenntnissen verbunden werden."

"Aber bei der Begriffskonstruktion bleibt es ja eben hier nicht, sondern die Sphäere der Größenbegriffe wird auf willkürliche Weise vermengt mit der Sphäre der Anschauungen. Wer dieses Beginnen gut heißt, trägt nur dazu bei, die Erkenntnis von den Quellen unseres Wissens zu trüben und sodann im Trüben nach Monstrositäten suchen zu lassen. Statt gegen den ehrlichen banausischen Philister, genannt common sense zu kämpfen, wird man vielmehr ein Sekundant für Phantome, mit deren Schaustellung gerade den sinnlosesten Gaffern das willkommenste Tableau bereitet wird."

"Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge-ansich, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann, und daher der nichtempirische, d. h. transzendentale Gegenstand = x genannt werden mag."


II. Das Problem des Raumes

Die Überzeugung von der Richtigkeit des Satzes, daß Bewegung und Bewußtsein spezifisch voneinander verschieden sind, d. h. daß kein gemeinsames Merkmal aufzufinden ist, wodurch beide Arten von Erscheinung miteinander verglichen werden können, diese Überzeugung ist im Vorigen motiviert durch Argumente, deren Zulässigkeit darauf beruth, daß der Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich von jedem normal entwickelten Menschen als eine empirisch reale Gewißheit von unübertrefflicher Stärke konstatiert wird. Wir haben nun gesehen, daß die Naturwissenschaft die Außenwelt als unabhängig vom Ich, als etwas für sich Existierendes behandelt, und daß sie eben dann allein ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie nur mit solchen Begriffen operiert, für welche korrespondierende Gegenstände der Erfahrung, d. h. sinnliche Vorstellungen gegeben werden können. Nun wird aber durch jede sinnliche Vorstellung der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich konstatiert. Denn anschauen, sinnlich vorstellen kann ich nur das, was ich von mir selbst unterscheide, und wenn ich die Vorstellung des Angeschauten in meinem eigenen Inneren erneuere, so wiederhole ich damit die Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich in meinem Bewußtsein. Von dem in jeder Vorstellung enthaltenen zweifachen Hinweis auf die beiden Welten des Außen und Innen ignoriert die Physik den Hinweis auf die Innenwelt ganz, - die Physik und jede Disziplin der Naturwissenschaft, deren Tendenz es ist, sich in Bewegungstheorie, in Mechanik aufzulösen.

Das Streben ist hier allein darauf gerichtet, die Mannigfaltigkeit der als qualitativ verschieden auftretenden Erscheinungen in der Außenwelt mit Hilfe der Begriffe Kausalität und Zahl zurückzuführen auf Unterschiede der Quantität, wie sie das eine Grundphänomen, die Bewegung, darbietet, und für diese quantitativen Unterschiede die konstanten Relationen nachzuweisen, welche nach dem Gesetz von der Äquivalenz der verschiedenen Bewegungsformen oder Kräfte stattfinden müssen, einem Gesetz, dessen Gültigkeit für die Welt der äußeren Erscheinungen von seinem ersten Entdecker, JULIUS ROBERT MAYER, auf rein logischem Weg deduziert ist als eine Folgerung aus dem Satz: causa aequat effectum [Ursache gleich Wirkung - wp]. Anfang und Ende aller naturwissenschaftlichen Betrachtung werden demnach durch dieselben Marken bezeichnet: Kausalität, Zahl, sinnlich Wahrgenommenes und zwar das Letzte in seiner objektiven, gegenständlichen Bedeutung. Das sind die Quellen und die Grenzen des exakten Wissens.

Wir erinnern uns nun an die Aufgabe, welche HELMHOLTZ im Anschluß an KANT als eine vollkommen berechtigte anerkennt, an jenes
    "Geschäft, welches immer der Philosophie verbleiben wird, und dem sich kein Zeitalter ungestraft wird entziehen können", - nämlich "die Quellen unseres Wissens und den Grad seiner Berechtigung zu untersuchen."
Die eine dieser Quellen ist das sinnlich Wahrgenommene in seiner gegenständlichen Bedeutung. Es ist unleugbar, daß diese Bedeutung selbst ein Besitz unseres Bewußtseins ist. Nur den bewußten Wahrnehmungen verdanken wir die Vorstellung des bewegten Stoffes. Als Konsequenz dieser Vorstellung ergab sich uns die Wahrheit, daß keinerlei Übereinstimmung besteht zwischen dem ganzen Gebiet, welches von dieser Vorstellung beherrscht wird, also zwischen allem Zeitlich-Räumlichen und dem Bereich der Bewußtseinserscheinungen. Nun ist aber die Vorstellung des Zeitlich-Räumlichen eben als Vorstellung nichts Anderes als gleichfalls eine solche Bewußtseinserscheinung, und somit stehen wir vor der Tatsache, daß das Bewußtsein aussagt: ich gebe Nachricht von einer Existenz, deren Bedingungen andere sind als die meines eigenen Daseins. Ich selbst bin nicht in Bewegung, aber ich gebe die Möglichkeit, ich allein, Bewegtes als existierend zu erkennen; folglich, da diese Möglichkeit des Erkennens bewegter Dinge ganz ausschließlich mir, dem Bewußtsein, verdankt wird, so stammen diejenigen Vorstellungen auch ausschließlich von mir her, durch welche das Bewegte ein Wahrnehmbares ist; diese Vorstellungen sind eben die Faktoren des Produkts Bewegung und heißen Raum und Zeit; es sind die Mittel, welche ich, das Bewußtsein, darbiete, um eine Welt, in der es weder Raum noch Zeit gibt, zu einer Welt der Erscheinungen zu machen. Das heißt also: wir werden durch unser eigenes Bewußtsein, den einzigen Berichterstatter, den wir haben, darüber belehrt, daß Raum und Zeit ausschließlich subjektive Vorstellungsmittel sind, um Kunde zu erlangen von Etwas, das allein durch diese Vorstellungsmittel zu einem Gegenstand der Wahrnehmung für uns werden kann, und das ohne diese Vorstellungsmittel alle Erfahrbarkeit, alle Möglichkeit, wahrnehmbar zu sein, verliert. Von diesem jenseits aller Erscheinungen, außerhalb aller möglichen Erfahrung befindlichen Etwas, von dieser Raum- und Zeit-losen Welt können wir Nichts aussagen als dies, daß die Annahme eines solchen Daseins uns durch die unabänderliche Beschaffenheit unseres Denkens aufgezwungen wird - eine mit nichts Bekanntem oder Erfahrbarem zu vergleichende, durch Nichts zu charakterisierend Ursache alles Erscheinenden, - das kantische "Ding-ansich": eine Schranke menschlicher Erkenntnis, welche von dieser ebenso wenig kann überstiegen werden, als sie für das Denken ignorierbar ist; denn Erkenntnis ist nur möglich innerhalb der Erfahrung, und jene Schranke begrenzt eben die Möglichkeit der Erfahrung; und für das Denken ist wiederum die Kausalität eine Existenzbedingung, das Dasein jener Schranke kann daher nur mit dem Denken zugleich aufhören.

Für die faktische Anerkennung dieser Erkenntnisschranke von Seiten der exakten Wissenschaft führe ich die Tatsache an, daß die Physik auf eine direkte Definition des Begriffs Materie verzichtet. Als Masse im physikalischen Sinn figuriert vielmehr eine Zahlengröße in der Form eines Bruchs, dessen Zähler eine Benennung ist für die Summe der antreibenden Kräfte, und dessen Nenner die Summe der beschleunigenden Kräfte bedeutet. Die Physik hält sich demnach an die zur Erscheinung kommende Bewegung, welche sie in gleich Teilerscheinungen zerlegen, d. h. zu einer benannten Zahlengröße machen kann. Durch diese Eigenschaft, n-Zahlen ausdrückbar zu sein, d. h. definierbar zu sein durch diskrete Größen, - dadurch allein werden verschiedene Bewegungen der Vergleichung untereinander fähig, und so werden auch hier die verschiedenen Qualitäten der Materie ausgedrückt durch verschiedene Quantitäten der Bewegung, des Produkts aus Raum und Zeit. Vom Substrat aller Bewegungen sowohl als auch aller Formen, von der Materie, gibt die exakte Wissenschaft zu, daß es ein Ding ist, das unmittelbar gar nicht in die Erscheinung tritt, es ist eben für sie eine direkt nicht erkennbare, nicht erfahrbare Ursache der Erscheinung, ein unbekanntes Etwas, das erst dadurch für die menschliche Berechnung zugänglich wird, daß es Wahrnehmungen in unserem Bewußtsein erzeugt, und dies geschieht niemals anders als durch die Vorstellungsmittel Raum und Zeit, von denen das Bewußtsein konstatiert, sie seien ein Besitz und als solcher spezifisch verschieden von dem für das Bewußtsein radikal unzugänglichen Erreger aller zeitlich-räumlichen Erscheinungen, dessen Dasein zu denken ihm notwendig, von dessen Daseinsform etwas Positives auszusagen, ihm unmöglich ist. Als Belegt für diese durch die Physik sanktionierte Auffassung mögen folgende Stellen aus dem "Lehrbuch der Experimentalphysik" von WÜLLNER dienen (Leipzig, 1863, Bd. 1, Seite 56):
    "Wenn man einen gegebenen Körper vom Gewicht P, in Kilogramm ausgedrückt, einmal frei fallen läßt und ihn dann nach und nach der Wirkung von Kräften F, F¹, F² . . . unterwirft, so erhält er Beschleunigungen, welche in Metern ausgedrückt gleich sind g, G, G¹, G² . . . Nach § 7 haben wir dann


    Kennt man einmal für einen Körper den Wert des Verhältnisses m, so kennt man auch die Wirkung, welche irgendeine Kraft auf ihn ausübt. Denn man ist dann imstande, die Beschleunigung und daraus die Geschwindigkeit zu berechnen, welche die Kraft ihm in irgendeiner Zeit erteilt und diese gibt dann wieder den in dieser Zeit durchlaufenen Raum. Umgekehrt kann man aich aus der Beschleunigung G, welche der Körper erhält, mit Hilfe dieses Verhältnises die Kraft bestimmen, welche ihm diese Beschleunigung erteilt hat. Dieses für einen Körper ganz konstante Verhältnis zwischen den einen Körper antreibenden Kräften und der Beschleunigung, welche sie ihm erteilen, nennt man die Masse des Körpter."
Ebenda Seite 58:
    "Einige Physiker haben die Masse als die Quantität-Materie definiert, welche in einem Körper enthalten ist. Diese Definition rührt von der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes Masse her; man darf sie jedoch nicht als ganz exakt bezeichnen. Dieselbe sagt zuviel, denn wir sind mit dem Wesen der Materie viel zu unbekannt, als daß wir sie messen könnten. Streng genommen kann man nur Kupfer mit Kupfer, Blei mit Blei vergleichen und keine Beziehung aufstellen zwischen der Materie des Kupfers und der des Bleis. Diejenigen, welche diese Definition beibehalten wollen, müssen daher vor allem definieren, was sie unter gleicher Quantitäten-Materie oder gleichen Massen verstehen. Diese werden dann dahin definiert, daß gleiche Massen diejenigen sind, welche gleiches Gewicht haben. Das ist aber mit unserer Definition, daß gleiche Massen die sind, welche unter der Wirkung gleicher Kräfte gleiche Beschleunigung erhalten, dasselbe, und es ist demnach besser mit dieser Definition zu beginnen, als einen unbestimmten Begriff über die Quantität der Materie voraus zu schicken."
In demselben Sinn spricht HELMHOLTZ über die Begriffe Materie und Kraft (Optik, Seite 454):
    "... sowohl der Begriff der Materie, wie der der Kraft sind ganz abstrakter Art, wie sich schon aus ihren Attributen leicht ergibt. Materie ohne Kraft soll nur im Raum dasein, aber nicht wirkenn, also auch keine Eigenschaften haben. Sie würde also ganz gleichgültig sein für alle anderen Vorgänge in der Welt, sowie für unsere Wahrnehmungen, sie würde so gut wie nicht existierend sein. Kraft ohne Materie nun gar, soll wirken, aber nicht unabhängig dasein können, denn das Daseiende ist alles Materie. Beide Begriffe können also nie voneinander getrennt werden, sie sind nur abstrakte Betrachtungsweisen derselben Naturobjekte nach verschiedenen Beziehungen."
Der im Vorigen aufgezeichnete Weg zur transzendentalen Idealität des Raumes und der Zeit ist der einzige, welchen ich passierbar gefunden habe; aber wenn er sich auch für mich ebenso sehr als fördernd wie als der einzig mögliche herausgestellt hat, so bin ich doch sehr überzeugt, daß mir die Auffindung dieses Ausweges aus sonst unlösbar scheinenden Widersprüchen nicht gelungen wäre, wenn mir nicht vorher die Möglichkeit des Zieles durch KANT selbst würde zu Bewußtsein gekommen sein. Denn ein Fund mag noch so versteckt und seltsam geartet sein: ist er einmal ans Tageslicht gebracht, so wird sich Jeder leicht zu ihm hinfinden, sobald er nur in die Lage kommt, seiner zu bedürfen. Aber das Wertvolle und schwer Zugängliche zuerst gewahr zu werden, dazu sind ganz andere Organe erforderlich als zum Wiederfinden, und das Erstaunen über die erste Entdeckung muß umso größer sein, je weniger man die Motive annehmbar findet, welchen der Entdecker seine Tat zuschreibt. Da es zu der hier vorliegenden Untersuchung nicht direkt gehört, so unterlasse ich die sachlich irrelevante Rechtfertigung dafür, daß ich den Beweisen nicht folge, welche KANT für die transzendentale Idealität von Raum und Zeit gibt. Hier ist nur die kantische Grundwahrheit selbst von Interesse, und es geziemt sich daher wohl, daß wir uns die Idee, welcher wir die Befreiung aus schwierigen Konflikten verdanken, auch so vergegenwärtigen, wie sie von dem schöpferischen Ersinner zuerst verkündet wurde. Mit bündigen Worten geschieht dies in der "Kritik der reinen Vernunft" unter anderem an folgenden Stellen (der ersten Auflage von 1781):
    Seite 357: "Wir haben in der transzendentalen Ästhetik unleugbar bewiesen: daß Körper bloße Erscheinungen unseres äußeren Sinnes, und nicht Dinge-ansich sind. Diesem gemäß können wir mit Recht sagen: daß unser denkendes Subjekt nicht körperlich ist, das heißt: daß, da es als Gegenstand des inneren Sinnes von uns vorgestellt wird, es, insofern als es denkt, kein Gegenstand äußerer Sinne, d. h. keine Erscheinung im Raum sein kann. Dieses will nun so viel sagen: Es können uns niemals unter äußeren Erscheinungen denkende Wesen, als solche, vorkommen, oder, wir können ihre Gedanken, ihr Bewußtsein, ihre Begierden etc. nicht äußerlich anschauen; denn dieses gehört alles vor den inneren Sinn. In der Tat scheint dieses Argument auch das natürliche und populäre, worauf selbst der gemeinste Verstand von jeher gefallen zu sein scheint, und dadurch schon sehr früh Seelen, als von den Körpern ganz unterschiedene Wesen, zu betrachten angefangen hat."

    Seite 369: "Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge-ansich, ansehen, und demgemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber vor sich gegebene Bestimmungen, oder Bedingungen der Objekte, als Dinge-ansich sind. Diesem Idealismus ist ein transzendentaler Realismus entgegengesetzt, der Zeit und Raum als etwas ansich (unabhängig von unserer Sinnlichkeit) gegebenes ansieht. Der transzendentale Realist stellt sich also äußere Erscheinungen (wenn man ihre Wirklichkeit einräumt) als Dinge-ansich vor, die unabhängig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren, also auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns wären."

    Seite 371: "Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu, die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transzendentale Realismus notwendig in Verlegenheit, und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus Platz einzuräumen, weil er die Gegenstände äußerer Sinne vor Etwas von den Sinnen selbst unterschiedenes, und bloße Erscheinungen vor selbständige Wesen ansieht, die sich außer uns befinden; da denn freilich, bei unserem besten Bewußtsein unserer Vorstellung von diesen Dingen, noch lange nicht gewiß ist, daß, wenn die Vorstellung existiert, auch der ihr korrespondierende Gegenstand existiert; dahingegen in unserem System diese äußeren Dinge, die Materie nämlich, in allen ihren Gestalten und Veränderungen, nicht als bloße Erscheinungen, d. h. Vorstellungen in uns sind, deren Wirklichkeit wir uns unmittelbar bewußt werden."
Mit diesem apriorisch dargereichten und dennoch als Konsequenz des exakten Empirismus approbierten Orientierungswerkzeug, mit dem kantischen Lehrbegriff von Raum und Zeit, und zwar speziell mit der transzendentalen Idealität des Raums wollen wir uns nun zum Ausgangspunkt jener kühnen Expedition begeben, über welche wir im vorigen Abschnitt so widersprechende Nachrichten vernommen haben.

Der erste Hinweis auf die Ausgangsstelle scheint 1792 von GAUSS gegeben zu sein; er wie seine Nachfolger knüpften die Hoffnung auf ein neu zu entdeckendes Gebiet an das elfte euklidische Axiom, von welchem LEGENDRE bewiesen hat, daß es gleichbedeutend ist mit dem Satz: die Summe der Winkel in einem eigenen Dreieck ist gleich zwei Rechten. Das Axiom selbst lautet:
    "Zwei gerade Linien, die von einer dritten so geschnitten werden, daß die beiden inneren an einerlei Seite liegenden Winkel zusammen kleiner als zwei rechte sind, treffen, genugsam verlängert, an eben der Seite zusammen." (Lorenz, Euklids Elemente, vierte Auflage, Halle und Berlin, 1818, Seite 4.)
Dieses Axiom ist auch bekannt unter dem Namen des Parallelensatzes; denn es wird in ihm die Bedingung verneint, deren Erfüllung identisch ist mit dem Parallelismus. Es sind eben nur zwei Ausdrucksformen für denselben Sinn, wenn gesagt wird:
    "sind die Winkel x und y (siehe Figur unten) zusammen nicht gleich zwei Rechten, sondern kleiner, so treffen die Linien AB und CD, über B und D verlängert, in einem Punkt zusammen, und über A und C hinaus wird ihre Entfernung von einander in stetiger Zunahme größer, d. h. sie sind nicht parallel",
oder:
    "sind die Winkel x und y zusammen gleich zwei Rechten, so treffen die Linien AB und CD niemals zusammen, mag man sie über B und D nach rechts oder über A und C nach links auch noch so weit verlängern oder verlängert vorstellen, d. h. sie sind parall."
Daß diese beiden Formen für denselben Sinn nur sprachlich unterschieden sind, wird in der Regel deshalb zugegeben, weil es zur Konstatierung der Identität des Sinnes in beiden Ausdrucksweisen nur einer Denkoperation bedarf, und zwar einer so geringen, wie sie für alle verneinenden Vernunftschlüsse gehört, deren Gesetz lautet:


repugnans notae repugnat rei ipsi [was einem Teil widerspricht, widerspricht auch dem Ganzen - wp].

Bei der Umformung eines anderen Ausdrucks wird man sich schon eher einer Denktätigkeit bewußt. Statt nämlich zu sagen: "die Linien AB und CD sind parallel, wenn die Winkel x und y zusammen gleich zwei Rechten sind", kann man auch sagen: die Linien AB und CD sind parallel, wenn die korrespondierenden Winkel z und y einander gleich sind. Für die Äquivalenz dieser beiden Formulierungen kann man sich leicht folgende Gründe als ebenso viele Hilfsmittel vergegenwärtigen. Die Winkel z und x sind zusammen gleich zwei Rechten; von den Winkeln y und x ist dasselbe ausgesagt worden, das heißt z + x ist gleich y + x; nimmt man Gleiches von Gleichem fort, so bleibt Gleiches übrig, folglich ist z = y, und es wird demnach mit der Aussage: "x und y sind zusammen gleich zwei Rechten" auch konstatiert: die Winkel z und y sind gleich. Läßt man unter diesen Gründen den ersten: "Die Winkel z und y sind zusammen gleich zwei Rechten", als eine Bezeichnungstatsache gelten, so behält man als entscheidenden Grund für die Gleichwertigkeit der beiden Ausdrucksweisen den Satz: Gleiches von Gleichem fortgenommen, ergibt Gleiches - das dritte von EUKLIDs Axiomen. Sobald eingesehen wird, daß die Gleichsetzung der Winkel z und y die sichere Folge ist von der Anwendung dieses Axioms auf die Tatsache, daß x + y sowie auch z + x gleich zwei Rechten sind, so hört auch das Verlangen nach einer weiteren Begründung auf. Deshalb eben ist der Satz: "Gleiches von Gleichem läßt Gleiches" ein Axiom, weil er als eine erste Tatsache der Erkenntnis auftritt. Hat man, wie in dem vorliegenden Fall, irgendeinen Satz in eine solche Verbindung mit dem Axiom gebracht, daß man in dem Satz einen Spezialfall von dem in dem Axiom ausgesprochenen Allgemeingültigen erkennt, sieht man also ein, daß zwischen Axiom und vorliegenden Satz dasselbe Verhältnis besteht, wie zwischen Genus und Spezies, so hat man den Satz bewiesen. Es scheint also die einem Satz selbst innewohnende Überzeugungskraft zu sein, wodurch er zu einem Axiom, zu einer Grundwahrheit wird. Von der "ganzen reinen Mathematik (Arithmetik)" sagt HELMHOLTZ (Populäre wissenschaftliche Vorträge, erstes Heft, Seite 19) daß sie
    "entwickelt ist aus drei Axiomen:
    - Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie unter sich gleich.
    - Gleiches zu Gleichem addiert gibt Gleiches.
    - Ungleiches zu Gleichem addiert, gibt Ungleiches.
Wenn man nun das elfte Axiom EUKLIDs in der Form ausspricht, welche wir als gleichwertig kennengelernt haben mit der von EUKLID gewählten, so wird jeder unbefangene Nichtmathematiker, der sich die Bedeutung des Axioms durch eine Figur wie die obige veranschaulicht, versichern: wenn die Winkel z und y gleich sind, so ist es ganz unmöglich, am Parallelismus von AB und CD zu zweifeln. Der Parallelismus hat dieselbe "unmittelbare Evidenz", welche HELMHOLTZ jenen drei Axiomen der Arithmetik vindiziert: "man braucht" auch für ihn "gar keinen Beweis zu geben."

Die Evidenz ist ebenso unmittelbar, aber nicht von derselben Natur: sie ist der anderen gleich an Intensität, aber nicht an Qualität. (Und hier ist wohl der Ort, darauf aufmerksam zu machen, daß wenigstens nicht alle Rezensionen des euklidischen Textes mit der allgemein rezipierten Bezeichnung des Parallelensatzes als des "elften Axioms" übereinkommen. In der mir vorliegenden Ausgabe von NEIDE (Halis Saxonum, 1825) ist der Parallelensatz nicht das elfte der Axiome, nämlich der koinai ennoiai, sondern das fünfte der aitemata, - es wird ihm also als einem Postulat ein anderer Charakter erteilt als den Axiomen der Arithmetik.)

Die Zustimmung zu den arithmetischen Axiomen ist nicht gebunden an die Vorstellung eines speziellen Gegenstandes der Wahrnehmung oder an nur eine Art von Vorstellungen, sondern als Belege für die Wahrheit jener Axiome können alle solche Gegenstände dienen, von denen die Zerlegbarkeit in gleiche Einheiten vorgestellt werden kann. Alle Vorstellungen, durch deren Verbindung in meinem Bewußtsein der Begriff Quantitäts-Gleichheit entstehen kann, alle diese unendlich mannigfachen Arten von Vorstellungen sind jede für sich geeignet, die arithmetischen Axiome zu erläutern. Die Vorstellung der Größengleichheit ist eben deshalb ein Begriff und keine Anschauung, weil unendlich viele Arten mannigfaltiger Einzelvorstellungen zu dieser Vorstellung verhelfen können. Sie umfaßt, wie man mit einem bildlichen Ausdruck sagt, viele Arten von Einzelvorstellungen, diese sind in ihr enthalten, werden von ihr miteinbegriffen. Doch ist diese Bezeichnung nicht präzise. Denn nicht ganz und gar, nicht mit allen ihren Merkmalen sind die Einzelvorstellungen in der allgemeinen Vorstellung enthalten, sondern nur mit einem einzigen Merkmal, dessen Bedeutung diese ist: daß die Vorstellungen, denen es angehört, fähig sind, so miteinander im Bewußtsein verbunden zu werden, daß das Resultat der Verbindung die Vorstellung der Größengleichheit ist. Von allen übrigen Merkmalen der durch die Bewußtseinstätigkeit verbundenen Einzelobjekte wird dabei keine Notiz genommen, es wird von ihnen abstrahiert, und dadurch wird die Vorstellung der Größengleichheit zu einer abstrakten Vorstellung, einer nicht unmittelbaren, sondern aus anderen Vorstellungen gewonnenen Vorstellung, deren Inbegriff sie darstellt, und deshalb benennt man sie eben mit dem Namen Begriff. Von den Begriffen bemerkt SCHOPENHAUER treffend (Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, dritte Auflage, Leipzig 1864, Seite 98):
    "Man kann sie auch definieren als Vorstellungen aus Vorstellungen." (1) . . . "Die Bildung eines Begriffs geschieht überhaupt dadurch, daß vom anschaulich Gegebenen Vieles fallen gelassen wird, um dann das Übrige für sich allein denken zu können: derselbe ist also ein Wenigerdenken, als angeschaut wird" -
genauer: ein Denken an Etwas, das weniger Merkmale hat als ein Angeschautes.

Die arithmetischen Axiome kommen demnach alle drei darin überein, daß sie die Bedingungen angeben, durch deren vorgestellte Erfüllung ein Begriff im Bewußtsein entsteht: der Begriff Größengleichheit (oder die Verneinung davon), eine gedachte Vorstellung. In jenen Bedingungen aber ist der Begriff selbst schon enthalten. Wenn also HELMHOLTZ den drei Axiomen "unmittelbare Evidenz" zuerkennt, so ist für ihn der Begriff der Gleichheit etwas nicht Vermitteltes, nicht Abgeleitetes, sondern ein primärer Besitz des Denkens, dessen Entstehung nicht weiter nachweisbar ist: eine "Quelle unseres Wissens".

Im Gegensatz zu den arithmetischen Axiomen wird nun in den geometrischen, also auch in dem hier zunächst interessierenden, besonders problematischen Parallelensatz eine Bedingung angegeben, durch deren Erfüllung nicht ein Begriff, nicht eine gedachte Vorstellung entsteht, sondern eine Anschauung, eine nur sinnlich, nur räumlich zu vergegenwärtigende Vorstellung. Wer also neben den arithmetischen Axiomen auch den Parallelensatz als ein Axiom anerkennt, räumt damit ein, daß er im Gebiet der sinnlichen Anschauung eine ebenso ursprünglich gegebene Erkenntnisquelle findet wie in der Sphäre des Denkens durch Begriffe. Diesen Dualismus lehrt die kantische Erkenntnistheorie in folgenden Sätzen (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 50):
    "Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite, das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser, im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente all unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung, ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben kann."
In der Anerkennung dieses Dualismus ist die Resignation auf die Erreichung eines Ziels enthalten, welches für jede Art von Bemühung um wissenschaftliche Wahrheit so lange als ein höchstes Ideal existiert, bis man seine Überhöhe begriffen hat: Die Zurückführung aller Objekte des Erkennens und Forschens auf ein primäres Element, nicht auf mehrere. Und nur aus diesem Streben nach dem denkbar höchsten, jedoch übermenschlichen Ziel wird der Widerstand gegen das elfte euklidische Axiom verständlich, ganz besonders bei Mathematikern, welche durch die Homogenität des Stoffes, aus welchem sich ihre zahlreichen Probleme gestaltet haben, mehr verwöhnt sind als die Bearbeiter irgendeines anderen Wissensgebietes. Nicht etwa der Mangel an unmittelbarer Evidenz des Parallelensatzes ist daran Schuld, wenn man sich gegen die Anerkennung seiner axiomatischen Natur sträubt, und wenn jemand behauptet, er zweifle ernsthaft an der Richtigkeit der in einem Satz ausgesprochenen Tatsache, so beweist er dadurch nur, daß er für den vorliegenden Fall die Unbefangenheit seiner Selbstbeobachtung durch die Beschäftigung mit dem Problem eingebüßt hat. Bei den Bearbeitern des Problems ist dies nicht der Fall: die "empirische Gewißheit" der diskutierten Tatsache gesteht z. B. RIEMANN ausdrücklich zu, aber er bestreitet ihre Notwendigkeit, welche durch Anschauungstatsachen gar nicht für ihn zu konstatieren ist, sondern nur durch eine Entwicklung aus Begriffen. Es ist eben die Abneigung, mehr als eine Erkenntnisgrenze zuzulassen, worin der Widerstand gegen das Axiom als solches wurzelt. Denn wenn es gelänge, dieses Axiom und die wenigen anderen Axiome der Anschauung zu beweisen, das heißt: die sinnliche Vorstellung, an welche die Sätze appellieren, unter eine gedachte Vorstellung von primärer Qualität zu subsumieren, dann hätte man jenen Dualismus beseitigt: das Denken wäre dann die einzige Grundlage für alle wissenschaftliche Erkenntnis. Dieses kühne Beginnen nennt KANT das Intellektuieren der Erscheinungen, und er sagt von dieser LEIBNIZschen Verirrung Folgendes (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 270):
    "In Ermangelung einer solchen transzendentalen Topik, und folglich durch die Amphibolie [Zweideutigkeit - wp] der Reflexionsbegriffe hintergangen, errichtete der berühmte Leibniz ein intellektuelles System der Welt, oder glaubte vielmehr der Dinge innere Beschaffenheit zu erkennen, indem er alle Gegenstände nur mit dem Verstand und den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens verglich." ...

    "Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigenen Unterschiede bei sich führen, sah er nicht vor ursprünglich an; denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart, und kein besonderer Quell der Vorstellungen: Erscheinung war ihm die Vorstellung des Dings-ansich, obgleich von der Erkenntnis durch den Verstand, der logischen Form nach, unterschieden, da nämlich jene, bei ihrem gewöhnlichen Mangel der Zergliederung, eine gewisse Vermischung von Nebenvorstellungen in den Begriff des Dings zieht, die der Verstand davon abzusondern weiß. Mit einem Wort: Leibniz intellektuierte die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe, nach seinem System der Noogonie (wenn es mir erlaubt ist, mich dieser Ausdrücke zu bedienen), insgesamt sensifiziert, d. h. vor nichts, als empirische, aber abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte. Anstatt im Verstand und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objektivgültig von Dingen urteilen könnten, hielte sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge-ansich selbst bezögen, indessen, daß die andere nichts tat, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen."
Sehen wir nun, auf welche Weise das Intellektuieren der Erscheinungen von den neuesten Verteidigern der nicht-euklidischen Geometrie ins Werk gesetzt wird, besonders also von RIEMANN, dessen hergehörige, 1854 geschriebene Arbeit "Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen", (Göttingen 1867) für diese Angelegenheit Epoche machend zu sein scheint, nachdem die Vorgänger, GAUSS, und nach ihm in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts LOBATSCHEWSKY und BOLYAI, die Hauptanregung gegeben hatten. (2)

Durch die im ersten Abschnitt mitgeteilten Proben von den kontradiktorischen Auffassungen, welche diese und verwandte Arbeiten erfahren haben, wird es motiviert sein, wenn ich meine Einwände an die eigenen Worte des Autors anknüpfe: der Leser ist so am Ehesten in der Lage, eine unmittelbare Kontrolle auszuüben.

Unter der Überschrift "Plan der Untersuchung" beginnt RIEMANN:
    "Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, als auch die ersten Grundbegriffe für die Konstruktionen im Raum als etwas Gegebenes voraus. Sie gibt von ihnen nur Nominaldefinitionen, während die wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen auftreten. Das Verhältnis dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunklen; man sieht weder ein, ob und inwieweit ihre Verbindung notwendig, noch apriori, ob sie möglich ist."
Diese Eingangsworte enthalten bereits das Programm für das "Intellektuieren der Erscheinungen". Axiome sind Urteile, Verbindungen von Begriffen, und wenn wir einmal das Wort Begriff im Anschluß an RIEMANN nicht in dem vorhin restringierten Sinn brauchen, so dürfen wir statt dessen sagen: Axiome sind Verbindungen von gedachten oder von anschaulichen Vorstellungen. Die geometrischen Axiome sprechen nun nach RIEMANN wesentliche Bestimmungen aus über das Verhältnis, welches besteht zwischen zwei Arten von Begriffen, die als etwas Gegebenes dabei figurieren zwischen dem Begriff des Raumes und den Grundbegriffen für die Konstruktionen im Raum. Die Dunkelheit dieses Verhältnisses wird darin gefunden, daß aus den Axiomen nicht ersichtlich ist, ob der Raum und die Grundbegriffe für die Konstruktionen im Raum eine notwendige oder auch nur mögliche Verbindung miteinander haben. Zur Aufklärung dieser Dunkelheit muß demnach erwartet werden, daß die Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Verbindung sich als nachweisbar herausstellen wird. Nun sind Notwendigkeit und Möglichkeit jedenfalls Begriffe. Da unter diese Begriffe ein noch unbekanntes Verhältnis zwischen anderen Begriffen soll subsumiert werden können, so werden die ersten als gegeben vorausgesetzt. Es kann kein Zweifel sein, daß diese Begriffe zu den abstrakten, gedachten Vorstellungen gehören, nicht zu den unmittelbaren, sinnlichen Vorstellungen. Folglich sind es abstrakte, gedachte, nicht sinnliche Vorstellungen, die als ein bereits Bekanntes, schlechthin Gegebenes behandelt werden. Soll nun zwischen dem Begriff Raum und den Grundbegriffen für die Konstruktionen im Raum eine Verbindung nachgewiesen werden, welche als möglich und notwendig eingesehen wird, so müssen beide Begriffe zu derselben Art von Begriffen gehören, also zu der als bekannt behandelten abstrakten Art. Es muß also Alles, was in den zu verbindenden Begriffen sinnlicher Natur ist, ableitbar sein aus einer nicht sinnlichen Vorstellung, aus einem Begriff sensu strictiore [im strengeren Sinn - wp]. Und nachdem somit aller Anschauungsanteil an den zu verbindenden Begriffen intellektuiert sein wird, muß sich herausstellen, daß zwischen dem Begriff Raum und den Grundbegriffen für die Konstruktionen im Raum ein Verhältnis besteht, entweder wie zwischen Teilen desselben Ganzen oder wie zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, die Teile mögen nun Größen sein oder andere Teilvorstellungen, jedenfalls Bestandteile, Merkmale desselben Begriffs. Denn anders ist die Verbindung zweier nicht identischer abstrakter Vorstellungen als möglich und notwendig a priori nicht einzusehen. Gelingt aber das Intellektuieren nicht, so werden wir auch erfahren müssen, warum es nicht gelingt, und dann wird der Nachweis geliefert sein, daß die uns bekannte Geometrie eine Erfahrungswissenschaft ist.

Demnach hat RIEMANN einen wichtigen Teil seines Untersuchungsplanes implizit bereits ausgesprochen. Er will nachweisen, daß es geometrische Axiome, wenn auch nicht gerade euklidische, geben könnte, welche analytische Urteile sind: Urteile, in welchen das Prädikat kein Merkmal enthält, das nicht schon durch den Begriff des Subjekts gegeben ist: Erläuterungs-, nicht Erweiterungsurteile nach KANTs Bezeichnung. Ob die der Geometrie vindizierten analytischen Urteile aus Erfahrungsbegriffen gebildet sind oder aus apriorischen Begriffen, das hat RIEMANN noch nicht gesagt, obgleich man durch seine Erwähnung des Ausdrucks verleitet werden könnte, es zu glauben. Er sagt nur: man sieht bei der bisherigen Behandlung a priori nicht ein, ob die Verbindung zwischen Raum und Konstruktionsbegriffen möglich ist. Es ist aber etwas Anderes, ob man a priori einsieht, daß ein Urteil analytisch ist, oder ob man einsieht, daß es analytisch ist, und daß es a priori sein muß, folgt freilich aus seiner analytischen Natur. RIEMANN fährt fort.
    "Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis auf Legendre, um den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen, weder von den Mathematikern, noch von den Philosophen, welche sich damit beschäftigten, gehoben. Es hatte dies seinen Grund wohl darin, daß der allgemeine Begriff mehrfach ausgedehnter Größen, unter welchem die Raumgrößen enthalten sind, ganz unbearbeitet blieb. Ich habe mir daher zunächst die Aufgabe gestellt, den Begriff einer mehrfach ausgedehnten Größe aus allgemeinen Größenbegriffen zu konstruieren. Es wird daraus hervorgehen, daß eine mehrfach ausgedehnte Größe verschiedener Maßverhältnisse fähig ist und der Raum also nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Größe bildet."
Diesen Worten ist zu entnehmen, daß RIEMANN mit der Bezeichnung einer ausgedehnten Größe nichts Ausgedehntes in der gewöhnlichen Wortbedeutung im Sinn hat, nämlich nichts speziell Räumliches, sondern etwas abstrakt Begriffliches, wovon eben angenommen wird, daß das räumlich Ausgedehnte darunter "enthalten" ist. Die mehrfach ausgedehnte Größe soll also zunächst ohne sinnliches Merkmal zu denken sein: die begrifflichen Merkmale, aus welchen sie konstruiert wird, werden sich aber am Anschauungsraum müssen wiederfinden lassen; denn er ist eine Unterart der Spezies dreifach ausgedehnter Größe, deren Genus die mehrfach ausgedehnte Größe ist. Bis hierher ist die Konsequenz des als möglich vorausgesetzten Intellektuierens der Raumvorstellung vollkommen logisch und stetig. Nun aber kommt ein gewaltsamer Sprung. "Hiervon", - nämlich daß der Raum nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Größe bildet -
    "Hiervon aber ist eine notwendige Folge, daß die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größenbegriffen ableiten lassen, sondern daß diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Größen unterscheidet, nur aus der Erfahrung entnommen werden können."
Nicht eine Spur von Denknotwendigkeit ist an dieser Folgerung zu entdecken. Aus welchem erdenklichen Grund ist es unmöglich, die Unterarten der Spezies dreifach ausgedehnter Größe durch die Hinzubringung neuer abstrakter Vorstellungen zu konstituieren? Warum soll für die Spezifikation der Begriffe ein anderes Denkgesetz existieren als z. B. für die Spezifikation von Dreiecken? Wenn doch der Raum nur eine Spezies einer Gattung von Größen ist, - warum reicht das homogene Material von Größenbestimmungen nicht aus, ihn zu charakterisieren, sowie die mit Hilfe physischer Symbole einzeln demonstrierten Anschauungen von gleich und ungleich langen geraden Linien, von spitzen, stumpfen, rechten Winkeln, zusammen mit der Anschauung einer von drei geraden Linien begrenzten Ebene hinreichend sind, alle möglichen Arten ebener Dreiecke zu charakterisieren, mit keinen anderen Hilfsmitteln als dem homogenen Anschauungsmaterial?

Die von RIEMANN angegebene Folge ist durch nichts Vorheriges motiviert, sie tritt als ein bloßes Dekret auf und ist ein inkonsequenter Rückfall in die sinnlichen Schranken, auf deren Überwindung der Untersuchungsplan begonnen hatte, uns Hoffnung zu machen.

Der Gegensatz zu KANT aber würde jetzt vollständig sein, wenn er nicht durch eine Unklarheit getrübt wäre. Nach KANT sind die geometrischen Urteile synthetisch und a priori, nach RIEMANN sind die Urteile, von welchen die Axiome der gewöhnlichen Geometrie eine Unterart bilden, analytisch, folglich a priori; ob sie auch ein apriorisches Subjekt haben, war nicht gesagt; die Axiome selbst aber werden durch den Rekurs auf die Erfahrung wieder zu synthetischen degradiert, und zwar zu synthetischen Urteilen a posteriori. Ferner: Erfahrung kommt nach KANT erst dadurch zustande, daß Empfindungen in den ausschließlich subjektiven und apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit zu Wahrnehmungen geordnet und von den gleichfalls ausschließlich subjektiven und apriorischen Verstandesbegriffen zu Erkenntnissen verbunden werden; nach RIEMANN lehrt die Erfahrung, wodurch sich der Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Größen unterscheidet. Was aber Erfahrung ist, wird weder hier noch an einer anderen Stelle der Arbeit gesagt, ebensowenig wie angegeben wird, was die Erfahrung eigentlich zum rein gedachten Begriff einer dreifach ausgedehnten Größe hinzubringt, um unseren Anschauungsraum herzustellen, ohne welchen wir doch nicht einmal die euklidische Geometrie haben würden.

Es heißt nun weiter:
    "Hieraus entsteht die Aufgabe, die einfachsten Tatsachen aufzusuchen, aus denen sich die Maßverhältnisse des Raums bestimmen lassen - eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher Tatsachen angeben, welche zur Bestimmung der Maßverhältnisse des Raumes ausreichen; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von Euklid zugrunde gelegte. Diese Tatsachen sind wie alle Tatsachen nicht notwendig, sondern nur von empirischer Gewißheit, sie sind Hypothesen; man kann also ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der Grenzen der Beobachtung allerdings sehr groß ist, untersuchen und hiernach über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmeßbaren, als auch nach der Seite des Unmeßbarkleinen urteilen."
Der Gang der Untersuchung soll also der sein, daß aus den empirisch gewissen Tatsachen diejenigen Bestimmungen ausgesondert werden, welche geeignet sind, das Material zu bilden für nicht empirische, also für abstrakte Bestimmungen mit dem Charakter der Notwendigkeit. Wir werden, ausgehend von dem durch Beobachtungsgrenzen eingeengten Gebiet, zu Bestimmungen geführt werden, welche jenseits der Grenzen der Beobachtung Gültigkeit haben und trotzdem fähig sind, in den Besitz unserer Erkenntnis durch das Denken zu gelangen.

Hiermit ist nun allerdings ein sehr durchgreifender Antagonismus gegen KANT dokumentiert. Denn nach ihm sollen sowohl die reinen Verstandesbegriffe als auch die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit nur Geltung haben innerhalb des Bereichs möglicher Erfahrung. Und wenn wir uns nun erinnern, mit welcher rühmenden Anerkennung HELMHOLTZ konstatiert hat, daß KANTs Philosophie nicht beabsichtigt hat,
    "die Zahl unserer Kenntnisse durch das reine Denken zu vermehren", da "ihr oberster Satz war, daß alle Erkenntnisse der Wirklichkeit aus der Erfahrung geschöpft werden muß", -
dann ist es in der Tat wider Erwarten, daß die folgenden Worte gleichfalls von HELMHOLTZ herrühren:
    "Übrigens muß ich bekennen, daß wenn auch durch die Veröffentlichung von Riemanns Untersuchungen die Priorität in Bezug auf eine Reihe meiner eigenen Arbeitsresultate vorweg genommen ist, es für mich bei einem so ungewöhnlichen und durch frühere Versuche eher diskreditierten Gegenstand von nicht geringem Gewicht war, zu sehen, daß ein so ausgezeichneter Mathematiker dieselben Fragen seines Interesses gewürdigt hatte, und daß es mir eine gewichtige Bürgschaft für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges war,, ihn als Gefährten darauf anzutreffen." (Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1868, 3. Juni, Nr. 9, Seite 195)
Für die RIEMANN-HELMHOLTZsche Untersuchung verliert eben die Erfahrung ihre Kompetenz; es gilt für sie nicht mehr, was wir von KANT über Mathematik und Naturwissenschaft gehört haben:
    "der Probierstein der Wahrheit ihrer Sätze liegt in ihnen selbst, weil ihre Begriffe nur so weit gehen, als die ihnen korrespondierenden Gegenstände gegeben werden können",
und deshalb hat für die in Rede stehende transzendente Untersuchung auch das keine Gültigkeit, was KANT gleichfalls an jener Stelle sagt:
    "Mathematik und Naturwissenschaft, sofern sie reine Erkenntnis der Vernunft enthalten, bedürfen keiner Kritik der menschlichen Vernunft überhaupt."
Im vorliegenden Fall bedürfen sie ihrer im Gegenteil sehr, besonders da es nicht an Anzeichen dafür fehlt,, daß der "viele Wind", der, wie KANT einmal lehrt, "gemeiniglich um hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch-großen Männer" ist (III, 153), bereits arge Verdrehungen in manchen Köpfen verursacht hat. Es handelt sich hier in der Tat darum, ob HELMHOLTZens Äußerung vom Jahr 1855 eine durchgreifende Wahrheit enthält: "die Naturwissenschaften stehen noch jetzt fest auf denselben Grundsätzen, die sie zu Kants Zeiten hatten", (3) oder ob man einen Ausnahmefall soll zu konstatieren haben, da doch die Wissenschaft vom Raum - nicht seine Definition - den Naturwissenschaften jedenfalls näher angehört als der Philosophie.

Vernehmen wir nun weiter die Worte RIEMANNs:
    "I. Begriff einer n-fach ausgedehnten Größe:

    Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die Entwicklung des Begriffs mehrfach ausgedehnter Größen zu lösen versuche, glaube ich umso mehr auf eine nachsichtige Beurteilung Anspruch erheben zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philosophischer Natur, wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als in der Konstruktion liegen, wenig geübt bin und ich außer einigen ganz kurzen Andeutungen, welche Herr Geheimer Hofrat Gauss3 in der zweiten Abhandlung über die biquadratischen Reste, in den Göttingischen gelehrten Anzeigen und in seiner Jubiläumsschrift darüber gegeben hat, und einigen philosophischen Untersuchungen Herbarts, durchaus keine Vorarbeiten benutzen konnte."
Gegen lectorem benevolum [der Leser sei willkommen - wp] wäre es unhöflich, anders als in Kürze zu bemerken, daß die hier unternommene Bekämpfung des Problems, welchem RIEMANN, HELMHOLTZ und deren Vorgänger nachgesonnen haben, nicht nur sehr wohl vereinbar ist mit größter Hochachtung vor der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Männer, sondern sogar notwendig verbunden mit der Bewunderung, die jedes übermenschliche Beginnen dem gewöhnlichen Sterblichen abnötigt, der vor titanischen Ausschreitungen eben durch das Mittelmaß seiner Kräfte bewahrt bleibt. Es ist das uralte und ewig neu erweckte Verlangen der Fauste aller Zeiten, "die Duplizität der menschlichen Natur", wie SCHILLER es nennt, zu überwinden; in der Opposition gegen "das verunglückte Bestreben, das Göttliche und das Physische im Menschen zu vereinigen", wodurch gleichfalls nach SCHILLER das Wesen von Faust charakterisiert wird, - in dieser Opposition gegen das Übergeniale, sobald es andere Rechte beansprucht als poetische, kann nur Verblendung oder Servilität [knechtische Gesinnung - wp] etwas Ungebührliches erblicken. Und auch darüber glaube ich nicht gründlich werden zu dürfen, daß es viel anmaßlicher wäre, gegen überlegene Intelligenzen Nachsicht üben zu wollen, als wenn man sich gegen ihre Irrtümer so offen und nachdrücklich als irgend möglich zur Wehr setzt; denn auch diese illegitimen Sprößlinge origineller Denker tragen meistens den Stempel ihres Ursprungs, der ihnen "Mark und Nachdruck" gibt zu einer viel größeren Wirksamkeit, als ihren schwächer geborenen Mit-Irrtümern eigen ist. Nur in einer Rücksicht hat HEINE Recht, wenn er unter allen Umständen eine Dummheit darin findet, gegen einen großen Mann zu schreiben, - nämlich in äußerlich praktischer Rücksicht; denn es ist freilich das Gegenteil von Lebensklugheit, und für die Virtuosen der Lebensklugheit kann es freilich keinen kardinaleren Verstoß geben als den, daß man die Rücksicht auf dieses hohe Gut nicht unter allen Umständen zur souveränen Maxime des Verhaltens macht. Nun wohl: ohne Verzicht auf die Segnungen der Religion des äußeren Erfolges sollte man überhaupt nicht Philosophie treiben. Gerechte Götter haben es übrigens ausnahmsweise einmal nicht an Kompensation für diesen Mangel fehlen lassen; denn wenn sich die Lebensklugheit von Fach gelegentlich philosophisch gebärdet, so zeigt sie sich gar leicht unvorteilhaft altklug und legt bei solchem Anlaß noch deutlicher als sonst an den Tag, daß sie ihre wahre Heimat im Philisterium [späteres Berufsleben eines Studenten mit seinen Bindungen und Zwängen - wp] hat - doch davon später, bei Gelegenheit der Betrachtung der in Welt- und Staatsweisheit, also zweifach ausgedehnten Größe LASKERs; hier haben wir zunächst noch auf RIEMANN zu hören, welcher so fortfährt:
    "§ 1. - Größenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begrif vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zuläßt. Je nachdem unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer anderen ein stetiger Übergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder diskrete Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heißen im ersteren Fall Punkte, im letzteren Elemente dieser Mannigfaltigkeit."
Es wird nicht gesagt, ob die Bestimmungsweisen empirischer oder nicht empirischer Art sind. Dem Plan der Untersuchung gemäß dürfen wir zwar erwarten, zunächst an die empirischen Tatsachen gewiesen zu werden, um aus ihnen abstrahierte Bestimmungen zu erhalten, die zur Konstruktion von Begriffen dienen können, welche von empirischer, also, nach RIEMANN, hypothetischer Natur frei sind. Dieser Läuterungsprozeß kann aber nur dann verständlich werden, wenn er uns auch immer die Möglichkeit bietet, den einzelnen Stadien seiner Entwicklung zu folgen. Nun wurden wir durch das Vorangeschickte darüber ins Klare gesetzt, daß an der Bezeichnung ausgedehnte Größe kein Merkmal des räumlich Ausgedehnten als eines sinnliche Wahrnehmbaren haftet. Aus diesem Grund, und weil eben der Ausdruck Bestimmungsweise ganz unbestimmt gelassen ist, weiß man hier nicht, ob das Wort Punkt eine rein begriffliche Bestimmungsweise für eine stetige Mannigfaltigkeit bezeichnen soll, so daß z. B. auch der Zeitpunkt damit benannt werden könnte, oder ob der Ort in einem empirischen Raum damit gemeint ist. Die Zeit eine stetig ausgedehnte Mannigfaltigkeit von einer Dimension zu nennen, ist ganz nach der von RIEMANN gewählten und erklärten Terminologie, und wenn wir es nicht mit einer ad hoc kreierten Sprachbedienung zu tun haben, so muß die Auffassung der Zeit als einer Spezies der einfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit durch dieselben Mittel ermöglicht werden, welche den Raum als ein Beispiel für eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit erweisen.

Der folgende Satz belehrt uns nun allerdings, daß die Bezeichnung Bestimmungsweisen einen empirischen Sinn haben soll, aber gleichzeitig funktioniert auch die Benennung Begriffe für empirisches Inventar; denn es werden "die Orte der Sinnengegenstände und die Farben" einfache Begriffe genannt, und so wissen wir bis jetzt noch nicht, wie die Grenze zwischen den sinnlichen und den gedachten Vorstellungen gezogen wird, und welche von beiden Vorstellungsarten in jedem einzelnen Fall einem mathematisch geformten oder auch einem sprachlich allgemein gehaltenen Ausdruck korrespondieren soll. Erst durch das dann Folgende wird eine Information hierüber erteilt:
    "Begriffe, deren Bestimmungsweisen eine diskrete Mannigfaltigkeit bilden, sind so häufig, daß sich für beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebildeteren Sprachen immer ein Begriff auffinden läßt, unter welchem sie enthalten sind (und die Mathematiker konnten daher in der Lehre von den diskreten Größen unbedenklich von der Forderung ausgehen, gegebene Dinge als gleichartig zu betrachten), dagegen sind die Veranlassungen zur Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, daß die Orte der Sinnengegenstände und die Farben wohl die einzigen einfachen Begriffe sind, deren Bestimmungsweisen eine mehrfache ausgedehnte Mannigfaltigkeit bilden. Häufigere Veranlassung zur Erzeugung und Ausbildung dieser Begriffe findet sich erst in der höheren Mathematik.

    Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene Teile einer Mannigfaltigkeit heißen Quanta. Ihre Vergleichung der Quantität nach geschieht bei den diskreten Größen durch Zählung, bei den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinanderlegen der zu vergleichenden Größen; zum Messen wird also ein Mittel erfordert, die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen."
Die Ausdrücke "Aufeinanderlegen" und "forttragen" zeigen deutlich, daß von einer empirisch räumlichen Bedingung für die stetige Mannigfaltigkeit die Rede ist. Hier also wird diese Bedingung zum ersten Mal formuliert: ihre Erfüllung oder Nichterfüllung ist dafür entscheidend, ob der Gegenstand des Kalküls eine sinnliche oder eine gedachte Vorstellung ist. Wir haben demnach als Merkmal des Anschaulichen: "ein Mittel, die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen".

RIEMANN fährt fort:
    "Fehlt dieses, so kann man zwei Größen nur vergleichen, wenn die eine ein Teil der anderen ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem Fall über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen von Maßbestimmungen unabhängigen Teil der Größenlehre, wo die Größen nicht als unabhängig von der Lage existierend und nicht als durch eine Einheit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet werden."
Welche Bedeutung hat nun hier das Wort Lage? Es drückt eine räumliche Beziehung aus, und dennoch kann hier nicht eine Beziehung gemeint sein, welche unserem Anschauungsraum zukommt; denn von diesem wird ja eben abstrahiert: nur er ist ja das Mittel, von dessen Fehlen hier Konsequenzen angegeben werden - "das Mittel, die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen." Also bleibt nur übrig anzunehmen, daß die Bezeichnung Lage hier auf etwas Räumliches hindeutet, welches nicht mehr zu der uns bekannten Anschauung gehört: es wird bereits ein Raum von mehr als drei Dimensionen damit angedeutet - eine Prolepsis [Vorwegnahme eines Satzteils - wp], die durch das Folgende entschuldigt zu werden scheint, aber durch nichts Vorhergehendes gerechtfertigt ist.
    "Solche Untersuchungen", heißt es weiter, "sind für mehrere Teile der Mathematik, namentlich für die Behandlung der mehrwertigen analytischen Funktionen ein Bedürfnis geworden, und der Mangel derselben ist wohl eine Hauptursache, daß der berühmte Abel'sche Satz und die Leistungen von Lagrange, Pfaff, Jacobi für die allgemeine Theorie der Differentialgleichungen so lange unfruchtbar geblieben sind. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, aus diesem allgemeinen Teil der Lehre von den ausgedehnten Größen, wo weiter nichts vorausgesetzt wird, als was im Begriff derselben schon enthalten ist, zwei Punkte hervorzuheben, wovon der erste die Erzeugung des Begriffs einer mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit, der zweite die Zurückführung der Ortsbestimmungen in einer gegebenen Mannigfaltigkeit auf Quantitätsbestimmungen betrifft und das wesentliche Kennzeichen einer n-fachen Ausdehnung deutlich machen wird."
Hier erhalten wir nun die Bestätigung für die oben gegebene Interpretation von RIEMANNs Klassifizierung der geometrischen Urteile: die Axiome der euklidischen Geometrie sind synthetisch und a posteriori; sie gehören aber nur als eine Spezies zu einem Genus von analytischen Urteilen, welche anderen Geometrien als der euklidischen zugrunde liegen. Ohne diese Interpretation würden zwei von den mitgeteilten Äußerungen unseres Autors unvereinbar sein; denn während er uns zuletzt "die Zurückführung der Ortsbestimmungen in einer gegebenen Mannigfaltigkeit auf Quantitätsbestimmungen" verheißt, hatte er im "Plan der Untersuchung" gesagt,
    "daß diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Größen unterscheidet, nur aus der Erfahrung entnommen werden können."
Und das spezifische Merkmal, dessen Angabe wir oben vermißt hatten, haben wir jetzt kennengelernt: es ist "das Mittel, die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen." Dieses Mittel gewährt nur die Erfahrung, und der Anschauungsraum entsteht also nach RIEMANN auf die Weise, daß der ohne Anschauung gedachte Begriff einer dreifach ausgedehnten Größe mit dem empirischen Merkmal der "Transportierbarkeit", wie es ROSANES kurz bezeichnet, verbunden wird. Es folgt daraus unmittelbar, daß alle Eigenschaften, welche aus dem Faktum der Transportierbarkeit abzuleiten sind, als spezifische Eigentümlichkeiten unseres Anschauungsraumes gelten und weder für andere dreifach ausgedehnte noch für mehr als dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten vorhanden sind.

Da meine Opposition gegen die neue Raumlehre nur an die hier mitgeteilte Grundlegung anknüpft, so halte ich es von nun an nicht mehr für indiziert, die Arbeit RIEMANNs in ihren einzelnen Schritten noch weiter vorzuführen; der Leser ist durch das auslassungsfreie Zitat in den Stand gesetzt, meine Interpretation quellenmäßig zu prüfen.

Das Irrtümliche der RIEMANNschen Deduktion finde ich in der Auffassung und Verwendung des Merkmals der Transportierbarkeit. Durch dieses ausschließlich empirische Merkmal läßt RIEMANN den Anschauungsraum als eine Spezies der dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit entstehen: es wird als eine empirische Bestimmung hinzugetan zu den nicht empirischen Bestimmungen des abstrakten Begriffs der dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit. Die Frage, ob eine solche Synthesis möglich ist, wird nicht diskutiert; es wird stillschweigend vorausgesetzt, daß das Merkmal der Transportierbarkeit rein empirischer Natur ist, d. h., daß es frei ist von allem a priori Begreifbaren, in specie frei von den Begriffsmerkmalen der dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit. Hierin nun finde ich das Willkürliche der Deduktion. Wir erfahren nicht, wie wir der Zumutung genügen können, uns vorzustellen, daß "ein Mittel" da ist, "die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen", wenn nicht erstens "die Größe" räumlich, sinnlich ausgedehnt vorgestellt wird, und wenn wir sie nicht zweitens, eben um sie "fortzutragen", umgeben sollen mit einem dreifach ausgedehnten Etwas, nämlich dem Anschauungsraum. Ebensowenig ist unmittelbar vorher angegeben, welchen Sinn man zu verbinden hat mit dem "Aufeinanderlegen der zu vergleichenden Größen", wenn diese Größen nicht bereits als räumlich ausgedehnte vorgestellt werden sollen, und wenn für das Aufeinanderlegen der dreifach ausgedehnte Anschauungsraum nicht gleichfalls bereits zur Verfügung ist, um die Bewegung zu ermöglichen, ohne welche ein Aufeinanderlegen für die Vorstellung unausführbar wird. Es übersteigt eben die Ausstattung mit menschlicher Beschaffenheit, auch nur zu reden, nachdem man die menschlichen Vorstellungsgrenzen angeblich verlassen hat, ohne entweder allen Sinn der Rede einzubüßen oder durch die eigenen Worte die unerschütterte Festigkeit der Schranken selbst zu demonstrieren, an denen man rütteln möchte. Und vergebens ist es, die Opposition gegen die hier erörterte Willkür damit entkräften zu wollen, daß man, wie es in dem angeführten Aufsatz "Über die Phänomenalität des Raumes" von LIEBMANN geschieht, an den Gebrauch der völlig legitimierten Größe i = √-1 als an ein Analogon des vorliegenden Falls erinnert. Diese Größe ist nur das Analog des vorliegenden Falls erinnert. Diese Größe ist nur das Analogon für die n-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, aber eben nur für das rein Abstrakte und Imaginäre dieses Größenausdrucks, nicht für irgendeine Anwendung desselben auf eine Anschauung. Beide Größenbegriffe sind imaginär, sie verlassen das Gebiet der vollständigen Abstraktion nicht; denn, wie mehrmals erwähnt, bedeutet die n-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit gar nichts anzuschauendes, gar nichts Erfahrenes. Und so würde auch gegen die mathematische Durchführung der bloßen Begriffskonstruktion in der RIEMANN-HELMHOLTZschen Untersuchung nicht das mindeste Bedenken mit logischer Berechtigung erhoben werden können. Aber bei der Begriffskonstruktion bleibt es ja eben hier nicht, sondern, wie wir gesehen haben, wird die Sphäere der Größenbegriffe auf willkürliche Weise vermengt mit der Sphäre der Anschauungen. Wer dieses Beginnen gut heißt, trägt nur dazu bei, die Erkenntnis von den Quellen unseres Wissens zu trüben und sodann im Trüben nach Monstrositäten suchen zu lassen. Statt gegen den "ehrlichen banausischen Philister, genannt common sense" (siehe LIEBMANN, a. a. O., Seite 352) zu kämpfen, wird man vielmehr ein Sekundant für Phantome, mit deren Schaustellung gerade den sinnlosesten Gaffern das willkommenste Tableau bereitet wird. In einem Brief vom 5. Dezember 1794 richtet GOETHE die Anfrage an SCHILLER, ob ihm von einer dort näher bezeichneten "gespenstermäßigen Mystifikationsgeschichte" etwas bekannt sei,
    "und ob vielleicht in irgendeinem Journal das Märchen schon gedruckt ist? Wäre das nicht", fäht er fort, "so lieferte ich sie noch und wir fingen so recht vom Unglaublichen an, welches uns sogleich ein unendliches Zutrauen erwerben würde".
Die Abdankung des common sense ist eben etwas zweideutiger Natur, in ihr allein liegt noch keine Garantie dafür, daß man auf dem Weg zu einer sublimen Einsicht ist. Eine mehr als dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, welche noch Raum wäre, steht auf gleicher Stufe mit einer mehr als einfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit, welche noch Zeit wäre - die nicht-euklidische Geometrie könnte mit derselben szientifischen Befugnis als eine Chronometrie für zeitlose oder vielmehr überzeitige Intellekte figurieren, - jedenfalls hienieden definitiv unzeitgemäße Wissenschaft. Zu Unbegriffen dieser Art gelangen wir unter Anderem, wenn wir das Transzendentale nicht gehörig vom Transzendenten unterscheiden, wie es auch bei LIEBMANN in jenem Aufsatz der Fall ist. Denn promiscue [etwas durcheinander - wp] sagt er (Seite 342, daß KANT "die transzendentalle Realität des Raumes" leugnet, und (Seite 346) daß die optischen Phänomene nicht von "transzendentaler Realität" sind; zwei Seiten später begegnen wir dann der Frage: "Kommt diesem reinen Raum etwa transzendentale Realität zu?" Und ebenso wird (Seite 356) "ein Versuch erwähnt, gegen Kant die absolute oder transzendente Realität des Raums von drei Dimensionen ... zu erweisen", so daß wir die Wiederholung des Fehlers auf Seite 358 nicht mehr neu finden, sondern vielmehr freudig überrascht werden, wenn derselbe Autor in einem späteren Aufsatz "Über relative und absolute Bewegung" (Philosophische Monatshefte, Bd. VIII, 3. Heft) zu uns spricht (Seite 117): "Aber aus der transzendentalenn Geltung folgt bekanntlich keineswegs transzendente Realität." Sehr wahr; sie kann ebensowenig daraus folgen wie ein Sideroxylon [Waldbaum auf Mauritius - wp] aus dem physikalischen Begriff Masse. Hören wir eine der vielen Bekräftigungen des LIEBMANNschen letzten Satzes durch KANT.
    "Mein Platz ist das fruchtbare Bathos [Gegenüberstellung eines höheren Wertes zu einem niedrigeren - wp] der Erfahrung, und das Wort, transzendental, dessen so vielfältig von mir angezeigte Bedeutung vom Rezensenten nicht einmal gefaßt wurde (so tüchtig hat er alles angesehen), bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern, was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Wenn diese Begriffe die Erfahrung überschreiten, dann heißt ihr Gebrauch transzendent, welcher von dem immanenten, d. h. auf Erfahrung eingeschränkten Gebrauch unterschieden wird." (III, 153)
Somit hat es nach KANT gar keinen Sinn, von einem transzendenten Raum von drei Dimensionen zu reden; denn der Begriff eines dreidimensionalen Raums überschreitet die Erfahrung nicht; von KANT geleugnet und bekämpft wird eben deshalb auch niemals die transzendente, sondern immer die transzendentale Realität des Raumes, d. h. die Annahme, daß die Bedingungen für ein dreifaches Nebeneinander auch ohne unsere Anschauungsart erfüllt werden. Und ebenso hat es nach KANT keinen Sinn, von einem Raum mit mehr als drei Dimensionen als von Etwas Möglichem zu reden; denn dies wäre eben ein transzendenter, ein zu perhorreszierender [abzulehnender - wp] Gebrauch des nur zum Erfahrungsgebrauch bestimmten transzendental-idealen Raumes.

Da die Folgen von der Adoptierung der besprochenen Willkür in LIEBMANNs Referat an einigen Stellen noch deutlicher als bei RIEMANN und HELMHOLTZ ersichtlich sind, so verweilen wir noch etwas beim Referenten. Die Vermischung von Denken und Anschauen ist bei ihm eine so innige, wie wir sie nur bei völlig naiven Naturalisten anzutreffen gewöhnt sind, von denen wir wohl gelegentlich zu hören bekommen, daß sie "denken", dort etwas Buntes oder etwas Sechseckiges zu sehen, während sie die Augen auf das Objekt ihrer Wahrnehmung richten. So spricht LIEBMANN ohne Weiteres davon (Seite 350), daß es
    "durch Generalisation der eben entwickelten Begriffe klar" ist, "daß erstens ein Raum gedacht werden kann, in welchem überall dasselbe Krümmungsmaß herrscht";
wer nun hierzu Ja sagt, der ist bereits für alle kommenden Abenteuer gewonnen, vorausgesetzt nämlich, daß er konsequent bleibt. Denn freilich, wer sich einreden läßt, daß er etwas Räumliches denken kann, der geht willig mit auf das Glatteis, ohne welches man in die Transzendenz nicht einbrechen kann. Für geübte Ignoranten sprachlicher Präzision liegt das Verführerische in der fehlerhaften Ausdrucksweise, welche in der Praxis des gemeinen Lebens nicht ohne Pedanterie zu urgieren [mit Nachdruck untersuchen - wp] sein mag, gegen die aber absolute Intoleranz geboten ist bei einem philosophischen Gegner des common sense, der uns in dieser Eigenschaft unter Umständen höchst preiswürdig sein kann, nicht aber als Streiter für Wahngebilde, weit leerer als ein raumerfülltes Vakuum. Etwas Räumliches denken zu sollen, klingt beim ersten Anhören nur deshalb nicht wie eine sinnwidrige Zumutung, weil Denken eine geistige Tätigkeit bezeichnet, und weil es sehr wohl möglich ist, durch ein inneres, psychisches Tun etwas zu vergegenwärtigen, was räumlich ist. Diese Vergegenwärtigung ist eine Vorstellung, aber mit dieser Vorstellung zugleich gegeben ist das Sinnliche, das schlechterdings nur in Bezug auf unmittelbare Empfindungen Vorhandene, nichts Anderes. Nun kann man sich aber auch solche Vorstellungen vergegenwärtigen, welche keine unmittelbar zum Bewußtsein kommende Beziehung auf Empfindungen haben, z. B. die Vorstellungen Ursache, Gerechtigkeit, und Vorstellungen dieser art allein heißen gedachte Vorstellungen oder Begriffe, im Gegensatz zu jenen ersten, den anschaulichen Vorstellungen. Die Verwandlung einer dieser beiden Vorstellungsarten in die andere ist ebensowenig möglich wie die Verwandlung einer Geruchsempfindung in eine Gesichtsempfindung: es sind eben wie diese zwei spezifisch verschiedene Energien, zwei Qualitäten des Vorstellungsvermögens. Daher ist es nicht richtig, daß, wie LIEBMANN sagt, die analytische Geometrie "in der Kunst besteht, räumliche Örter und Gestalten durch algebraische Formeln auszudrücken" (a. a. O., Seite 351). Denn nicht die Örter und Gestalten mit allen ihren Merkmalen, durch deren Gesamtheit sie eben Örter und Gestalten sind, werden algebraisch ausgedrückt, sondern nur der Teil von den Merkmalkomplexen, durch welchen sie eine Relation zu Zahlengrößen ermöglichen als zu gleichartigen Teilvorstellungen. LIEBMANN sagt (Seite 351):
    "Ein Punkt im Raum wird, wie bekannt, von der analytischen Geometrie vollkommen eindeutig durch drei Koordinaten bestimmt. Kennt man die Längen dreier Perpendikel x, y, z, welche von einem Punkt aus auf drei sich rechtwinklig schneidende Koordinatenebenen gefällt sind, so ist die Lage des Punktes im Raum vollständig determiniert."
Keineswegs vollständig; viellmehr ist die Lage des Punktes nur in Bezug auf die drei Perpendikel determiniert, und deren Lage ist wiederum nur durch andere räumliche Relationen determinierbar; vollständig wird die Bestimmung der Lage in letzter Instanz immer erst durch die unmittelbar demonstrierte sinnliche Anschauung. Den Raum als eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit zu definieren, ist unter allen Umständen berechtigt, das Wort "ausgedehnt" mag dabei die ursprüngliche oder die übertragene Bedeutung haben. Im letzten Fall wird der mit der Definition gegebene Begriff generalisierbar; denn er enthält dann nichts Anschauliches mehr, und die logische Denkbarkeit legitimiert ihn ebenso wie den Begriff √-1; gegen die "ganz gescheiten Leute" also, von denen LIEBMANN sagt, daß er sie kennt, und daß sie "sogar die logische Denkbarkeit" der n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit "bestreiten", - gegen diese verlangt die Logik das Bündnis mit ihm; aber er fährt fort: "um wie viel mehr die reale Möglichkeit eines solchen Raums", welche Möglichkeit jene bestreiten, während LIEBMANN sie einzusehen behauptet, und dazu muß dann angemerkt werden, daß der Zusatz "um wie viel mehr" durch die Sache selbst nicht im Mindesten motiviert wird; denn eine mehr als dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit ist eo ipso [schlechthin - wp] niemals Raum. LIEBMANN fährt fort (Seite 353):
    "Diesen Zweiflern gegenüber sei wiederholt hervorgehoben, daß die reine analytische Untersuchungsweise, aus der dieser Begriff resultiert, gar nicht mehr an unserer anschaulichen Vorstellungsweise haftet, obwohl sie zu ihren abstrakten Begriffsentwicklungen nur unter Voraussetzung der Intuition gelangen kann; sie operiert, einmal von der Anschauung emanzipiert, nur noch mit abstrakten Größenbegriffen und hat die Fesseln der konkreten Laienvorstellung von sich abgestreift."
Hiernach könnte es den Anschein gewinnen, daß die von der Opposition gleichfalls wiederholte Forderung, Begriff und Anschauung stets auseinander zu halten, auch für den n-fach ausgedehnten Raum von seinen Fürsprechern erfüllt wird. Vielleicht ist also die Willkür, gegen welche wir uns auflehnen, auf unserer Seite, und zwar in der Caprice [Laune - wp], daß wir ein starrköpfiges Veto einlegen, wenn das Wort Raum in übertragener Bedeutung gebraucht werden soll, während wir, partiell aufgeklärt, Nichts dagegen haben, daß das Wort "ausgedehnt" nicht nur für anschauliche, sondern auch für abstrakt begriffliche Bestimmungen verwendet wird. Vielleicht also soll es nicht nur geschehen können, sondern vielleicht ist es auch bei der in Rede stehenden metamathematischen Produktion tatsächlich der Fall, daß der Raum mit mehr als dreifacher Ausdehnung nur ebenso eine Mannigfaltigkeit in abstracto bezeichnet, wie "n-fach ausgedehnt" nur bedeutet: n-facher Kontinuität fähig, n-fach stetig. Dann wäre freilich unsere Opposition eine mißverständliche, der ganze Streit ein Wortstreit. Aus folgendem Grund ist dies zu verneinen:

Nachdem RIEMANN in ersten Teil seiner Arbeit den Begriff einer mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit definiert und im § 3 gezeigt hat, wodurch von ihm
    "die Ortsbestimmung in der gegebenen Mannigfaltigkeit zurückgeführt wird auf eine Größenbestimmung und auf eine Ortsbestimmung in einer minderfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit";
nachdem er ferner im zweiten Teil die "Maßverhältnisse" untersucht hat,
    "deren eine Mannigfaltigkeit von n-Dimensionen fähig ist, unter der Voraussetzung, daß die Linien unabhängig von der Lage eine Länge besitzen, also jede Linie durch jede meßbar ist",
so gibt er im dritten Teil die "Anwendung auf den Raum". Der § 2 enthält die höchst scharfsinnige Konsequenz, welche ich zu meinen Gunsten anführe, - denn, obgleich eine Frucht originellen Denkens, bleibt sie selbst doch nur ein Gelehrtenwitz ohne Fruchtbarkeit - und aus demselben Grund wie vorhin teile ich diesen Paragraphen wiederum in extenso mit. Er lautet:
    "Im Laufe der bisherigen Betrachtungen wurden zunächst die Ausdehnungs- oder Gebietsverhältnisse von den Maßverhältnissen gesondert, und gefunden, daß bei denselben Ausdehnungsverhältnissen verschiedene Maßverhältnisse denkbar sind; es wurden dann die Systeme einfacher Maßbestimmungen aufgesucht, durch welche die Maßverhältnisse des Raumes völlig bestimmt sind und von welchen alle Sätze über dieselben eine notwendige Folge sind; es bleibt nun die Frage zu erörtern, wie, in welchem Grad und in welchem Umfang diese Voraussetzungen durch die Erfahrung verbürgt werden. In dieser Beziehung findet zwischen den bloßen Ausdehnungsverhältnissen und den Maßverhältnissen eine wesentliche Verschiedenheit statt, insofern bei ersteren, wo die möglichen Fälle eine diskrete Mannigfaltigkeit bilden, die Aussagen der Erfahrung zwar nie völlig gewiß, aber nicht ungenau sind, während bei den letzteren, wo die möglichen Fälle eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, jede Bestimmung aus der Erfahrung immer ungenau bleibt - es mag die Wahrscheinlichkeit, daß sie nahe richtig ist, noch so groß sein. Dieser Umstand wird wichtig bei der Ausdehnung dieser empirischen Bestimmungen über die Grenzen der Beobachtung ins Unmeßbargroße und Unmeßbarkleine; denn die letzteren können offenbar jenseits der Grenzen der Beobachtung immer ungenauer werden, die ersteren aber nicht.

    "Bei der Ausdehnung der Raumkonstruktionen ins Unermeßbargroße ist Unbegrenztheit und Unendlichkeit zu scheiden; jene gehört zu den Ausdehnungsverhältnissen, diese zu den Maßverhältnissen. Daß der Raum eine unbegrenzte dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit ist, ist eine Voraussetzung, welche bei jeder Auffassung der Außenwelt angewandt wird, nach welcher in jedem Augenblick das Gebiet der wirklichen Wahrnehmungen ergänzt und die möglichen Orte eines gesuchten Gegenstandes konstruiert werden und welche sich bei diesen Anwendungen fortwährend bestätigt. Die Unbegrenztheit des Raumes besitzt daher eine größere empirische Gewißheit, als irgendeine äußere Erfahrung. Hieraus folgt aber die Unendlichkeit keineswegs; vielmehr würde der Raum, wenn man die Unabhängigkeit der Körper vom Ort voraussetzt, ihm also ein konstantes Krümmungsmaß zuschreibt, notwendig endlich sein, sobald dieses Krümmungsmaß einen noch so kleinen positiven Wert hätte. Man würde, wenn man die in einem Flächenelement liegenden Anfangsrichtungen zu kürzesten Linien verlängert, eine unbegrenzte Fläche mit konstantem positiven Krümmungsmaß, also eine Fläche erhalten, welche in einer ebenen dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit die Gestalt einer Kugelfläche annehmen würde und welche folglich endlich ist."
In der "Übersicht", welche der Arbeit beigefügt ist, wird dieser Paragraph durch folgende Frage bezeichnet:
    "Inwieweit ist die Gültigkeit dieser empirischen Bestimmungen wahrscheinlich jenseits der Grenzen der Beobachtung im Unmeßbargroßen?"
Zur Erläuterung der Distinktion [Unterscheidung - wp] zwischen Unbegrenztheit und Unendlichkeit ist die Vorstellung der Kugeloberfläche sehr dienlich, von welcher auch die Bearbeitung des ganzen Problems die wesentlichsten Anwendungen macht: mit jeder vorstellbaren Kugeloberfläche ist ebenso unmittelbar die räumliche Endlichkeit gegeben, wie es zu ihrem Wesen gehört, daß sie in sich ohne Grenze ist. Diese beiden Eigenschaften werden nun von RIEMANN auf die dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit des Anschauungsraumes übertragen; die Unbegrenztheit, eine ausschließlich sinnliche Vorstellung, lediglich erworben durch Anschauungen, wie sie die Kugel oder der Umfang eines Kreises gewähren, wird zu einem rein begrifflichen Merkmal intellektuiert und einer ausschließlich abstrakten Vorstellung beigelegt. Die Konsequenz davon ist, daß die durch jede Erfahrung bestätigte Unbegrenztheit des Anschauungsraums kein zuverlässiger Bürge mehr ist für seine Unendlichkeit. Die Unbegrenztheit ist nämlich die Bedingung für die empirische Transportierbarkeit jedes Körpers, oder, um mit RIEMANNs Worten zu reden, dafür, daß man "wie Euklid nicht bloß eine von der Lage unabhängige Existenz der Linien, sondern auch der Körper voraussetzt", woraus dann folgt,
    "daß das Krümmungsmaß allenthalben konstant ist, und es ist dann in allen Dreiecken die Winkelsumme bestimmt, wenn sie in einem bestimmt ist." (a. a. O., Seite 14, 15)
Bleibt dieses Krümmungsmaß konstant = 0, so ist der Raum sowohl unbegrenzt als auch unendlich, wird aber das Krümmungsmaß konstant gleich einer noch so kleinen positiven Größe, so ist der Raum nur unbegrenzt, aber endlich.

Die Unbegrenztheit hat nach RIEMANN keine andere als empirische Gewißheit, als solche ist sie nach dem, was im "Plan der Untersuchung" darüber gesagt wird, nur eine Hypothese, keine Notwendigkeit. Deshalb eben ist ja der Parallelensatz nur für unseren Erfahrungsraum gültig, folglich die euklidische Geometrie eine Erfahrungswissenschaft. Demnach sollen wir es als ein Resultat der ganzen Untersuchung auffassen, daß die Möglichkeit konstatiert ist, den Anschauungsraum mit drei Dimensionen für eine endliche Größe zu halten.

Bis dahin ist die logische Konsequenz von der Umschaffung der sinnlichen Vorstellung "Unbegrenztheit" in eine abstrakte Vorstellung vollkommen. Die Erhebung in den Begriffsstand aus dem niedrigen Sinnesstand bleibt freilich ein bloß autoritatives Dekret ohne alle Motivierung. Nun aber tritt ein neuer, bisher geheim gehaltender Machtspruch in Wirksamkeit: wir sollen den Anschauungsraum aufhören lassen, ohne jedoch die Welt, welche jenseiits von ihm beginnt, mit den sinnlich-räumlichen Merkmalen zu behaften, die mit dem uns empirisch bekannten Raum überall da sind, und ohne doch auf alle Aussagen über jene andere Welt zu verzichten. Nun, wenn wir diesem Ansinnen sollen entsprechen können, so muß uns gezeigt werden, daß von den Merkmalen des dreidimensionalen Raums mit dem konstanten Krümmungsmaß = 0 alles Empirische zurückgelassen wird. Dies ist mit dem Merkmal der Unbegrenztheit in stummer Vergewaltigung geschehen, es ist ferner unter Angabe von denkgesetzmäßigen Gründen geschehen mit der dreifachen Mannigfaltigkeit der stetigen Ausdehnung. Aber es ist nicht geschehen und unterbleibt bis zuletzt mit derjenigen Anschauungsvorstellung, welche durch den Ausdruck "Lage" bezeichnet wird, sowie durch alle Ausdrücke, deren Sinn ganz verloren geht, sobald sie nicht mehr für sinnlich-räumliche Relationen gelten sollen, während nämlich die Möglichkeit, daß sie in poetischer Absicht gebraucht werden, durch die Natur des Gegenstandes ausgeschlossen ist. Im § 4 des zweiten Teils heißt es bei RIEMANN:
    "Die Mannigfaltigkeiten, deren Krümmungsmaß überall = 0 ist, lassen sich betrachten als ein besonderer Fall derjenigen Mannigfaltigkeiten, deren Krümmungsmaß allenthalben konstant ist. Der gemeinsame Charakter dieser Mannigfaltigkeiten, deren Krümmungsmaß konstant ist, kann auch so ausgedrückt werden, daß sich die Figuren in ihnen ohne Dehnung bewegen lassen. Denn offenbar würden die Figuren in ihnen nicht beliebig verschiebbar und drehbar sein können, wenn nich in jedem Punkt in allen Richtungen das Krümmungsmaß dasselbe wäre."
Die dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten, von denen der empirische Raum eine Spezies ist, haben demnach zum gemeinsamen Merkmal, daß Figuren, die in ihnen vorkommen, unabhängig von der Lage sind: sie müssen sich ohne Dehnung bewegen lasen, sie müssen beliebig verschiebbar und drehbar sein; hierin besteht eben die besondere Übereinstimmung mit der Kugeloberfläche, innerhalb welcher gleichfalls jedes beliebig begrenzte Stück transportierbar ist, ohne daß Formveränderungen durch den Transport verursacht werden. Beginnt also am Ende der Welt, welche unserer Beobachtung zugänglich ist, eine andere dreifache Mannigfaltigkeit mit konstantem Krümmungsmaß, so können wir auch diese Welt nicht "denken", nach LIEBMANNs Terminologie, ohne zugleich Lagenverhältnisse mitzudenken, d. h. ohne ihr die sinnlich-räumliche Vorstellbarkeit zu vindizieren [beizumessen - wp], sie ist und bleibt ein Anschauungsraum, wenn auch die zu seiner Perzeption erforderlichen Organismen eine andere Struktur haben müßten als die menschliche. Und wenn das mathematisch ausgeklügelte Jenseits eine drei- oder mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit mit einem nicht konstanten Krümmungsmaß ist, so hat es nach der Vorschrift seiner Schöpfer gleichwohl eine Daseinsform, in welcher Figuren nicht mehr unabhängig sind von ihrer Lage, sondern die bei Bewegungsversuchen einem Schicksal unterworfen sind, analog demjenigen, das ein Stück von der Oberfläche eines Ellipsoids erfährt, wenn es auf einer Kugeloberfläche soll abgewickelt werden, bei welcher Operation komplizierte Dehnungen und Formveränderungen anderer Art unvermeidlich sind. Die n-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit ist also, sobald wir sie mit irgendeinem Krümmungsmaß ausstatten, definitiv nicht "von der Anschauung emanzipiert", sie hat nicht "die Fesseln der konkreten Lagenvorstellung von sich abgestreift". Wer einem Begriff irgendein Krümmungsmaß okroyieren [aufnötigen - wp] will, ohne ihn seiner abstrakten Natur dabei zu berauben, der unternimmt damit die Beugung eines Rechts von naturgesetzlicher Sanktion: das Anrecht der sinnlichen Natur des Menschen auf ihre eigene, ganz intransportable Heimat. Und somit behaupten wir nicht als Zweifler, sondern mit derselben Zuversicht, wie LIEBMANN sie für das Gegenteil an den Tag legt: es entbehrt tatsächlich der Begründung, daß es andere Lagenvorstellungen geben könnte als konkrete; ein nicht anschaulicher Raum ist eben ein Un-Raum, ein sehr wenig fragwürdiges Unding, vorausgesetzt nämlich, daß wir menschliche Zeit für ein zu kostbares Ding halten, um es bei der Verwertung von Übermenschlichkeiten für die Erweiterung menschlicher Erkenntnis zu verbrauchen.
    "Wir können", spricht Kant (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 27), "von den Anschauungen anderer denkender Wesen gar nicht urteilen, ob sie an dieselben Bedingungen gebunden sind, welche unsere Anschauung einschränkten und vor uns allgemein gültig sind."
Eben deshalb aber wollen wir auch nicht so tun, als könnten wir dennoch unsere eigene Anschauung zum Schwungbrett für einen Sprung in eine andere Welt als die unsrige gebrauchen; denn ein Schwungbrett muß aus einem elastischen Körper gefertigt sein und nicht aus eine Substanz von so zäher Klebrigkeit, daß sie unsere Schwungorgane an sich festhält und uns nur vergebliche Bewegungen ausführen, aber niemals fortspringen läßt, solange wir die Berührung mit ihr noch irgendwie gewahr werden können.

Es liegt hier nahe, eines Mißverständnisses zu gedenken, welches gegenüber dem kantischen Ding-ansich seit FRIEDRICH HEINRICH JACOBI (1787) und G. E. SCHULZE (1792) immer wieder reproduziert ist, und zwar nicht nur von HARTMANN, sondern auch von vorsichtigeren Denkern wie z. B. SCHOPENHAUER (krikan), ÜBERWEG, F. A. LANGE. Der immer nur der Form nach variierte Einwand ist der, daß KANT mit Hilfe des reinen Verstandesbegriffs Kausalität das Dasein eines Dings-ansich jenseits der Erscheinungswelt behauptet, oder, wie Einige willkürlich sagen "beweist", während doch nach seiner Lehre die Kausalität selbst als eine seiner Kategorien nur für den Bereich möglicher Erfahrung, nämlich für unsere Erscheinungswelt und nicht darüber hinaus Geltung haben soll. Von diesem Einwand sagt ÜBERWEG in seiner Schrift "De priore et posteriore forma Kantianae critices rationis purae" (Berlin 1862):
    "Exstat haec apud Kantium repugnantia, evertit ejus philosophiae fundamenta, tollit universum, systema; sed aeque exstat in utraque libri illius editione."
    [Dieser Widerspruch besteht bei Kant, er stellt die Grundlagen seiner Philosophie um, er beseitigt das Universum, das System; aber es existiert gleichermaßen in beiden Ausgaben dieses Buches. - wp]
Und ebenso LANGE (Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1866, Seite 267):
    "Gegen diesen Vorwurf ist keine direkte Abwehr möglich. Er zerschmettert in der Tat den Panzer des Systems vollständig; an dem ist nichts mehr zu halten.
"Ich meine nun, es könne Jemandem, der diesem Vorum zustimmt, nahe liegen, eine Inkonsequenz darin zu finden, wenn, wie es hier geschieht, ein ähnlich klingender Einwurf gegen RIEMANN und seinen Herold LIEBMANN erhoben wird, nachdem vorher die Annahme des kantischen Ding-ansich als berechtigt zugestanden war. Ich bekenne daher zunächst, daß ich in der Tat längere Zeit den angeführten Vorwurf gegen KANT plausibel gefunden habe, daß ich haber der brieflichen Besprechung des Gegenstandes durch Herrn Dr. EMIL ARNOLDT in Königsberg in Preußen den Dank für ein genaueres Verständnis schuldig geworden bin. Die für meine Überzeugung entscheidenden Worte ARNOLDTs sind folgende.
    "Kant hat nach meiner Auffassung niemals das Dasein des Dings-ansich beweisen wollen. Kant beweis nur, daß unsere Anschauungsgegenstände Erscheinungen sind, nicht Dinge-ansich, d. h. bloße Vorstellungen. Der Unterschied von Erscheinungen und Dingen-ansich ist selbst unsere Vorstellung. Wir sind an den Unterschied von Ding-ansich und Erscheinung, Sein und Denken gebunden. Ob dieser Unterschied ein realer ist, und, wenn ein solcher, was für einer der Wahrheit nach, können wir nicht wissen.

    "Wir haben nur keinen Grund, zu behaupten, daß unser Vorstellen und unser Sein, was identisch ist, die einzige Art ist, in welcher alle Wesen bei ihrem, sozusagen Sein und Vorstellen sich verhalten. Bei kann etwas durchaus Verschiedenes an die Stelle unseres Vorstellens und Seins getreten sein und treten. Wenn Kant nun von Dingen-ansich redet, so will er, meine ich, damit ausdrücken:
      1) nach der obigen Betrachtung nach hat niemand Grund, das Dasein von Etwas außerhalb unserer Vorstellungen zu leugen;

      2) ich nehme Dinge-ansich an als suppositio relativa [abhängige Annahme - wp], nicht absoluta, bloß um Etwas zu haben, was der Sinnlichkeit als Rezeptivität korrespondiert; ein solches Korrespondierendes brauche ich wegen meiner Gebundenheit an den Unterschied zwischen Erscheinung und Etwas, das nicht Erscheinung ist. Es ist möglich, daß diese Gebundenheit gar keine Bezeichnung, Charakterisierung eines realen Sachverhaltes ist;

      3) mein (Kants) Idealismus ist ein anderer als der von Cartesius und Berkeley. Ich will bei all meinem Idealismus Realist sein, d. h. gern einräumen, daß es Dinge unabhängig von unserem Vorstellen geben mag. Wenn wir sie relativ annehmen, so haben wir einen unbekannten Grund, den wir setzen können als das, was nicht nach dem Gesetz der Kausalität, sondern auf unerforschliche Weise in unserer Rezeptivität zum Erreger wird von einem Etwas, aus dem wir Empfindungen und Wahrnehmungen unserer Rezeptivitätsorganisation gemäß bereiten. Also ist mein Idealismus von ganz eigener Art."
Ebenso richtig gedacht, wenn auch weniger gründlich entwickelt, ist folgende Interpretation desselben Begriffs, welche freilich von einem wenig zunftgemäßen Philosophen herrührt. HEINRICH HEINE ist es, der im "Salon" folgendermaßen doziert:
    "... so hat Kant die Dinge, insofern sie erscheinen, Phänomena, und die Dinge an und für sich Noumena genannt. Nur von den Dingen als Phänomena können wir etwas wissen, nichts aber können wir von den Dingen wissen als Noumena. Letztere sind nur problematisch, wir können weder sagen, sie existieren, noch: sie existieren nicht. Ja, das Wort Noumena ist nur dem Wort Phänomena nebengesetzt, um von den Dingen, insoweit sie uns erkennbar sind, sprechen zu können, ohne in unserem Urteil die Dinge, die uns nicht erkennbar sind, zu berühren.

    Kant hat also nicht, wie manche Lehrer, die ich nicht nennen will, die Dinge unterschieden in Phänomena und Noumena, in Dinge, welche für uns existieren und in Dinge, welche für uns nicht existieren. Dieses wäre ein irischer Bulle in der Philosophie. Er hat nur einen Grenzbegriff geben wollen."
In diesem Sinn, welcher, wie ich nunmehr überzeugt bin, der kantischen Auffassung allein gerecht wird, habe ich oben das Ding-ansich eine Schranke menschlicher Erkenntnis genannt, welche ebensowenig zu übersteigen ist, als sie ignoriert werden kann; es ist eben ein bloßer "Grenzbegriff", zugleich gegeben mit der Kausalität als einer Existenzbedingung unseres Denkens und von keiner anderen Geltung für die Erkenntnis des Absoluten als die Existenzbedingung selbst. Das Ding-ansich, so wie es KANT charakterisiert, daß wir nämlich Nichts von ihm erkennen können, sondern daß wir nur sein Dasein als ein Jenseits der Erscheinungen denken können und müssen - dieses Ding-ansich gehört also nach KANT selbst gleichfalls zum Inventar unseres menschlichen Auffassungsvermögens und beansprucht die reale Zugehörigkeit zu einer anderen Welt als zu der des menschlichen Vorstellungsgebietes nur insofern, als die Welt der Erscheinungen durch sich selbst einen unvermeidlichen Hinweis erteilt auf eine nicht erfahrbare Welt, welche ihr Korrelat ist.

In der "Kritik der reinen Vernunft" sprechen besonders deutlich für die Richtigkeit dieser Auffassung die zwei letzten, hier durch gesperrten Druck markierten Sätze in folgender Stelle (erste Auflage 1781, Seite 108 und 109):
    "Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge-ansich, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann, und daher der nichtempirische, d. h. transzendentale Gegenstand = x genannt werden mag.

    Der reine Begriff von diesem transzendentalen Gegenstand (der wirklich bei allen unseren Erkenntnissen immer einerlei = x ist), ist das, was in allen unseren empirischen Begriffen überhaupt eine Beziehung auf einen Gegenstand, d. h. objektive Realität verschaffen kann. Dieser Begriff kann nun gar keine bestimmte Anschauung enthalten, und wird also nichts anderes, als diejenige Einheit betreffen, die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muß, sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht. Diese Beziehung aber ist nichts anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins, folglich auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch die gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden."
Von den transzendenten Undingen der mit Krümmungsmaßen begabten Dreifaltigkeiten sowie von jeder anderen n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit mit und ohne Krümmungsmaß unterscheidet sich daher das Ding-ansich sehr wesentlich dadurch, daß es ein durchaus leerer Begriff ist und sein will, während jene krummen Begriffe nicht leer sein wollen, sondern aufgrund des ihnen mitgegebenen Signalelements von allgemeinen und besonderen Merkmalen mit dem Anspruch auftreten, unsere Erkenntnis "durch das reine Denken zu vermehren", von welchem Anspruch wir die kantische Philosophie in rühmender Weise durch HELMHOLTZ haben freisprechen hören. Die Anerkennung dieses Vorzugs beruth auf derselben Einsicht wieder folgende, wohl aus derselben Quelle geschöpfte und jedenfalls, wie bekannt, durch sie genährte Gedanke SCHILLERs:
    "Die Philosophie erscheint immer lächerlich, wenn sie aus eigenem Mittel, ohne ihre Abhängigkeit von der Erfahrung zu gestehen, das Wissen erweitern und der Welt Gesetze geben will."
Im Jahre 1795, als diese Worte geschrieben wurden, fiel es vermutlich Niemandem ein, daran zu denken, daß eine solche Äußerung auch durch andere Wissenschaften könnte veranlaßt werden als durch die Philosophie, vorausgesetzt natürlich, daß der dogmatische Teil der Theologie sowie Astrologie und ähnliche Pseudo-Wissenschaften nicht auch zu den Erkenntnisgebieten gezählt werden sollen. Und so mag wohl SCHILLER gleichfalls am Allerwenigsten an Mathematiker gedacht haben, als er (1796) schrieb: "Nur die Philosophie kann das Philosophieren unschädlich machen; ohne sie führt es unausbleiblich zum Mystizismus."

Aber unser Jahrhundert ist bekanntlich n-fach mannigfaltig fortgeschritten, und es ist an der Zeit, zu den SCHILLERschen Resulutionen das Amendment [Zusatz - wp] zu stellen: die Mathematik darf gleichfalls nicht versuchen, ohne Philosophie zu philosophieren, wie sie es bei der Behandlung der Raumfrage offen und explizit durch RIEMANN und in mehr implizierter Weise durch HELMHOLTZ tut. Und die Mathematik darf gleichfalls nicht aus eigenem Mittel das Wissen von irgendeinem Jenseits der Erfahrungswelt erweitern wollen, ja, sie noch weniger als die Philosophie; denn ihr stehen für Absurditäten Vehikel zu Gebote, welche weniger dem Mißbrauch ausgesetzt sind als die gewöhnliche Sprache, und die daher durch ihren größeren Schein von Solidität einen Vorteil voraus haben vor der mehr ins Gehör fallenden Abenteuerlichkeit verfehlter Philosophenspekulationen. Auch für die Mathematik "est quaedam etiam nesciendi ars et scientia [Es gibt auch eine Kunst, bzw. Wissenschaft des Nichtwissens. - wp], nicht bloß für Fachgenossen von GOTTFRIED HERMANN.

Zur Erläuterung dessen, was nach KANT ein leerer Begriff ist, führe ich noch die folgenden Stellen aus der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" an. Sie geben zugleich die Motivierung dafür, daß es kein Widerspruch ist, den leeren Begriff des Dings-ansich für berechtigt zu halten, während man den Begriff der n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit ablehnt, sobald er durch die Bereicherung mit dem eo ipso sinnlichen Merkmal eines Krümmungsmaßes aufgehört hat, Begriff zu sein. Die kantischen Sätze lauten (Kr. d. r. V., zweite Auflage 1787, Seite 146f):
    "§ 22: Die Kategorie hat keinen anderen Gebrauch zur Erkenntnis der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung.

    Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei. Zur Erkenntnis gehören nämlich zwei Stücke: erstens der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn, könnte dem Begriff eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgendeinem Ding möglich, weil es, so viel ich wüßte, nichts gäbe, noch geben könnte, worauf mein Gedanke angewandt werden könnte. Nun ist alle uns mögliche Anschauung sinnlich (Ästhetik), also kann das Denken eines Gegenstandes überhaupt durch einen reinen Verstandesbegriff bei uns nur Erkenntnis werden, sofern dieser auf Gegenstände der Sinne bezogen wir. Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zeit) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als wirklich, durch Empfindung, vorgestellt wird. Durch die Bestimmung des ersteren können wir Erkenntnisse a priori von Gegenständen (in der Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nach, als Erscheinungen; ob es Dinge geben könnte, die in dieser Form angeschaut werden müssen, bleibt doch dabei noch unausgemacht. Folglich sind alle mathematischen Begriffe für sich nicht Erkenntnisse; außer, sofern man voraussetzt, daß es Dinge gibt, die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen. Dinge im Raum und der Zeit werden aber nur gegeben, sofern sie Wahrnehmungen (mit Empfindung begleitete Vorstellungen) sind, folglich durch empirische Vorstellung. Folglich verschaffen die reinen Verstandesbegriffe, selbst wenn sie auf Anschauungen a priori (wie in der Mathematik) angewandt werden, nur sofern Erkenntnis, als diese, folglich auch die Verstandesbegriffe mittels ihrer, auf empirische Anschauungen angewandt werden können. Folglich liefern uns die Kategorien mittels der Anschauung auf keine Erkenntnis von Dingen, als nur durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Anschauung, d. h. sie dienen nur zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis. Diese aber heißt Erfahrung. Folglich haben die Kategorien keinen anderen Gebrauch zur Erkenntnis der Dinge, als nur sofern diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden.

    § 23: Der obige Satz ist von der größen Wichtigkeit; denn er bestimmt ebensowohl die Grenzen des Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe in Anbetracht der Gegenstände, als die transzendentale Ästhetik die Grenzen des Gebrauchs der reinen Form unserer sinnlichen Anschauung bestimmt hat. Raum und Zeit gelten, als Bedingungen der Möglichkeit, wie uns Gegenstände gegeben werden können, nicht weiter, als für Gegenstände der Sinne, folglich nur der Erfahrung. Über diese Grenzen hinaus stellen sie gar nichts vor; denn sie sind nur in den Sinnen und haben außer ihnen keine Wirklichkeit. Die reinen Verstandesbegriffe sind von dieser Einschränkung frei, und erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist. Diese weitere Ausdehnung der Begriffe über unsere sinnliche Anschauung hinaus, hilft uns aber zu nichts. Denn es sind alsdann leere Begriffe von Objekten, von denen, ob sie nur einmal möglich sind oder nicht, wir durch jene gar nicht urteilen können, bloße Gedankenformen ohne objektive Realität, weil wir keine Anschauung zur Hand haben, auf welche die synthetische Einheit der Apperzeption, die jene allein enthalten, angewandt werden, und sie so einen Gegenstand bestimmen könnten. Unsere sinnliche und empirische Anschauung kann ihnen allein Sinn und Bedeutung verschaffen."
Die Zurückweisung jeder denkbar sein sollenden nicht-euklidischen Geometrie ist mit der Anerkennung des Dings-ansich nicht weniger verträglich als mit der Anerkennung des zuerst besprochenen Dings sui generis [in seiner Einzigartigkeit - wp], der Psyche, für deren Übereinstimmung mit der n-fach ausgedehnten und gleichzeitig irgendwie krümmungsgemäßen Mannigfaltigkeit man anführen könnte, daß auch sie losgesprochen ist von den Bedingungen des Begreifbaren.

Aus einer Zusammenstellung aller drei Unergründlichkeiten wird sich ihre Charakteristik am Leichtesten gewinnen lassen. Für das Eigentümliche der psychischen Erscheinungen, deren Gesamtheit wir eben mit dem Kollektivum Psyche bezeichnen, haben wir ein positives und ein negatives Merkmal gefunden: der ganze Bewußtseinsinhalt dieser inneren Phänomene ist unser einziger Berichterstatter und Urteilssprecher über Alles, wozu wir irgendeine Beziehung haben können: es gibt für uns nur diese eine Instanz in allen Angelegenheiten unseres Daseins; das Gebiet der ausschließlich inneren Vorgänge bleibt daher die allerrealste, ja, die einzige durch sich selbst gewisse Existenz: das Fundament für jede uns denkbare Erscheinung und Auffassung eines irgendwie beschaffenen Nicht-Ich; denn mit jeder Vorstellung ist das Dasein eines vorstellenden Etwas zugleich gegeben als die tatsächliche Erfüllung für die notwendige Bedingung des Vorstellens, und da das Vorstellende eben die Psyche ist, so ist ohne sie gar nichts Faktisches, gar nichts Positives für uns vorhanden. Der Hyperpyrrhonismus kann nicht besser widerlegt werden als durch das erste Wort, mit dem er sich zu äußern unternimmt; denn wenn der Sinn der Äußerung der sein soll, daß der Redende nicht weiß, ob er existiert, so darf man ihn nur fragen, wer das erste Wort seiner verlautbarten schwindelhohen Skepsis gesprochen hat, - die Antwort muß dann immer, insofern siie nicht ganz umgangen wird, auf eine mehr oder weniger gekünstelte Umschreibung des redenden, zweifelnden, also sich doch bereits als existierend annehmenden Ich hinauslaufen. Die Psyche ist demnach das Allerpositivste und Tatsächlichste, von dessen Dasein der Mensch wissen kann; sie ist die einzige Basis von Allem, das für ihn Existenz hat, sein eigenes Ich miteingeschlossen. Alles Negative, das vom Wesen der psychischen Erscheinungen ausgesagt wird, kann als die Konsequenz davon aufgefaßt werden, daß sie die einzigen unmittelbaren Erscheinungen sind, welche existieren. Von psychischer Natur ist eben an jeder möglichen Erscheinung der Rest, welcher übrig bleibt, wenn all das von ihr abgezogen wird, was als ein Mittel aufzufassen ist, wodurch es für mehr als ein Ich als wahrnehmbar kann vorgestellt werden, und für diese Auffassung bleibt es gleichgültig, ob die Art der Vermittlung empirisch realisierbar ist oder nicht. Könnten wir uns vorstellen, daß zugleich mit der Wahrnehmung von molekularen Gehirnbewegungen das Bewußtsein des Wahrnehmenden in seiner Intensität gesteigert wird, so wäre der radikale empirische Monismus berechtigt, die physische Unmöglichkeit, eine solche Wahrnehmung herbeizuführen, wäre kein Grund gegen ihn. Seine Absurdität liegt nur in dem Postulat, die nur innerlich mögliche psychische Erscheinung in einer Bewegungsform äußerlich anzuschauen. Es sind allgemeine, unbestrittene Erfahrungen, welche zu dem Schluß zwingen, daß alles äußerlich Erscheinende nur in einer räumlich-zeitlichen Form möglich ist, und daß diese Form stets dafür notwendig ist, und die Gründe für diesen Schluß beruhen wiederum auf Zeugnissen, welche durch unsere unmittelbarste Informationsquelle, durch das Bewußtsein, beglaubigt werden. Und so war es diese unsere alleinige und unbestreitbare Autorität, welche uns über sich belehrte, daß sie selbst zu unterscheiden ist von ihren Attributen Raum und Zeit, durch welche sie fähig wird, einer Welt des Nicht-Ich, dem Ding-ansich, Einwirkungen auf sie zu ermöglichen, deren Resultat, die Wahrnehmungen, sie wieder mit anderen Attributen, den reinen Verstandesbegriffen (Kategorien), verarbeiten und zu Erkenntnissen gestalten hilft.

Das Verhältnis der Psyche zum Ding-ansich ist daher so zu formulieren, daß die Psyche ein Erstgegebenes, unmittelbar Bekanntes und kein Erschlossenes ist, folglich auch nicht zurückzuführen auf ein noch Früheres, woraus sie könnte abgeleitet, d. h. erklärt werden, während das Ding ansich als eine Grenze der Psyche zu ihr selbst gehört, von ihr selbst aber mit keinem anderen Merkmal zu belegen ist als mit dem des Daseins, welches sie nicht fortzudenken vermag.

Die n-fach ausgedehnte und mit einem Krümmungsmaß ausgestattete Mannigfaltigkeit aber gehört erstens nicht zur Erscheinungswelt, wozu sie auch nicht gehören will, und sie gehört zweitens ebensowenig zum Ding-ansich; denn sie ist behaftet mit den Anschauungsschranken, denen sie vergebens zu entrinnen sucht; sie ist daher von jedem Bewußtsein, das sich seiner Existenzbedingungen nicht glaubt entschlagen zu können, solange es sein Dasein zu konstatieren vermag, als ein Unding zu beurteilen. Nur eine Möglichkeit ist vorhanden, um mit Ehren eine Lanze für sie einzulegen, und diese Möglichkeit ist bereits im Jahre 1846 wacker realisiert worden: GUSTAV THEODOR FECHNER ist der Humorist, der unter seiner bekannten Maske "Dr. Mises" in der erheiternden kleinen Schrift "Vier Paradoxa" (Leipzig) unter anderen Thesen auch diese verteidigt: "Der Raum hat vier Dimensionen."
LITERATUR - Wilhelm Tobias, Grenzen der Philosophie, Berlin 1875
    Anmerkungen
    1) vgl. auch das später im dritten Abschnitt gegebene Zitat aus Kant, Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 67.
    2) Dem Literaturnachweis, welchen Zöllner (Über die Natur der Kometen, zweite Auflage, Leipzig, 1872, Seiten 306 und 307, Anm.) gibt, füge ich hinzu: Helmholtz, "Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie" (Heidelberger Jahrbücher der Literatur, 1868, Nr. 46, Seite 733 und Nr. 47, Seite 737) - Clebsch, "Zur Theorie eines Raums von n-Dimensionen" von Sophus Lie in Christiana. (Nachrichten von der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Nr. 21 und 22, November 1871). - Julius König in Pest: "Über eine reale Abbildung der sogenannten nicht-euklidischen Geometrie (ebd. 30. August 1871, Nr. 17, Seite 419) - Ferner eine Abhandlng von demselben Autor unter demselben Titel (ebd., 20. März, 1872, Nr. 9, Seite 157). König nimmt hier Bezug auf zwei Arbeiten von Felix Klein, "Über die sogenannte nicht-euklidische Geometrie" (G. A. !871, Nr. 17 und "Mathematische Annalen IV, 4) - Felix Klein, "Über einen Satz aus der Analysis situs (Göttinger Nachrichten, 5. June, 1872, Nr. 14, Seite 290). - Ernst Schering, "Linien, Flächen und höhere Gebilde in mehrfach ausgedehnten gaussischen und riemanschen Räumen" (Göttinger Nachrichten, 22. Januar 1873, Nr. 2, Seite 13) Daselbst werden noch andere Arbeiten verwandter Art von Beltrami und Christoffel nachgewiesen, auch die genauen Titel der Arbeiten von Lobatschewsky aus den Jahren 1835/36/37 angegeben. - Von demselben Autor (Göttinger Nachrichten, 26. Februar 1873, Nr. 6): Die Schwerkraft in mehrfach ausgedehnten gaussischen und riemanschen Räumen. - Johann Carl Becker, Abhandlungen aus dem Grenzgebiet der Mathematik und Philosophie, Zürich 1870. - Prof. Dr. Johannes. Frischauf, "Absolute Geometrie nach Johann Bolyai bearbeitet, Leipzig 1872. - Richard Beez, "Über das Krümmungsmaß von Mannigfaltigkeiten höherer Ordnung (Mathematische Annalen VII, 3).
    3) Helmholtz, Über das Sehen des Menschen, Seite 5