p-4ra-1MauthnerSigwartvon der PfordtenMFKW. HaasHerbart    
 
HEINRICH HOFMANN
Untersuchungen über den
Empfindungsbegriff

[6/6]

"An und für sich enthalten die reinen Empfindungen, das im eigentlichen Sinn Gesehene, nichts von einer Sehtiefe in sich, sondern diese kommt in unsere Wahrnehmung erst hinein durch ein aufgrund einer verwickelten Erfahrung nach und nach immer mehr instinktiv wirkendes Hinzudeuten, Auslegen und eben in diesem Sinne urteilendes Hinausgehen über den reinen Empfindungsinhalt."

"Das Räumliche, das wir sehen, nehmen wir nicht ohne weiteres als das räumlich Wirkliche, sondern erst das, was die Gesamtheit unserer Sinneserfahrung als bestehend gezeigt hat, wird als solches hingenommen. Wie bei den Dingen, so kann sich auch beim Raum diese Erfahrung auf mehrere Sinnesgebiete erstrecken, die Erfahrungen des Gesichtssinnes können durch diejenigen des Tastsinnes und umgekehrt ergänzt werden, , denn es ist derselbe wirkliche Raum, den wir durch das Gesicht und das Getast zu erkennen suchen."


Drittes Kapitel
Der Raum und die
visuelle Raumanschauung

Wir haben bisher das Ding und seine visuellen Darstellungsweisen für sich betrachtet; wir kommen nun auf die Tatsache zu sprechen, daß sich die Dinge in einen Raum einordnen und im allgemeinen auch in irgendeiner räumlichen Anordnung gesehen werden. Unser Ziel soll bei diesen Erörterungen sein, die Eigentümlichkeiten unserer visuellen Raumanschauung zu charakterisieren und die verschiedenen Raumbegriffe, die man aufstellen kann, gehörig gegeneinander abzugrenzen. Wir beginnen dabei mit der fundamentalsten Unterscheidung zwischen dem "wirklichen" Raum und dem jeweiligen Sehraum.


§ 1. "Wirklicher" Raum und Sehraum

Ich kann bei dieser Unterscheidung wieder anknüpfen an die Begriffsbestimmung HERINGs. HERING weist nämlich an derselben Stelle, an der er die Unterscheidung zwischen dem "wirklichen" Ding und dem "Sehding" aufstellt, zugleich auch auf den Unterschied zwischen dem "Raum, wie er uns in einem gegebenen Augenblick erscheint, dem "jeweiligen Sehraum", und dem entsprechenden "wirklichen" Raum hin. (1)

Die Eigentümlichkeiten des "wirklichen" Raumes sind bekannt, und seine charakteristischen Merkmale sind uns allgemein geläufig. Der "wirkliche" Raum ist der unendliche Raum, in den wir alles, was existiert, lokalisiert und eingeschlossen denken, der bei aller Mannigfaltigkeit der Dinge, die in ihm sind, nur einer ist und keinen anderen Raum neben oder außer sich duldet. Es ist die nach drei Dimensionen sich gleichmäßig erstreckende euklidische Mannigfaltigkeit, von der einerseits die gewöhnliche Geometrie handelt, in der sich andererseits der Naturwissenschaftler all jene Vorgänge abspielend denkt, mit denen er es zu tun hat.

Dies ist der eine, unendliche "wirkliche" Raum, von dem es eine Mehrzahl nicht gibt, den wir aber in eine Mehrzahl von Teilräumen zerlegt oder zerstückt denken können. Auf diese Weise kommen wir auch zu den Räumen, welche die einzelnen "wirklichen" Dinge erfüllen, den "wirklichen" Dingräumen. Von diesen gibt es der Möglichkeit nach unendlich viele, jeder von ihnen aber teilt - abgesehen von der unendlichen Erstreckung - mit dem unendlichen "wirklichen" Raum alle inneren Eigenschaften. Natürlich braucht ein solches Stück des "wirklichen" Raumes nicht immer gerade von irgendeinem Ding erfüllt zu sein, denn für den Raum als solchen ist die materielle Erfüllung nur etwas Sekundäres.

Der unendliche "wirkliche" Raum nun kann in seiner Unendlichkeit nicht gesehen, sondern nur gedacht werden, wir brauchen also in einer Abhandlung über das räumliche Sehen nicht weiter von ihm zu sprechen. Aber von den Teilen, in die wir den unendlichen Raum zerlegt denken können, sagen wir, daß wir sie sehen. Ich sehe, daß der Raum, den ein vor mir liegender Körper erfüllt, die Gestalt eines Würfels hat; ich sehe den Raum, den die Wände meines Zimmers umschließen; und ich sehe auch den Raum, der mich von dem Haus, das ich da drüben in der Ferne wahrnehmen kann, trennt. Freilich sehen wir die Räume nicht immer so, wie sie "in Wirklichkeit" sind. Die von den Dingen erfüllten Räume sehen wir überhaupt nur in dem Fall, daß die betreffenden Körper durchsichtig sind, denn andernfalls verdeckt ja gerade die undurchsichtige Oberfläche den "Innenraum" des Körpers, so daß wir nur die Begrenzungen dieses Raumes zu Gesicht bekommen können. Daß und inwieweit die "wirklichen" Begrenzungen und die gesehenen inhaltlich von einander abweichen, braucht nach den Erörterungen des zweiten Kapitels über die "wirkliche" und die "Sehgestalt" der Dinge nicht weiter ausgeführt zu werden. Und auch der Fall, bei dem wir den von einem Körper erfüllten Raum sehen, bedarf keiner breiteren Ausführungen. Jedermann weiß, daß z. B. der Raum, den ein Glaswürfel einnimmt, gewöhnlich anders gesehen wird als er ist. Der Boden eines Glases, in dem sich Wasser befindet, erscheint uns gehoben, näher an die Oberfläche des Wassers gerückt, als es in Wirklichkeit der Fall ist, und infolgedessen wird auch der Raum, den das Wasser erfüllt, anders gesehen, als er ist. Allbekannt ist ferner die Tatsache, daß ein Tunnelgewölbe, das in Wirklichkeit überall gleich weit ist, sich in der Ferne zu verjüngen scheint, daß wir die parallelen Seitenlinien in der Ferne konvergieren sehen. An diesen bekannten Beispielen kann man sich das inhaltliche Auseinanderfallen des Raumes, wie er "ist", und des Raumes, wie er gesehen wird, des "wirklichen" Raumes und desjeweiligen "Sehraumes" (2) deutlich machen. HERING hat auch für den Teil des "wirklichen" Raumes, der jeweils für uns sichtbar ist, einen besonderen Namen, er nennt ihn "Gesichtsraum" (3). Doch möchte ich, um durch die Terminologie keine Verwirrung herbeizuführen, diese nicht sehr treffende Bezeichnungsweise vermeiden und lieber umständlicher von dem Teil des wirklichen Raumes, der dem jeweiligen Sehraum entspricht", reden.

HERINGs Scheidung zwischen dem "Sehraum" und dem entsprechenden "wirklichen" Raum wird die feste Grundlage für unsere weiteren Ausführungen abgeben. Allerdings werden wir uns mit dieser Unterscheidung nicht ganz begnügen können, da der Begriff des "Sehraumes" noch verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen läßt, auf die wir noch ausführlicher zu sprechen kommen müssen. Doch diesen begrifflichen Erörterungen müssen wir einige Betrachtungen über die Eigentümlichkeiten des räumlichen Sehens im Allgemeinen vorausschicken.


§ 2. Die Sehtiefe

Ich will zunächst von einem Sehen der Entfernung sprechen. Wir haben hier ein Doppeltes zu unterscheiden:
    1) das Sehen der Entfernung zweier Punkte voneinander und

    2) das Sehen der Entfernung eines Raumpunktes von uns.
Die erste Art des Entfernungssehens bietet gegenüber dem, was im vorigen Kapitel über das Sehen von Raumgrößen ausgeführt worden ist, eigentlich nichts prinzipiell Neues, denn wir können das Sehen der Größe eines Dings auch auffassen als das Sehen der Entfernung gewisser Punkte voneinander. Wir wollen deshalb auf diese Art des Entfernungssehens nicht weiter eingehen.

Für unsere späteren Betrachtungen bedeutsam aber ist das Sehen der Entfernung eines Raumpunktes von uns. In objektiver Hinsicht ist es natürlich ganz gleichgültig, ob es sich um die Entfernung zweier Raumpunkte voneinander oder um die Entfernung eines Raumpunktes von uns handelt, da unserem Körper für die objektiven Raumbeziehungen keinerlei Ausnahmestellung zukommt. Für unser Sehen aber nimmt das, was wir gemeinhin die Entfernung von uns nennen, eine solche Ausnahmestellung ein. Denn sehe ich die Entfernung zweier Punkte im Sehfeld, so kommen beide Punkte, deren gegenseitige Entfernung ich beurteilen will, mit zur Anschauung, beide Objekte sind in der Wahrnehmung aufweisbar. Soll ich aber die Entfernung beurteilen, die ein Objekt von mir oder von meinen Augen hat, so sehe ich nur das eine Objekt, während sich das andere, mein Auge, meinem unmittelbaren sinnlichen Eindruck entzieht. Ich kann zwar mein "Auge im Spiegel betrachten, allein das gespiegelte Auge ist doch nicht das, von dem wir die Dinge entfernt sehen" (4). Und dementsprechend handelt es sich beim Sehen der Entfernung "eines Dings vom Auge" auch nicht um etwas, was dem Sehen der Entfernung zweier beliebiger Dinge voneinander ohne weiteres gleichgesetzt werden kann, sondern um ein Entfernungssehen sui generis [aus sich selbst heraus - wp]. Es wird deshalb auch gut sein, wenn wir statt des Ausdrucks "gesehene Entfernung von mir oder von meinen Augen" den auch sonst gebräuchlichen Terminus "Sehtiefe" einführen, um auch schon im Ausdruck die Ungleichartigkeit des Sehens gegenüber dem ersten Fall zu erkennen zu geben.

Man hat freilich auch umgekehrt aus der Tatsache, daß sich das sehende Auge selbst nicht sehen kann, schließen zu dürfen geglaubt, daß es einen besonderen sinnlichen Inhalt, genannt "Sehtiefe", nicht geben kann. In den "Psychologischen Studien" führt nämlich THEODOR LIPPS Folgendes aus (5):
    "Wir sehen, so meint man, Objekte in einer gewissen Entfernung vom Auge oder der Netzhaut. Hält man es dann aber für möglich, daß ein a in irgendeiner Entfernung von einem b wahrgenommen wird, ohne daß neben dem a erstens das b und zweitens die Entfernung zwischen beiden wahrgenommen wird? Nun sehen wir unser Auge und insbesondere die Netzhaut weder ursprünglich noch jetzt, also können wir auch nichts in irgendeiner Entfernung von Auge oder Netzhaut sehen. Damit allein schon ist jene Behauptung hinfällig."
Aber es gibt, so meint LIPPS, noch einen zweiten triftigen Grund gegen die Möglichkeit, die "Entfernung der Dinge von unserem Auge" zu sehen.
    "Wir sehen zwei Objekte genau so weit voneinander entfernt, wie die Größe des Zwischenliegenden beträgt, das wir auf dem Weg von einem zum andern wahrnehmen. Was nun bietet sich unserer Wahrnehmung zwischen Auge und Objekt?" (6)
Offenbar, meint LIPPS, nichts, denn wir sehen zwischen Auge und Objekt keine Farbe, müßten also, wenn wir die Entfernung zwischen uns und den Objekten sehen sollten, "leeren Raum" sehen können, was offenbar ebenso unmöglich ist, wie "das Tonkontinuum zu hören zu meinen ohne Töne" (7). Damit will LIPPS allerdings nicht jedes Bewußtsein der "Tiefe" leugnen, im Gegenteil: er betont ausdrücklich, daß "irgendein Bewußtsein der Entfernung" ohne Zweifel besteht, was er aber leugnen zu müssen glaubt, das ist "daß der Inhalt dieses Bewußtseins in der Wahrnehmung gegeben ist" (8), daß wir die Entfernung der Objekte von uns sehen können so, wie wir die flächenhaften Farben sehen.

Diese Ansicht von LIPPS ist natürlich nicht unwidersprochen geblieben. Auf das erste Argument von LIPPS, daß sich das Auge selbst nicht sehen kann und daß es deshalb auch keine Entfernung eines Objekts von sich wahrnehmen kann, hat C. S. CORNELIUS entgegnet: "Dieser Einwand trifft nicht im Geringsten die Möglichkeit der Tiefenwahrnehmung" (9), denn wenn wir von einer "gesehenen Tiefe" reden, so hat das nichts mit dem Gesichtsbild des Auges zu tun. Die sinnliche Tiefenwahrnehmung als solche steht tatsächlich fest. Freilich ist der zwischen dem Auge und einem äußeren Gesichtsobjekt liegende "leere" Raum "nicht in der Weise sichtbar wie das durch einen geschlossenen Komplex von Lichtempfindungen gegebene Objekt"; allein wir haben doch eine Wahrnehmung dieses Raumes als einer bestimmten Ordnung des Zwischen- und Nebeneinander (10). Wenn also LIPPS behauptet, daß sich zwischen uns und den gegebenen Objekten für unsere Wahrnehmung nichts befindet, so ist das eine falsche Wiedergabe des eigentlichen Tatbestandes.

Und in der Tat wird man CORNELIUS nur zustimmen können. Man kann nicht von der Tatsache, daß in objektiver Hinsicht die Entfernung des Auges von den Dingen gleichartig ist mit der Entfernung zweier Dinge voneinander, auch auf eine Gleichartigkeit beim Sehen schließen, sondern die beim Sehen obwaltenden Verhältnisse müssen ganz für sich studiert werden. Wir können hier nicht schließen, sondern nur konstatieren, und daß wir die Dinge nicht bloß für sich, sondern zugleich auch in einer jeweils bestimmten "Entfernung von uns", in einer bestimmten "Sehtiefe", sehen, das ist eine von jedermann konstatierbare Tatsache.

Und was den anderen Einwand von LIPPS betrifft, daß wir zwischen und den Objekten keine Farbe sehen, die behauptete "Sehtiefe" als gar keinen angebbaren Inhalt (11) hat, so scheint ebenfalls eine irrige Argumentationsweise vorzuliegen. Wenn man von vornherein nur das als angebbaren visuellen Inhalt gelten läßt, was wir als Farbe im gewöhnlichen Sinn des Wortes sehen, d. h. diejenigen Qualitäten, in denen wir die Flächen der Dinge wahrzunehmen gewohnt sind, dann kann man freilich sagen, daß die "Sehtiefe" keinen angebbaren Inhalt hat. Aber damit ist doch nicht die Tatsächlichkeit und Wahrnehmbarkeit der Tiefenlokalisation aus der Welt geschafft. Nicht nichts sehen wir in dem zwischen uns und den Objekten befindlichen Raum, sondern nur keinen "Inhalt" in dem eben bezeichneten Sinn. Aber wenn wir dieses eigentümliche sinnliche Etwas, das man als den von Farben (im gewöhnlichen Sinn) "leeren Raum" bezeichnen kann, keinen "Inhalt" nennen wollen, so ist das eine rein terminologische Frage, die nichts zu tun hat mit der Tatsache, daß wir die Objekte nach der Tiefe lokalisiert sehen können, und zwar sehen mit derselben Lebhaftigkeit und Sinnenfälligkeit, wie wir die Farben an den Objekten sehen.

In gewissem Sinne gibt das LIPPS ja auch zu, nur glaubt er, hier nicht mehr von einem "Sehen" reden zu dürfen. In seinem Aufsatz "Die Raumanschauung und die Augenbewegung" (12) kommt er nämlich noch einmal auf die Angelegenheit zurück und präzisiert seinen Standpunkt, daß wir zwar die Tiefe nicht sehen können, aber doch ein deutliches Bewußtsein von der Tiefe haben, näher dahin:
    "Wir sehen keine Tiefe, aber wir schreiben dem Gesehenen in Gedanken eine Lage in der Tiefe und eine Ausdehnung nach der Tiefe zu, ... wir wissen oder glauben zu wissen, daß dieser Punkt dem Auge näher, jener von ihm entfernter ist, diese Linie weiter, jene weniger weit sich in die Tiefe erstreckt. Wir fällen beständig Urteile von solchem Inhalt."
Allerdings handelt es sich hierbei, so führt LIPPS weiter aus, um keine Urteilsfällung im gewöhnlichen Sinne, sondern diese Urteile sind
    "von besonderer Art, nämlich besonders zwingend und unmittelbar sich aufdrängend. Sie sind mit unserer flächenhaften Wahrnehmung so innig und unlöslich verbunden, daß wir meinen, ihr Inhalt sei mit der Wahrnehmung zugleich gegeben oder in ihr selbst enthalten, also mit wahrgenommen. Wir glauben nicht nur an die Tiefe oder Entfernung vom Auge, sondern wir glauben sie zu sehen. Dadurch unterschieden sich diese Urteile wesentlich von wissenschaftlichen Urteilen, auch von den wissenschaftlichen Tiefenurteilen. Es ist etwas anderes um die Vorstellung, der Mond befinde sich in einer Entfernung von einigen Metern über mir, wie ich sie im gewöhnlichen Leben erlebt habe, und der wissenschaftlichen Erkenntnis, seine Entfernung betrage viele tausend Meilen." (13)
Aber dieser Glaube, die Tiefe tatsächlich zu sehen, ist ein Irrtum; es handelt sich hier nicht um eine reine Wahrnehmung, sondern um eine Verbindung oder Verschmelzung des Wahrnehmungsinhaltes mit ganz andersartigen Elementen, ein psychologischer Vorgang, der nichts wirklich Merkwürdiges an sich hat. Denn
    "sieht man genauer hin, so finden sich schließlich überall in unseren Wahrnehmungen Elemente und Elemente der verschiedensten Art, die der Wahrnehmung als solcher fremd, ja mit ihrem Inhalt unvergleichlich, doch für uns so innig damit verbunden sind, daß wir uns schwer dem Eindruck entziehen, sie gehörten dazu. So wenig ist in jedem Fall unmittelbar klar, was wir wahrnehmen, daß wir gut täten, alle vermeintliche Wahrnehmung von vornherein als ein Produkt aus zwei Faktoren zu betrachten, der Wahrnehmung selbst und dem, was wir in sie hineinlegen, darum hineinlegen, weil es nun einmal mit dem Inhalt der Wahrnehmung, aufgrund der Erfahrung, psychische in ein Ganzes verwoben ist. Niemand, der nur einigermaßen die Menge und Mannigfaltigkeit der hierher gehörigen Fälle übersieht, ja der sich auch nur die Mühe gemacht hat, einige besonders naheliegende Fälle genauer ins Auge zu fassen, kann in allen Fällen den unmittelbaren Eindruck des Wahrnehmens zugleich als Beweis seiner Berechtigung nehmen wollen. Hat man aber einmal in einigen oder nur in einem Fall jenen unmittelbaren Eindruck als trügerisch erkannt, so wird man auch in anderen Fällen - ich sage nicht, die Täuschung erkennen, aber doch mit seinem Urteil zumindest etwas vorsichtiger sein. Man wird, statt nur blind dem Eindruck zu vertrauen, und sich so geflissentlich in ein System der wissenschaftlichen Selbsttäuschung einzuspinnen, sich entschließen, die Bedingungen des Eindrucks zu untersuchen." (14)
Ich habe dieses Zitat in aller Ausführlichkeit hierher gesetzt, weil es zu erkennen gibt, daß im Grunde auch LIPPS die Wahrnehmbarkeit der Tiefenlokalisation, die wir behaupten, zugibt. Nur versteht LIPPS unter der Wahrnehmung etwas anderes als wir, indem er mit diesem Terminus etwa das bezeichnet, was wir im ersten Kapitel reine Empfindung genannt haben; und wogegen LIPPS ankämpft, das ist - um in unserer Terminologie zu reden -, daß die Tiefenwahrnehmung eine reine Empfindung ist. Nur so zumindest kann ich die Forderung verstehen, daß man nicht einfach dem "unmittelbaren Eindruck des Wahrnehmens" vertrauen, sondern die Bedingungen für das Zustandekommen des Eindrucks untersuchen soll, bevor man sich ein Urteil über Wahrnehmbarkeit oder Nichtwahrnehmbarkeit der "Tiefe" erlauben darf.

Daß der Tiefeneindruck keine reine Empfindung ist, können wir LIPPS gern zugeben. Aber um die Auffindung und Zergliederung der Bedingungen des Tiefeneindrucks, ums seine psychologische Erklärung handelt es sich hier nicht, sondern um die Charakteristik und möglichst vollständige Beschreibung dessen, was sich uns im unmittelbaren Eindruck für unsere Wahrnehmung darbietet. Wir wollen das "Raumbewußtsein" nach der sinnlich wahrnehmbaren Seite, den Raum so, wie wir ihn jeweils sehen, nach seinen in rein deskriptiver Analyse zu erfassenden immanenten Eigentümlichkeiten charakterisieren und lassen dabei die ganz andere Frage nach den Bedingungen für das Zustandekommen dieses Sehraumes völlig aus dem Spiel. Und auch die Frage, ob es eine im unmittelbaren Eindruck sinnlich zu erfassende Tiefenlokalisation gibt und welches die charakteristischen Eigentümlichkeiten dieses Eindrucks sind, kann und muß beantwortet werden ohne Rücksicht auf erklärende Theorien und Vorstellungsweisen. Wenn wir aber von diesem Gesichtspunkt aus den unmittelbaren Wahrnehmungseindruck beschreiben wollen, so dürfen wir nicht bloß von flächenhaft angeordneten Farben und Formen reden, sondern wir müssen diesen Farben auch eine jeweils bestimmt-anschauliche Lage nach der dritten Dimension, eine in unmittelbarer Wahrnehmung aufweisbare Tiefenlokalisation zuschreiben, so daß sich der Tiefeneindruck als ein besonderes, konstitutives Moment dem sinnlichen Gesamteindruck einordnet. Die "Sehtiefe" ist demnach für uns etwas durchaus Sinnliches - sinnlich freilich nicht in der Bedeutung, daß sie eine reine Folge der Einwirkung von Reizen auf unsere Sinnesorgane wäre, sondern sinnlich im deskriptiv-psychologischen Sinn, d. h. von sinnenfälliger Anschaulichkeit, Lebhaftigkeit und Deutlichkeit.

Diesen in unmittelbarer sinnlicher Anschaulichkeit sich darbietenden Tiefeneindruck haben wir streng zu scheiden von einem Wissen um die objektive Entfernung. Wir wissen oder glauben zu wissen, daß der Mond viele tausend Kilometer von uns entfernt ist, aber diese Entfernung, von der wir wissen, sehen wir nicht, sie geht nicht ein in den unmittelbaren sinnlichen Eindruck. Ebenso wissen wir, daß der Boden des Wassergefäßes, in das wir sehen, in Wahrheit eine größere Entfernung hat, als wir sie sehen, aber dieses Wissen verhilft uns nicht dazu, daß wir die Entfernung auch der Wirklichkeit entsprechend sehen. Vielleicht haben wir nebenbei eine mehr oder weniger deutliche Phantasievorstellung von dieser wirklichen Entfernung, aber diese Phantasievorstellung gehört nicht mit zum sinnlichen Tiefeneindruck, wie ihn uns die unmittelbare Anschauung bietet, sondern sie ist etwas, was neben dieser Anschauung als besondere Vorstellung für sich besteht.

Nun könnte man allerdings sagen, in den herangezogenen Beispielen handelt es sich um Täuschungen unseres Gesichtssinnes, indem nicht die den objektiven Verhältnissen entsprechende "richtige" Phantasievorstellung mit der unmittelbaren Reizwirkung "verschmolzen" ist, sondern eine durch die besonderen Bedingungen nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unseres Seelenlebens sich ergebende andere Vorstellung. Man müsse deshalb Fälle nehmen, bei denen das "Sehen" der Entfernung den objektiven Verhältnissen nicht widerstreitet. Doch auch in diesen Fällen läßt sich - meine ich - das Wissen oder Vorstellen der Entfernung deutlich vom Sehen der Entfernung scheiden. Ich weiß, daß die mir gegenüberliegende Wand etwa 2¼ m von mir entfernt ist und ich vermag es auch ganz gut, mir eine Linie von dieser Länge in der Phantasie vorzustellen. Andere werden sich vielleicht die Reihe der Muskelempfindungen vorstellen können, die sie haben würden, wenn sie bis zur Wand gehen; oder bei noch anderen werden sich die Akkomodations- und Konvergenzempfindungen der Augen deutlich ins Bewußtsein drängen. Aber all dieses Wissen und die begleitenden Vorstellungen und Empfindungen sind doch nicht die gesehene Tiefe, der visuelle Sinneseindruck besteht nicht aus Farbkomplexen und mit diesen "verschmolzenen" Vorstellungen oder Empfindungen, sondern die gesehene Tiefe ist eins, und die Vorstellungen und Empfindungen sind ein anderes. Es mag sein, daß Vorstellungen und Empfindungen der genannten Art allgemeine Bedingungen für das Entstehen der "Sehtiefe" darstellen, aber der Tiefeneindruck besteht doch nicht aus ihnen, ebenso wenig wie der Donner aus dem Blitz besteht, der ihn hervorbringt. Phantasievorstellungen, Muskelempfindungen und was man sonst noch nennen mag, mögen für die Kausalerklärung des Tiefeneindrucks wichtige Dinge sein, aber mit der Beschreibung der sinnlich-anschaulichen Tiefenlokalisation haben sie schlechtweg nichts zu schaffen; dies ist vielmehr ein sinnlich-visueller Inhalt sui generis, der sich nun und niemals zurückführen läßt auf Inhalte, die einem ganz anderen Sinnesgebiet entnommen sind.

Die gesehene Tiefe muß aber auch wohl unterschieden werden von einem Urteil über die Entfernung des Dings von uns, von der Schätzung der Entfernung. Bei einem Urteil über etwas Gesehenes kommt es darauf an, aufgrund einer visuellen Wahrnehmung oder einer Reihe von solchen, eventuell auch noch verbunden mit theoretischen Überleungen und früher gemachten Erfahrungen, sich nach dieser oder jener Richtung zu entscheiden. Als Grundlage für ein solches Urteil muß immer irgendein visuelle Anschauung vorhanden sein, auf der sich dann erst das Urteil "aufbauen" kann. Zeichne ich etwa auf ein Papier zwei Striche und betrachte diese zuerst, ohne die Länge zu beurteilen, fälle danach aber das Urteil, daß die Striche verschieden lang erscheinen, so unterscheiden sich diese beiden aufeinander folgenden Bewußtseinszustände dadurch, daß ich im ersten Fall bloß wahrnehme, im zweiten Fall aber auch noch das Wahrgenommene beurteile. In beiden Fällen kommt mir etwas zur sinnlich-visuellen Anschauung, aber im zweiten Fall tritt zu dieser noch ein weiteres nicht-sinnliches Erlebnis, das Urteilen, hinzu. Dieses Hinzukommende aber "verschmilzt" nicht mit den ursprünglichen sinnlichen Inhalten zu einem neuen sinnlichen, visuellen Ganzen, sondern es bleibt als ein besonderes eigenartiges Erlebnis bestehen, das nur insofern mit der bestehenden visuellen Anschauung "verbunden" ist, als es sich auf diese "bezieht".

Entsprechend verhält es sich mit der Beurteilung der Entfernung eines Gegenstandes von uns. Will etwa der Jäger oder der Soldat im Feld abschätzen, wie weit es ungefähr von seinem Standort bis zu einer bestimmten Stelle ist, die er treffen will, so hat er sinnlich-anschaulich ein gewisses "Sehding" vor sich, das anschauungsmäßig in die und die "Entfernung von ihm" gesetzt ist. Diese anschauliche Entfernung" würde sich dem Wahrnehmenden auch darbieten, wenn er nicht gerade zum Zweck der Schätzung und Beurteilung seinen Blick und seine Aufmerksamkeit nach jener Stelle richtet. Gibt er dann über das Gesehene ein Urteil ab, so braucht sich in der visuellen Anschauung nichts Wesentliches zu ändern: die Anschauung besteht, und zu ihr kommt im Fall der Beurteilung ein weiteres Erlebnis, eben das Urteil, hinzu, das sich zwar auf das Sinnliche "bezieht", aber nicht mit diesem ein neues sinnliches Ganzes bildet.

Doch das Urteil, von dem wir bisher sprachen, ist, mit LIPPS zu reden, ein "wissenschaftliches Urteil", von dem wir das "Urteil" scheiden müßten, das sich uns so "zwingend und unmittelbar aufdrängt", daß wir meinen könnten, es gehöre mit zur Wahrnehmung selbst. Was soll nun aber dies für ein merkwürdiger Bewußtseinszustand sein, der hier als "Urteil" bezeichnet wird; welches sind die Merkmale, die dieses "sinnliche Urteil", wenn ich so sagen darf, mit dem Urteil im gewöhnlichen Sinn, dem "wissenschaftlichen Urteil" gemeinsam hat? Die Überlegung kann hier nur folgenden Weg gegangen sein: Wenn ich etwas, was ich etwa in der Ferne sehe, für einen Menschen halte, so nehme ich das Sinnliche nicht so hin, wie ich es da sehe, sondern ich gebe ihm eine urteilsmäßige Deutung, die falsch oder richtig sein kann; ich fasse das Gesehene in diesem oder jenem Sinn auf und fälle eben in diesem Hinausgehen über das Gesehene ein bestimmtes Urteil. Ähnlich aber, so könnte man sagen, verhält es sich auch mit der Entfernung, in der wir die Dinge von uns sehen. An und für sich enthalten die "reinen Empfindungen", das im "eigentlichen Sinn Gesehene", nichts von einer "Sehtiefe" in sich, sondern diese kommt in unsere Wahrnehmung erst hinein durch ein aufgrund einer verwickelten "Erfahrung" nach und nach immer mehr instinktiv wirkendes "Hinzudeuten", "Auslegen" und eben in diesem Sinne "urteilendes" Hinausgehen über den reinen Empfindungsinhalt. Doch ich meine, ein anderes ist es, ein anschaulich vorhandenes Sinnliches als dieses oder jenes "deuten" und ein anderes, eine Entfernung sehen. Nehmen wir wieder unser früheres Beispiel von der geraden Allee! Wir sagten, wir sehen die fernen Bäume der Allee näher aneinander gerückt als die in Wirklichkeit ebensoweit voneinander entfernten Bäume in unserer Nähe. Daß die Entfernungen in Wirklichkeit gleich groß sind, wissen wir vielleicht daher, daß wir zuvor die Allee ganz durchschritten haben, vielleicht aber fällen wir dieses Urteil auch, weil wir gelernt haben, die sich mit der Entfernung der Dinge von uns ergebende "perspektivische Verkürzung" in Anrechnung zu bringen. Jedenfalls, indem wir die gesehenen Entfernungen als "objektiv gleich groß" ansprechen, deuten wir das Gesehene in bestimmter Weise. Aber das Gesehene selbst ist visuell-anschaulich vorhanden, es besteht nicht wieder aus einem Sinnlichen und einem darauf sich aufbauenden Deuten.

Entsprechend verhält sich die Sache auch bei der "Sehtiefe". Ich kann sagen, daß etwas, was ich in der Ferne sehe, so und so viele Kilometer von mir entfernt ist; dann deute ich die gesehene Tiefe in objektiver Beziehung, ich schreibe dem Gesehenen die und die objektive Unterlage zu. Betrachte ich aber nur die "Sehtiefe" so, wie sie mir erscheint, dann "deute" ich nichts, sondern ich sehe, es stellt sich mir anschaulich dieser bestimmte visuelle Eindruck dar. Die eigenartige Prägung, die dieser sinnliche Eindruck in den verschiedenen Fällen annehmen kann, wollen wir nun noch etwas genauer betrachten.


§ 3. Die Grade der "Bestimmtheit"
der Lokalisation

Ich möchte nun hier nicht näher auf die (psychologisch besonders für die Raumtheorie sehr bedeutsame) Frage eingehen, ob wir alles, was wir sehen, in die "Tiefe" lokalisieren, oder ob es auch Fälle gibt, bei denen eine solche Lokalisation überhaupt fehlt. Ich begnüge mich mit der Erkenntnis, daß bei unseren Gesichtswahrnehmungen in der Regel unstreitig eine solche Lokalisationsweise vorhanden ist, und ich will nun versuchen, die bei der Tiefenlokalisation auftretenden eigenartigen Verschiedenheiten noch etwas näher zu beschreiben. Der Vergleich der Tiefenlokalisationen in den verschiedenen Fällen lehrt nämlich, daß von Fall zu Fall wechselnde eigenartige Unterschiede des Grundphänomens auftreten können, die veranlassen, von verschiedenen Graden der Bestimmtheit der Tiefenlokalisation zu sprechen. Ich will bei diesen Auseinandersetzungen an die Ausführungen anknüpfen, die HILLEBRAND in seinem "In Sachen der optischen Tiefenlokalisation" betitelten Aufsatz (15) gemacht hat.
    "Wenn ich im absolut leeren Gesichtsfeld", so sagt dieser Forscher, "etwa einen Faden von unbestimmter Dicke oder ohne unterscheidbare Details oder eine Kante ... sichtbar ist, und wenn ein andermal ein ebensolches Objekt (Faden, Kante) in einem mit allen möglichen Objekten erfüllten Sehfeld, etwa im Studierzimmer, erscheint, so bemerkt jedermann, daß ihn der ganze Vorstellungskomplex im zweiten Fall sofort instand setzt, ein bestimmtes (ob richtiges oder unrichtiges ist hier gleichgültig) Urteil über die Tiefenlage des betreffenden Objekts abzugeben, daß er aber im ersten Fall sich dazu nicht im gleichen Maß befähigt fühlt. Dieser unmittelbar bemerkbare Unterschied zwischen beiden Situationen ist es, den der Beobachter mit den Worten charakterisiert, das Objekt sei im einen Fall bestimmt zu lokalisieren, im anderen nicht." (16)
Der Sinn einer solchen Rede ist nun nicht etwa der, das betreffende "Sehobjekt habe eine Tiefenlage, aber keine bestimmte" (17); das wäre ein "offenbarer Nonsens". "Auch das kann man vernünftigerweise nicht sagen, daß ein solches Sehobjekt gar keine Tiefenlage hat" (18), da man sehr wohl zu sagen vermag, ob das eine Objekt diesseits, oder jenseits eines anderen Objekts liegt, was offenbar eine Beziehung zur dritten Dimension involviert. "Was man in Wahrheit meint, wenn man von einer "unbestimmten Lokalisation" spricht, ist (vielmehr), daß die gesamten äußeren Bedingungen nicht ausreichen, um dem Sehobjekt ein bestimmtes Ortsdatum nach der dritten Dimension zu verschaffen, entweder überhaupt oder innerhalb gegebener Grenzen" (19).
    "In jedem einzelnen Moment ist (die Tiefenlokalisation) wohl eine bestimmte, sie ist aber keine konstante", sondern "der Willkür in hohem Maß unterworfen."

    "Sie ist bloß von zentralen Bedingungen abhängig und kann daher bei konstanten äußeren Bedingungen variabel sein, sobald nur jene zentralen Bedingungen variabel sind ...; der Ausdruck unbestimmt sollte daher besser ersetzt werden durch den Ausdruck variabel bei konstanten äußeren Bedingungen. Bleibt man aber beim herkömmlichen Terminus unbestimmte Lokalisation, so soll man sich wenigstens bewußt sein, daß damit kein deskriptives, sondern ein auf Entstehungsursachen bezügliches, als genetisches Merkmal der Empfindung gemeint ist. " (20)
Es unterliegt keinem Zweifel, daß man den Begriff der "unbestimmten Lokalisation" in dem von HILLEBRAND angegebenen Sinn verwendet und auch verwenden kann, allein diesen nach kausalgenetischen Gesichtspunkten orientierten Begriff habe ich nicht im Auge, wenn ich von Graden der Bestimmtheit der Tiefenlokalisation rede. Mein Augenmerk ist dabei vielmehr gerade auf deskriptive Eigentümlichkeiten der Tiefenlokalisatioin gerichtet. Freilich wenn ich HILLEBRAND recht verstehe, so scheint er der Meinung zu sein, daß es rein deskriptiv aufweisbare Unterschiede der Tiefenlokalisation überhaupt nicht gibt. Wenn er z. B., wie vorher zitiert wurde, sagt, daß es ein "offenbarer Nonsens" ist, zu sagen, ein Sehobjekt habe eine Tiefenlage, aber keine bestimmte; wenn er sich weiter gegen die "unmögliche Mißdeutung" verwahrt, "daß ein Sehobjekt überhaupt einen unbestimmten Ort einnehmen kann", und wenn er schließlich hervorhebt
    "daß der Begriff unbestimmte Lokalisation nur dann einen Sinn und eine reale Bedeutung hat, wenn man damit eine Lokalisation meint. für deren eindeutige Bestimmtheit die gesamten peripheren physiologischen Bedingungen nicht ausreichen" (21),
so scheinen mir diese Sätze die Behauptung zu enthalten, daß von deskriptiv aufweisbaren Unterschieden in der Art der Tiefenlokalisation nicht geredet werden kann. Eine solche Behauptung aber entspricht unzweifelhaft nicht den Tatsachen (22). Denn auch wenn man von jenen Fällen absieht, bei denen ein Schwanken in der Tiefenlage vor sich geht, bei denen also der gesehenen Lokalisation die Festigkeit und Beständigkeit fehlt - Eigentümlichkeiten, die an und für sich doch wohl auch deskriptiver Natur sind -, ergeben sich noch deutliche deskriptive Unterschiede in der Art der Tiefenlokalisation. Wir brauchen in dieser Beziehung nur die von HILLEBRAND selbst angegebenen Beispiele zu betrachten. Wo anders soll bei diesen Fällen der "unmittelbar bemerkbare Unterschied zwischen den beiden Situationen" liegen als in der besonderen Art der Tiefenlokalisation im einen und im anderen Fall? Nicht darum vermögen wir im einen Fall kein bestimmtes Urteil über die Tiefenlage zu geben, weil diese nicht konstant ist, sondern darum, weil es die eigentümliche Art der Tiefenlokalisation nicht ermöglicht. Eine Tiefenlage haben die Fäden gewiß auch in diesem Fall, aber sie ist anders geartet wie in dem Fall, wo wir bestimmt urteilen können; es geht aus der geschauten Tiefenlage nicht mit vollkommener Deutlichkeit hervor, welche objektive Tiefenlage dem entspricht oder entsprechen könnte, die Tiefenlage ist in sich nicht vollkommen durchsichtig, sondern gleichsam nur angedeutet, sie weist uns nur in mehr oder weniger undeutlicher und eben darum in unbestimmter Weise auf eine objektiv bestimmbare Entfernung hin. Im anderen Fall hingegen sind die Tiefenlagenverhältnisse vollkommen durchsichtig, die Tiefenlokalisation ist bestimmt.

Fälle solcher größeren oder geringeren Bestimmtheit in der Tiefenlage können wir auch ohne besondere experimentelle Anordnung beobachten. Man betrachte etwa aus dem Inneren des Zimmers durch das geöffnete Fenster hindurch die gegenüberliegenden Häuser der Straßenreihe, und zwar in einer solchen Entfernung vom Fenster, daß man vom Straßenpflaster nichts mehr zu sehen bekommt. Zuerst trete man so nahe an das Fenster heran, als es die angegebenen Bedingungen nur irgendwie zulassen. Die gesehene Tiefenlokalisation der gegenüberliegende Wände wird dann eine im allgemeinen bestimmte sein, d. h. sie wird sich von dem Fall, bei dem wir noch weiter vortreten, so daß wir auch das Straßenpflaster noch mitsehen, kaum unterscheiden. Entfernen wir uns dann aber mehr und mehr vom Fenster, so wird der gesehene Teil der Wände kleiner und kleiner, aber gleichzeitig bemerken wir auch einen Wechsel in der Art der Tiefenlokalisation der Wände: mit der Entfernung vom Fenster schwindet auch die Deutlichkeit, die Bestimmtheit der Tiefenlokalisation mehr und mehr, und schließlich wird die Tiefenlokalisatioin sehr unbestimmt.

Den Unterschied in der Bestimmtheit der Tiefenlokalisation können wir bei diesem Beispiel in mehreren Graden nacheinander verfolgen und uns zur Anschauung bringen. Bestimmtheit und Unbestimmtheit aber können wir unmittelbar miteinander vergleichen, wenn wir in dem eben beschriebenen Beispiel bei weiter Entfernung vom Fenster die Lokalisation des Fensterrahmens mit derjenigen der durch das Fenster hindurch gesehenen Wand vergleichen. Der Fensterrahmen und die Wand, in der das Fenster sitzt, zeigen eine vollkommen bestimmt ausgeprägte Tiefenlage, ihre Lokalisation ist bestimmt, die durch das Fenster hindurch gesehene gegenüberliegende Wand aber erscheint nur unbestimmt lokalisiert, ihre Tiefenlage ist verschleiert. Diese "Verschleierung" wird noch stärker, wenn wir das Fenster schließen und von unserem vorherigen Standpunkt aus durch die Scheiben hindurch die Wand draußen betrachten. Doch möchte ich diese Art der unbestimmten Tiefenlage nicht so beschreiben, wie EBBINGHAUS es tut (23), der sagt, daß da, wo das Fensterkreuz abschneidet, die Mauersteine der jenseitigen Wand beginnen, daß der erste Stein, den wir von der gegenüberliegenden Wand sehen, scharf und unvermittelt neben dem Holz des Fensterrahmens sitzt, also in derselben Ebene mit dem Fensterkreuz lokalisiert erscheint, sondern ich würde sagen, daß mir die jenseitige Wand hinter dem Fensterrahmen lokalisiert erscheint. Schicke ich mich nun freilich an, das Wieviel dieses Dahinter zu beurteilen, oder die Entfernung, die ich vom Fensterrahmen bis zur jeglichen Wand sehe, mit Entfernungen zu vergleichen, die zwischen mir und dem Fensterrahmen liegen, so komme ich in Verlegenheit. Ich merke, daß es sich dabei um den Vergleich zweier Größen handelt, die nicht recht miteinander vergleichbar sind, daß in beiden Fällen zwar nur eine Lokalisation nach der Tiefe vorhanden ist, daß aber die Art und Weise, wie diese Lokalisation im einen und im andern Fall auftritt, eigentümliche Unterscheidungsmerkmale aufweist, die einen regelrechten Vergleich unmöglich machen: im einen Fall haben wir Bestimmtheit, im anderen Fall Unbestimmtheit der Tiefenlokalisation.

Die eben beschriebenen Unterschiede der Tiefenlokalisation treten im Allgemeinen umso besser hervor, je kleiner das Fenster ist, durch das wir hindurchsehen. Überhaupt stellt sich überall da, wo wir aus einiger Entfernung von einer kleinen Öffnung durch diese hindurch die Gegenstände betrachten, die charakterisierte Unbestimmtheit der Tiefenlokalisation ein. Aber auch dann, wenn ein Gegenstand einen anderen teilweise für das Auge verdeckt, können wir ähnliche Erscheinungen beobachten. In diesem Fall haben wir nämlich keine scharf ausgeprägten Sprünge der Tiefenwerte, sondern wir sehen eigentümliche Übergangserscheinungen in Bezug auf die Lokalisationsverhältnisse, die auch eine gewisse Unbestimmtheit der Lokalisation mit sich bringen.

Ferner nimmt im Allgemeinen auch mit der Entfernung des gesehenen Objekts vom Auge die Bestimmtheit der Lokalisation ab; es verschwimmen also in der Ferne nicht bloß die Farben und Formen der Dinge, sondern auch die Lokalisation wird verschleierter, unbestimmter. In gewissem Grad nimmt die Bestimmtheit der Lokalisation auch beim Übergang von der Mitte nach den Außenpartien des Gesichtsfeldes ab, aber immerhin ist hier bei den äußeren Teilen die Lokalisation im Vergleich zur großen Undeutlichkeit der Formen, die dabei auftritt, doch eine relativ bestimmte.

Einen besonderen Fall der unbestimmten Tiefenlokalisation finden wir dann schließlich auch noch bei der bildlichen Darstellung; allerdings scheint mir die Art dieser Unbestimmtheit mit den in der "Wirklichkeit" auftretenden Fällen nicht ohne weiteres vergleichbar zu sein. Überhaupt ist es ja schwer, die deskriptiven Eigentümlichkeiten des Bildeindrucks begrifflich zu fassen (ein Grund, der die Psychologen wohl auch von der Beschreibung und Analyse dieses Eindrucks so gut wie ganz abgehalten hat). (24) Aber das scheint mir doch sicher zu sein, daß der Bildeindruck im Allgemeinen auch mehr oder weniger bestimmt ausgeprägte Tiefenwerte zeigt. Vergleichen wir etwa die Art und Weise, wie uns die verschiedenen Tiefenlagen einer Skizze zur Erscheinung kommen, mit derjenigen, wie uns ein volles Gemälde die Tiefenwerte vorstellig macht, so bemerken wir gewisse Unterschiede. Gemeinsam ist allerdings beiden Fällen, daß eine völlig durchsichtige, scharf ausgeprägte Tiefenlage, wie wir sie bei der Wahrnehmung der Dinge "in der Wirklichkeit" haben, im Bild allgemein nicht vorhanden ist. Insofern können wir also sagen, daß sowohl der Skizze nach als auch dem vollen Gemälde eine Unbestimmtheit der Tiefenlokalisation zukommt. Aber andererseits sind doch die Grade dieser Unbestimmtheit in beiden Fällen nicht dieselben, sondern die Tiefenverhältnisse bei der Skizee sind noch viel unbestimmter, schemenhafter als die, welche wir bei einem Gemälde sehen. Die Striche der Skizze sind uns in vieler Hinsicht nur Hinweise, schemenhafte Andeutungen. Allerdings gibt es auch mehr oder weniger "plastische" Skizzen, und auch nicht alle Gemälde haben eine gute "Plastik", so daß wir von der einfachen Strichzeichnung bis zum vollkommenen "plastischen" Gemälde stetige Übergänge hinsichtlich der Bestimmtheit der Tiefenlokalisation verfolgen können.

Die eben beschriebenen Unterschiede der Lokalisationsverhältnisse bei der Bilddarstellung sind uns je von der Denkweise des gewöhnlichen Lebens her geläufig. Wir sprechen von der größeren "Plastik" des einen und der geringeren eines anderen Gemäldes und meinen damit neben den Unterschieden des deutlichen Hervortretens der körperlichen Formen der gemalten Dinge doch auch die Verschiedenheiten, welche Gemälde hinsichtlich der Lokalisation des Hintereinander aufweisen können, Verschiedenheiten, die uns deutlich zu Bewußtsein kommen, wenn wir Stereoskopbilder zuerst für sich und dann durch das Stereoskop betrachten. (25) Wir wissen auch, daß wir ohne Stereoskop die "Plastik" eines Gemäldes durch gewisse Manipulationen erhöhen können, und wir verwenden dieses Wissen praktisch bei der Betrachtung der Bilder und im Theater, um dem Hintergrundgemälde den Schein der Wirklichkeit zu verleihen. Die Tatsache, daß auch bei der Bilddarstellung anschauliche Tiefenwerte vorhanden sind und daß diese Tiefenwerte von Fall zu Fall charakteristische Unterschiede aufweisen können, wird man also wohl nicht leugnen wollen. Andererseits aber scheint mir die Art und Weise, wie die Tiefenwerte bei den Bildern auftreten, doch auch nicht toto coelo [völlig - wp] verschieden zu sein von den Lokalisationsweisen, wie sie die "Wirklichkeit" zeigt, so daß wir, wenn wir beide Lokalisationsweisen auch nicht ohne weiteres miteinander vergleichen können, doch im einen wie im anderen Fall von verschiedenen Graden der Bestimmtheit der anschaulichen Tiefenlokalisation, der "Sehtiefe" sprechen können. -

Abgesehen vom Sehtiefenphänomen kommt bei der anschaulichen Lokalisation der Sehflächen noch eine weitere Lokalisationsart in Betracht, die ich als die "Sehlage" der Fläche bezeichnen möchte. Wir sehen eine Fläche doch nicht bloß so und so weit von uns entfernt, sondern wir sehen sie auch rechts oder links, oben oder unten oder in der Mitte unseres Sehraums, dann aber auch nach der horizontalen oder vertikalen Richtung lokalisiert. Bei diesen beiden letzten Lokalisationsweisen müssen wir noch einen Augenblick verweilen.

Die Flächen, die sich uns in unmittelbarer Anschauung zugleich darbieten, haben stets auch eine anschaulich festgelegte Stellung zueinander. Um diesen gegenseitigen Richtungsunterschied zu bestimmen, darf man aber auch hier nicht mit den schematischen mathematischen Begriffen von Winkelgrößen an die Anschauungen herantreten. Vielfach freilich werden diese Begriffe auch für die sinnliche Anschauung anwendbar sein, aber es gibt auch Fälle - und die sind keineswegs selten -, wo ihre Anwendbarkeit unmöglich ist. Nehmen wir z. B. den Fall, daß wir bei bedecktem Himmel von der Straße aus über das Dach eines Hauses hinweg das Himmelsgewölbe betrachten und anzugeben versuchen, welche Neigung der unmittelbar über (und "unbestimmt" hinter) dem Dach gesehene Teil des Himmelsgewölbes ggegen die Sehfläche des Daches hat. Wir fühlen uns dazu nicht recht imstande. Diese Unfähigkeit aber hat nicht etwa bloß in der Ungeübtheit seinen Grund, die Größe gesehener Winkel ungefähr in Graden anzugeben, sondern sie kommt von der eigentümlichen Gestaltung der anschaulich gegenseitigen Neigung der beiden Sehflächen selbst. Wenn ich in die gut beleuchtete Ecke meines Zimmers blicke, so sehe ich den Richtungsunterschied der beiden Sehflächen in einer präzisen, bestimmten Form ausgeprägt; die gegenseitige Lage der beiden Sehflächen ist in diesem Fall eine bestimmte. Ganz anders aber steht es bei unserem vorigen Beispiel. Da zeigt die anschauliche Neigung der beiden Flächen nicht dieses präzise, scharfte Gepräge, die Neigung der beiden Sehflächen gegeneinander ist - so wollen wir auch hier wieder sagen - unbestimmt. Natürlich habe ich beim Terminus Unbestimmtheit" nicht im Sinne HILLEBRANDs die Variabilität der Anschauung bei konstanten äußeren Reizbedingungen im Auge, sondern einen bestimmten sinnlich-anschaulichen Charakter des Geschehenen.

Durch die Gegenüberstellung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit der relativen Lage der Sehflächen sind aber nur die beiden Extreme aller möglichen Fälle bezeichnet; zwischen beiden liegt die stetige Reihe der Übergangsphänomene. - Wie bei der Flächenanordnung und Sehtiefe, so können wir also auch hier wieder von einer graduellen Abstufungsmöglichkeit der Bestimmtheit der gegenseitigen Lage der Sehflächen sprechen.

Auf den Zusammenhang zwischen der Unbestimmtheit der relativen Sehlage mit der Unbestimmtheit der Flächenanordnung der in Betracht kommenden Sehflächen möchte ich nicht näher eingehen. Ein solcher scheint mir nämlich in der Tat zu bestehen. EIn viel geringerer Zusammenhang - wenn nicht völlige Zusammenhangslosigkeit - aber scheint mir zwischen relativer Sehlage und Unbestimmtheit der Sehtiefe der Sehflächen zu bestehen. Die schmale Schattenfläche z. B., die ich beim Ofenrohr da in der Ecke gebildet sehe, ist relativ sehr bestimmt in die Tiefe gesetzt, aber ihre Neigung gegen die Sehfläche der anstoßenden Wand ist trotzdem unbestimmt (die Flächenanordnung ist in diesem Fall ebenfalls unbestimmt). In anderen Fällen - wie z. B. bei der vorher beschriebenen Anschauung vom Dach und Himmelsgewölbe - ist zumindest die eine Fläche zugleich auch mit unbestimmter Sehtiefe behaftet, aber diese scheint für das Neigungsphänomen außerwesentlich zu sein. Doch es wird gut sein, wenn wir die Entscheidung dieser Abhängigkeitsfragen der experimentellen Forschung überlassen.

Nun haben wir bisher nur von der relativen Sehlage zweier Sehflächen gesprochen; es gibt aber auch für jede Fläche im einzelnen eine absolute Sehlage, d. h. eine Orientierung nach den für unsere Anschauung "absolut" festgelegten horizontalen und vertikalen Richtungen oder allgemein eine absolute Stellung im jeweiligen Sehraum. Vom tatsächlichen Vorhandensein einer solchen absoluten Orientierung in der Wahrnehmung überzeugt man sich am besten, wenn man Fälle heranzieht, wo diese Sehlage den objektiven Verhältnissen, auf die wir sie gewöhnlich deuten, widerspricht. Man kann derartige Fälle häufig bei Eisenbahnfahrten beobachten. Sitzt man in der Mitte des Abteils und sieht in dem Augenblick, in dem der Zug eine Kurve durcheilt, zufällig zum Wagenfenster hinaus, so bemerkt man mit Staunen, daß die Fabrikschornsteine, auf die das Auge trifft, ganz schief stehen. Die Abweichung von der Vertikalen ist oft so stark, daß man unwillkürlich zusammenzuckt in dem Glauben, daß die Schornsteine im Umfallen begriffen sind. Die Erklärung für dieses eigenartige Phänomen ist die, daß die absolute Vertikalrichtung, deren Festlegung im Augenblick der Kurvenfahrt durch die Wahrnehmungsverhältnisse im Innern des Wagenabteils bedingt ist, mit der objektiven Vertikalrichtung infolge der Seitenneigung des Wagens nicht übereinstimmt. Und eben dieses Auseinanderfallen von subjektiver und objektiver Vertikalrichtung macht deutlich, daß wir beim Sehen mit einer durch die jeweiligen Verhältnisse in verschiedener Weise bedingten absoluten Vertikalrichtung an die Dinge herantreten (26).

Aber nicht bloß das Vertikale, sondern auch das Horizontale ist für unsere visuelle Anschauung in entsprechender Weise festgelegt. Jeder hat wohl schon, wenn er von einem höheren Standort auf eine Wasserfläche oder irgendeine andere objektiv horizontale Fläche hinabsah, die Beobachtung gemacht, daß die gesehene Fläche nicht horizontal, sondern deutlich in den ferneren Teilen in die Höhe gerückt erschien ("hohe See"). Wie anders kann diese Tatsache gedeutet werden als dadurch, daß für unsere visuelle Anschauung auch jederzeit eine absolute Horizontallage irgendwie festgelegt ist, auf die wir das Gesehene zu beziehen pflegen. Wie es mit der allgemeinen Erklärung und der Aufweisung der jeweiligen besonderen Bedingungen eines solchen absoluten Richtungsvergleichsmaßes steht, das ist eine andere Frage; uns kommt es nur auf die Konstatierung der Tatsache an, und die kann, denke ich, nicht gut bezweifelt werden. Allerdings geht schon aus den Ausführungen über die relative Sehlage hervor, und die Beobachtung bestätigt es auch, daß die Beziehungen der Sehflächen zu den absoluten Vergleichsrichtungen nicht immer ganz präzise, bestimmte sind. Gehen wir etwa wieder zu unserem früheren Beispiel der Anschauung des Stückes des Himmelsgewölbes über dem Hausdach, so werden wir zwar geneigt sein, zu sagen, daß die Sehfläche vertikal orientiert ist, aber diese Orientierung ist doch nicht die bestimmte, die wir etwa in unserem Beispiel von den Fabrikschornsteinen hatten. Bezeichnen wir die Lage einer Fläche in Bezug auf die beiden absoluten Orientierungsrichtungen als absolute Sehlage, so werden wir uns also veranlaßt sehen, ebenfalls von verschiedenen möglichen Graden der Bestimmtheit der absoluten Sehlage zu reden.

Aber nicht bloß horizontal und vertikal, sondern nach der jeweiligen Sehrichtung sind die Sehflächen orientiert: Ich sitze augenblicklich so, daß eine durch meine beiden Augen gelegte Gerade der gegenüberliegenden Wand parallel sein würde. Die Sehfläche der Wand ist infolgedessen, wenn ich geradeaus sehe, senkrecht zu meiner Sehrichtung. Wende ich den Kopf zur Seite, so erhält damit die Sehfläche dieser Wand auch eine andere Stellung zu meiner Sehrichtung, sie steht jetzt schräg zu ihr. Und so hat allgemein jede Sehfläche eine anschauungsmäßig sich ausweisende Lage im jeweiligen Sehraum. Und auch hier gilt wieder der Satz, daß die Sehlage mehr oder weniger bestimmt sein kann, wie man sich an passenden Beispielen der vorhergehenden Betrachtungen leicht klar machen kann.

Aber vor einem Irrtum muß man sich hierbei hüten: man darf die Orientierung der Sehflächen nach der jeweiligen Sehrichtung nicht verwechseln mit der vorher betrachtetenn absoluten Sehlage nach der Horizontalen und Vertikalen. Für diese Unterscheidung habe ich ein gutes Beispiel an meinem subjektiven Augengrau. Wie ich schon mitgeteilt habe, erscheint mir dieses als eine leidlich bestimmt gefügte Fläche von mäßiger Krümmung. Diese Fläche bleibt aber in ihren Mittelpartien stets senkrecht zur jeweiligen Sehrichtung, mag ich den Kopf bewegen, wie ich will. Bei der Bewegung des Kopfes ändert sich demnach die absolute Sehlage des Augengrau: Bei gerader Haltung des Kopfes hat dies eine absolute vertikale Sehlage; mit der Neigung des Kopfes nach hinten wandert auch die Sehfläche mit und stellt sich in absoluter Richtung schräg oder im äußersten Grenzfall gar horizontal ein.


§ 4. Vom "Raum-Sehen"

Nachdem wir uns über die Lokalisationsverhältnisse einigermaßen Klarheit verschafft haben, müssen wir nun auch noch näher auf die charakteristischen Eigentümlichkeiten zu sprechen kommen, die beim Sehen des Räumlichen selbst zu verzeichnen sind. Doch zuvor müssen wir noch einiges ausführen über die Möglichkeit, überhaupt den dreidimensionalen Raum sehen zu können.

Dem Satz, daß man nichts Farbiges ohne Räumlichkeit wahrnehmen kann, pflegt man vielfach auch die Umkehrung an die Seite zu stellen, daß auch kein Raum ohne Farbe gesehen werden kann. Daß THEODOR LIPPS diesen Grundsatz vertritt und in seinem Sinn nutzbar zu machen gesucht hat, haben wir bereits weiter oben gesehen. Aber es haben sich auch andere namhafte Psychologen in demselben Sinn ausgesprochen. So wendet z. B. STUMPF in seiner bekannten Schrift "Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung" gegen die kantische Argumentation, daß man wohl den Raum ohne Qualitäten, aber nicht umgekehrt die Qualitäten ohne den Raum sehen kann, u. a. ein, daß diese Behauptung einfach den Tatsachen widerstreitet. Es sei wohl möglich, auf die raumerfüllenden Qualitäten keine Rücksicht zu nehmen, von ihnen zu abstrahieren, aber beim Gesichtssinn den Raum ohne Farben vorstellen zu wollen, das ist nicht möglich.
    "Wer wirklich das kantische Experiment genau auszuführen versucht, indem er alle Qualitäten, insbesondere alle Farben, auch Schwarz und Grau, hinwegdenkt, dem bleibt nicht der Raum, sondern nichts übrig." (27) "Was keine Farbe hat, ist für den Gesichtssinn nicht vorhanden." (28)
Ebenso betont KÜLPE, daß
    "das Räumliche nicht unabhängig von allen besonderen Inhalten der Wahrnehmung vorkommt." "Das Räumliche kennen wir überall nur als etwas an Inhalten unserer Wahrnehmung Gegebenes, nicht als einen selbständigen Inhalt, der sich von anderen qualitativ bestimmten Eindrücken loslösen läßt." (29)
Nun stehe ich keineswegs an, diesen Sätzen meine Zustimmung zu geben, wenn man nur den Begriff der Farbe bzw. des visuellen qualitativen Inhalts genügend weit faßt. So wie der Begriff der Farbe gewöhnlich gebraucht wird - und wie ihn auch THEODOR LIPPS verwendet -, daß er nur die Inhalte, die wir mit rot, gelb, grün, blau, schwarz, weiß, grau, braun usw. bezeichnen, unter sich begreift, kann ich aber diese Sätze nicht als richtig anerkennen. Denn betrachten wir doch einmal den Raum, in dem wir uns befinden, auf seine "Farbe" hin. Zur Bezeichnung der Farbe der ihn umgrenzenden Wände kommen wir mit den genannten Farbennamen eventuell unter Hinzunahme von Nuancennamen) aus, aber den qualitativen Inhalt des gesehenen Raumes selbst können wir mit diesen Namen nicht bezeichnen. Vielleicht würde man, um doch mit diesen Namen auskommen zu können, auf die Bezeichnung "grau" verfallen. Doch das ist kein Grau, wie wir es an Flächen zu sehen gewohnt sind, oder wie wir es in dreidimensionaler Erstreckung z. B. beim Zigarrenrauch, der das Zimmer erfüllt, mehr oder weniger deutlich wahrnehmen können. Gerade darin, daß wir den Sehraum nicht "klar" und "durchsichtig", sondern mit einem grauen Nebel erfüllt sehen, liegt ja für unsere Wahrnehmung der Anhaltspunkt, daß es im Zimmer rauchig ist. Farbig im gewöhnlichen Sinne werden wir also den Sehraum nicht nennen können. Und doch sehen wir diesen Raum, wir nehmen ihn wahr mit derselben sinnenfälligen Deutlichkeit und Anschaulichkeit, wie wir nur sonst sehen. THEODOR LIPPS will allerdings, wie wir hörten, aus der Unmöglichkeit, daß wir den qualitativen Inhalt des Raumes, den wir "zwischen uns und den Objekten" sehen, nicht bezeichnen können, unter Anwendung des Satzes, daß wir Räumliches nicht ohne Farbe sehen können, schließen, daß wir diesen Raum "zwischen uns und den Objekten" und auch denjenigen zwischen den Objekten selbst überhaupt nicht sehen könnten. Doch ich meine, daß wir gerade umgekehrt aus der Tatsache, daß wir diese "Zwischenräume" ohne einen angebbaren Farbeninhalt sehen, folgern müssen, daß der Satz "kein Räumliches ist ohne Farbe wahrnehmbar" falsch ist oder doch zumindest des bedeutsamen Zusatzes bedarf, daß hier der Begriff der Farbe nicht im gewöhnlichen Sinn, sondern in der Bedeutung des qualitativen visuellen Inhalts überhaupt verstanden werden soll.

Bei der Aufstellung dieses Satzes scheint mir überhaupt weniger die Erscheinungsweise des Visuellen in seiner Gesamtheit, als vielmehr nur die Flächenerscheinung als Grundlage genommen zu sein. In der Tat scheint ja eine Betrachtung des Flächensehens zu beweisen, daß wir die Flächen immer in bestimmter Weise mit Farben (im gewöhnlichen Sinn des Wortes) erfüllt sehen, so daß wir leicht den Satz aufstellen können, daß keine Fläche ohne eine Farbenfüllung für uns sichtbar ist. Doch ich meine, von einer tatsächlichen Unmöglichkeit, Flächen ohne Farbe zu sehen, darf auch hier nicht gesprochen werden. Denn betrachten wir etwa eine vollkommen klare, durchsichtige Fensterscheibe oder die Begrenzung eines Glases klaren Wassers. Für gewöhnlich werden sich unsere Augen allerdings so weit von den Flächen entfernt befinden, daß wir die Begrenzungsflächen dieser durchsichtigen Körper überhaupt nicht sehen oder doch zumindest nur aufgrund von (farbigen) Lichtreflexen zu sehen bekommen. Aber wenn wir uns den Flächen genügend nahe gebracht haben und unsere Stellung und die Beleuchtungsverhältnisse so gewählt haben, daß alle Reflexe wegfallen, so ist es trotzdem noch möglich, die Fläche zu sehen. Fragen wir uns aber, was für eine Farbe eine solche Fläche hat, so kommen wir ebenso in Verlegenheit wie vorher, als wir die Farbe des "klaren" Raumes bestimmen wollten; die Fläche ist "farblos", das scheint uns nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die beste Antwort zu sein, die wir hier geben können.

Wir erkennen demnach, daß der Satz, die Flächen seien ohne Farbe nicht wahrnehmbar, keine allgemeine Geltung beanspruchen kann. Allerdings sind die Fälle, wo wir an einer Fläche keine Farbe gewahren können, Ausnahmefälle; in der Regel haben wir mit der Flächenwahrnehmung zugleich auch die Wahrnehmung der Farbe. So wird es auch verständlich, daß sich Psychologen zur Aufstellung des Satzes, Flächen seien überhaupt nicht ohne Farben zu sehen, verleiten ließen. Gehen wir nun aber von der Zweidimensionalität der Flächen zum dreidimensionalen Raum, so erkennen wir, daß hier die Rollen von Regel und Ausnahme geradezu vertauscht sind: der dreidimensionale Sehraum ist in der Regel farblos, und nur in Ausnahmefällen sehen wir ihn mit einem farbigen (grauen) Dunst erfüllt. Das ist, meine ich, eine von jedermann konstatierbare Tatsache, und nur theoretische Erwägungen einer gewissen Richtung konnten viele Psychologen dahin bringen, die Richtigkeit dieses jedem naiv sehenden und denkenden Menschen bekannten Erfahrungssatzes in Zweifel zu ziehen oder gar abzuleugnen durch die Formulierung des Satzes, daß nichts Räumliches ohne Farbe sichtbar zu machen ist. Wenn es jemand nicht als Tatsache gelten lassen will, daß der dreidimensionale farblose ("farbenleere") Raum gesehen werden kann, und zwar gesehen mit derselben sinnenfälligen Anschaulichkeit, Lebhaftigkeit und Deutlichkeit, wie wir auch sonst Farben und Formen sehen, so bleibt demgegenüber nichts weiter übrig, als immer wieder von neuem auf die sinnliche Erfahrung, die solches zeigt, hinzuweisen. Theoretische Überlegungen können hier nichts nützen - im Gegenteil, sie können nur zu offenbaren irrigen Ansichten verhelfen -, sondern nur die sinnliche Erfahrung kann sagen, was in ihr ist und was nicht.

Wenn ich nun auch für die Möglichkeit und Tatsächlichkeit der Wahrnehmung des "farbenleeren" Raums eintrete, so ist es doch keineswegs meine Meinung, daß der "farbenleere" Raum bloßer, reiner Raum ohne irgendwelche visuellen Qualitäten ist. Jeder Raum, den wir zu sehen bekommen, hat eine bestimmte Qualität - und insofern bin ich vollkommen einverstanden mit dem Satz, daß die Wahrnehmung eines qualitätslosen Raumes eine Unmöglichkeit ist - aber diese Qualität braucht keineswegs immer eine Farbe zu sein.

In dieser Festlegung liegt keineswegs eine bloße Wortklauberei, sondern in ihr finden die tatsächlichen Verhältnisse, welche die visuelle Wahrnehmung aufweist, ihren Ausdruck. Allerdings könnte man das Wort "Farbe" auch zur Bezeichnung des Begriffs der visuellen Qualität (in einem weiteren Sinn) gebrauchen, und insofern würde man unseren eben aufgestellten Satz umstoßen können; doch auf die Verwendung der Worte kommt es uns hier nicht an, wir haben mit unserer Unterscheidung Sachliches im Auge. In sachlicher Beziehung aber ist zunächst die Frage zu erörtern, ob eine Notwendigkeit besteht, dem "farbenleeren" Raum überhaupt eine bestimmte Qualität beizulegen, oder ob es nicht ebensogut ginge, diesem Raum die Qualität gänzlich abzusprechen, ihn also als reinen, qualitätslosen Raum zu bezeichnen. Die Entscheidung dieser Frage möchte ich mit der folgenden Betrachtung beginnen: Reines Wasser in dünnen Schichten bezeichnen wir als farblos. Nehmen wir nun an, wir setzten dem Wasser ein klein wenig Farbstoff zu, so daß die Wassermasse eine eben merkliche Färbung zeigt. Das Wasser hat dann im Sinn der gewöhnlichen Redeweise eine gewisse positive Qualität erhalten. Wollen wir nun den Übergang von der "Farblosigkeit" zur schwachen Färbung des Wassers so beschreiben, daß wir sagen, dem Wasser sei durch die Lösung des Farbstoffes erst eine visuelle Qualität zuteil geworden, das Qualitative des Gesehenen sei aus der Null zu einem positiven Wert aufgerückt? Ich meine, eine derartige Ausdrucksweise würde den Tatsachen nicht gerecht werden. Denn vergleichen wir "farbloses" Wasser mit schwach gefärbtem, so ist die Hinsicht des Vergleichs doch wohl dieselbe. Ich vergleiche und finde, daß die beiden Vergleichsobjekte sich dadurch unterscheiden, daß im einen Fall Farbigkeit vorhanden, im andern Fall nicht vorhanden ist. Was ich mir aber bei beiden Vergleichsobjekten ansehe, ist nicht im einen Fall die Farbe und im andern der reine Raum, an dem ich nichts von Qualität finde, sondern ich vergleiche Qualität mit Qualität. Farbloses Wasser als jeder visuellen Qualitäten bar zu bezeichnen, das käme mir ebenso vor, wie man früher vielfach Schwarz nicht als Farbe gelten lassen wollte. Von der Farblosigkeit gibt es allmähliche Übergänge zur Farbigkeit, und diese Farblosigkeit ist dabei kein qualitätenloses Nichts, sondern ich sehe sie gerade so gut, wie ich die Farben wahrnehme. Man wird demnach nicht umhin können, auch dem farblosen Wasser eine bestimmte Qualität zuzuschreiben.

Tut man dies aber, so muß man konsequenterweise auch dem "farbenleeren" Raum, den wir zwischen uns und den Dingen oder auch zwischen zwei Dingen wahrnehmen, eine positive visuelle Qualität beilegen, denn auch bei diesem Raum gibt es allmähliche Übergänge von der Farblosigkeit zur Farbigkeit, von der Qualität der "Klarheit" und "Durchsichtigkeit" zur Farbenqualitäten. Solche Fälle zu beobachten, haben wir ja bei eintretendem Nebel und dgl. Gelegenheit. Wenn wir uns so gezwungen sehen, auch dem farbenleeren Raum eine positiv visuelle Qualität zuzuerkennen, so fragt es sich weiter, ob wie diese Qualität nicht als eine besondere Farbenart den bisher benannten zuzählen müssen, oder ob sie als eine Qualität sui generis den Farbenqualitäten gegenübergestellt werden muß. Mir scheint, daß das letztere der Fall ist. Die Qualitätenbeobachtung des farbenleeren Raums hat allerdings für uns etwas Ungewohntes und dadurch auch Unsicheres an sich, aber soviel glaube ich doch feststellen zu können, daß der farbenleere Raum nicht bloß eine einzige Qualität, sondern eine stetige Reihe von farbenlosen Qualitäten aufweisen kann. Auf diese Tatsache hat HERING hingewiesen.
    "Bei Tage", so sagt er, "sieht man den sogenannten leeren Raum zwischen sich und den Sehdingen ganz anders als bei Nacht. Die zunehmende Dunkelheit legt sich nicht bloß auf die Dinge, sondern auch zwischen uns und die Dinge, um sie schließlich ganz zu verdecken und den Raum zu erfüllen." (30)
Freilich ist mir hier nicht ganz klar, was HERING unter der "Dunkelheit" verstanden wissen will. Ich meine nämlich, daß man beim Vorgang der Abenddämmerung, auf die sich HERING bezieht, zweierlei unterscheiden muß. Beobachten wir etwa beim Eintritt der Dämmerung die Verdunkelung des Sehraums vom Fenster des Zimmers aus. In dem Maße wie wir uns dem Abend nähern, vollzieht ich eine Veränderung des Raums, den wir draußen sehen, nach einer bestimmten Richtung hin, ein Vorgang, den wir als Verdunkelung des Sehraumes bezeichnen können. Achten wir dabei aber auch auf die Veränderung der Qualität des Raumes, den wir bei den an der Fensterseite liegenden Zimmerecken wahrnehmen, so scheint mir neben der Verdunkelung auch ein allmähliches Schwärzerwerden zu beobachten zu sein. Während wir bei der bloßen Verdunkelung, wie sie uns der Raum draußen bietet, noch im Bereich des Farblosen bleiben, tritt uns also hier auch noch eine Farbenqualität, Schwarz, entgegen.

Denselben Unterschied zwischen der Verdunkelung und dem Schwärzerwerden des Sehraumes können wir beobachten, wenn wir des Abends aus einem hell erleuchteten Zimmer zuerst auf die beleuchtete Straß treten und uns dann in stockfinstere Gegenden begeben. Den Raum auf der beleuchteten Straße sehen wir dann dunkler als den, welchen wir vorher im Zimmer wahrnahmen, je spärlicher die Beleuchtung wird, umso dunkler und desto schwärzer zugleich erscheint auch der Raum. Wie man also bei den Flächenfarben z. B. von der Schwarz-Weiß-Reihe spricht, so müßte man hier auch von einer Verdunkelungsreihe des farbenleeren Raumes sprechen.

So hat uns dann die Tatsache des Raumsehens auf eigentümliche Sehqualitäten geführt, die wir darum nur schwer beschreiben können, weil uns so gut wie jede Bezeichnungsweise fehlt. Wir mußten au sie besonders hinweisen, weil es die Psychologie bisher versäumt hat, sich mit ihrer Erscheinungsweise zu befassen. Wir sehen zugleich aber auch, daß die Beschreibung, welche die Psychologie von den visuellen Qualitäten zu geben pflegt, sich einseitig auf die Flächenfarben beschränkt und die Reihe der Raumfarben gänzlich übersehen hat.


5. Der "wirkliche" visuelle Raum

Nachdem wir die Tatsache des Raumsehens festgestellt und auf einige hauptsächliche Eigentümlichkeiten dieser Raumwahrnehmung hingewiesen haben, können wir jetzt dazu übergehen, die verschiedenartigen Begriffe von "Sehraum" zu behandeln, die man aufstellen kann. Wir knüpfen dabei wieder an unsere früheren kurzen Ausführungen (§ 1 dieses Kapitels) über die von HERING aufgestellte Unterscheidung des "wirklichen" Raumes und des jeweiligen Sehraumes an. Denn so einfach und durchsichtig diese Unterscheidung von vornherein auch erscheinen mag, wenn man sie sich in allen Punkten zur Klarheit bringen will, so stößt man doch auf gewisse Schwierigkeiten, die eine eingehendere Erörterung der hier vorliegenden Verhältnisse nötig machen in ähnlicher Weise, wie wir das im vorigen Kapitel mit dem Sehdingbegriff tun mußten. Einmal muß der Begriff des "wirklichen" Raumes noch schärfer fixiert werden, als es bis jetzt geschehen ist, und zum anderen kann man auch nicht schlechthin von einem "Sehraum" im Unterschied vom entsprechenden "wirklichen" Raum reden, sondern man muß noch zwischen mehreren, verschiedenartigen "Sehräumen" unterscheiden.

Sprechen wir zunächst vom "wirklichen" Raum noch einmal etwas ausführlicher! Den unendlichen "wirklichen" Raum lassen wir dabei ganz außer acht; wir sprechen nur von den endlichen, den "wirklichen Partialräumen".

Alles "Wirklich" muß sich einordnen lassen in die Einheit der gesamten Sinneserfahrung; dies ist ein Grundsatz, den wir bei der Bestimmung dessen, was "wirklich" ist, ständig in Anwendung bringen, und der uns auch häufig veranlaßt, die Wahrnehmungen des einen Sinnes durch die der anderen zu kontrollieren, eventuell auch zu korrigieren. Das gilt in erster Linie für die Dingwahrnehmung, findet aber auch bei der Raumwahrnehmung seine sinngemäße Beachtung. Das Räumliche, das wir sehen, nehmen wir nicht ohne weiteres als das räumlich "Wirkliche", sondern erst das, was die Gesamtheit unserer Sinneserfahrung als bestehend gezeigt hat, wird als solches hingenommen. Wie bei den Dingen, so kann sich auch beim Raum diese Erfahrung auf mehrere Sinnesgebiete erstrecken, die Erfahrungen des Gesichtssinnes können durch diejenigen des Tastsinnes und umgekehrt ergänzt werden, denn es ist derselbe "wirkliche" Raum, den wir durch das Gesicht und das Getast zu erkennen suchen. Aber wie wir bei der Dingwahrnehmung trotz des Hinausreichens unserer Erfahrung über den Gesichtssinn zur Bestimmung eines rein visuellen "wirklichen" Dings kamen, so gibt es auch beim Räumlichen eine rein visuelle "Wirklichkeit", deren näherer Charakterisierung wir uns jetzt zuwenden wollen.

Gehen wir von dem Beispiel aus, daß wir die Eigenschaften des "wirklichen" visuellen Raums, der von den Wänden eines Zimmers umschlossen wird, bestimmen wollen. Bei der Besichtigung, die wir zu diesem Zweck anstellen müssen, sehen wir bald diesen, bald jenen Teil des Raumes, bald übersehen wir den Raum nach seiner ganzen Erstreckung, bald nur eine kleinere Partie. Es sind also immer andere Ansichten, in denen sich uns der Raum darbietet, erst durch eine Mannigfaltigkeit verschiedener "Sehräume" können wir den einen Raum nach seinen "wirklichen" visuellen Eigenschaften bestimmen. Wir finden dann, daß der Raum die ungefähre Form eines Rechtskants hat, daß sich in ihm an dieser Stelle dieses, an jener jenes Dinge befindet, daß es hier hell, da düster, dort vielleicht ganz dunkel ist. Das alles aber sollen objektive Feststellungen sein in dem Sinne, daß die Einheit der visuellen Erfahrung diese Form, Dingerfüllung und Qualitätenbeschaffenheit erkennen läßt. Denn nicht ohne weiteres sehen wir einen Raum in seiner "wirklichen" Erstreckung und mit seinen "wirklichen" visuellen Qualitäten erfüllt. Ich stehe z. B. in meinem Zimmer in der Nähe eines Fensters so, daß ich diesem Fenster das Gesicht zuwende, und betrachte die Zimmerecke, welche diesem Fenster am nächsten liegt. Ich sehe die Ecke ziemlich dunkel, fast schwarz. Gehe ich aber auf die Ecke zu, so merke ich, daß diese heller und heller wird, und erst dann, wenn ich ganz im Eckenraum bin, kann ich saen, ob dieser hell oder dunkel ist oder irgendeine andere visuelle Qualität hat. Wie es zur Bestimmung der visuellen objektiven Eigenschaften der Dinge eines eigentümlichen Objektivationsprozesses bedurfte, so kommen wir auch hier bei der Festlegung der Eigenschaften des visuellen "wirklichen" Raumes zu einem entsprechenden Objektivationsprozeß. Natürlich braucht dieser nicht in allen Fällen zu einer richtigen Bestimmung zu führen, sondern es kommt hier nur auf die Richtung an, nac der die Bestimmung führt.

Indem wir uns nun aber nach und nach die Eigenschaften der einzelnen Teile des "wirklichen" Raumes zu Gesicht bringen, wird in einem gewissen Sinn auch der "wirkliche" Raum, zumindest nach seinen visuellen Bestimmtheiten, zu einem "Sehraum". Denn wenn wir auch nicht ohne weiteres jede Eigenschaft, in der wir einen Raum sehen, diesem als "wirklich" zuschreiben, sondern unter dem Gesehenen nach gewissen Gesichtspunkten eine Auswahl treffen, so sind doch die visuellen Eigenschaften, die wir dem Raum schließlich als "wirklich" zuerkennen, gesehen, und damit wird der "wirkliche" Raum als ein gesehener Raum, als "Sehraum" besonderer Art zu charakterisieren sein. Haben wir also früher scharf zwischen dem Raum, wie er gesehen wird, und dem Raum, so wie er "in Wirklich" ist, unterschieden, so sehen wir jetzt, daß diese Bestimmung nicht in dem Sinn gemeint sein kann, daß der "wirkliche" Raum überhaupt nicht gesehen werden könnte, sondern nur in dem Sinn, daß der Raum, wie wir ihn jeweils sehen, nicht immer auch den "wirklichen" visuellen Raum darstellt. Wir haben hier also ein ganz analoges Verhältnis zwischen dem "Sehraum" und dem ihm entsprechenden "wirklichen" Raum, wie wir es in § 7 des vorigen Kapitels in Bezug auf die "Sehdinge" ausführlich erörtert haben; wir werden deshalb wohl nicht weiter auf dieses Verhältnis einzugehen brauchen.

Aber auf ein mögliches Mißverständnis muß ich doch noch zu sprechen kommen. Wenn wir schlechthin vom "wirklichen" Raum reden, so haben wir eigentlich immer nur die reine quantitative Raumerstreckung, die abstrakte dreidimensionale euklidische Mannigfaltigkeit, im Auge, und so könnte man meinen, daß auch wir mit dem "wirklichen" visuellen Raum nur das Quantitative meinen. Doch dies ist nicht der Fall, sondern wir wir dem "wirklichen" Ding neben den rein quantitativen Eigenschaften der Raumfüllung auch qualitative, die Farbeigenschaften, zuschreiben, so ist auch der "wirkliche" visuelle Raum keine rein quantitative Erstreckung, sondern immer mit bestimmten visuellen Qualitäten behaftet. Diese wechseln von Fall zu Fall, da wir den Raum bald farbig, bald farblos sehen, bald hell, bald dunkel. Eben dieses Vorhandensein von visuellen Qualitäten macht ja allererst den "wirklichen" Raum zu einem visuellen, denn die nach allen Seiten gleichmäßig gehende dreidimensionale Erstreckung kann ebensogut auch durch das Getast erfaßt werden, während die visuellen Qualitäten selbst dem Getast natürlich unzugänglich sind.

So wären wir zu dem Ergebnis gekommen, daß man unter einem "wirklichen" Raum zweierlei verstehen kann: einmal die reine, sich nach drei Dimensionen gleichmäßig erstreckende räumliche Quantität, die nach ihrer Beschaffenheit sowohl vom Gesicht, als auch vom Getast erfaßt werden kann, und zum anderen den auch mit jeweils bestimmten Qualitäten erfüllten "wirklichen" visuellen Raum, der mit jenem die gleichmäßig nach den drei Dimensionen gehende Erstreckung gemeinsam hat, dem aber die Qualitätenbestimmtheiten als wesentliche Merkmale zugehören. Der "wirkliche" Raum im ersten Sinn ist vom Standpunkt des Sehens aus eine reine Abstraktion, und insofern ist es selbstverständlich, daß der Begriff des "Sehraumes" sich von dem des "wirklichen" Raumes unterscheidet. Der "wirkliche" Raum im zweiten Sinne aber ist ein konkretes visuelles Ganzes, das sich zwar auch dem Begriff nach vom Raum, wie wir ihn jeweils sehen, unterscheidet, das aber seine inhaltliche Bestimmung durch einen mehr oder weniger festen Grundsätzen sich vollziehenden Prozeß der Auswahl aus den Räumen, wir wir sie jeweils sehen, erhält.


§ 6. Die "Sehräume".

Wir verlassen nun die Begriffe des "wirklichen" Raumes und wenden uns dem Begriff des "Sehraumes" im Unterschied vom "wirklichen" Raum zu. Daß wir einen Raum vielfach anders sehen, als er in "Wirklichkeit" ist, haben wir bisher schon wiederholt betont; doch wir müssen noch in einigen Sätzen auf diese Verhältnisse zu sprechen kommen.

Die Verschiedenheit von "wirklichem" Raum und Sehraum geht sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Richtung. Auf die qualitativen Unterschiede haben wir nun im vorigen Paragraphen wohl ausführlich genug hingewiesen, aber in quantitativer Hinsicht bleibt noch einiges nachzutragen. Dem "wirklichen" Raum (einerlei in welcher der beiden angegebenen Bedeutungen) schrieben wir Gleichmäßigkeit, Gleichartigkeit der Erstreckung nach allen drei Dimensionen zu. Für den "Sehraum" gilt dies keineswegs, sondern es treten hier gegenüber der entsprechenden "Wirklichkeit" zweierlei bedeutsame Abweichungen zutage. Einmal haben wir nämlich die bekannte perspektivische Verjüngung: wir sehen die in Wirklichkeit gleichweit voneinander bleibenden Raumbegrenzungen in der Ferne zusammenlaufen (z. B. bei einem Tunnelgewölbe), und zum anderen besteht die Erscheinung der perspektivishen Verkürzung des Raumes: der gesehene Raum erscheint gegenüber der "wirklichen" Erstreckung in der Richtung der Sehachse zusammengeschoben. Je nach den Sehbedingungen ist der Grad dieser Verkürzung groß oder gering. Stehen wir so, daß wir die nach der Tiefe gehenden Begrenzungsflächen oder doch zumindest eine von ihnen bequem übersehen können, so ist die Verkürzung nicht so stark wie in dem Fall, daß wir nichts von diesen Begrenzungsflächen zu sehen bekommen. Es steht diese Raumverkürzung ja im engsten ursächlichen Zusammenhang mit der Verschiedenartigkeit der Tiefenlokalisation, von der wir früher gesprochen haben, und auch die Unbestimmtheitsgrade, die wir bei der Tiefenlokalisation erörtert haben, finden sich in ganz entsprechendem Sinn auch beim dreidimensionalen Raumsehen wieder.

Nach diesen kurzen nachträglichen Bemerkungen können wir nun zur Erörterung des Begriffs des Sehraums kommen. Wir sprachen bisher immer nur von dem Sehraumbegriff, machten also die stillschweigende Voraussetzung, daß es auch nur einen einzigen möglichen derartigen Begriff gibt. Doch diese Voraussetzung trifft nicht in jeder Hinsicht zu. Zwar finden sich die vorher noch einmal kurz zusammengestellten Unterscheidungsmerkmale des "wirklichen" Raumes von den entsprechenden Sehräumen bei allen Sehraumbegriffen, die wir aufstellen wollen, in gleicher Weise wieder, aber innerhalb der Sehraumsphäre sind doch noch feinere Unterschiede zu machen, an denen wir nicht vorübergehen dürfen. Orientieren wir uns wieder, um uns diese Unterschiede an geeigneten Beispielen vor Augen zu führen!

Ich stehe auf der Straße und beobachte den regen Verkehr, der sich da abspielt. Ich lasse dabei meinen Blick hin- und herschweifen, indem ich bald hier in der Nähe, bald dort in der Ferne etwas beobachte, was mir gerade besonders in die Augen fällt. Im allgemeinen werden es gewisse Dinge und Vorgänge sein, welche meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen; doch ich kann auch auf die dreidimensional räumlichen Erscheinungen achten, die sich mir zugleich mit den Gegenständen darbieten. Vor mir habe ich dann einen so und so begrenzten, mit den und den visuellen Qualitäten erfüllten Raum, in dem ich bestimmte Gegenstände in diesen und jenen Veränderungen begriffen sehe. In diesem Raum rückt der eine Gegenstand auf mich zu, der andere entfernt sich, und wieder ein anderer durchquert ihn. Da ich weiß, daß die Straße überall gleichbreit ist, da ich aber den Raum, den ich wahrnehme, deutlich in der Ferne sich verjüngen sehe, so kann der gegebene Raum nicht der "wirkliche" visuelle Raum sein, sondern er muß ein bloßer Sehraum sein, ebenso wie die Gegenstände, die ich in ihm sehe, nicht die "wirklichen" Dinge, sondern bloße Sehdinge sind. Aber wenn das Wahrgenommene auch kein "wirklicher" Raum ist, so macht er doch gewissermaßen den Eindruck eines solchen. Um den "wirklichen" Raum seiner qualitativen und quantitativen Beschaffenheit nach zu bestimmen, bedürfen wir einer Reihe von stetig ineinander übergehenden Raumwahrnehmungen, die wir dadurch erhalten, daß wir den Raum in allen seinen Teilen nach und nach unter solchen Bedingungen besichtigen, die der "Wirklichkeitsauffassung" entsprechen, d. h. wir begeben uns nach den einzelnen Teilen des Raumes und bringen sie uns aus unmittelbarer Nähe zu voller und deutlicher Anschauung. Beim "Sehraum", den wir in dem vorher beschriebenen Fall wahrnehmen, bleiben wir nun zwar an derselben Stelle stehen, sehen also die einen Teile aus unmittelbarer Nähe, die anderen nur in größerer oder geringerer Ferne. Aber wie wir den "Sehraum" bestimmen, können wir ihn doch auch nicht in allen seinen Teilen mit einem einzigen Blick erfassen, sondern um uns seine Beschaffenheit und Erstreckung in toto [zur Gänze - wp] zur Anschauung zu bringen, müssen wir von unserem Standpunkt aus die einzelnen Teile nach und nach mit dem Blick fixieren. Trotzdem wir auf diese Weise eine große Mannigfaltigkeit von ineinander übergehenden Raumanschauungen erhalten, ist es nach unserer Auffassung doch ein und derselbe Sehraum, den wir in all diesen Anschauungen wahrnehmen. Es liegt also hier ein ähnlicher Auffassungsprozeß vor, wie wir ihn im vorigen Kapitel bei der Dingerscheinung beschrieben haben: die Dingerscheinung ergab sich uns dadurch, daß wir (bei ruhendem Objekt) von einer bestimmten, festen Stelle aus die Oberfläche des Dings mit dem Blick durchliefen und dann durch einen eigentümlichen Prozeß der Auswahl und Synthese, der nur die Fixationsflächen der Wahrnehmung beachtet, eine einheitliche Sehfläche konstruierten. So nehmen wir auch hier bei der Raumwahrnehmung, die sich nach und nach ergebenden "Fixationsräume", d. h. die deutlich gesehenen Mittelpartien, heraus und lassen sich in der Weise einer verdinglichenden Synthese einen einheitlichen Sehraum konstituieren.

Allerdings können wir innerhalb dieses "objektivierten Sehraumes", wie ich einmal kurz sagen will, noch einen feineren Unterschied machen. Der "objektivierte Sehraum" kann nämlich einmal als ein räumliches Gebilde aufgefaßt werden, das die Sehdinge in ähnlicher Weise enthält, wie der wirkliche visuelle Raum die wirklichen Dinge in sich faßt. Beim "wirklichen Raum" sagen wir, daß er die Dinge in sich enthält, daß die Dinge einzelne seiner Teile erfüllen, daß sie in ihm diese und jene Bewegung ausführen können usw. Eine entsprechende Auffassung ist nun auch in Bezug auf die Sehdinge und den "objektivierten Sehraum" möglich. Jedes der Sehdinge, die wir zu Gesicht bekommen, hat in einem Sehraum seine anschauungsmäßig bestimmte Stelle und erfüllt ja nach seinem Umfang einen größeren oder geringeren Teil dieses Sehraumes. Natürlich ist es innerhalb des Sehraumes auch nicht an eine bestimmte Stelle gebunden, sondern kann darin allerhand Bewegungen nach dieser und jener Richtung vornehmen und damit an anderen Stellen des Sehraumes geschaut werden, andere Sehraumteile erfüllen.

Bei dieser Auffassung, die nicht immer zu erfolgen braucht, die aber an und für sich sehr wohl möglich ist, geben wir den Sehdingen ganz die feste Form von "wirklichen" Dingen und dem Sehraum gleichsam die Eigenschaften eines "wirklichen" Raumes. Wir rechnen zum Sehraum nicht bloß diejenigen Raumteile, die wir bei den verschiedenen Fixationsrichtungen wirklich sehen bzw. gesehen haben, sondern auch diejenigen, welche infolge des Vorhandenseins der Sehdinge verdeckt werden, welche aber gesehen werden können, wenn die Sehdinge ihren Ort wechseln. Nach unten findet dieser "Sehraum" seinen natürlichen Abschluß durch die Erscheinung des Erdbodens und ebenso in der Ferne durch die fernsten noch wahrnehmbaren Flächen; an den beiden Seitengrenzen und oben ist er entweder auch durch bestimmte Erscheinungsgruppen abgeschlossen, oder der Interessenbereich unserer Wahrnehmung schafft willkürlich solche Grenzen. Innerhalb des so begrenzten "Sehraumes" befinden sich die jeweiligen Sehdinge, aber diese selbst begrenzen ihn nicht. Man wird deshalb den so aufgefaßten "Sehraum" nicht unpassend den Raum der Sehdinge oder den Sehdingraum nennen.

Die zweite Auffassung, welche der "objektivierte Sehraum" erfahren kann, ist die folgende: Man bezieht sich nicht auf die Sehdinge, sondern auf die Dingerscheinungen, und läßt die Begrenzung des Sehraumes nicht gegeben sein durch eine Fußbodenerscheinung und eine fernste Sehfläche, sondern zugleich auch durch die Dingerscheinungsflächen selbst. Bei der Auffassung als Sehdingraum änderte eine etwaige Bewegung eines Sehdings die Ausdehnungsverhältnisse des Raumes nicht, bei der jetzigen Auffassung aber bringt eine jede Lagenveränderung einer erscheinenden Fläche im Allgemeinen auch eine Änderung in der Erstreckung des Sehraumes zuwege. Wir wollen deshalb den so aufgefaßten Sehraum als den Erscheinungsraum bezeichnen.

Den Unterschied zwischen dem Sehdingraum und dem Erscheinungsraum können wir uns an folgendem Beispiel klar machen: Ich stelle einen Sessel mitten in das Zimmer vor mich hin und lasse nun von jemandem den Sessel auf mich zuschieben. Der Sehdingraum, der in diesem Fall im Wesentlichen durch die Erscheinung der Zimmerwände begrenzt ist, ändert durch die Verschiebung des Sessels seine Form und seine Ausdehnungsverhältnisse nicht: das Sehding Sessel bewegt sich in ihm. Der Erscheinungsraum aber erhält durch die Verschiebung eine andere Gestalt und andere Erstreckungsverhältnisse: der Raum wird in der Richtung vom Sessel zu mir hin verengt, und die Begrenzungsfläche in derselben Richtung nach dem "Innern" des Sehraumes verschoben. -

Wie wir nun bei den Dingen neben der Objektivation der Dingerscheinung noch diejenige der Anschauung haben, so ist auch neben dem Objektivationsprozeß, der zu den beiden Arten des "objektivierten Sehraums" führt, noch ein andersartiger Objektivationsprozeß möglich, der uns einen weiteren Begriff von Sehraum bringt, den ich als Anschauungsraum bezeichnen möchte. Beim "objektivierten Sehraum" sagten wir, daß er einen Raum darstellt, der sich bei wechselnder Blickrichtung als das einheitliche Räumliche ergibt. Wir können aber nun die einzelne Blickrichtung ungeändert lassen, können ständig dieselbe Raumstelle fixieren und werden dann doch noch eine dreidimensional ausgebreitete Räumlichkeit zu sehen bekommen, und eben diesen Raum, den wir dann sehen, will ich als den Anschauungsraum bezeichnen. Wie die Anschauung, so ist auch dieser Anschauungsraum nicht ein schlechthin Erlebtes, sondern auch noch ein in gewissem Sinn erst durch Objektivation sich Konstituierendes. Denn auch wenn wir die Blickrichtung festhalten, so bleibt doch immer noch die Möglichkeit der Schwankung der Aufmerksamkeitsrichtung, indem wir bei feststehender Fixation bald diesem, bald jenem Teil des Raumes die Aufmerksamkeit zuwenden.

Schließlich könnte man auch noch von einem reinen "Erlebnisraum" sprechen, d. h. einem Räumlichen, bei dem auch jede Schwankung der Aufmerksamkeit ausgeschlossen ist. Doch nach den im vorigen Kapitel über das "Erlebnis" gemachten Bemerkungen würde ein derartiger Raumbegriff für die wissenschaftliche Deskription ebenso belanglos sein wie der Begriff des "Erlebnisses" selbst. -

Unsere begriffsanalytischen Untersuchungen über den "Sehraum" haben uns also zu vier verschiedenen Begriffen von "Sehraum" geführt:
    1) dem "wirklichen" visuellen Raum,
    2) dem Sehdingraum
    3) dem Erscheinungsraum und
    4) dem Anschauungsraum
Das Unterscheidende dieser vier Begriffe haben wir in den möglichen verschiedenartigen Objektivationsprozessen gesehen, die wir beim Raumsehen vollziehen können.
LITERATUR - Heinrich Hofmann, Untersuchungen über den Empfindungsbegriff, [Inaugural-Dissertation] Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 26, Leipzig 1913
    Anmerkungen
    1) HERMANNs "Handbuch" etc., a. a. O., Seite 343f.
    2) HERING, a. a. O., Seite 343
    3) HERING, a. a. O., Seite 347
    4) EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie", zweite Auflage, Bd. 1, Seite 448. Den Unterschied hat auch HUSSERL in seiner Vorlesung, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, erörtert.
    5) THEODOR LIPPS, Psychologische Studien, Heidelberg 1885, Seite 69/70.
    6) LIPPS, a. a. O., Seite 70
    7) LIPPS, a. a. O., Seite 70
    8) LIPPS, a. a. O., Seite 69
    9) C. S. CORNELIUS, Zeitschrift für Psychologie etc., Bd. 2, "Zur Theorie des räumlichen Vorstellens usw.", Seite 173
    10) CORNELIUS, a. a. O., Seite 174
    11) LIPPS, a. a. O., Seite 80
    12) Zeitschrift für Psychologie etc., Bd. 3
    13) LIPPS, a. a. O., Seite 135
    14) LIPPS, a. a. O., Seite 136f
    15) HILLEBRAND, Zeitschrift für Psychologie etc., Bd. 16, 1898
    16) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 78f
    17) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 79
    18) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 79
    19) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 80
    20) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 82
    21) HILLEBRAND, a. a. O., Seite 95
    22) Vgl. auch die Kritik von DAVID KATZ, a. a. O., Seite 64/65
    23) HERMANN EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie, Bd. 1, Seite 448
    24) Ich kenne zumindest in der Literatur nur zwei Arbeiten, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, nämlich eine von ERNST von ASTER, "Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung" (Zeitschrift für Psychologie usw., Bd. 43) und eine von F. E. O. SCHULZE, Einige Hauptgesichtspunkte der Beschreibung in der Elementarpsychologie. Wirkungsakzente sind anschauliche, unselbständige Bewußtseinsinhalte" (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 8). - In seinen Vorlesungen hat sich HUSSERL seit 1905 wiederholt mit der Phänomenologie der bildlichen Darstellung beschäftigt, wenn es ihm auch nicht eigentlich um die Tiefenlokalisation zu tun war.
    25) Übrigens bieten auch die Erscheinungen, die wir beim Einstellen am Stereoskop beobachten können, recht gute Belege für die mannigfachen Grade der Lokalisationsbestimmtheit, die beim Tiefensehen auftreten können.
    26) Beobachtungen bei Bildern haben ebenfalls für mich unzweifelhaft ergeben, daß wir auch in diese den Maßstab der absoluten Vertikallage hineintragen.
    27) STUMPF, a. a. O., Seite 19/20
    28) STUMPF, a. a. O., Seite 21
    29) KÜLPE, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1893, Seite 349
    30) HERMANNs Handbuch, a. a. O., Seite 573.