| WILHELM TOBIAS
Grenzen der Philosophie
[konstatiert gegen Riemann und Helmholtz,
verteidigt gegen von Hartmann und Lasker.]
[4/4]
"Durch alle seine Äußerungen Riemanns werden wir nur darin bestärkt, daß er auf dieser imaginären Grundlage verbleibt. Alle inneren Widersprüche in seiner Arbeit ergeben sich aus der kardinalen Willkür, Anschauungen in Begriffe verwandelbar zu finden, die Erscheinungen zu intellektuieren."
"Kant hatte Raum und Zeit kurzweg als gegebene Formen aller Anschauung hingestellt, ohne weiter zu untersuchen, wie viel in der näheren Ausbildung der einzelnen räumlichen und zeitlichen Anschauungen aus der Erfahrung herleleitet sein könnte. Diese Untersuchung lag auch außerhalb seines Weges. So betrachtete er namentlich die geometrischen Axiome auch als ursprünglich in der Raumanschauung gegebene Sätze, eine Ansicht, über welche sich wohl noch streiten läßt."
""Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, enthält mehr als die bloße Form der Anschauung, nämlich eine Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber eine Einheit der Vorstellung gibt."
"Ich habe die Sinnesempfindungen nur als Symbole für die Verhältnisse der Außenwelt bezeichnet und ihnen jede Art der Ähnlichkeit oder Gleichheit mit dem, was sie bezeichnen, abgesprochen. Wir rühren damit an die viel bestrittene Frage, wie weit unsere Vorstellungen überhaupt mit ihren Objekten übereinstimmen, ob sie, wie man es ausgedrückt hat, wahr oder falsch sind." |
III. Der Begriff "Erfahrung".
Bisher ist nur die Darlegung der Grund versucht worden, welche es rechtfertigen, daß man die von RIEMANN konstruierte n-fach ausgedehnte und mit Krümmungsmaß begabte Mannigfaltigkeit als einen Unbegriff beurteilt. Aber aus dem Gesagten wird noch nicht ersichtlich, wie es zu den direkt einander widersprechenden Auffassungen hat kommen können, welche wir über den RIEMANNschen Raum von ROSANES und LIEBMANN vernommen haben. Beide referieren über die RIEMANN-HELMHOLTZschen Arbeiten, beide geben die Interpretation des von ihnen gebilligten Resultats jener gleichgerichteten Bestrebungen als völlig zur Sache gehörig, nicht als ihre subjektive Entscheidung; dennoch stimmen nach ROSANES die Ansichten von GAUSS, RIEMANN, HELMHOLTZ mit LOCKE überein "wonach man im Raum Nichts als einen von der Empirie abstrahierten Begriff zu sehen hat", während LIEBMANN in denselben Arbeiten von GAUSS, RIEMANN, HELMHOLTZ "eine Verifikation und zugleich Restriktion des berühmten philosophischen Paradoxons erkennt" und es als ein nunmehr exakt gewordenes Endergebnis konstatier, daß
"der sinnliche Anschauungsraum ... nichts absolut Reales" ist, "sondern ein von der Organisation unserer intuitiven Intelligenz abhängiges, und in diesem Sinne subjektives, Phänomen innerhalb jedes uns gleichgearteten Bewußtseins", ferner "der reine Raum der gewöhnlichen Geometrie ... zunächsta uch nur ein intellektuelles Phänomen" etc.
Mit der Auffassung von ROSANES stimmt ZÖLLNER überein; denn nachdem er die Widersprüche entwickelt hat, auf welche man stets geführt wird,
"sobald man unter Voraussetzung der als fundamental betrachteten Eigenschaften der Materie die Quantität derselben im unendlichen Raum als unendlich annimmt" (Über die Natur der Kometen, zweite Auflage, Seite 304),
so erklärt er sich dafür, daß (Seite 305) die "Eigenschaften, welche wir dem Raum beilegen, ... wesentlich empirischen Ursprungs" sind und findet schließlich (Seite 311),
"daß auch die von Olbers angeregten Betrachtungen zur Annahme einer endlichen Quantität Materie in der Welt führen, eine Annahme, welche, wie oben gezeigt, ohne eine willkürliche Begrenzung der Kausalreihe und unter Annahme der bis jetzt bekannten allgemeinen Eigenschaften der Materie nur unter Voraussetzung eines nicht-euklidischen Raums aufrecht erhalten werden kann."
Bei RIEMANN finde ich lediglich Bestätigungen dieser Auffassung seines Raumes, und ich bin daher überzeugt, daß es seine Ansicht gewesen ist: unsere nur in drei Dimensionen zur Erscheinung gelangende Welt habe eben so, wie sie uns erscheint, auch außerhalb unseres Ich wirkliche Existenz; es sei ferner möglich, daß die beobachtbare Welt mit ihren wirklich vorhandenen drei Dimensionen in einer nicht absehbaren Entferung von der Erde ein Ende erreicht, und daß daselbst ein anderer Weltenraum beginnt mit einem anderen Krümmungsmaß und mit vielleicht mehr als drei Dimensionen, also für uns nicht erfahrbar, aber doch denkbar. Gerade so will KANT seinen transzendentalen Realisten haben; denn
"dieser ... ist es eigentlich, welcher nachher den empirischen Idealisten spielt, und nachdem er fälschlich von Gegenständen der Sinne vorausgesetzt hat, daß, wenn sie äußere sein sollen, sie ansich auch ohne Sinne ihre Existenz haben müßten, in diesem Gesichtspunkt alle unsere Vorstellungen der Sinne unzureichend findet, die Wirklichkeit derselben gewiß zu machen" (Kritik der reinen Vernunft, 1781, Seite 369) -
die Wirklichkeit, das ist in diesem Fall: die Unmöglichkeit eines mehr als dreifachen Nebeneinander in einem Raum, in welchem überdies die Figuren abhängig wären von ihrer Lage. In der Arbeit RIEMANNs ist Nichts dagegen, daß der Autor dieser ganz prompte transzendentale Realist nach KANTs Vorschrift gewesen ist, und demnach muß ich annehmen, daß ZÖLLNER und ROSANES ihn richtig verstehen und LIEBMANN nicht. Würde also der Letzte nur von RIEMANN sprechen, so würde ich meinen, daß die Objektivität seines Referats durch seine eigene Auffassung beeinflußt worden ist. Irritiert finde ich allerdings diese Objektivität, aber nicht minder bei ROSANES als bei LIEBMANN, und für das beiden gemeinsame Irritament scheint mir HELMHOLTZ der intellektuelle Urheber zu sein. Und zwar ist es seine Stellung zu KANT und spezielle seine Behandlung des Begriffs Erfahrung, worin mir jener Widerspruch zu wurzeln scheint, welcher in ROSANES und LIEBMANN fruchtbar geworden ist, und dessen weitere Propagation man demnächst zu gewärtigen hat.
In der Arbeit von RIEMANN haben wir es zwar auch als einen Mangel bemerkt, daß der Begriff Erfahrung nicht näher definiert ist, obgleich er nicht weniger als elf Mal teils unter dieser speziellen Bezeichnung figuriert, teils in der Form von Ausdrücken wie "empirische Gewißheit", "empirische Bestimmungen", "wirkliche Wahrnehmungen", "empirische Begriffe". Aber trotz dieses Mangels kann man doch nicht zweifelhaft sein, welchen Sinn RIEMANN mit den Ausdrücken "Erfahrung", "empirisch" etc. verbunden hat. Man wird alle Stellen seiner Arbeit in Übereinstimmung finden mit dem transzendentalen Realismus im Sinne KANTs: ganz unabhängig von allen vitalen, mit Erfahrungsorganen ausgestatteten Wesen existiert diese dreidimensionale Welt nicht bloß als Erscheinung, sondern als ein Ding-ansich und wird zu einem anderen Ding-ansich, sobald das Krümmungsmaß irgendwo einen positiven Wert bekommt.
Welcher Irrtum dem transzendentalen Realismus zugrunde liegt, und daß dieser Irrtum selbst mit Hilfe von Konsequenzen der exakten Forschung zu verdeutlichen ist und überdies aufgrund der Anerkennung gerade ihrer Prinzipien und ihrer Methode, dies zu zeigen, war der Zweck der bisherigen Ausführung. Auf diesem Irrtum fußt RIEMANN, und durch alle seine Äußerungen werden wir nur darin bestärkt, daß er auf dieser imaginären Grundlage verbleibt. Alle inneren Widersprüche in seiner Arbeit ergeben sich aus der kardinalen Willkür, Anschauungen in Begriffe verwandelbar zu finden, "die Erscheinungen zu intellektuieren". Es bleibt daher bei RIEMANN die Vermutung ganz ausgeschlossen, daß zwischen seiner Erkenntnistheorie und der kantischen, welche mit der transzendentalenn Idealität von Raum und Zeit steht und fällt, irgendeine Übereinstimung möglich ist. Im Gegenteil ist das Verhältnis zwischen beiden das der vollendeten Unvereinbarkeit und so klar ausgeprägt, daß für die Charakteristik, welche KANT von seinen Antagonisten gibt, kein zutreffenderes Paradigma kann gefunden werden als RIEMANN:
Diese Klarheit finde ich nun bei HELMHOLTZ wesentlich getrübt. Denn für das Verständnis der HELMHOLTZschen Grundlage der Erkenntnistheorie, von welcher doch die Definition des Raums ein sehr wesentlicher Teil ist, hierfür genügt es nicht, daß wir uns allein an die mit RIEMANN übereinkommende Bestrebung halten, sondern wir müssen auch den Zusammenhang kennen lernen, welcher zwischen den Resultaten dieser metamathematischen Arbeit und den physiologischen Resultaten desselben Autors besteht; denn nach seiner eigenen Mitteilung waren es gerade die letzten, welche das in Rede stehende Kalkül veranlaßt haben (siehe "Heidelberger Jahrbücher, 1868, Nr. 46, Seite 733).
Nun beginnt HELMHOLTZ in seiner physiologischen Optik den dritten Abschnitt, welcher die Lehre von den Gesichtswahrnehmungen behandelt, damit, daß er zunächst "den Bereich des psychologischen Teils der Physiologie der Sinne gegen die reine Psychologie abgrenzen" will (Seite 427), in der Absicht, daß der "Boden sicherer Tatsachen und eine auf allgemein anerkannte und klare Prinzipien gegründeten Methode" festgehalten werden kann. Diesem Vorhaben entspricht das (ebd.)k "ganz nach naturwissenschaftlichen Methoden" ausführbare Geschäft,
"wesentlich nur das Empfindungsmaterial, welches zur Bildung von Vorstellungen Veranlassung ibt, in denjenigen Beziehungen zu untersuchen, welche für die daraus hergeleiteten Wahrnehmungen wichtig sind."
Dabei kann es (Seite 428) "indessen nicht ganz vermieden werden, von den in den Sinneswahrnehmungen wirksamen Seelentätigkeiten zu reden", und deshal soll im Anhang des Paragraphen § 26 zur Verhütung von Mißverständnissen auseinandergesetzt werden, was der Autor "über die besagten Seelentätigkeiten folgern zu dürfen" glaubt. Im unmittelbaren Anschluß hieran lautet der Anfang des nächsten Satzes (Seite 428):
"Da indessen, wie die Erfahrung lehrt, in so abstrakten Folgerungen selten eine Übereinstimmung zwischen den Menschen zu erzielen ist, und Denker von größtem Scharfsinn, namentlich Kant, schon längst diese Verhältnisse richtig und in strengen Beweisen auseinandergesetz haben, ohne daß sie eine dauernde und allgemeine Übereinstimmung der Gebildeten arüber zustande bringen könnten, so" .... sollen die "vielleicht für immer strittigen Punkte"
von der Besprechung ausgeschlossen bleiben. Der Anfang dieses Satzes scheint zu dem Schluß zu berechtigen, daß HELMHOLTZ die in Frage kommenden Verhältnisse bei KANT "richtig und in strengen Beweisen auseinandergesetzt" findet. Es muß daher zunächst interessieren, welche Verhältnisse HELMHOLTZ speziell im Auge hat, von welchen anderen er absieht, und wie er die Auseinandersetzung durch KANT kommentiert.
Einen direkten Anhalt hierfür bietet folgende Stelle am Schluß desselben Paragraphen (Seite 456):
"Kant hatte Raum und Zeit kurzweg als gegebene Formen aller Anschauung hingestellt, ohne weiter zu untersuchen, wie viel in der näheren Ausbildung der einzelnen räumlichen und zeitlichen Anschauungen aus der Erfahrung herleleitet sein könnte. Diese Untersuchung lag auch außerhalb seines Weges. So betrachtete er namentlich die geometrischen Axiome auch als ursprünglich in der Raumanschauung gegebene Sätze, eine Ansicht, über welche sich wohl noch streiten läßt."
Sicherlich kann man diese Ansicht mit sehr triftigen Gründen beststreiten. Aber man wird auch nicht einen triftigen Grund dafür anführen können, daß KANT diese Ansicht gehabt hat, oder auch nur, daß sie vereinbar ist mit der niemals verlassenen Basis, auf welcher seine Erkenntnistheorie beruth.
Die Kritik der reinen Vernunft bietet, und zwar in jeder ihrer Auflagen, eine große Auswahl von Belegen dafür, daß KANT der räumlichen Anschauung ausdrücklich jede Fähigkeit abspricht, ohne Mitwirkung von Begriffen zu irgendeinem Urteil zu verhelfen. Was "ursprünglich in der Raumanschauung gegeben" ist, kann nach KANT niemals ein geometrisches Axiom sein; denn jedes Axiom ist ein Satz, ein Urteil, und das Vermögen zu urteilen will KANT als etwas nicht Sinnliches durchaus unterschieden wissen vom Vermögen anzuschauen, welches stets sinnlicher Natur ist. Man wird keine Stelle der Vernunftkritik in Widerspruch finden mit den den folgenden Stellen, welche ich für diese Ansicht als die allein KANT gemäße anführe (erste Auflage, Seite 50):
"Anschauung und Begriffe machen also die Elemente all unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung, ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben kann."
Seite 67: "Der Verstand wurde oben bloß negativ erklärt: durch ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen. Nun können wir, unabhängig von der Sinnlichkeit, keiner Anschauung teilhaftig werden. Also ist der Verstand kein Vermögen der Anschauung. Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art zu erkennen, als durch Begriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv. Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen. Ich verstehe aber unter Funktion, die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke. Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt. Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff), bezogen. Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, folglich die Vorstellung einer Vorstellung desselben. In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesen Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, wobei letztere dann auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird."
Seite 97: "Wenn eine jede einzelne Vorstellungen der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert, und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist. Wenn ich also dem Sinn deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis [Gegenüberstellung - wp] beilege, so korrespondiert dieser jederzeit eine Synthesis und die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse möglich machen."
Die Rezeptivität ist nämlich (Seite 19) "die Fähigkeit, Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen" und "heißt Sinnlichkeit". Durch diese "wird und ein Gegenstand gegeben" (Seite 50), durch die Spontaneität der Begriffe wird dieser sinnlich nur gegeben Gegenstand gedacht. "Beide", die Rezeptivität der Eindrücke und die Spontaneität der Begriffe,
"sind entweder rein, oder empirisch. Empirisch, wenn Empfindung (die die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt) darin enthalten ist: rein aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist. Man kann die letztere die Materie der sinnlichen Erkenntnis nennen. Daher enthält reine Anschauung lediglich die Form, unter welcher etwas angeschaut wird, und reiner Begriff allein die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt. Nur allein reine Anschauungen oder Begriffe sind a priori möglich, empirische nur a posteriori."
Seite 106: "Alle Erkenntnis erfordert einen Begriff, dieser mag nun so unvollkommen, oder so dunkel sein, wie er will: dieser aber ist einer Form nach jederzeit etwas Allgemeines, und was zur Regel dient." ... "Eine Regel der Anschauungen kann aber nur dadurch sein: daß er bei gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben, folglich die synthetische Einheit in ihrem Bewußtsein, vorstellt."
Gegenüber dieser durchgehend konstanten Auseinanderhaltung von Anschauung und Begriff wird man es nicht als eine logische Inkonsequenz rügen dürfen, wenn KANT zuweilen von Raum und Zeit als von Begriffen spricht; sondern diese Inkonstanz der Terminologie, welche ich übrigen durchaus nicht verteidigen will, erklärt sich wohl daraus, daß KANT sich in seiner Ausdrucksweise zuweilen noch an den Usus [Brauch - wp] angeschloß, welchen er vorgefunden hat, und dessen Sinnwidrigkeit konsequent behauptet und mit weittragenden Folgen geltend gemacht zu haben, wohl gerade die monumentalste seiner Leistungen ist. Keinesfalls wird man aber auf diese Inkorrektheit der Bezeichnung den Vorwurf einer Zweideutigkeit oder eines inneren Widerspruchs gründen können: mit dem Sinn all der Stellen, an welchen die Verwechslung geschieht, bleibt immter nur die Definition verträglich, welche hinreichend ausführlich von Raum und Zeit gegeben ist: es sind nicht Begriffe, sondern reine Formen der Anschauung a priorie, also frei von allem Denk- und Begreifbaren, frei von Empfindung und jeder bedingenden Erfahrung: ausschließlich sinnlicher, ausschließlich subjektiver Natur und notwendige Bedingung für jede mögliche Erfahrung, folglich für alle Art von Erkenntnis und Beurteilung der empirisch realen Erscheinungswelt. Beiläufig bemerkt: die hier erwähnte Inkorrektheit der Terminologie ist die einzige, welche ich bei Gelegenheit der Anfertigung eines Index zur "Kritik der reinen Vernunft" in diesem Werk habe entdecken können. Die Schwierigkeit aber, welche es haben mag, Synonyme streng in dem Sinn festzuhalten, den man ihnen in einer philosophischen Besprechung zuerst beigelegt hat, wird daraus ersichtlich sein, daß es einem so akkuraten Autor wie HELMHOLTZ schon auf dem verhältnismäßig kleinen Raum von zwei Paragraphen (§§ 26 und 33 der Optik) nicht geglückt ist, völlig concinn [treffend, passend, angemessen - wp] zu sein. Denn an einer Stelle wird der Name Anschauung beschränkt "auf die von den bezüglichen sinnlichen Empfindungen begleitete Wahrnehmung" (Seite 435); hieraus folgt also, daß der Autor auch Wahrnehmungen annimmt, welche von sinnlichen Empfindungen nicht begleitet sind; an einer anderen Stelle heißt es, daß wir unsere Vorstellung von einem Körper Wahrnehmung nenne, "solange sie durch gegenwärtige Empfindungen unterstützt ist" (Seite 798); was aus der vorigen Erklärung für den Begriff Wahrnehmung folgte, wird nach diesen Worten anwendbar für den Begriff Vorstellung; auch weiß man jetzt nicht, wie Anschauung und Wahrnehmung unterschieden werden, da nun beide Worte diejenige Perzeption bezeichnen sollen, welche verbunden ist mit gegenwärtigen Empfindungen; ferner soll der Name Vorstellung nach Seite 435 beschränkt sein "auf das Erinnerungsbild von Gesichtsobjekten, welches von keinen gegenwärtigen sinnlichen Empfindungen begleitet ist"; aufs Neue vermißt man eine Unterschiedsangabe für jene Wahrnehmungen, welche HELMHOLTZ laut der Definition aus Seite 435 annimmt, und Vorstellung; dann aber werden wieder Wahrnehmung und Erinnerungsbild subsumiert unter die generelle Bezeichnung Vorstellung als den "Inbegriff all dieser möglichen Empfindungen, in eine Gesamtvorstellung zusammengefaßt" (Seite 798).
Aufgrund der gegebenen Belege dürfen wir es nun schon als irrtümlich bezeichnen, daß KANT die geometrischen Axiome als ursprünglich in der Raumanschauung gegebene Sätze betrachtet hat. Die Definition aber, welche KANT vom Begriff der geometrischen Axiome aufgestellt hat, enthält den Schwerpunkt seines Systems, und wer mit SCHILLER das Erhabene anderswo sucht als im Raum, wird nicht finden, daß KANT übertreibt, wenn er gerade seine Erklärung der Axiome dem kopernikanischen Gedanken vergleicht (Vorrede zur zweiten Auflage der Kr. d. r. V., Seite XVI). Denn als "die höchste Aufgabe der Transzendentalphilosophie" sieht KANT die Beantwortung der Frage an: "wie ist Erfahrung möglich?" (Werke I, Seite 507), und der wichtigste Schritt zur Lösung dieser Aufgabe wurde mit der Frage getan: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Ja, KANT sagt sogar einmal, daß in dieser Frage "die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft enthalten" ist (Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 19). Eine Anmerkung in der ersten Auflage der Kr. d. r. V. (Seite 10) lautet:
"Wäre es einem von den Alten eingefallen, auch nur diese Frage aufzuwerfen, so würde diese allein allen Systemen der reinen Vernunft bis auf unsere Zeit mächtig widerstanden haben, und hätte so viele eitle Versuche erspart, die, ohne zu wissen, womit man es eigentlich zu tun hat, blindlings unternommen worden sind."
Alle Axiome gehören nun nach KANT eben zu der genannten Art, es sind synthetische Urteile a priori. Bevor wir aber darauf eingehen, wie sich KANT und HELMHOLTZ in der Auffassung des Gegenstandes voneinander unterscheiden, müssen wir einen Unterschied der Benennung konstatieren, nämlich den verschiedenen Gebrauch des Wortes Axiom. Gewöhnlich gilt diese Bezeichnung für alle Sätze "von solcher unmittelbaren Evidenz, daß man gar keinen Beweis für sie zu geben braucht", wie HELMHOLTZ definiert (Populäre wissenschaftliche Vorträge, Heft 1, Braunschweig 1865, Seite 19). Es ist daher auch dem allgemein rezipierten Sprachgebrauch gemäß, daß HELMHOLTZ die drei arithmetischen Sätze (siehe oben) Axiome nennt. (In demselben Sinn und mit einem Zusatz, der mir nicht überflüssig erscheint, habe ich Axiome als "Wahrheiten" definiert, welche "dem Einfältigsten nicht brauchen bewiesen zu werden, und die vom Weisesten nicht können bewiesen werden." Naturforschung und Humanität, Berlin 1861, Seite 22). Von dieser Terminologie weicht nun KANT darin ab, daß er unmittelbar evidente Sätze nur dann Axiome nennt, wenn sie synthetisch und a priori sind. Die Sätze der reinen Mathematik läßt er daher nicht als Axiome gelten.
"Denn" (Kr. d. r. V. erste Auflage, Seite 164) "daß gleiches zu gleichem hinzugetan, oder von diesem abgezogen, ein gleiches gibt, sind analytische Sätze, indem ich mir der Identität der einen Größenerzeugung mit der anderen unmittelbar bewußt bind; Axiome aber sollen synthetische Sätze a priori sein. Dagegen sind die evidenten Sätze der Zahlenverhältnisse zwar synthetisch, aber nicht allgemein, wie die der Geometrie, und eben deswegen auch keine Axiome, sondern können Zahlenformeln genannt werden. Daß 7 + 5 = 12 ist, ist kein analytischer Satz. Denn ich denke weder in der Vorstellung von 7, noch von 5, noch in der Vorstellung von der Zusammensetzung beider die Zahl 12 (daß ich diese in der Addition beider denken soll, davon ist hier nicht die Rede; denn bei einem analytischen Satz ist nur die Frage, ob ich das Prädikat wirklich in der Vorstellung des Subjekts denke). Und auch obgleich er synthetisch ist, so ist er doch nur ein einzelner Satz."
Da die Auffassung der kantischen Definition für die vorliegende Erörterung entscheidend ist, und da sich gerade an diesen Teil seiner Motivierung Bedenken geknüpft haben, die von ihm selbst bereits beseitigt sind, so führe ich aus der zweiten Auflage der Kritik die etwas anders geformte Darstellung desselben Gedankens an; denn sie ergänzt die frühere auf glückliche Weise (zweite Auflage, Seite 15):
"Man sollte anfänglich zwar denken: daß der Satz 7 + 5 = 12 ein bloß analytischer Satz ist, der aus dem Begriff einer Summe von Sieben und Fünf nach dem Satz des Widerspruchs erfolgt. Allein, wenn man es näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von 7 und 5 nichts weiter enthält, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl ist, die beide zusammenfaßt. Der Begriff von Zwölf ist keineswegs dadurch schon gedacht, daß ich mir bloß eine Vereinigung von Sieben und Fünf denke, und, ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zwölf nicht antreffen. Man muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zuhilfe nimmt, die einem von beiden korrespondiert, etwa seine fünf Finger, oder (wie Segner in seiner Arithmetik) fünf Punkte, und so nach und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen Fünf zum Begriff der Sieben hinzutut. Denn ich nehme zuerst die Zahl 7, und, indem ich für den Begriff der 5 die Finger meiner Hand als Anschauung zu Hilfe nehme, so tue ich die Einheiten, die ich vorher zusammennahm, um die Zahl 5 auszumachen, nun an jenem meinem Bild nach und nach zur Zahl 7, und sehe so die Zahl 12 entspringen. Daß 7 und 5 hinzugetan werden sollten, habe ich zwar im Begriff einer Summe = 7 + 5 gedacht, aber nicht, daß diese Summe der Zahl 12 gleich ist. Der arithmetische Satz ist also jederzeit synthetisch; welches man umso deutlicher inne wird, wenn man etwas größere Zahlen nimmt, da es dann klar einleuchtet, daß, wir möchten unsere Begriffe drehen und wenden, wie wir wollen, wir, ohne die Anschauung zu Hilfe zu nehmen, mittels der bloßen Zergliederung unserer Begriffe die Summe niemals finden könnten."
"Ebensowenig ist irgendein Grundsatz der reinen Geometrie anylatisch. Daß die gerade Linie zwischen zweien Punkten die kürzeste ist, ist ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts an Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu, und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriff der geraden Linie gezogen werden, mittels deren allein die Synthese möglich ist."
Diesen Stellen schließe ich nun noch die entscheidenden Erörterungen KANTs über die Axiome selbst an. Um die Entschuldigung wegen so vieler Zitate glaube ich dabei aufgrund der Erwägung bitten zu dürfen, daß es auch für den Leser ein geringeres Übel ist, Geduld zu gewähren, als den stillschweigenden Appell an den guten Glauben hinzunehmen; denn im zweiten Fall wäre selbst die Möglichkeit zur mühelos unmittelbaren Beaufsichtigung der Argumentation weniger vorhanden als jetzt.
Ich zitiere daher zunächst aus der ersten Auflage der Kr. d. r. V. die von KANT festgehaltene Definition von Axiomen.
Seite 732: "2. Von den Axiomen. Diese sind synthetische Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind. Nun läßt sich nicht ein Begriff mit einem anderen synthetisch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir über einen Begriff hinausgehen können, eine dritte vermittelnde Erkenntnis nötig ist. Da nun Philosophie, bloß die Vernunfterkenntnis nach Begriffen ist, so wird in ihr kein Grundsatz anzutreffen sein, der den Namen eines Axioms verdient. Die Mathematik dagegen ist der Axiome fähig, weil sie mittels der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung des Gegenstandes die Prädikate desselben a priori und unmittelbar verknüpfen kann, z. B. daß drei Punkte jederzeit in einer Ebene liegen. Dagegen kann ein synthetischer Grundsatz: bloß aus Begriffen niemals unmittelbar gewiß sein, z. B. der Satz: alles was geschieht hat seine Ursache, da ich mich nach einem dritten umsehen muß, nämlich der Bedingung der Zeitbestimmung in einer Erfahrung und nicht direkt unmittelbar aus den Begriffen allein einen solchen Grundsatz erkennen kann. Diskursive Grundsätze sind also ganz etwas anderes, als intuitive, d. h. Axiome. Jene erfordern jederzeit noch eine Deduktion, deren die letztere ganz und gar entbehren können und, da diese eben um desselben Grundes wegen evident sind, welches die philosophischen Grundsätze, bei all ihrer Gewißheit, doch niemals vorgeben können, so fehlt unendlich viel daran: daß irgendein synthetischer Satz der reinen und transzedentalen Vernunft so augenscheinlich ist (wie man sich trotzig auszudrücken pflegt) als der Satz: daß zweimal zwei vier geben. Ich habe zwar in der Analytik, bei der Tafel der Grundsätze des reinen Verstandes, auch gewisser Axiomen der Anschauung gedacht, allein der daselbst angeführte Grundsatz war selbst kein Axiom, sondern diente nur dazu, das Prinzipium der Möglichkeit der Axiome überhaupt anzugeben, und selbst nur ein Grundsatz aus Begriffen. Denn sogar die Möglichkeit der Mathematik muß in der Transzendentalphilosophie gezeigt werden. Die Philosophie hat also keine Axiome und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gebieten, sonderm muß sich dazu bequemen, ihre Befugnis wegen derselben durch gründliche Deduktion zu rechtfertigen."
An die Stelle, auf welche KANT hier hinweist, darf noch am Ehesten erinnert werden, wenn man sich die Frage vorlegt, wo HELMHOLTZ wohl in KANT selbst Anlaß gefunden haben könnte, um über dessen wahre Meinung so irre geführt zu werden, und so setze ich auch hier von den eigenen Worten KANTs so viel her, als hinreichend erscheint, um seine Meinung mit der referierenden von HELMHOLTZ als unvereinbar darzutun. In der zweiten Auflage der Kr. d. r. V. ist der Anfang der Stelle (Seite 202):
"Axiomen der Anschauung.
Das Prinzip derselben ist: Alle Anschauungen sind
extensive Größen.
Beweis.
Alle Erscheinungen enthalten, der Form nach, eine Anschauung in Raum und Zeit, welche ihnen insgesamt a priori zugrunde liegt. Sie können also nicht anders apprehendiert, d. h. ins empirische Bewußtsein aufgenommen werden, als durch die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder Zeit erzeugt werden, d. h. durch die Zusammensetzung des Gleichartigen und das Bewußtsein der synthetischen Einheit dieses Mannigfaltigen (Gleichartigen). Nun ist das Bewußtsein des mannigfaltigen Gleichartigen in der Anschauung überhaupt, sofern dadurch die Vorstellung eines Objekts zuerst möglich wird, der Begriff einer Größe (Quantität) Also ist selbst die Wahrnehmung eines Objekts, als Erscheinung, nur durch dieselbe synthetische Einheit des Mannigfaltigen der gegebenen sinnlichen Anschauung möglich, wodurch die Einheit der Zusammensetzung des mannigfaltigen Gleichartigen im Begriff einer Größe gedacht wird; d. h. die Erscheinungen sind insgesamt Größen und zwar extensive Größen, weil sie als Anschauungen im Raum oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden.
Eine extensive Größe nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also notwendig vor dieser vorhergeht). Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch ist, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. h. von einem Punkt alle Teile nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen. Ebenso ist es auch mit jeder auch der kleinsten Zeit bewant. Ich denke mir darin nur den sukzessiven Fortgang von einem Augenblick zum anderen, wodurch alle Zeitteile und deren Hinzutun endlich eine bestimmte Zeitgröße erzeugt wird. Da die bloße Anschauung an allen Erscheinungen entweder der Raum, oder die Zeit ist, so ist jede Erscheinung als Anschauung eine extensive Größe, indem sie nur durch sukzessive Synthesis (von Teil zu Teil) in der Apprehension erkannt werden kann. Alle Erscheinungen werden demnach schon als Aggregate (Menge vorhergegebener Teile) angeschaut, welches eben nicht der Fall bei jeder Art von Größen, sondern nur derer ist, die uns extensiv als solche vorgestellt und apprehendiert werden.
Auf diese sukzessive Synthesis der produktiven Einbildungskraft, in der Erzeugung der Gestalten, gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen, welche die Bedingungen der sinnlichen Anschauung a priori ausdrücken, unter denen allein das Schema eines reinen Begriffs der äußeren Erscheinung zustande kommen kann; z. B. zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich; zwei gerade Linien schließen keinen Raum ein etc. Dies sind die Axiome, welche eigentlich nur Größen (quanta) als solche betreffen."
Nach Vernehmung dieser klassischen Zeugenaussagen können wir es nun wohl für einen objektiven Tatbestand erklären, daß KANT die geometrischen Axiome keineswegs, wie HELMHOLTZ angibt, "als ursprünglich in der Raumanschauung gegebene Sätze" betrachtet hat. Vielmehr ist die Raumanschauung das Hilfsmittel, dessen sich der Verstand bedient, um geometrische Axiome zu bilden. Etwas Anderes aber ist der transzendental-ideale Raum als empfindungsfreie Anschauungsform a priori und etwas Anderes jeder bestimmte, begrenzte, durch Empfindungen wahrgenommene Raum. In einer Anmerkung der zweiten Auflage der Kr. d. r. V. heißt es (Seite 160):
"Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich eine Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber eine Einheit der Vorstellung gibt."
Durch diese Einheit werden "alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich", durch sie werden "der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben" (ebd.): sie ist also die Bedingung für die Herstellung des Hilfsmittels, dessen der Verstand bedarf, um Erweiterungsurteile a priori zu bilden und um Erfahrung zu ermöglichen, welche nämlich "Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen ist" (Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 161).
HELMHOLTZ sagt nun ferner: "wie viel in der näheren Ausbildung der einzelnen räumlichen und zeitlichen Anschauungen aus der Erfahrung hergeleitet sein könnte", dies zu untersuchen, habe außerhalb des Weges von KANT gelegen. Dürften wir diese Worte in dem Sinne deuten, daß der Inhalt der Frage, ob der unbegrenzte Gesamtraum transzendental-ideal oder transzendental-real ist, daß dieses Problem völlig verschieden ist vom Inhalt der anderen Frage, wie wie spezielle Sinneseindrücke in dem bereits vorhandenen Gesamtraum anordnen, mag dieser nun ein Ding-ansich sein oder nicht, d. h. also, wie eine spezielle räumliche Deutung aufgrund von Empfindungen ausgeführt wird, - dann wäre die Übereinstimmung zwischen dem Sinn von HELMHOLTZ' Worten und der hier geltend gemachten Auffassung vollkommen, wie dies der nächste Abschnitt noch näher begründen soll. Aber die angegebene Auslegung ist nicht vereinbar damit, daß HELMHOLTZ von der kantischen Raumtheorie nur die eine Seite berücksichtigt, nämlich nur das Merkmal der Apriorität, während der umfassendere Begriff der ausschließlichen Subjektivität ignoriert wird, so daß der transzedentale Idealismus, in welchem allein KANTs Raumerklärung besteht, bei dieser Art der Behandlung gar nicht zur Geltung gelangt; nur so ist es ja auch für HELMHOLTZ möglich, eine innere, sachliche Verbindung zwischen JOHANNES MÜLLERs Nativismus und der Lehre KANTs zu finden. Deshalb erscheint die angegebene Deutung der Worte HELMHOLTZ' nicht zulässig, und ich kann diese nur so verstehen, daß die Untersuchung der physiologischen Probleme für KANT von zu spezieller Natur gewesen ist, um sie in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen, - doch hiermit eben verhält es sich anders. "Außerhalb des Weges" haben die physiologischen Untersuchungen allerdings für KANT gelegen, aber in einem Sinn, den man nicht auf diese Weise auszudrücken pflegt. Denn man wird doch nicht leicht davon sprechen, daß die Richtung von A nach B "außerhalb des Weges" liegt für Jemand, dessen Standort B ist, und der nach A gelangen will. Nachdem KANT sich einmal dafür entschieden hat, die transzendentale Idealität von Raum und Zeit zum Ausgangspunkt seiner Wanderung zu machen, gelangt er nur dadurch zu der Möglichkeit der Erfahrung, daß er die Raumanschauung als etwas gar nicht Erfahrbares festhält, er kann dann freilich niemals untersuchen wollen, wieviel er von der Raumanschauung aus der Erfahrung herleiten kann. Denn Alles, was in den "einzelnen räumlichen Anschauungen" erfahrbar ist, gehört nach KANT den Empfindungen an, nicht der Raumanschauung: jene werden durch das Nicht-Ich in unserer Sinnlichkeit hervorgebracht, sie sind ein Produkt aus beiden Faktoren, die Raumanschauung aber gehört ausschließlich der Sinnlichkeit, dem subjektiven Element allein an, es ist "die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden" (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 19). Raum und Zeit sind "nur Formen der sinnlichen Anschauung, als nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen" (Vorrede zur zweiten Auflage der Kr. d. r. V., Seite XXV); die stets nur empirischen Empfindungen, erregt durch das Ding-ansich, werden zu Wahrnehmungen geformt durch die apriorischen, rein aus unserem Inneren herstammenden Ordner des Empfundenen, und der nunmehr dem Bewußtsein von Objekten ermöglichte Besitz wird eben dadurch ein Element der Erfahrung, daß er den ausschließlich apriorischen nicht sinnlichen Verstandesbegriffen, die ihn durch Verknüpfung seiner Teile bearbeitet, korrespondierende Anschauungen liefert. Das Ergebnis der Bearbeitung ist Erkenntnis; dieses ist daher nur möglich von Objekten sinnlicher Anschauung, d. h. von Erscheinungen,
"woraus dann freilich die Einschränkung aller nur möglichen spekulativen Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt" (Vorrede zur zweiten Auflage der Kr. d. r. V., Seite XXVI).
In aller möglichen Erfahrung ist also nur der Teil unabhängig von der Natur des Ich, welcher nur denkbar, aber ewig unerkennbar bleibt: das Ding ansich. Nämlich (ebd. Seite XXVI, Anmerkung):
"Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priorie durch Vernunft) beweisen kann. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. h. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, obgleich ich dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriff aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiert oder nicht."
Für die beiden grundverschiedenen Weltanschauungen, welche in der Philosophie aller Zeiten unter den mannigfaltigsten Bewaffnungsformen gegeneinander stehen, hat DROBISCH eine von ARISTOTELES dargebotene Metapher passend verwertet. Die Frage, ob Seele und Leib eins sind, ist nach ARISTOTELES ebenso verkehrt, wie die, ob es Wachs und Siegel sind (De anima II, 1. 412, b, 6. cf. ZELLER, Die Philosophie der Griechen, zweite Auflage 1862, zweiter Teil, 2. Abteilung, Seite 376, Anm. 3).
Diese Stelle ist es wohl, an welche DROBISCH die Bemerkung knüpft: "im geraden Gegensatz zu Kant, wo die Seele in ihren angestammten Formen das Siegel zum Wachs der Empfindung hergiebt (Empirische Psychologie, Leipzig, 1842, Seite 299).
Das Wesen des kantischen Idealismus ist damit in der Tat sehr plastisch dargestellt. Wir hatten es schon hervorzuheben, daß der transzendentale Idealismus zum notwendigen Korrelat den empirischen Realismus hat. Nicht Schein ist nach KANT die Erfahrungswelt, sondern Erscheinung, das Produkt aus einem stets gleichbleibenden Faktor X und aus bestimmten, gegebenen Faktoren von empirischer realer Existenz, deren Geltungsbereich zu bestimmen, wir befähigt sind; die Anwendung dieser Fähigkeit nennen wir Vernunftkritik. Hält man nun die Leistung gerade der kantischen Vernunftkritik für so preisenswert wie HELMHOLTZ, so muß es umso unerwarteter sein, eben den Kern der gepriesenen Leistung so wenig untersucht zu finden.
Kurz vor der Stelle in HELMHOLTZ' Optik, durch welche die vorigen Bemerkungen veranlaßt sind, lesen wir Folgendes (Seite 456):
"Der wesentlichste Schritt, um die Frage auf den richtigen Standpunkt zu stellen, wurde von Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft getan, in der er allen reellen Inhalt des Wissens aus der Erfahrung abgeleitet hat, von diesem aber unterschied, was in der Form unserer Anschauungen und Vorstellungen durch die eigentümlichen Fähigkeiten unseres Geistes bedingt ist."
Für den reellen Inhalt des Wissens ist aber nach KANT die Form unserer Anschauungen und Vorstellungen eine Vorbedingung; denn ohne daß diese Formen a priori, d. h. "unabhängig von der Erfahrung" (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 2) da sind, kann es zu der letzten gar nicht kommen, von welcher allein Erkenntnis möglich ist; vom Inhalt des Wissens sind daher diese Formen nur so zu unterscheiden wie etwas das Leben von der Gesundheit; von Unterscheidung im Sinne von Absonderung dieser Dinge voneinander wird man aber doch nicht leicht sprechen, da man mit dem Wort Gesundheit das Leben schon mitbenennt. So gibt es nach KANT einen reellen Wissensinhalt nicht ohne den konstituierenden Faktor der reinen Anschauungsformen a priori; denn auf keine andere Weise kann empirisch reales Wissen entstehen als nur dadurch, daß die transzendental-idealen Formen von Raum und Zeit dazu verhelfen: mit der Loslösung des Raums von den Wahrnehmungen werden diese selbst zu Etwas, das nicht mehr Inhalt des reellen Wissens sein kann.
Die urgierten [nachdrücklichen - wp] Bemerkungen von HELMHOLTZ sind in der Tat im fundamentalen Gegensatz zur kantischen Erkenntnistheorie und nur dann zu verstehen, wenn den Ausdrücken "Erfahrung", "reeller Inhalt des Wissens", "Anschauungen" die strikt anti-kantische, nämlich die transzendental-reale Bedeutung beigelegt wird. An einzelnen anderen Stellen der "Optik" kann es sich bei HELMHOLTZ auch nicht mehr um irgendeine Interpretation handeln, sondern sie sprechen den transzendentalen Realismus ganz präzise aus. So folgende Stelle (Seite 445):
"Die einzige Beziehung, in welcher eine wirkliche Übereinstimmung unserer Wahrnehmungen mit der Wirklichkeit stattfinden kann, ist die Zeitfolge der Ereignisse mit ihren verschiedenen Eigentümlichkeiten. Die Gleichzeitigkeit, die Folge, die regelmäßige Wiederkehr der Gleichzeitigkeit oder Folge kann in den Empfindungen ebenso stattfinden, wie in den Ereignissen. Die äußeren Ereignisse, wie ihre Wahrnehmungen, gehen in der Zeit vor sich, also können auch die Zeitverhältnisse der letzteren das getreue Abbild der Zeitverhältnisse der ersteren sein."
Ferner (ebd. Seite 445):
"Was die Abbildung der Raumverhältnisse betrifft, so geschieht eine solche allerdings an den peripherischen Nervenenden im Auge und an der tastenden Haut in einem gewissen Grad, aber doch nur in beschränkter Weise, da das Auge nur perspektivische Flächenabbildungen gibt, die Hand die objektive Fläche an der ihr möglichst kongruent gestalteten Körperoberfläche abbildet. Ein direktes Bild einer nach drei Dimensionen ausgedehnten Raumgröße gibt weder das Auge noch die Hand. Erst durch die Vergleichung der Bilder beider Augen, oder durch eine Bewegung des Körpers, bzw. der Hand, kommt die Vorstellung von Körpern zustand. Da nun unser Gehirn drei Dimensionen hat, so bleibt der Phantasie freilich ein weiter Spielraum, sich auszumalen, durch welchen Mechanismus etwa im Gehirn körperlich ausgedehnte Abbilder der äußeren körperlichen Gegenstände entstehen."
Mit dieser Auffassung der in einer transzendental-realen Zeitform erscheinenden Außenwelt, welche in unserem gleichfalls transzendental-real in drei Dimensionen existierenden Gehirn Eindrücke verursacht, die freilich nicht Nachbildungen der Außenwelt sind, sondern nur Zeichen und Symbole, deren Deutungen wir erlernen - mit dieser wesentlich LOCKEschen Auffassung ist auch in vollkommenem Einklang die geistige Genossenschaft zwischen HELMHOLTZ und RIEMANN, bei welchem wir den Gegensatz gegen KANT sehr konsequent und typisch durchgeführt fanden. Aber gar nicht in Übereinstimmung mit RIEMANN ist der folgende Satz, welcher sich dem oben mitgeteilten ("der wesentlichste Schritt" - "bedingt ist") unmittelbar anschließt (Seite 456):
"Das reine Denken a priori kann nur formal richtige Sätze ergeben, die als notwendige Gesetze des Denkens und Vorstellens allerdings absolut zwingend erscheinen, aber keine reale Bedeutung für die Wirklichkeit haben, also auch niemals irgendeine Folgerung über Tatsachen einer möglichen Erfahrung zulassen können."
Dies ist ein durchaus kantischer Gedanke. In der ersten Auflage der Kr. d. r. V. heißt es z. B. Seite 95:
"Daß ein Begriff völlig a priori erzeugt werden, und sich auf einen Gegenstand beziehen soll, obgleich er weder selbst in den Begriff möglicher Erfahrung gehört, noch aus Elementen einer möglichen Erfahrung besteht, ist gänzlich widersprechend und unmöglich."
Aber darum eben, weil dies ein ganz kantischer Gedanke ist, so bleibt er auch ganz unvereinbar mit jenem Denken, aus welchem die RIEMANN-HELMHOLTZsche n-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, versehen mit einem Krümmungsmaß, entsprungen ist. Denn diese Art von Mannigfaltigkeit beansprucht gerade, ohne alle Erfahrung entstanden zu sein, sie behauptet eine Ableitung aus reinen, anschauungslosen, abstrakten Begriffen; aber trotz dieses Ursprungs aus einer Quelle, die angeblich durch kein sinnliches Ingrediens [Zutat - wp] irgendwelcher Art getrübt war, soll uns der conceptus immaculatus [unbefleckte Empfängnis - wp] zu Folgerungen verhelfen über Tatsachen, welche sich auf unsere Erfahrungswelt beziehen: das reine Denken a priori belehrte uns, daß es noch andere Räume geben kan als den Anschauungsraum, daß die stets wahrzunehmende Unabhängigkeit der Figuren von der Lage die Folge ist vom Nullwert des Krümmungsmaßes im euklidischen Raum, daß aber diese Unabhängigkeit irgendwo ein Ende haben kann, und daß da, wo dieser Fall eintritt, eine andere als dreidimensionale, obgleich immer noch räumliche Welt von uns eingeräumt werden muß.
"Kants Philosophie beabsichtigte nicht, die Zahl unserer Kenntnis durch das reine Denken zu vermehren" -
so rühmt HELMHOLTZ von KANT. Nun, so ist es dann allerdings nicht im Interesse einer maior gloria [größten Ehre - wp], daß von HELMHOLTZ und RIEMANN ein sehr energischer Gegenschein erweckt ist, welcher bereits von einer mit mathematisch-homogenem Brutapparat entwickelten Nachkommenschaft weiter genährt wird, - der Schein, als wäre die Zahl unserer Kenntnisse trotz alledem durch das reine Denken zu vermehren. Erhält man doch bereits Mitteilungen (durch SCHERING) über die Schwere im nicht-euklidischen Raum! (1)
Der Widerspruch aber beschränkt sich bei HELMHOLTZ nicht etwa auf die zuletzt zitierte Stelle der Optik, und noch weniger würde ich es einen inneren Widerspruch nennen, wenn der Autor im Jahre 1868 gegen das Prinzip handelt, welchem er 1855 und selbst noch 1867 gehuldigt hatte; denn ich vertrete keineswegs das Dogma von der Pflicht, Überzeugungen, zumal wissenschaftliche, unverändert zu konservieren. Sondern die contradictio in se [Widerspruch in sich - wp] bei HELMHOLTZ liegt in seinen Bemerkungen über den Raum, wie sie in ein und demselben Paragraphen der Optik vorkommen; es ist dieselbe ungelöste Disharmonie, von welcher wir in den Referaten von LIEBMANN und ROSANES die konstituierenden Klänge in aller Grellheit vernommen haben.
Denn so unvereinbar mit KANT wie die aus dem § 26 der Optik zitierten Stellen sind, ganz ebenso wohl vereinbar mit denselben Teilen der kantischen Lehren sind folgende andere Stellen aus demselben Paragraphen.
Seite 449: "Diese Urteile, durch welche wir von unseren Sinnesempfindungen auf die Existenz einer äußeren Ursache derselben hinübergehen, können wir also auf dem gewöhnlichen Zustand unseres Bewußtseins gar nicht einmal in die Form bewußter Urteile erheben. Das Urteil, daß links von mir ein helles Objekt ist, weil die rechts in meiner Netzhaut endenden Nervenfasern sich in einem Erregungszustand befinden, kann jemand, der von der inneren Beschaffenheit des Auges nichts weiß, nur so aussprechen: Links ist etwas Helles, weil ich es dort sehe. Und demgemäß kann auch die Erfahrung, daß, wenn ich das Auge rechts drücke, die dort endenden Nervenfasern erregt werden, vom Standpunkt der täglichen Erfahrung gar nicht anders ausgesprochen werden, als so: Wenn ich das Auge rechts drücke, sehe ich links einen hellen Schein. Es fehlt jedes Mittel, die Empfindung anders zu beschreiben und mit anderen früher gehabten Empfindungen zu identifizieren, als dadurch, daß man den Ort des scheinbar entsprechenden äußeren Objekts bezeichnet. Deshalb haben also diese Fälle der Erfahrung das Eigentümliche, daß man die Beziehung der Empfindung auf ein äußeres Objekt gar nicht einmal aussprechen kann, ohne sie schon in der Bezeichnung der Empfindung vorauszuschicken, und ohne das schon vorauszusetzen, von dem man erst noch reden will."
Wie trefflich stimmt diese Ausführung zu dem ersten von KANTs Argumenten für die transzendentale Idealität des Raumes! Dieses lautet (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 23):
"Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen wurde. Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außerhalb von mir bezogen werden (d. h. auf etwas in einem anderen Ort des Raumes, als darinnen ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer einander, folglich nicht bloß verschieden, sondern in verschiedenen Orten vorstellen kann, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zugrunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch eine gedachte Vorstellung allererst möglich."
Ferner, Seite 442 in § 26 der Optik sagt HELMHOLTZ:
"Ich habe oben die Sinnesempfindungen nur als Symbole für die Verhältnisse der Außenwelt bezeichnet und ihnen jede Art der Ähnlichkeit oder Gleichheit mit dem, was sie bezeichnen, abgesprochen. Wir rühren damit an die viel bestrittene Frage, wie weit unsere Vorstellungen überhaupt mit ihren Objekten übereinstimmen, ob sie, wie man es ausgedrückt hat, wahr oder falsch sind."
Nachdem dieser Gedanke weiter entwickelt ist, heißt es Seite 446:
"Man muß sich bei dieser Ansicht von der Sache nur nicht die Behauptung unterschieben lassen, daß hiernach alle unsere Vorstellungen von den Dingen falsch sind, weil sie den Dingen nicht gleich sind, und daß wir demnach vom wahren Wesen der Dinge nichts wissen können. Daß sie den Dingen nicht gleich sein können, liegt in der Natur des Wissens. Die Vorstellungen sollen doch nur Abbilder der Dinge sein, und jedes Bild ist das Bild eines Dings nur für denjenigen, der es zu lesen weiß, der sich mit Hilfe des Bildes eine Vorstellung vom Bild machen kann. Jedes Bild ist seinem Gegenstand in einer Beziehung ähnlich, in allen anderen unähnlich, sei es nun ein Gemälde, eine Statue, die musikalische oder dramatische Darstellung einer Gemütsstimmung usw. So sind die Vorstellungen von der Außenwelt Bilder der gesetzmäßigen Zeitfolge der Naturereignisse, und wenn sie nach den Gesetzen unseres Denkens richtig gebildet sind, und wir sie durch unsere Handlungen richtig in die Wirklichkeit wieder zurückzuübersetzen vermögen, sind die Vorstellungen, welche wir haben, auch für unser Denkvermögen die einzig wahren; alle anderen würden falsch sein."
Diese Stelle kann ganz im Sinne des empirischen Realismus gedeutet werden, welcher nach KANT notwendig mit dem transzendentalen Idealismus verbunden ist, - der Protest KANTs gegen die Verwechslung von Erscheinung und Schein, seine Opposition gegen den Idealismus von BERKELEY ist in vollkommener Übereinstimmung mit der Tendenz dieser Stelle, - im Einzelnen könnte man freilich den Ausdruck "Bilder der gesetzmäßigen Zeitfolge der Naturereignisse" nicht genau finden, aber man wird es Niemandem verübeln, der aus dieser Stelle, namentlich zusammen mit der anderen von Seite 449 und ohne Berücksichtigung der vorher angeführten Sätze, zu dem Schluß kommt, daß HELMHOLTZ für die Grundlage der kantischen Erkenntnistheorie plädiert. Und da HELMHOLTZ in einem anderen wichtigen Punkt in der Tat konstanter Anhänger KANTs ist, nämlich in der Auffassung der Kausalität als eines a priori gegebenen Begriffs, so kann man freilich, überdies bestärkt durch die wiederholte Anerkennung der Leistungen KANTs und bei dem Mangel an direkt ausgesprochener Opposition gegen den transzendentalen Idealismus, den Widerstreit übersehen, welcher dennoch zwischen der Erkenntnistheorie des Naturforschers und der des Philosophen unleugbar besteht. Die Möglichkeit aber für den in der Tat inneren Widerspruch, welcher aus den mitgeteilten Stellen der Optik ersichtlich ist, finde ich nur dadurch erklärbar, daß HELMHOLTZ ebensowenig wie RIEMANN erörtert, was unter Erfahrung verstanden werden soll; und da weder LIEBMANN noch ROSANES diese Erörterung vermißt haben, so hat jeder von beiden die Interpretation in seinem eigenen Sinn gemacht und ist zu der entgegengesetzten Auffassung gelangt wie der Andere.
An diesem Sachverhalt wird Nichts dadurch geändert, daß LIEBMANN für die Authentizität seiner Darstellung verba ipsissima [in eigenen Worten - wp] von HELMHOLTZ besitzt, des Inhalts,
"daß außerhalb unseres Bewußtseins vielleicht eine Welt von mehr als drei Dimensionen existiert", und daß deshalb Helmholtz "den ebenen Raum von drei Dimensionen für eine subjektive Form unserer Anschauung" erklärt hat."
Denn in den hergehörigen Publikationen hat HELMHOLTZ nirgends seine subjektive Anschauung des Raumes näher definiert. Soll diese Bezeichnung vereinbar sein mit der n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit, versehen mit einem positiven Krümmungsmaß, so kann man unter der Subjektivität nur die für die menschliche Anschauung faktische Unmöglichkeit verstehen, einen anderen Raum innerlich oder äußerlich, und zwar unsymbolisch, zur Vorstellung zu bringen, als den euklidischen; dabei soll aber die Unmöglichkeit, mehr als drei Dimensionen anzuschauen, nicht auch die andere Unmöglichkeit implizieren, daß dergleichen Überräume irgendwo für sich eine Existenz haben, im Gegenteil: die Möglichkeit dieser Existenz wird gerade behauptet und angeblich bewiesen, folglich ist es nur ein subjektiver Mangel, daß wir die Anschauung von mehr als drei Dimensionen nicht erlangen können, analog dem Mangel an einem Organ zur unmittelbaren Wahrnehmung der Wärmefarben, auf deren Dasein wir allgemeinen Beobachtungen zufolge logisch schließen können und müssen, für die wir aber ein solches Organ nicht besitzen, wie es das Auge für die Farben des Lichts ist. Das wäre also die Subjektivität des empirischen Idealismus, welcher das Korrelat des transzendentalen Realismus ist. Mit dieser Auffassung sind dann die für KANT lautenden Stellen definitiv unverträglich.
Soll aber die "subjektive Form unserer Anschauung" nach HELMHOLTZ eine solche sein, daß sie mit den zuletzt zitierten Stellen der Optik und zugleich mit KANT harmoniert, dann wäre die ausschließlich subjektive Form unserer Anschauung gemeint, welche unabhängig von aller Erfahrung existiert, - in diesem Fall aber ist die Welt von mehr als drei Dimensionen außerhalb unseres Bewußtseins als eine ganz phraseologische zu verabschieden; denn sie simuliert, ein Ding-ansich zu sein und verschmäht doch nicht den Schein des begrifflich Erkennbaren, sie kündigt sich an unter der phantastischen Hülle eines Jenseits mit partieller Verdiesseitigung, wobei die letzte Seite ihres Wesens, nämlich die Begreifbarkeit, sich bei näherer Betrachtung als das erweist, was KANT von ihr und ihres Gleichen prognostiziert hat: es sind
"nur Schikanen einer falsch belehrten Vernunft, die irrigerweise die Gegenstände der Sinne von der formalen Bedingung unserer Sinnlichkeit loszumachen gedenkt, und sie, obgleich sie bloß Erscheinungen sind, als Gegenstände ansich, dem Verstand gegeben, vorstellt, in welchem Fall freilich von ihnen a priori gar nichts, folglich auch nicht durch reine Begriffe vom Raum, synthetisch erkannt werden könnte und die Wissenschaft, die diese bestimmt, nämlich die Geometrie selbst nicht möglich sein würde." (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 166)
Weniger doppeldeutig als HELMHOLTZ und ebenso festgesiedelt im transzendentalen Realismus wie RIEMANN zeigt sich GAUSS in den obigen widersprechend klingenden, in Wahrheit aber der harmonischen Auflösung vollkommen fähigen Äußerungen. Da er gegen KANT die Erfahrbarkeit des Raumes behauptet, so leugnet er konsequenterweise die Notwendigkeit, alles Ausgedehnte auf höchstens drei Dimensionen zu beschränken. Unser Anschauungsraum existiert auch ohne jedes Ich, er ist transzendental-real; ergo ist sein Verteidiger empirischer Idealist und erklärt Jedermann für einen Böotier [denkfauler, schwerfälliger Mensch - wp], wenn er nicht zugeben will, daß dieser objektive Außenraum irgendwo in einen mehr als dreidimensionalen Raum übergehen kann, ein Ding, für dessen Vorstellung unsere Gehirne nur just nicht eingerichtet sind; in dieser Beschränktheit besteht eben die Subjektivität unserer Vorstellung.
Man würde nun aber HELMHOLTZ Unrecht tun, wenn man dieselbe Unzweideutigkeit des Irrtums wie bei GAUSS und RIEMANN auch noch an anderen Stellen seiner Publikationen vermissen wollte als an den besprochenen. Vielmehr ist zu konstatieren, daß mit der Ausscheidung dieser Stellen aller objektive Halt für den inneren Widerspruch beseitigt wäre, der sich namentlich bei LIEBMANN als so verschlagsam erwiesen hat. Denn nicht nur in den sonstigen Ausführungen der Optik, sondern auch in den Aufsätzen über "die neueren Fortschritt in der Theorie des Sehens" (2) spricht alles dafür, daß HELMHOLTZ in der Tat der Gefährte RIEMANNs ist. Mit Recht beruft sich daher auch ROSANES auf die empiristische Theorie von HELMHOLTZ als in voller Übereinstimmung befindlich mit der Arbeit "Über die Tatsachen, welche der Geometrie zugrunde liegen", und die Konfusion, in welcher LIEBMANN durch die "ipsissima verba" von HELMHOLTZ noch bestärkt wurde, wäre zu vermeiden gewesen, wenn der Referent auch nur die eine Bemerkung gründlich würde beobachtet haben, welche gegen den Schluß jener populären Aufsätze vorkommt. Daselbst ist nämlich zu lesen (Heft 2, Seite 98):
"Nur die Beziehungen der Zeit, des Raums, der Gleichheit, und die davon abgeleiteten der Zahl, der Größe, der Gesetzlichkeit, kurz das Mathematische, sind der äußeren und inneren Welt gemeinsam, und in diesen kann in der Tat eine volle Übereinstimmung der Vorstellungen mit den abgebildeten Dingen erstrebt werden."
Freilich ist hier wieder in anderer Hinsicht die mit RIEMANN übereinkommende Arbeit auf den Kopf gestellt; denn während in dieser der Raum aus Größenbegriffen abgeleitet wird (3), hören wir das Umgekehrte als Faktum behaupten. Aber die philosophische Kardinalentscheidung über den Raum wird hier mit derselben Präzision gegeben wir nur irgendwo bei GAUSS und RIEMANN: der Raum ist eben nicht ausschließlich subjektiv, sondern er ist auch subjektiv. Damit ist aber die Stellung zur kantischen Erkenntnistheorie in nuce [im Kern - wp] völlig determiniert: es ist schlechthin die Verneinung von KANT; und da nun die Behauptung der n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit mit Krümmungsmaß eine wirkliche Konsequenz dieses Widerspiels zum transzendentalen Idealismus ist, so weiß man nicht, wen LIEBMANN eigentlich in höherem Grad mag mißverstanden haben, ob das philosophische Paradoxon oder das RIEMANN-HELMHOLTZsche Phantom. Denn statt aus seiner Übereinstimmung mit den Mathematikern die GAUSS'sche Überzeugung zu schöpfen, daß der transzendentale Idealismus ein gründlicher Irrtum und nunmehr gründlich und exakt widerlegt ist, "erkennt" LIEBMANN im Gegenstand seines Referats "eine Verifikation zugleich und Restriction des berühmten philosophischen Paradoxons". Das LIEBMANNsche Halbdunkel ist so gleichmäßig auf alle Partien der Darstellung verteilt, daß die Philosophie in demselben Maß wie die höhere Exaktheit dadurch koloriert wird, und wenden wir uns lieber zu den Originalelementen dieser Komposition, bei denen doch selbst da, wo auch der Irrtum etwas im Unklaren gehalten ist, die Orientierung besser gelingt.
Denn es bleibt allerdings auch HELMHOLTZ noch eine Unklarheit zurück, selbst wenn man von allem bisher Besprochenen absieht: ich meine die philosophische Bestimmung des Unterschiedes zwischen Empirismus und Nativismus als den zwei miteinander streitenden Auffassungen von der Entstehung räumlicher Wahrnehmungen durch das Auge.
LITERATUR - Wilhelm Tobias,
Grenzen der Philosophie, Berlin 1875
Anmerkungen
1)
Den oben angegebenen Arbeiten füge ich hier die folgende hinzu, welche ich während des Druckes dieser Zeilen angezeigt sehe: Gustav Fresdorf, Über die Geometrie und die Potentialfunktion im Gaussschen und Riemannschen Raum, Inauguraldissertation, Göttingen.
2)
Zuerst erschienen im 21. Band der Preußischen Jahrbücher, 1868, dann im 2. Heft der "Populären wissenschaftlichen Vorträge", Braunschweig 1871.
3)
Vgl. z. B. folgende Bemerkung: "Da wir nämlich nur solche Raumverhältnisse uns anschaulich vorstellen können, welche im wirklichen Raum möglicherweise darstellbar sind, so verführt uns diese Anschaulichkeit leicht dazu etwas als selbstverständlich vorauszusetzen, was in Wahrheit eine besondere, und nicht selbstverständliche Eigentümlichkeit der uns vorliegenden Außenwelt ist. - - - Dieser Schwierigkeit überhebt uns die analytische Geometrie. welche mit reinen Größenbegriffen rechnet, und zu ihren Beweisen keine Anschauung braucht. Es konnte als zur Entscheidung der erwähnten Frage der Weg betreten werden, nachzusuchen, welche analytischen Eigenschaften des Raumes und der Raumgrößen für die analytische Geometrie vorausgesetzt werden müßten, um deren Sätze vollständig vom Anfang her zu begründen." (Heidelberger Jahrbücher, Nr. 46, 1868, Seite 733: "Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie", Vortrag von Helmholtz, 22. Mai 1866)
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