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OTTO LIEBMANN
Zur Analysis der Wirklichkeit
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"Subjektive Wahrhaftigkeit ist ein Grundpostulat, objektive Wahrheit die Endforderung aller Philosophie. Mit dem ersten verträgt sich ganz wohl, wodurch die zweite vereitelt wird, nämlich daß ein Philosoph, ehrlich davon überzeugt, den Hauptschlüssel aller Rätsel gefunden zu haben, sämtliche Türen damit aufzuschließen versucht und, wo es nicht recht gehen will, ebenfalls in gutem Glauben, mit der allzeit disponiblen Brechstange der Definitionen, Axiome, Postulate - d. h. Machtsprüche - oder auch einem unvermeidlichen Zirkel nachhilft."

"Der Philosoph, wenn er kein Wahrsager ist, so sei der doch ein Wahrheitsager; und dazu gehört, daß er nichts als gewiß behauptet, was er nicht gewiß weiß. Er scheue sich vor der Strafe, zu welcher Dante im zwanzigsten Gesang der Hölle die falschen Propheten verurteilt. Behaupte also Du, im Interesse Deines Systems, soviel Du willst, vor Deinem logischen Gewissen bist Du Dir der Nichtigkeit oder Halbwahrheit so mancher Behauptungen doch bewußt und empfindest mit logischer Reue ganz genau, daß Deine Augen, so scharf sie sein mögen, doch nur Menschenaugen sind. Mag das Volk dem Auguren gläubig lauschen; wenn er dem anderen Auguren begegnet, lächeln beide und schämen sich innerlich, sofern dieses Gefühl nicht schon völlig abgestumpft ist."

Prolegomena

Der Streit der Weltanschauungen zieht sich ungeschlichtet durch die Jahrtausende dahin; er scheint unschlichtbar. Hundertmal behauptet, bewiesen, bekämpft, widerlegt, verketzert oder auch verhöhnt und übertrumpft, erheben sie sich immer von Neuem zu einer neuen Geisterschlacht; und die vielhäuptige Philosophie gleicht, wie ein ironischer Gegner bemerken könnte, der Hydra aus Lerna, welcher die abgeschlagenen Köpfe unermüdlich nachwachsen. Wenn sich hiermit der Indifferentismus in seiner Erbärmlichkeit nicht entschuldigen darf, so könnte es doch scheinen, als verbliebe der stets verneinenden Skepsis ein für alle Mal das letzte Wort, und wir kämen nie über die Moral des MEPHISTOPHELES hinaus,
    Daß von der Wiege bis zur Bahre
    Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!
Oder man könnte, auch ohne im Entferntesten Hegelianer zu sein, auf die Idee eines ewigen und notwendigen Kreislaufs der Systeme geraten, worin jede philosophische Position vermöge ihrer Blößen den Widerspruchsgeist herausfordert und so wider Willen ein ihr entgegengesetztes System ins Dasein lockt. Dieser Zirkelprozeß, der sich ohne Mühe an einem gewissen Parallelismus zwischen der Entwicklung der antiken und der modernen Philosophie nachweisen läßt, erschiene dann, von einem weltpädagogischen Gesichtspunkt aus betrachtet, als eine vortreffliche Geistesgymnastik für das Menschengeschlecht; nur leider ohne Ziel und Ende! Ja endlich ließe sich zum Trost, zur Stärkung und gleichfalls ohne Mühe der Nachweis liefern, daß der Turnus doch keineswegs als reiner Zyklus in sich selbst zurückläuft, sondern, bei steter Bereicherung unseres Wissens und der Verschärfung unseres Denkens gleichsam einen spiralförmigen, also dem Ziel immer näher führenden Verlauf nimmt. CARTESIUS wäre dann der SOKRATES auf der zweiten, KANT der auf der dritten Potenz usw. Soviel mindestens scheint hieran wahr, daß die Geschichte der Philosophie durch alle Umwege und Irrwege hindurch einen Fortschritt, ein Vorwärtskommen zeigt, keinen Stillstand, keine identischen Wiederholungen. Das üppige Unkraut der effekthaschendenn Unehrlichkeit und des geschichtsunkundigen Dilettantentums, welches allezeit zwischen dem philosophischen Weizen wuchs emporwuchert, es verwelkt, auch ohne mühsam ausgejätet zu werden, von selbst, und allen Mißernten zum Trotz vervielfältigt sich innerhalb weiter umfassender Zeiträume die genießbare Frucht. Es wechseln Perioden der überkühnen, jugendlich zuversichtlichen Spekulation mit solchen der emsig sammelnden Empirie und der nüchtern-gewissenhaften Kritik, die Diastole [Erschlaffung - wp] mit der Systole [Anspannung - wp]. Da die Menschheit nicht nur Gedächtnis und Literatur, sondern auch ein logisches Gewissen und einen bis auf weiters nicht in der Abnahme begriffenen Verstand besitzt; so spitzen sich die Probleme von Epoche zu Epoche schärfer zu. Im Reich der Geister wie in dem der Leiber steht eine Generation auf den Schultern der andern; die heutige Pflanzendecke wächst aus der früheren, die sich in fruchtbaren Humus verwandelt hat, hervor. Und bei aller Anerkennung der Verdienste großer Denker der Vergangenheit, bei noch so klarem Bewußtsein der Unübersteigbarkeit unserer immanenten, typischen Intellektgrenzen bleibt doch die ermutigende Hoffnung gerechtfertigt, daß unsere Enkel oder Ururenkel im philosophischen Verständnis dieser Welt ebensoviel weiter gediehen sein können, als wir im Vergleich zu unseren Großvätern oder Urahnen. Ist denn also die Vielheit und Vielspältigkeit der sich befehdenden philosophischen Systeme ein gar so großes, absolut beklagenswertes Übel? Sollten sie lieber in die Hand irgendeines Diktators Urfehde schwören? Wäre die Einförmigkeit des philosophischen  Credo  [Glaubens - wp] oder  Nescio  [Zweifel - wp] so absolut wünschenswert, wie eine Konkordienformel [Eintrachtsgelöbnis - wp] für die zersplitterten religiösen Konfessionen? Ich glaube nicht; ich glaube, die Natur der Sache drängt vielmehr zu einer Auffassung, welche an einen berühmten Ausspruch LESSINGs und ein bekanntes Epigramm SCHILLERs erinnert. Ja, - wäre das, wovon DESCARTES geträumt hat, erreichbar, ließen sich Axiome auffinden, aus denen das einzig wahre System der Philosophie mit derselben Unfehlbarkeit hervorwüchse, wie aus den zwölf euklidischen Axiomen die Mathematik, dann wäre der unaufhörliche Streit, der soviel Kräfte absorbiert, nur häßlich und beklagenswert. Allein es gibt Gründe, - und wir werden damit nicht hinter dem Berg halten, - aus denen diese Hoffnung  a priori  eitel erscheint. Sowohl subjektiv als auch objektiv liegen die Bedingungen, unter denen das philosophische Nachdenken um sein Ziel ringt, so, daß ein voreiliger Friedensschluß der Parteien der guten Sache eher schädlich als günstig gedeutet werden müßte. Da nämlich das Wesen der Dinge schwerlich so flach ist wie die Mehrzahl der Köpfe, die ihm auf den Grund gekommen zu sein glauben; da wir selbst die eminentesten Denken am harten Weltproblem bald hier, bald dort Schiffbruch erleiden sehen, so wäre jener Friedensscluß eher ein Symptom der Erschlaffung als ein Zeichen des Triumphs. In der Tat läßt ja der Spielraum der objektiven Möglichkeiten für ein Wesen von unserer spezifischen Geisteskonstitution eine subjektive Mehrheit von Deutungsversuchen zu. Und gerade indem jeder Denker sich und seine Überzeugung im geistigen Kampf ums Dasein nach Kräften zu verteidigen sucht und nur dem unüberwindlichsten aller Gegener, der wirklich überlegenen Wahrheit, die Waffen streckt, muß diese wach erhaltende Friktion und Polemik der immer höheren Anspannung unserer Kräfte, somit der Sache selbst in einem hohen Grad förderlich sein. "Wären wir Götter, sagt PLATON, so gäbe es keine Philosophie." - Alles wäre dann einig. Da wir Menschen sind, so gibt es mit der Philosophie zugleich eine VIelheit philosophischer Parteien, deren Meinungsstreit nach der alten Maxime  polemos pater pathon  [Der Kampf ist der Vater aller Dinge - wp] beurteilt werden muß. Nur aus einer berechtigten Reaktion des Subjektivismus gegen die dogmatische Vertrauensseligkeit der ältesten griechischen Naturphilosophie und Metaphysik ist die Sophistik hervorgegangen. Nur im Kampf gegen die korrumpierte Dialektik der Sophisten gewann SOKRATES die echte. Nur durch die siegreiche Opposition des LOCKEschen Empirismus gegen die cartesianischen  ideae innatae  [angeborene Ideen - wp] wurde der Schacht zu einer tieferen Auffassung des "A priori" geöffnet. Nur im Kontrast zu SPINOZAs nivellierender Alleinheitslehre gewann LEIBNIZ die Anregung zum schärferen Eindringen in den Begriff der Individualität. Nur durch den rücksichtslosen Materialismus und Skeptizismus der Enzyklopädisten und DAVID HUMEs konnten der fadenscheinige Optimismus LEIBNIZens und die hohlen Wortgebäude der deutschen Kathederphilosophie des vorigen Jahrhunderts verdampft und hierdurch jene Schwüle der geistigen Atmosphäre herbeigeführt werden, in welche dann das Ungewitter der Kantischen Kritik luftreinigend hineinfuhr. Und unser laufendes Jahrhundert hat uns, gleichsam in einer höheren Etage, ein ähnliches Schauspiel vorübergeführt, dessen letzter Akt bis jetzt noch nicht eingetreten zu sein scheint.

Natürlich soll hiermit nicht eine Apologie des philosophischen Gezänks geliefert sein, sondern des philosophischen Parlamentarismus; es soll nicht der Zwietracht als solcher, sondern nur dem ernsthaften und gewissenhaften Wettkampf, nicht dem charakterlosen Eklektizismus, sondern dem "audiatur et altera pars" [Man höre auch die andere Seite - wp] das Wort geredet sein, wobei das "taceat puer in ecclesia" [Die Kinder sollen in der Kirche ruhig sein. - wp] selbstverständlich eingeschlossen, und als oberstes Axiom der Satz, daß es bei allen subjektiven Meinungsverschiedenheiten objektiv nur eine einzige, absolute, für uns vielleicht approximativ erreichbare Wahrheit gibt, stillschweigend vorausgesetzt ist.

Auf die sokratische Frage, worin denn, von  den  Philosophien abgesehen,  die  Philosophie besteht, näher einzugehen, wäre eigentlich eher die Aufgabe eines Epilogs, als dieses Prologs. Genau genommen gibt es ebensoviele Definitionen der Philosophie, als es Philosophen gegeben hat, und wem es darauf ankäme, der könnte eine ziemlich buntscheckige Musterkarte oder Anthologie zusammenstellen. Bei PLATON ist sie die Wissenschaft der Ideen, bei EPIKUR die Kunst sich durch kühles Nachdenken über die Dinge ein glückliches Leben zu verschaffen, bei CICERO, nach dem Vorausgang der 'Stoiker, die Wissenschaft des Zusammenhangs zwischen den göttlichen und menschlichen Dingen; WOLFF nennt sie die Wissenschaft des Möglichen, insofern es sein kann, HERBART die logische Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe. GOETHE sagt einmal von seinem freien, unzunftmäßigen Standpunkt aus: Philosophie ist nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache [Kauderwelsch - wp]. Da es auf den Buchstaben weniger als auf den Sinn ankommt, so sei hier auf eine anspruchsvolle Primärformel Verzicht geleistet. Dem Gattungsbegriff am adäquatesten sind vielleicht zwei Definitionen, deren eine von ARISTOTELES, die andere von KANT herrührt. Jener bezeichnet einmal die Philosophie als "Wissenschaft der, oder Forschung nach den höchsten Prinzipien", dieser als "Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft". Hiervon verdient letzteres, weil noch umfassender und die negativen Fälle des Skeptizismus und Kritizismus mit unter sich begreifend, den Vorzug und dürfte von allen Parteien bereitwillig akzeptiert werden. Indessen, wie gesagt, auf den Buchstaben und die Schulformel kommt es weniger an, als auf den Geist und das intellektuell-gemütliche Bedürfnis, dem alle echte Philosophie entsprungen und von dem sie, wie von ihrem Lebensblut durchströmt wird. Sollte ich nun, da denn doch in dieser Einleitung eine orientierende Grundidee erwartet wird, jenen Geist, jene Quintessenz der Philosophie, jenes treibende Etwas, dem die folgenden Blätter verstandesmäßigen Ausdruck verleihen, in kurzen Worten andeuten, so würde ich zunächst negativ sagen: Wer irgendetwas ohne weiteres für selbstverständlich hält, ist kein Philosoph. (1) Wem das Dasein von etwas durch den Umstand, daß es immer so war wie heute, hinreichend erklärt ist; wer sich in die Welt und sich selber nicht soweit vertiefen vermag, daß ihm das Dasein beider und ihr gegenseitiges Verhältnis als ein großes und schweres Problem auf's Herz fällt; wer die Existenz der ihn umgebenden unendlichen Natur als begreiflich erachtet, bloß weil sie eben existiert, und seine eigene Existenz dadurch zureichend begründet findet, daß er dann und wann vom Vater erzeugt, späterhin von der Mutter geboren worden ist, um nun eben seinerseits im üblichen Geleise weiter zu leben, weil und wie alle anderen es auch tun; wer beim Anblick des sternenbesäten Himmels in wolkenloser Nacht niemals eine Art von staunendem Grausen über diese unendliche und ewige Weltmaschinerie empfunden hat, in die er sich als einer der Millionen Bewohner eines der kleinsten unter diesen zahllosen Weltkörpern verflochten sieht, welcher Affekt sich dann in die ernsthaft Frage auflöste: Warum? Wozu? - hineingeflochten in diese unentrinnbare Weltmaschinerie mit dem deutlichsten Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit! - oder, falls dieses Gefühl nur eine subjektive Chimäre sein sollte, woher dann diese Chimäre und der tiefe unausrottbare Respekt vor ihr? (2) - Wer nie gefühlt hat, daß die strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit allen Geschehens ein Wunder ist, d. h. für einen menschlichen Verstand ebenso sehr der Erklärung bedarf, als sie, nach der alltäglichen Auffassung, erklärt; daß z. B. aus der Tatsache, daß der Mond bisher regelmäßig alle 4 Wochen zu- und abgenommen hat, nicht im geringsten begreiflich wird, warum er es auch diesmal tut; - - der bleibe draußen! Für ihn ist die Philosophie ebenso überflüssig wie die Optik für denjenigen, welcher das helle Tageslicht durch die Stellung der Sonne über dem Horizont erklärt sieht. - Das wären dann lauter Negationen; sie orientieren jedoch und bestimmen, denn, um einen spinozistischen Satz im Interesse der Wahrheit umzukehren:  omnis negatio est determinatio  [Alle Verneinung ist Bestimmung. - wp] Ein paar positive Bestimmungen kommen dann noch hinzu; die eine formell, die andere materiell. Die erste besteht im Axiom, daß es für alle Menschen nur  eine  Logik gibt; die zweite im Postulat, daß, wer die Wahrheit sucht,  gegen sich selbst  ehrlich sein muß.

Der letzte Passus ist etwas ins Rhetorische geraten, was eigentlich nicht beabsichtigt war; er läßt sich jedoch vom verständnisvollen Leser aus dem emphatischen Stil leicht in einen Verstandesstil übersetzen und keinesfalls wird man gegen die nachstehenden Untersuchungen den gleichen Vorwurf erheben können. Diese treten nun nicht im beliebten Schultalar des  Systems  auf; sie bilden zwar kein willkürich zusammengewürfeltes Aggregat aber auch kein in allen Teilen ganz gleichmäßig ausschattiertes und lückenloses Gesamtgemälde. Und wenn die logische Selbständigkeit und scheinbare Inkohärenz der einzelnen Kapitel vielleicht in den Augen manches, wiewohl nicht jedes, kompetenten Beurteilers als ein auf Unfertigkeit deutender Mangel erscheint, so komme ich diesem Bedenken in doppelter Hinsicht dadurch zuvor, daß ich es sofort anerkenne, aber nicht als Tadel gelten lasse. BACO von VERULAM vergleicht in einem vortreffichen Aphorismus seines  Novum Organum  die rohe, theorielose Empirie mit der Ameise, welche bloß Material zusammenschleppt, die dogmatisch-rationalistische Systemfabrikation mit der Spinne, welche ihr kunstreiches Netz ganz aus sich selber spinnt; der Biene aber, welche, wie die Männer der methodischen Empirie, ihr wertvolles Material auf dem in Garten und Feld verstreuten Blumen auswählt und aussaugt, um es dann in ihrem Bau zweckmäßig zu verwerten, erteilt er den Preis. Seitdem ist die bekannte Systemliebe der Philosophen oft genug als ein rein subjektiver und ästhetischer Bautrieb erklärt worden, eine Neigung, welche an und für sich mit dem Trieb nach Wahrheit wenig zu schaffen hat und für die Erreichung des Ziels so wenig Bürgschaft leistet, daß sie ihr vielmehr oft hinderlich ist. Aber rein ästhetisch ist sie doch nicht; sie hat auch eine logische Berechtigung. Keine Wissenschaft wird als vollendet und in sich abgerundet gelten können, bevor sie, wie die reine Mathematik, die mathematische Mechanik und theoretische Astronomie ein logisches Ganzes bildet, worin von einer ganz beschränkten Anzahl als evident angenommene Grundsätze und Definitionen aus Lehrsatz für Lehrsatz, Gesetz für Gesetz, streng folgerichtig hervorwächst und so die schmale Spitze des Grundgedankens in die breite, ja unendliche Basis der empirischen Einzelheiten mit Notwendigkeit ausläuft. Daß nun das  Ideal  auch der Philosophe in einem  System  besteht, daß die von ihr  angestrebte  Welterklärung für unseren spezifisch diskursiven Verstand nur in Gestalt eines logischen Gedankenbaus würde erscheinen können, worin aus einem einheitlichen Grundgedanken mittels irgendeiner Methode sämtliche Provinzen der gegebenen Wirklichkeit abgeleitet und erklärt wären, das ist bereitwilligst zuzugestehen. Daß es echte Philosophie trotzdem  nicht nötig  hat, in der  Form  des Systems aufzutreten, beweist PLATON, beweisen BACO und LEIBNIZ, beweist der ausgesprochene  horror  so manches eminent philosophischen Kopfes vor aller exklusiven Schulsystematik. Daß diese Form geradezu  schädlich  ist, behaupten alle Skeptiker von PYRRHON und TIMON bis auf BAYLE und HUME. (3) Diese widersprechenden Ansichten wird man nicht so unvereinbar finden, wenn man bedenkt, daß unser Wollen und unser Können, Ideal und Wirklichkeit, nicht immer kongruente Größen sind. Da unsere empirische und theoretische Erkenntnis trotz aller Fortschritte der Wissenschaft stets fragmentarisch bleibt, unaufhörlich durch neue, zum Teil ganz unerwartete Entdeckungen bereichert, korrigiert, bisweilen auch von Grund auf revolutioniert wird, so liegt bei jedem philosophischen Systembau die Möglichkeit vor, daß das Wollen dem Können vorangeeilt ist. Und diese Möglichkeit wird von der Geschichte zur Wahrscheinlichkeit erhöht. Sie zeigt uns, daß der Baustil eines Systems vom individuellen und Zeitgeschmack abhängt, der echte Wahrheitsgehalt aber nicht, daher jener sich bald in eine Ruine verwandelt, während dieser von kritischen Schatzgräbern gehoben wird. Nehmen wir irgendeine Philosophie von ausgesprägt systematischer Form, wie etwa SPINOZAs Ethik, FICHTEs Wissenschaftslehre oder KANTs  Kritik der reinen Vernunft soweit sie unter der architektonischen Zwingherrschaft des Kategorienregisters steht. Immer wiederholt sich das Schauspiel, daß die Formen, an welchen sich die Schule ergötzt, zerfallen, der etwaige Wahrheitskern - (der also von der Haltbarkeit jener Formen nicht abhängig sein kann) - unversehrt übrig bleibt. Daß man den mehr bestehenden, als überzeugenden Formelapparat der Systematik verschmähen  soll,  wenn er nur  mala fide  [bösgläubig - wp], nur auf Kosten der Reinheit des logischen Gewissens erkauft werden kann, bedarf keines Beweises. Daß aber selbst ein  bona fide  [guter Glaube - wp] aufgebautes System leicht die  culpa  [Schuld - wp] auf sich lädt, Gedankenlücken mit unwillkürlichen Subreptionen [Erschleichungen - wp] oder terminologischem Wörterflickwerk zu verstopfen, lehrt  a priori  die Reflexion auf die spezifische Beschränktheit der menschlichen Intelligenz und  a posteriori  die historische Erfahrung. Subjektive Wahrhaftigkeit ist ein Grundpostulat, objektive Wahrheit die Endforderung aller Philosophie. Mit dem ersten verträgt sich ganz wohl, wodurch die zweite vereitelt wird, nämlich daß ein Philosophie, ehrlich davon überzeugt, den Hauptschlüssel aller Rätsel gefunden zu haben, sämtliche Türen damit aufzuschließen versucht und, wo es nicht recht gehen will, ebenfalls in gutem Glauben, mit der allzeit disponiblen Brechstange der Definitionen, Axiome, Postulate - d. h. Machtsprüche - oder auch einem "unvermeidlichen Zirkel" nachhilft. So SPINOZA, so FICHTE. Genug, je höher das Ideal, umso fraglicher die Möglichkeit seiner Verwirklichung. Es gibt, wie schon oben angedeutet, ganz spezielle Gründe, aus denen die Hoffnung auf Erreichbarkeit einer endgültigen philosophischen Weltdeduktion als vergeblich erscheint; irre ich nicht, so gehört hierher, von manchem anderen, wie z. B. der berühmten  crux metaphysicorum  [Schlüsselstelle der Philosophie - wp] "Materie und Geist", abgesehen vom Unvermögen unseres Verstandes zu einer Reduktion der quantitativen Merkmale der Wirklichkeit auf qualitative und umgekehrt, worüber im weiteren Verlauf ausführlich Rechenschaft abgelegt werden wird. (4) Dann aber lauert ja stets die allgemeine und große Gewissensfrage im Hintergrund, ob nicht der Verstand der Verständigsten unter uns sich zum ewigen Weltproblem etwa so verhält, wie der des neugeborenen Kindes zum Problem der drei Körper [klassisches mathematisches Problem - wp]; ob er überhaupt fähig wäre das letzte Wort des Rätsels, wen es ihm genannt würde, mit seinem logischen Erkenntnisapparat zu verstehen; ob es ihm dann nicht erginge, wie einem Maulwurf, dem man die Brille aufsetzt, oder wie bei SCHILLER dem Jüngling in Sais. Obwohl, wie GOETHE einmal mit vollem Recht sagt, der Kern der Natur auch in unserem Herzen sitzt, wir fassen ihn doch nicht. Welcher Sterbliche vermöchte von sich zu sagen, daß er sich selbst von Grund auf verstünde? Günstigenfalls  kennt  man sich ziemlich genau und weiß diese Kenntnis wohl zu verwerten; aber - begreifen? - verstehen? - -

Das sind also die Motive, weshalb in den nachstehenden Untersuchungen auf die Konstruktion eines Systems Verzicht geleistet wird, obwohl ein leitender Grundgedanke nicht fehlt, auf welchen sie, wie sämtliche Magnetnadeln auf den verborgenen Pol, hinweisen; weshalb häufig die Prämissen zu einem transzendenten Schluß unmittelbar nebeneinanderstehen, ohne daß die Konklusion - welche jeder leicht ziehen könnte, - gezogen ist; weshalb manches höchst wichtige Problem, (wie z. B. die Frage nach der transzendenten Realität oder Idealität des Raums oder die nach dem Verhältnis von Materie und Geist) nur als Problem scharf und treffend zu formulieren versucht, dann aber ungelöst stehen gelassen wird, obwohl eine  konjekturale  [vermutende - wp] Lösung ganz nahe liegen würde; kurz, weshalb uns häufig das letzte Wort auf den Lippen schwebt, ohne daß wir es aussprechen. Es hindert uns daran eine gewisse Reserve, ja eine heilige Scheu. Denn der Philosoph, wenn er kein Wahrsager ist, so sei der doch ein Wahrheitsager; und dazu gehört, daß er nichts als gewiß behauptet, was er nicht gewiß weiß. Er scheue sich vor der Strafe, zu welcher DANTE im zwanzigsten Gesang der Hölle die falschen Propheten verurteilt; diese müssen mit auf den Rücken umgedrehten Antlitz Buße tun, welcher Mythos, auf unseren Fall angewendet, folgendes besagt: behaupte Du, im Interesse Deines Systems, soviel Du willst, vor Deinem logischen Gewissen bist Du Dir der Nichtigkeit oder Halbwahrheit so mancher Behauptungen doch bewußt und empfindest mit logischer Reue ganz genau, daß Deine Augen, so scharf sie sein mögen, doch nur Menschenaugen sind. Mag das Volk dem Auguren gläubig lauschen; wenn er dem anderen Auguren begegnet, lächeln beide und schämen sich innerlich, sofern dieses Gefühl nicht schon völlig abgestumpft ist.

Ein "logischer Plan" ist etwas anderes als ein "System". Wenn wir auf jenes Verzicht leisten, so wird man letzteren sicherlich nicht vermissen. Die alte, von DIOGENES LAERTIUS dem PLATON zugeschriebene Dreiteilung der Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik, welche den philosophischen Fragen nicht äußerlich und künstlich als abstraktes Fangnetz über den Kopf geworfen, sondern aus der Natur der Sache selbst hervorgewachsen ist, entspricht ungefähr unserem Plan, zu dessen Rechtfertigung wenige Worte hinreichen werden. Da uns jedes Einzelobjekt und so auch der große Gesamtgegenstand der Philosophie, nämlich die Wirklichkeit, nur innerhalb unseres Bewußtseins gegeben ist, als Vorstellungsinhalt oder Vorstellung; da wir die Welt nur so erkennen, wie ben unser Erkenntnisvermögen seiner Natur und Organisation gemäß sie uns zu zeigen vermag, so wird an erster Stelle eine Prüfung dieses Erkenntnisvermögens geboten sein, worin man die Tragweite und die Grundgesetze des Erkennens (principia cognoscendi) zu bestimmen, und die Frage nach der Unbeschränktheit oder den Schranken unserer Intelligenz zu entscheiden sucht. Dies war die Aufgabe der "Dialektik", im weiten Wortverstand der Alten genommen, welche man jedoch, beim modernen Doppelsinn des Namens und besonders seit der Kantischen Reform, besser  Erkenntniskritik  oder  Transzendentalphilosophie  nennt. Je nachdem nun diese Untersuchung im positiven oder negativen Sinn ausfällt, je nachdem man unser Erkenntnisvermögen, sei es das intuitive, sei es das abstrakte, als beschränkt oder unbeschränkt, als fähig oder unfähig zur intellektuellen Erfassung des absolut realen Wesens der Welt befunden hat, wird man in einem zweiten Teil, den objektiven Problemen zu Leibe rücken, entweder nur innerhalb der Erscheinungswelt und mit einem ausdrücklichen Bewußtsein ihrer Relativität, oder jenseits der Erscheinungen im transzendenten Kern der Dinge die Substanz der Wirklichkeit (principium essendi) und den Grund allen Werdens (principium fiendi) aufsuchen. Dieses Zweite hieß im Altertum gewöhnlich "Physik", bei ARISTOTELES umfaßt es außerdem die Metaphysik. Da aber die gesamte Wirklichkeit, mindestens empirisch und für unsere Intelligenz, in die beiden disparaten Gebiete der materiellen und der geistigen Tatsachen zerfällt, in den Makrokosmus der räumlichen Außenwelt und den Mikrokosmos des Seelenlebens, deren wechselseitiger Zusammenhang bekanntlich zu den hartnäckigsten Rätseln gehört, so begreift dieser zweite Teil die  Naturphilosophie  und die  Psychologie  unter sich. Wenn nun die beiden ersten Teile sich mit  dem  beschäftigen, was da ist, was geschieht und inwiefern es erkannt wird, so eröffnet sich der Philosophie eine ganz andere und neue Perspektive in einem dritten Teil, welcher von  dem  handelt, was sein und geschehen  soll.  Es gibt - im menschlichen Bewußtsein wenigstens, - ein Reich der Werte und Ideale, welches insofern  über  der Wirklichkeit schwebt, als wir die uns von außen entgegentretenden Objekte daran messen, danach beurteilen und je nachdem anerkennen oder verwerfen; was jedoch insofern auch mit zur Wirklichkeit gerechnet werden muß, als das menschliche Bewußtsein einschließlich seiner Werturteile etwas Wirkliches, ja das Urphänomen aller Wirklichkeit genannt werden muß. In diese dritte Abteilung gehört die  Ethik;  sie sucht nach den Prinzipien der 
Moralität. Ich rechne jedoch außerdem die  Ästhetik  hierher, welche den Prinzipien der Schönheit auf die Spur kommen will. Obwohl der ethische und ästhetische Wert, das sittliche Ideal und das Schönheitsideal spezifisch verschieden sind, ja so unabhängig voneinander, daß sie sogar häufig in Konflikt geraten, so gehören doch beide unter denselben, weitumfassenden Begriff des Wertvollen oder dessen, was zu sein und zu geschehen  würdig  wäre, gleichviel ob es ist und geschieht oder nicht. Wie auf der grauen Regenwand der überirdisch strahlende Bogen der Iris schwebt, so im menschlichen Bewußtsein über dem gemeinen und natürlichen Lauf der Welt das Ideal.

Jedes von den drei Hauptgebieten der Philosophie, welchen die Einteilung dieses Buchs in drei Abschnitte entspricht, stellt uns nun gewisse besondere Probleme, welche sich allgemeineren logisch unterordnen, und deren abweichende Beantwortung zu ebensoviel philosophischen Kontroversen geführt hat. So bekämpfen sich auf dem Gebiet der  Dialektik  Sensualismus und Apriorismus im Hinblick auf den Ursprung der Erkenntnis, Idealismus und Realismus (im theoretischen Sinn) über den absolutenn Wahrheitsgehalt der Erkenntnis. Auf dem Schauplatz der  Physik  liegen mechanistische und teleologische Naturerklärung im Streit bezüglich der letzten und höchsten Triebfeder allen Geschehens, Materialismus und Formalismus bezüglich der Substanz alles Seienden.  Ästhetik  und  Ethik  endlich haben ein wahres Chaos höchst mannigfaltiger Parteiansichten produziert, welches jedoch unter die allgemeinen Gesichtspunkte des praktischen Idealismus und Realismus gruppiert werden kann.

Eine ziemliche Anzahl der wichtigsten Probleme höherer und niederer Ordnung, welche fast immer zugleich Streitfragen sind, haben wir nun unserer gewissenhaften Untersuchung unterworfen, freilich ohne daß dadurch alle drei Hauptgebiete der Philosophie ganz übersponnen und hypothetisch erschöpft würden. Einzeluntersuchungen sind unsere Kapitel; Lücken bleiben dazwischen, der Ausfüllung harrend; wir verfolgen den analytischen Weg von der Periopherie zum Zentrum hin, weil diese  anabasis  [Anstieg - wp] des Denkens zwar weniger anspruchsvoll aber auch zuverlässiger ist, als der umgekehrte Weg: der Weg der Deduktion. Wer mehr Interesse für das Ganze als für das Einzelne hegt, der möge daran denken, daß unendlich viele Radien vom Zentrum des Kreises zur Peripherie hinauslaufen, die man unmöglich alle ausziehen kann, daß aber Größe und Lage des Kreises schon bestimmt sind, wenn man nur drei Punkte der Peripherie kennt. Außerdem: Wie nach der Ansicht der meisten Geologen nur die Rinde des Planeten dem Bergmann zugänglich ist, der Kern aber, weil noch feuerflüssig, für Menschen unnahbar; so könnte es wohl sein, daß menschliches Nachdenken über die Rätselfragen der Philosophie zwar bis zu einer gewissen Tiefe zu dringen vermöchte, der Kern aber, das Weltzentrum, das Weltwesen, die  Natura naturans  [naturende Natur - wp] wegen allzuhoher Temperatur für unsere geistige Konstitution ein für alle Mal unnerreichbar bliebe. Darum die analytische Methode, nicht die synthetische.



Erster Abschnitt
Zur Erkenntniskritik und
Transzendentalphilosophie
In bestimmten Dingen stark, in zweifelhaften vorsichtig! - Shaftesbury



Idealismus und Realismus

Wenn Bishop Berkeley sagte: Es gibt keine Materie,
und es dadurch bewies, daß es egal wäre, was er sagt,
So wurde gesagt sein System ist unschlagbar,
zu subtil für den hochfliegendsten menschlichen Kopf;
Und doch - wer mag es glauben?
- Byrons Don Juan, Canto XI


Ein System, welchem nachgesagt wird, es sei unwiderleglich und doch unglaublich, verdient Beachtung und fordert Kritik. Es müßte glaublich sein, wenn es unwiderleglich wäre, oder widerleglich, wenn es unglaublich wäre. Andernfalls - was würde aus dem Kredit der menschlichen Vernunft? Und dennoch haben halbe wie ganze Gegner dieses Systems, die  einen  ohne es zu widerlegen, die Andern ohne rund und nett daran zu glauben, nach dieser und nach jener Richtung fortphilosophiert, als ob nichts geschehen wäre. -

BERKELEY's Lehre nennt man "Idealismus" oder wohl noch treffender "Immaterialismus". Aber was sie ableugnet, ist natürlich nicht die empirische Existenz und Tatsächlichkeit des materiellen Universums - (das wäre Unsinn!) - sondern nur dessen absolute Realität und Substanzialität. Die Schlußfolgerung verläuft so: Was ich empfinde, sehe, höre, fühle, das  ist,  existiert tatsächlich; nämlich in der Empfindung oder als Empfindung; so wahr ich es empfindet, so wahr es von einem Subjekt empfunden wird, so wahr ist es (Esse = Percipi); so wahr ich bin, so wahr ist die Außenwelt; so wahr das Subjekt ist, ist das Objekt. Daß nun aber unabhängig vom Subjekt, an und für sich,  extra mentem, realiter  und  substantialiter  eben jene gesehene, gefühlte, empfundene Materie existieren sollte, diese Annahme involviert aus den und den Gründen einen Widerspruch, Ergo etc. Mithin, solange ein sinnlich empfindendes Subjekt da ist, existiert auch die Körperwelt als dessen Empfindungsinhalt; sobald aber jenes verschwindet auch diese; ungefähr so, wie die Farben existieren, solange Licht da ist, im Licht; sobald aber das Licht erlöscht, aus der Existenz verschwinden. Wie man sieht, ist dieser Idealismus keineswegs Nihilismus; er beraubt das materielle Universum keineswegs seiner Realität, sondern nur seiner Substanzialität; er degradiert die Materie, welche von den  Cartesianern  und der gewöhnlichen Meinung für eine absolut reale Substanz außerhalb des wahrnehmenden Subjekts gehalten wird, zum Akzidenz der empfindenden Substanz oder des Geistes. Ganz Ähnliches, aber noch in weiterem Umfang, mutet uns ja auch der Spinozismus zu, indem er  sowohl  die Ausdehnung oder Materialität,  als  das Denken oder die Geistigkeit aus zwei nebeneinander existierenden Substanzen in Attribute einer einzigen Weltsubstanz verwandelt. Der Materialismus, BERKELEYs Immaterialismus und der Spinozismus sind drei verschiedene Arten der monistischen Weltanschauung, im Gegensatz zum Dualismus der Cartesianer.

Von "den und den Gründen", die BERKELEY ins Feld zu führen hat, wird bald die Rede sein. Wie aber verhalten sich die Gegner? HOLBACHs  Systéme de la nature,  die Bibel der Materialisten, fertigt den Immaterialismus nicht mit Gegengründen ab, sondern mit einer rhetorischen Phrase, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, bekreuzigt sich und geht seine Straße ruhig weiter.

KANT, der sich vor dem Vorwurf des Berkeleyanismus beinahe  fürchtet,  greift nicht sowohl die Gründe als die Thesis BERKELEYs an, liefert in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" eine sogenannte "Widerlegung des Idealismus", nachdem er schon vorher in den Prolegomenen sich gegen GARVES Rezension und den Verdacht des Idealismus verteidigt hat; (5) - dann nimmt er sein "Ding ansich" an, bekanntlich ein hölzernes Eisen, ein existenzunfähiges  asylum ignorantiae  [Zuflucht der Unwissenden - wp], dem alle unverdaulichen Probleme der Metaphysik in den Rachen geschoben werden, - und geht weiter.

HERDER, in seiner ebenso maliziösen als völlig verunglückten Polemik gegen die Vernunftkritik, sucht BERKELEY jener gegenüber herauszustreichen, ihn in realistischem Sinn umzudeuten und phantasiert weiter. (6) SCHOPENHAUER erklärt sich gleich im Eingang seines Hauptwerks "die Welt als Wille und Vorstellung" für BERKELEY, verwechselt jedoch dessen Anschauung mit der Kantischen, hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] dann, - (als ob dies mit BERKELEY verträglich wäre!) - den nach Abzug der Intelligenz übrigbleibenden irrationalen Rest des menschlichen Willens als Weltfaktotum und geht weiter. - Endlich, um noch einen Namen zu nennen, DAVID FRIEDRICH STRAUSS, der abtrünnige Jünger der "Identitätsphilosophie", will Materialismus und Idealismus sondernbarerweise geradezu identifizieren (eine Nachwirkung seines ehemaligen identitätsphilosophischen Glaubensbekenntnisses), hält die zwischen beiden Parteien schwebende Streitfrage für bloßen "Wortstreit" und philosophiert über Teleologie, Darwinismus, Weltzweck usw. in einem materialistischen Sinn ruhig weiter. (7) Es lohnt sich dann doch einmal, nicht so weiter zu gehen, sondern still zu stehen und zu prüfen. Was aber wird hauptsächlich bei der Prüfung bedürftig sein? Nicht so sehr die Argumente, auf die sich BERKELEYs charakteristische Thesis stützt, als diese Thesis selbst. Man kann einer Behauptung bedingt oder unbedingt zustimmen, ohne die dafür angeführten Gründe mit in Kauf zu nehmen und umgekehrt. Denn es ist ebenso sehr möglich, daß ein richtiger Satz inkorrekt bewiesen wird, als daß ein falscher Satz paralogistisch oder sophistisch aus richtigen Prämissen abgeleitet wird. An Beispielen für beides wimmelt ja die Philosophie. Erregt also die Thesis eines Philosophen unseren Zweifel, so wird die Kritik und Widerlegung seiner Beweisgründe im Allgemeinen unzulänglich zur Hebung unseres Bedenkens, mithin weniger wichtig sein, als eine direkte Untersuchung der Thesis selber. Gerade dies gilt nun in einem eminenten sinn von BERKELEYs System. Hätte er sich damit begnügt, seinen Satz als  Hypothese  hinzustellen oder meinetwegen als Glaubenssatz, als Axiom, als einleuchtende Fundamentalwahrheit, ja dann würde dieser Satz, wenn nicht plausibler, so doch kaum angreifbar gewesen sein. Statt dessen will er ihn  beweisen.  Der gelieferte Beweis ist, wie sich ohne große Mühe dartun läßt, falsch. Dadurch geht die Thesis der prätendierten Würde, einzig richtige Metaphysik zu sein, verlustig; aber trotzdem bleibt der Immaterialismus als ein, wiewohl höchst seltsamer, so doch immerhin denkbarer Fall, als  eine  logisch statthafte Hypothese neben vielen ebenbürtigen Konkurrenten stehn, z. B. neben dem Dualismus der CARTESIUS und MALEBRANCHE, dem monistischen Naturalismus des SPINOZA, dem Monadismus des LEIBNIZ, dem groben Materialismus  vulgaris  der Holbachianer und dgl. mehr. (8) Aus diesem Grund nun werde ich auf BERKELEYs  Argumente  nur kurz eingehen, nur in diesem Kapitel. Dagegen bildet seine  Thesis,  überhaupt der Idealismus, gewissermaßen - (jedoch bei weitem nicht ausschließlich und allein!) das Thema des ganzen ersten Abschnitts. -

Holen wir etwas weiter aus; - welchen Weg schlägt denn BERKELEYs Gedankengang ein in seinem Hauptwerk, der "Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis"? (9) Die stillschweigend gemachte Voraussetzung, auf welcher er fußt, um sie teils sich anzueignen, teils zu bekämpfen, sind die beiden bekanntesten Sätze aus LOCKEs "Versuch über den menschlichen Verstand". LOCKEs Lehre war in psychologischer Beziehung, ich meine, was die Frage nach dem empirischen Ursprung der Vorstellungen und Erkenntnisse in uns betrifft, Empirismus, ja man kann sagen Sensualismus, im Gegensatz zum Cartesianischen Noologismus, welcher angeborene Ideen angenommen und diese zum Prinzip seiner Deduktionen gemacht hatte. Äußere Wahrnehmung (Sensation and Reflection) waren ihm die einzigen Vorstellungsquellen; aus ihnen allein sollten sämtliche Arten der Vorstellung, wie Phantasmen, Erinnerungsbilder, abstrakte Begriffe, abstammen; dergestalt, daß ohne beiderlei Wahrnehmungen die Seele vorstellungsleer und gedankenlos (tabula rasa) sein und bleiben würde.  Nihil est in intellectu, nisi quod antea fuerit in sensu, externo vel interno  [Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher im inneren oder äußeren Sinn war. - wp]. In metaphysischer Hinsicht, d. h. was den materialen Wahrheitsgehalt der Vorstellungen, unsere Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem absolut Realen betrifft, war LOCKEs Lehre eine Art von idealistisch angehauchtem und eingeschränktem Realismus,, ebenso wie die Cartesianische Metaphysik. Sie unterschied die  qualitates secundariae,  wie Farbe, Ton, Geruch, Wärme usw., die sie für rein subjektive Affektionen der Sinnlichkeit erklärte, von den  qualitatibus primaris,  Ausdehnung, Figur, Solidität, Bewegung, Ruhe, Zahl, die sie als absolute Eigenschaften und Zustände der  extra mentem  [außerhalb des Verstandes - wp] an und für sich existierenden Körperwelt ansah. Was BERKELEY betrifft, so stimmt er in jener psychologischen Beziehung LOCKE zu. In dieser metaphysischen Beziehung geht er über ihn hinaus, will ihn widerlegen, will beweisen, daß die LOCKE'schen  qualitates primariae  ebenso ausschließlich subjektiv sind, wie dessen  qualitates secundariae,  daß auch  ihr  Sein (Esse) gänzlich zusammenfällt mir ihrem  Percipi,  womit denn selbstverständlich die Existenz einer absolut realen, außerhalb der Wahrnehmungssphäre des Subjekt befindlichen Körperwelt wegfallen würde.

Das Motiv, welches ihn zu dieser Behauptung treibt - (es ist ein auswärtiges, theologisches) -, lassen wir aus dem Spiel; wir fragen hier nach den Beweisgründen, auf die er sich stützt. Sie könnten, wie bemerkt, falsch sein, ohne daß deshalb schon die darauf gebaute Thesis selbst hinfällig würde; und sie sind es. -

In der Hauptsache nämlich treten zweierlei solcher Argumente auf. Erstens das bekannte Dogma des extremen, noch über den Konzeptualismus hinausgehenden Nominalismus (universalia sunt flatus vocis [Universalien sind nur ein Lufthauch - wp]); zweitens gewisse "Widersprüche" (contradictions), welche der Philosophie in der Annahme einer absolut realen, einer mehr als mentalen Existenz der Materie zu entdecken glaubt. Was das Erste betrifft, so schließt er folgendermaßen:

Es gibt  in intellectu  keine abstrakten Begriffe, sondern nur intuitive Vorstellungen, als auch nur  konkrete  Ideen von den sogenannten  primary qualities;  wir haben nur Vorstellungen von der gesehenen, gefühlten, als Einzelobjekt sinnlich wahrgenommenen oder imaginierten Ausdehnung, Solidität, Bewegung etc., nicht aber abgezogene Begriffe von der Ausdehnung, Solidität, Bewegung etc. ansich,  in genere  genommen; folglich können wir uns gar nicht einmal denken, daß eine nicht gesehene, nicht gefühlte, nicht wahrgenommene Ausdehnung usw. an und für sich,  extra mentem  vorhanden sei. Eben dies gilt von der Materie usw. (10) Die Irrtümlichkeit jenes Nominalismus, mit dem dieses Argument steht und fällt, wird an einer anderen Stelle dieses Werkes nachgewiesen werden. (11) Wir gehen deshalb hier darüber hinweg. Was nun aber die angeblichen "Widersprüche" betrifft, so gerät der vortreffliche Bischof mit einen wohlmeinenden theologischen Hintergedanken in die handgreiflichen Fehlschlüsse und durchsichtigsten Sophismen, von denen ich nur einige rügen will. Mit Vorliebe wird folgende apodiktische Scheindemonstration öfter wiederholt: - Licht, Farbe, Gestalt, Ausdehnung, Wärme, Undurchdringlichkeit und dgl. mehr, welche wir sehen, fühlen, wahrnehmen oder imaginieren, sind Sinnesempfindungen, Perzeptionen, Ideen des Subjekts. Ihr Sein (Esse) ist ein mentales, fällt also gänzlich zusammen mit ihrem  Percipi;  d. h. sie existieren nur im perzipierenden Subjekt. Eben diese Eigenschaften konstituieren nun aber dasjenige, was man ein materielles Objekt oder einen Körper zu nennen pflegt. Folglich existiert die Materie und der Körper  nur  insofern er wahrgenommen wird, und die Annahme einer realen Existenz der Materie außerhalb des vorstellenden Subjekts involviert den Widerspruch "Etwas, dessen Existenz im Perzipiertwerden besteht, existiert ohne perzipiert zu werden,"  id quod absurdum est  [was absurd ist - wp]; ergo etc. (12) Der leibhaftige Zirkelbeweis! Was bewiesen werden sollte, wird schon vorausgesetzt. Zuerst wird behauptet, was mir in der Wahrnehmung oder überhaupt als Vorstellungsinhalt gegeben ist, dessen  Esse  besteht im  Percipi;  (Richtig! Nämlich  für mich  das vorstellende Subjekt; nämlich,  insofern  es von mir vorgestellt wird); und zwar  nur  im Percipi (Falsch! Zuviel behauptet! Denn ich kenne das gar nicht, was jenseits meines subjektiven Bewußtseins liegt oder nicht liegt). Ergo, wird geschlossen, kann die Materie mit ihren Akzidenzien, den primären und sekundären Qualitäten,  nur  innerhalb, nicht außerhalb eines subjektiven Bewußtseins, eines vorstellenden Geistes existieren. Q. e. d. - Was für eine wunderbare Demonstration! Aus dem Umstand, daß die Existenz der Materie  als Vorstellung  eben im Vorgestelltwerden besteht, wird durch eine falsche Generalisation die Behauptung gezogen, es gebe  überhaupt  keine andere Art materieller Existenz als das Vorgestelltwerden; und hieraus dann der tautologische Satz gefolgert,  extra mentem  existiert keine Materie, weil dies soviel hieße als, es existiere etwas ohne zu existieren (d. h. wahrgenommen zu werden). Ein würdiges Gegenstück zum ontologischen Beweis. Wenn dieser aus dem Gedachtwerden auf die absolute Existenz seines Objekts schließt, so schließt unser immaterialistischer Beweis umgekehrt vom Vorgestelltwerden auf das  Bloß -vorgestelltwerden. Das ontologische Argument gleicht einem halluzinierenden Visionär, der, was er sieht, weil er es sieht, für absolut real hält; das immaterialistische einem Kind, das sich für unsichtbar hält, weil es die Augen zumacht. Ungefähr äquivalent wäre folgende Demonstration: das Bild im Spiegel besteht aus Farben, Licht, Schatten, Gestalt; und die Existenz dieser Qualitäten im Spiegel besteht in ihrem Abgespiegeltwerden. Ergo: ohne Spiegel gibt es keine Farben, Licht, Schatten, Gestalt. - Welch komisches Sophisma! - Gleich darauf aber folgt ein nicht minder schöner Beweis: "Man könnte mir einwenden, obwohl meine Idee selbst nicht außerhalb meines Geistes existiert, so gibt es doch vielleicht  extra mentem  ihr ähnliche Originaldinge, deren Kopie oder Ebenbild sie ist. Ich antworte: Eine Idee kann nur einer Idee ähnlich sein, eine Farbe nur einer Farbe, eine Figur nur einer anderen Figur." (13) In der Tat, ebenso zwingend wie: Man könnte sagen, obwohl die Bilder im Spiegel nicht außerhalb dieses Spiegels existieren, so gibt es doch vielleicht  extra speculum  [im Rückspiegel - wp] ähnliche Dinge, deren Kopien sie sind. Ich antworte: Ein Spiegelbild kann nur einem Spiegelbild ähnlich sehen, eine Farbe nur einer Farbe, usw. ad libitum [nach Belieben - wp] - Aufrichtig; wäre es dem Philosophen nicht so bitter Ernst, man wäre versucht zu glauben, er wolle den Leser zum Besten halten. -

Nun läßt sich zwar nicht leugnen, daß diesen sonderbaren Scheindeduktionen eine tiefe und prinzipielle Wahrheit zugrunde liegt; eine Wahrheit, an welche sich alle subjektiven Idealisten bis auf JOHANN GOTTLIEB FICHTE herab, einseitig zu klammern pflegen, die aber auch der Realismus, sofern er philosophisch zurechnungsfähig sein will, anerkennen muß und, unbeschadet seiner abweichenden Metaphysik, anerkennen kann. Es ist folgende. Wir kommen nie und nimmer aus unserer individuellen Vorstellungssphäre heraus; selbst wenn wir etwas von uns Unabhängiges, außerhalb unserer subjektiven Vorstellung Reales annehmen, so ist uns doch dieses absolut Reale auch wieder nur als unsere Vorstellung, als Gedankeninhalt gegeben, und seine absolute Existenz als unser Begriff. Oder, um BERKELEY mit seinen eigenen Worten reden zu lassen: "Der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, heißt soviel als, ich sehe und fühle ihn; und wäre ich außerhalb meines Studierzimmers, dann könnte ich seine Exisenz nur insofern behauten als, wenn ich in meinem Studierzimmer wäre, ich ihn wahrnehmen würde." (14) Allein, was folgt hieraus? Offenbar keineswegs, daß es keine vom vorstellenden Subjekt unabhängige Existenz  gibt,  sondern nur, daß das Subjekt sie nicht direkt auffassen, sie nicht anders als durch das intellektuelle Medium seiner subjektiven Gedanken imaginieren, fingieren, denken, erkennen vielleicht auch nicht erkennen kann. Ungefähr so, wie das Auge die sichtbaren Dinge nur durch das Medium des Lichts sieht und davon, wie ja ob sie überhaupt unabhängig von diesem Medium existieren, schlechterdings keine Vorstellung hat. Möchte der subjektive Idealismus doch nur Eins bedenken! Gerade deshalb, weil in der Tat kein vorstellendes Subjekt aus der Sphäre seines subjektiven Vorstellens hinaus kann; gerade deshalb, weil es nie und nimmermehr mit einer Überspringung des eigenen Bewußtseins, unter der Emanzipation von sich selber, dasjenige zu erfassen und zu konstatieren imstande ist, was jenseits und außerhalb seiner Subjektivität existieren oder nicht existieren mag; gerade deshalb ist es ungereimt,  behaupten  zu wollen, daß das vorgestellte Objekt außerhalb der subjektiven Vorstellung  nicht  dasei. Um dies zu erkennen, wäre eine absolute, nicht eine menschlich und individuell eingeschränkte Intelligenz nötig; eine Intelligenz, welche gleichzeitig übersähe was vor und was hinter den Kulissen vor sich geht, was  intra mentem humanam  liegt, und was  extra mentem humanam  liegt oder nicht liegt; während  wir  selbstverständlich nur das Erstere kennen. "Die einzige  uns bekannte  Art der Existenz, sagt ihr, ist die mentale des Percipi." - Zugestanden! - "Also ist das Percipi  die einzig mögliche  Art der Existenz überhaupt." - Mitnichten! Denn - (abgesehen vom formal-logischen Schlußfehler) -  wenn  sie es wäre,  wie könnten wir es wissen?  - Hic haeret aqua! [Der Ochse steht vor'm Berg und kann nicht weiter. - wp]

Nun aber weiter! Da einmal der Schlußfehler begangen ist, welches Endresultat sollte man bei BERKELEY erwarten? Offenbar den echten und rechten, in seiner ganzen widernatürlichen Ungeheuerlichkeit doch mindestens konsequenten Solipsismus. Also  ein einziges  vorstellendes Subjekt, aus dessen Vorstellungen das Weltallt besteht. Aber weit gefehlt! -

Wir werden mit der zwar sehr tröstlichen, jedoch durchaus unerwarteten Nachricht überrascht, daß außer der Privat-Seelensubstanz des Bischofs von Cloyne, nebst darin befindlichem Weltphänomen, noch etwas anderes  realiter  existiert, andere ähnliche Seelensubstanzen nämlich mit ähnlichen Weltphänomenen, und überdies - Gott, der alle diese Seelensubstanzen erschaffen hat und kraft seines allmächtigen Willens in ihnen eben jene "Ideen" hervorruft, deren räumlich-zeitliches System für jede unter ihnen ihren Privatmakrokosmos ausmacht. Woher nun wieder dies? Anstelle des erwarteten Solipsismus wird uns eine spiritualistische, theologische und teleologische Metaphysik, eine transzendente Geisterwelt aufgetischt. Und woher weiß der Bischof das alles? Er weiß es gar nicht; er nimmt es an, er  glaubt  es, sowie CARTESIUS, MALEBRANCHE, LOCKE und mit ihnen die überwiegende Majorität der Menschen, egal mit welchem Recht, daran  glauben,  daß die Körperwelt nicht nur als Vorstellung, sondern außerdem auch als absolut reales Substratum der Vorstellungen vorhanden ist. -

Aber warum glaubt denn der Bischof jene, während der dieses nicht glauben will? Man höre; man prüfe die Einsicht und ignoriere die Absicht! "Das Sein der Materie besteht im Perzipiertwerden; darum existiert sie zunächst nur in mir. Mit "Geistern" aber verhält sich das ganz anders; ihr Sein ist nicht Perzipiertwerden, sondern Perzipieren; also ist ihre Existenz nicht durch mich, den Einzigen, bedingt. Also können wir uns auch einen absolut realen "Urheber der Natur" denken", einen "ewigen, unendlichen Geist", der mich und andere endliche Geister erschaffen hat und unseren Sinnen "Ideen" einprägt, die dann bei uns sterblichen Menschen "wirkliche Dinge" genannt werden." (15) So BERKELEY. Und was werden wir dazu sagen? - Als ob die Existenz anderer Geister außer mir etwas anderes für mich wäre, wie die Existenz der Körper außer mir! Als ob jener ewige Geist, der "Urheber der Natur", eine andere Art des Daseins in Anspruch nehmen könnte, wie das Vorgestelltwerden von mir! Als ob ein solcher unendliher Geist - (nach BERKELEY) - überhaupt existenzfähig wäre, da er doch aus lauter Abstraktionen zusammengesetzt ist, wie etwa "unendlich", "ewig", "allmächtig", und dgl. mehr - bloßen Nominalprädikaten, die ich nie und nirgends  in concreto  wahrnehmen oder imaginieren kann, die folglich - (nach BERKELEY wenigstens) - ins Reich der Hirngespinste und Fiktionen zu verweisen wären!

Hier haben wir (jenes vorhin gerügte  proton pseudos  [erster Irrtum - wp] einmal zugegeben) das wahre, das einzig konsequente Ergebnis des Berkeleyanismus: "Ich  allein  existiere substanziell; alles andere, der gesamte Makrokosmos, in  mir  akzidentiell", -  so  hätte es heißen müssen. Die ganze absolut reale Geisterwelt, Gott mit eingeschlossen, ist eine Chimäre, ein subjektives Gedankengespinst des einzigen Subjekts in der Welt - meines Ich. Aber diese Konsequenz scheut unser Bischof, wohl weniger aus logischen, als aus theologischen Bedenken. Deshalb umgeht er sie; deshalb verstoft er die Lücken seiner Philosophie mit einigen Reminiszenzen seines gesunden Menschenverstandes und der landesüblichen Religion.

Nur noch Eins! Auch gewisse indirekte Beweisgründe subtilerer Natur gegen die absolute und substanzielle Realität der Materie liebt BERKELEY; Beweisgründe, die an die Dialektik der  Eleaten  zurück-, und an KANTs Antinomien voraus-erinnern, so z. B. die Schwierigkeiten des Begriffs einer unendlichen Teilbarkeit der Ausdehnung oder der absoluten Zeit und Bewegung. (16) Hierauf gehe ich an dieser Stelle absichtlich nicht weiter ein; schon darum nicht, weil dergleichen Themata in den folgenden Kapiteln eine ausführliche Behandlung erfahren werden. -

Genug, die materielle Substanz, dieses "stupide, geistlose Etwas" (stupid thoughtless somewhat) soll mit alledem zur Welt hinausdemonstriert, die Körperwelt ganz und ohne jeglichen Rest in Ideen aufgelöst sein. Und nachdem dies, wie unser Philosoph meint, glücklich gelungen ist, äußert er eine wahrhaft naive Freude darüber, "wie sehr hierdurch das Studium der Natur vereinfacht ist". (17) - Allerdings! Außerordentlich vereinfacht! Ungefähr ebensosehr vereinfacht, wie das Studium der Akustik in einem künstlich hergestellten luftleeren Vakuum! - Also die ganze Naturphilosophie und theoretische Kosmologie mit ihren zahllosen, schweren Probleen, scharfsinnigen Erklärungen und Deduktionen, tiefen Spekulationen und unlösbaren Zweifeln, sie sind plötzlich eliminiert; es wird Licht durch das einzige Dogma: Gott will es so, Gott macht es so, weil es so gut ist! Wozu daher noch mathematische Physik und metaphysisches Nachdenken über Wesen und Grund dieser Welt? Wozu atomistische oder dynamistische Konstruktionen der Materie oder gar Reflexionen über das Verhältnis des Nervensystems und Gehirns zum Geistigen in uns? Wozu Gravitationstheorie oder Theodizeen [Rechtfertigung Gottes - wp], um von weit schlimmeren Dingen ganz zu schweigen? Es ist eine überflüssige Mühe und ein Frevel dazu! Denn die einen quälen sich mit dem Hirngespinst einer Materie ab, die mehr als Vorstellung sein soll, d. h. mit dem puren Nichts; die anderen tasten gar mit naseweisem, vorlautem Verstand an geheiligte Mysterien. - Also, weg damit! Gott will es so; das ist alles. - Das ist die Moral des "Traktats über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis", dessen Titel demnach nicht ganz glücklich gewählt erscheint. -

Wer nun aber auch BERKELEYs  Argumente  als hinfällig erkannt hat, für den bleibt BERKELEYs  Dogma  immer noch als  Hypothese  stehen. Jene behauptete Quasi-Existenz und Pseudorealität der Materie, jene Auflösung der Körperwelt in lauter Vorstellungen des Subjekts (im Singularis oder Pluralis) sie ist und bleibt eben  ein  möglicher Fall neben anderen. Und diese Hypothese, trotz ihrer Fremdartigkeit und scheinbaren Ungeheuerlichkeit, nicht ohne weiteres in die historische Rumpelkammer unter das alte Eisen zu werfen, vielmehr einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen, lohnt sich nicht nur deshalb der Mühe, weil das philosophische Gewissen sich durch die Ignorierung jener seltsamen Möglichkeit doch immer belastet fühlen würde, sondern namentlich deshalb, weil die gesamte Philosophie der neueren Zeit seit DESCARTES in der noch heute schwebendenn Streitfrage zwischen Idealismus und Realismus das eigentliche Fundamentalproblem erkannt hat. In der Tat, mit ihr stehen und fallen ja sämtliche übrigen Weltprobleme, ausgenommen die ethischen und ästhetischen.

Idealismus und Realismus, wenn man diese herkömmlichen Kategorien beiderseits im allgemeinsten Sinne nimmt, also als Gattungsbegriffe faßt, denen sich spezifisch verschiedene Arten subordinieren, bilden aber gar keinen kontradiktorischen, absoluten Gegensatz, sondern einen relativen. Es gibt beiderseits mancherlei Abstufungen und Grade; dergestalt, daß der gemäßigte Realist in gewissem Sinne zugleich Idealist sein kann, und umgekehrt. Denn versteht man unter "Idealität" einer Sache ganz im Allgemeinen den Umstand, daß dieselbe  so,  wie wir sie uns vorstellen, nur in unserer Vorstellung, nur in einer uns homogenen Intelligenz vorhanden ist, und daher bei Aufhebung jeder derartigen Intelligenz so zu sein aufhören würde; unter "Realität" aber den entgegengesetzten Umstand, daß gewissen von uns vorgestellten Prädikaten der Sache auch unabhängig von unserer, ja von jeder Intelligenz ein selbständies Sein zukommt; - dann würde man in einige Verlegenheit geraten, wenn es darauf ankäme, solche Denker, wie LOCKE und LEIBNIZ oder SCHELLING und HERBART (gleich Böcken und Schafen) nach der rechten oder linken Seite hin zu klassifizieren. Das geht nicht an, weil es sich hier um ein Mehr oder weniger, um eine fast kontinuierliche Stufenleiter handelt. Idealismus und Realismus gleichen zwei sich schneidenden Kreisen, die einen sehr großen Teil ihres Inhalts gemeinsam haben. Selbst BERKELEY und FICHTE sind insofern Realisten, als sie dem Geist, Subjekt, dem absoluten Ich Realität zugestehen; selbst ein Materialist vom reinsten Wasser, wie etwa CARL VOGT, dürfte insofern - wenn auch widerwillig - dem Idealismus huldigen, als er der Farbe und dem Ton schwerlich absolute Realität zuschreiben kann. Dazu kommen dann spezifische Differenzierungen feinerer Art zwischen Weltanschauungen, die der flüchtige oder ungeschickte Beobachter für identisch zu halten geneigt ist, z. B. zwischen BERKELEY und KANT. Obwohl letzterer mit ersterem insoweit völlig übereinstimmt, als auch er Raum, Zeit und die anderen LOCKE'schen  qualitates primarias  für ideal erklärt, so unterscheidet er sich doch von ihm ganz erheblich; und zwar vermöge der ebenso wichtigen als selten verstandenen Lehre, daß durch die Erkenntnisformen  a priori,  oder genauer durch deren Allgemeinheit und Notwendigkeit den "Erscheinungen" eine objektive Realität gesichert wird, von welcher bei BERKELEY nicht die Rede sein kann. (18) Die häufig gescholtene Bizarrerie, welche auch dem "transzendentalen Idealismus" der Vernunftkritik anhaftet und ihn für die Menge ungenießbar macht, in den Augen einsichtiger Gegner zu heben, dürfte ein Ausspruch KANTs sehr geeignet sein, welcher ganz einleuchtend beweist, daß der Widerspruch dieser absonderlichen Weltanschauung gegen den natürlichen Menschenverstand mehr in der Einbildung als in Wirklichkeit besteht. Es heißt in der Kr. d. r. V. "daß es Einwohner auf dem Mond geben kann, obwohl sie kein Mensch jemals wahrgenommen hat, muß allerdings eingeräumt werden, aber es bedeutet nur so viel, daß wir in einem möglichen Fortschritt der Erfahrung auf sie treffen könnten." (19) Und bald darauf: "Es ist auch im Ausgang ganz einerlei, ob ich sge, ich könne im empirischen Fortgang im Raum auf die Sterne treffen, die hundertmal weiter entfernt sind, als die äußersten, die ich sehe: oder ob ich sage, es sind vielleicht deren im Weltraum anzutreffen, wenngleich sie niemals ein Mensch wahrgenommen hat oder wahrnehmen wird; denn wenngleich sie als Dinge ansich, ohne Beziehung auf eine mögliche Erfahrung überhaupt gegeben wären, so sind sie doch für mich nichts, mithin keine Gegenstände, sofern sie in der Reihe eines empirischen Regressus enthalten sind." (20)

Indessen, wir sind weit entfernt, im Voraus irgendeine Partei ergreifen zu wollen. Wir  suchen  nach der Entscheidung der Streitfrage. Der direkte, leider jedoch unzugängliche Weg bestünde in der Ausführung eines übermenschlichen Experiment: Hebe jedes Bewußtsein auf, zunächst jedes dir gleichartige Bewußtsein; - was bleibt dann übrig von der uns bekannten Welt? Alles? Oder etwas? Oder nichts? -

Der hierbei eintretende Defekt würde eben das "Ideale" sein, der übrig bleibende Rest das "Reale".

Wenn aber diese Probe unausführbar ist, so kann man sich doch vielleicht durch Umwege dem Ziel approximieren, - und zwar auf äußerst solider Basis und mit tüchtigen Mitteln, was, wie ich denke, die folgenden Kapitel zeigen werden.
LITERATUR Otto Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, Straßburg 1876
    Anmerkungen
    1) Die logischen Denkprinzipien und die Axiome der Mathematik sind freilich für jedermann, auch für den skrupellosesten Skeptiker, selbstverständlich. Aber warum? - Dies ist ein Problem der Psychologie wie der Transzendentalphilosophie, egal ob lösbar oder nicht.
    2)  Dulden  muß der Mensch / Sein Scheiden aus der Welt, wie seine Ankunft. / Reif sein - ist alles. - Shakespeare
    3) Es gibt eine frivole Skepsis; das ist die des MEPHISTO und HEINRICH HEINEs. Es gibt aber auch eine tiefernste, schmerzlich ringende Skepsis; eine religiöse, - in jenem Sinn verstanden, in welchem SCHLEIERMACHER die Religiosität des verschrieenen Atheisten SPINOZA hochpreist. Man findet sie bei  Hamlet, Faust  und Lord BYRON. Ebenso in der klassischen Profession de foi [Glaubensbekenntnis - wp] des savoyischen Vikars, welche ROUSSEAU seinem  Émile  eingeschaltet hat: An der Küste ankern unsere Schiffe. Im offenen Weltmeer findet kein Anker Grund.
    4) Siehe das Kapitel "Über den philosophischen Wert der mathematischen Naturwissenschaft" im 2. Abschnitt.
    5) KANTs Werke, Ausgabe ROSENKRANZ, Bd. II, Seite 772 - 775, Bd. III, Seite 47 - 52, Seite 152 - 166.
    6) HERDERs Metakritik; Tübingen 1817, Seite 175 - 198. - Herr Dr. HEINRICH BÖHMER hat 1872 eine "Geschichte der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Deutschland" erscheinen lassen. Darin figuriert HERDER als Vorkämpfer des Realismus, KANT als der des Idealismus, und es wird ein endlicher Sieg der ersteren Partei verkündigt. Ich erlaube mir bescheidene Zweifel hieran. Wsa die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht. Was aber die Vergangenheit betrifft, so kann HERDER qua Philosoph seinem großen Gegner nicht das Wasser reichen. Dazu fehlte es dem phantasiereichen, poetischen Kopf viel zu sehr an logischer Verstandesstrenge.
    7) DAVID FRIEDRICH STRAUSS, Der alte und der neue Glaube, 2. Auflage, Seite 211
    8) Mit einem der überzeugtesten Anhänger BERKELEYs, Herrn THOMAS COLLYNS SIMON, habe ich sowohl brieflich als mündlich eingehende Debatten gehabt, ohne daß es zu einer gegenseitigen Verständigung gekommen wäre. Mein geehrter Gegner wollte nicht zugestehen, daß BERKELEYs Satz  Hypothese  sei. Hypothese nenne ich nun aber, mit der gewöhnlichen Logik, einen Satz, der weder ein einfache Empeirem, noch induktiv oder deduktiv streng bewiesenes Theorem genannt werden kann und trotzdem für wahr gehalten wird. Dieser Fall liegt hier vor, wie sich im weiteren Verlauf wohl zeigen soll.
    9) GEORGE BERKELEY, "A treatise concerning the principles of human knowledge". Zuerst erschienen 1710; wiederabgedruckt in FRASER's Gesamtausgabe der Werke BERKELEYs. Vol 1, Seite 131 - 238.
    10) Gleich die "Einleitung" des Traktats über die Prinzipien will die nominalistischen Prämissen liefern. Die daraus gezogene immaterialistische Konklusion findet man in den §§ 10, 11, 12, 13 usw. der Abhandlung selbst.
    11) Siehe das Kapitel "Über die Existenz abstrakter Begriffe" im 2. Abschnitt.
    12) BERKELEY, Abhandlung über die Prinzipien usw. §§ 3, 4, 7 u. a.
    13) BERKELEY, ebd. § 8
    14) BERKELEY, ebd. § 3
    15) The ideas imprinted on the Senses by the Author of nature are called  real things.  § 33; vgl. §§ 6, 90, 91, 145, 146, 147 a. a. O.
    16) BERKELEY, ebd. § 98, 111 - 115, 123 - 131
    17) BERKELEY, ebd. § 102; vgl. § 96
    18) BERKELEY ist Sensualist, KANT Apriorist; bei BERKELEY soll, wie bei LOCKE und CONDILLAC, die "Seele" von Natur aus  tabula rasa  [unbeschriebenes Blatt - wp] sein, d. h. eine taube Nuß, bei KANT besteht die vorempirische Intelligenz, die "reine Vernunft", in einem wohlgegliederten System intellektueller Gesetze; - davon später mehr!
    19) KANTs Werke II, Ausgabe ROSENKRANZ, Seite 389 - 390.
    20) KANTs Werke II, Ausgabe ROSENKRANZ, Seite 392