ra-2J. KaftanA. DransfeldP. RéeTh. ElsenhansJ. FriedmannF. Klein    
 
REINHOLD GEIJER
Zur Psychologie des Gewissens

"Wo soll die psychologische Analyse der komplizierten Gewissenstatsache, wenn sie möglichst in die Tiefe dringen will, am besten ansetzen und wie kann sie von diesem Ansatzpunkt aus weiter geführt werden?"

Was heißt Gewissen? Was haben wir unter diesem Wort eigentlich zu verstehen? Daß es nicht so ganz einfach und leicht ist, auf diese Frage eine befriedigende, exakt eindeutige Antwort zu geben, zeigt sich am besten, wenn wir damit anfangen, nur ganz im allgemeinen zu fragen, wo oder in welcher Richtung innerhalb des menschlichen Geisteslebens das Gewissen zu suchen sei. Etwa im Gebiet des Vorstellungslebens, näher bestimmt vielleicht des Verstandes? Oder auf dem Gebiet der Gefühle oder in dem des Willens? Auf welche dieser drei großen Hauptprovinzen oder Phasen des Seelenlebens sollen wir unser Gewissen zurückführen? Wird die Frage so gestellt, dürfte nämlich so ziemlich jedermann mit der Antwort zögern.

Wenden wir uns dabei, was unleugbar am nächsten liegt, um Antwort und Leitung zu finden, an den gewöhnlichen Sprachgebrauch, so begegnen wir hier einer verwirrenden Menge von Wortzusammensetzungen und Redensarten, die nichts miteinander gemein zu haben scheinen. Wenn wir von "Gewissensruhe" und "Gewissensqual" (bzw. von "Gewissensangst" oder "Gewissensbissen") reden, denken wir uns offenbar das Gewissen als eine besondere Äußerungsform unseres höheren  Gefühlslebens.  Andere nicht weniger geläufige Redensarten über das Gewissen, wie einmal "billigend" und ein andermal "mißbilligend", "anklagend" und "freisprechend", weiterhin "Richterstuhl des Gewissens", "Zeugnis des Gewissens", "Gewissensvorwurf", "Gewissensbedenklichkeit" usw. beziehen sich indessen ebenso unzweideutig auf das Gewissen als moralische Urteilsfähigkeit und somit, wie es scheint, auf eine zunächst in das Gebiet des Verstandes oder der  Denktätigkeit  fallende Funktion. Und endlich hören wir des öfteren davon reden, daß unser Gewissen nicht nur urteile und richte, sondern sogar selbst Gesetze gebe, indem es uns gewisse Handlungen "gebietet" und andere "verbietet" oder mit etwas anderen Worten, von positiven und negativen "Gewissenspflichten". Außerdem pflegt man ja "Gewissenhaftigkeit" und "Gewissenlosigkeit" von Menschen als Prädikate für ihr Wollen und Handeln zu gebrauchen, je nachdem sie der "gebieterischen Stimme des Gewissens" gehorchen oder nicht. Und aus alledem geht hervor, daß das Gewissen als  etwas Praktisches  betrachtet wird, nämlich als leitende Norm für unseren freien Willen und im Zusammenhang damit auch gern als Ausdruck eines diesem übergeordneten rein vernünftigen Willens.

Hier möge noch angeführt werden, daß manchmal auch in der wissenschaftlichen - psychologischen sowohl als moral- und religionsphilosophischen - Literatur das Gewissen ausschließlich oder doch vorzugsweise dargestellt wird bald als eine besondere Form des sittlich-religiösen Gefühls, bald als moralisches Urteilsvermögen oder ethischer Geschmack, bald als im Grunde zusammenfallend mit unserer eigenen "praktischen Vernunft" und deren sogenannten Autonomie und bald schließlich als mystische Offenbarung von Gottes heiligem Willen ("die Stimme Gottes in uns").

Wie sollen wir uns stellen zu all diesen verschiedenen Redensarten und an sie knüpfenden, unter sich divergierenden Versuchen die Tatsache des Gewissens zu rubrizieren? Es scheint mir nicht ratsam, die oben angeführten Weisen über das Gewissen zu reden, zu ignorieren oder gar gegen sie offen zu Felde zu ziehen. Haben sie ja doch ihre entsprechende Vertretung in allen mir wenigstens bekannten europäischen Kultursprachen. So allgemein verbreitete Redeweisen müssen wir doch wohl gelten lassen als Ergebnisse einer vom Menschengeschlecht gemeinsam erworbenen Lebenserfahrung und der im Laufe der Zeit sich weiter entwickelnden, wenngleich nicht immer wissenschaftlich geschulten, Reflexion hierüber. Und jedenfalls haben jene typisch repräsentativen Worte: Gewissensqual und Gewissensruhe, Gewissensurteil und Gewissenspflicht, jedes für sich, einen Sinn, der auch in der strengen Wissenschaft berücksichtigt zu werden verdient.

Soviel ich sehe, stehen wir also vor folgender Alternative:  entweder  kommt in der täglichen Rede das Wort Gewissen in wenigstens  drei  voneinander wesentlich verschiedenen und nicht miteinander vereinbaren Bedeutungen vor - was doch so absonderlich wäre, daß so etwas anzunehmen sich höchstens nur als Notbehelf verteidigen ließe -  oder  aber muß, was wir alle im stillen mit Gewissen meinen, eine so zusammengesetzte Erscheinung sein, daß sie sich in keine der Hauptklassen der üblichen psychologischen Dreiteilung ganz hineinpassen läßt, sondern vielmehr als ihre integrierenden Bestandteile oder verschiedenen Seiten gewisse, irgendwie miteinander zusammengehörige Äußerungen des Vorstellungs- (bzw. Gedanken-), Gefühls-  und  Willenlebens in sich schließt und umfaßt. Denn so ließe sich ja ungesucht erklären, daß verschiedene Denker in ihren Bemühungen, die charakteristische Eigentümlichkeit des komplizierten Ganzen zu erforschen, einseitig der eine z. B. die Urteilsfunktion, der andere die Gefühlsseite und ein dritter das Willensmoment betonte.

Daß sich in der Tat die Sache auf  diese  Weise verhält, leuchtet ein, sobald die Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, daß sogenannte Gewissensurteile zwar die logische Form von Urteilsfunktionen haben, trotzdem aber keine Urteile in des Wortes gewöhnlicher rein theoretischer Bedeutung sind, welche als solche ein wirkliches oder vermeintliches Wissen um die  eigene  Beschaffenheit dieses oder jenes Gegenstandes zum Inhalt haben würden, sondern zu  der  Gruppe von Urteilen gehören, welche als  Werturteile  - oder Beurteilungen - bezeichnet werden; - da ja diese Gewissensurteile, indem sie billigen oder mißbilligen, nichts enthalten, als eine moralische Schätzung oder ethische Bewertung der Handlungen, welche ihren Gegenstand ausmachen. Denn, wie die heutige Psychologie ziemlich allgemein anerkannt und schon längst eingesehen hat, liegt die psychische Wurzel aller Bewertung - oder sagen wir lieber ganz einfach Wertung - und aller Werte überhaupt nicht im Verstand mit seiner kalten  Objektivität sondern gerade in der  subjektiven  Wärme und Innerlichkeit, womit das Gefühl alle höheren wie niederen Werte ursprünglich erlebt und gewissermaßen selbst schafft, ehe dieselben in abstrakten Wertbegriffen und mit solchen operierenden Werturteilen reflektiert werden. Mit etwas anderen Worten: obwohl einerseits alle Wertung, insofern sie in der Form eines eigentlichen, logisch ausgeprägten Urteils hervortritt, aus diesem rein formalen Gesichtspunkt als Äußerung einer reflektierenden Denktätigkeit anzusehen ist, muß sich doch andererseits jedes Werturteil, unmittelbar oder mittelbar, auf irgendein so oder so beschaffenes Gefühl gründen. Und ferner läßt sich wohl behaupten, daß jedes an irgendeinem bestimmten Vorstellungsinhalt sich knüpfende Gefühl von Lust oder Unlust eine, wenngleich nicht immer effektive Tendenz hat, gleichsam vorwärts zu streben, die Aufmerksamkeit oder, was im Grunde dasselbe heißt, die denkende Reflexion auf sich zu ziehen und somit  explizit  in ein Werturteil über den Gegenstand der betreffenden Vorstellung auszumünden; - was auch so ausgedrückt werden kann, daß jede gefühlsbetonte Vorstellung ein bestimmtes Werturteil  impliziert  oder jedenfalls selbst als eine primitive Wertung betrachtet werden muß. Wenn dem aber so ist, so läßt sich wohl hieraus folgern, daß, falls es mehrere prinzipiell verschiedene Arten von Werturteilen gibt - oder vielmehr, da wir nun faktisch Werturteile fällen von unter sich sehr verschiedener und zum Teil sogar ganz inkomparabler und inkommensurabler (sprachlich vertreten durch Eigenschaftsworte wie [sinnlich] angenehm und unangenehm, nützlich und schädlich, wahr und falsch, schön und häßlich,  gut  und  böse),  so kann dies nicht anders erklärt werden, als durch einen dementsprechenden ebenso wesentlichen Artunterschied der Lust- und Unlustgefühle, aus welchen sich diese Urteile in oben angedeuteter Weise entwickeln. Und in Bezug auf den vorliegenden Fall bedeutet das offenbar, daß sich das Gewissen unmöglich äußern könnte als beurteilend und richtend, sofern es nicht schon vorhanden wäre als ein in seiner Art eigentümlicher, mit der Vorstellung bestimmter Handlungen verknüpftes Lust- oder Unlustgefühl, welches Gefühl deshalb Gewissen in primärer Bedeutung  primordiales  [von erster Ordnung - wp]  Gewissen,  heißen möge. Allein jede lust- oder unlustbetonte Vorstellung einer von meinem freien Willen abhängigen und noch möglichen Handlung wirkt naturgemäß auf diesen Willen als mehr oder weniger stark solliziterendes [nachsuchendes - wp] Motiv, diese Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen. Und so wird es ja begreiflich, daß sich das Gewissen geltend macht auch als ein auf seine Weise eigenartiger praktischer Bestimmungsgrund unter dem Namen Gewissenspflicht oder gebieterische Stimme des Gewissens.

In jeder konkreten Äußerung eines, wie ich es nennen möchte, voll und ganz entwickelten Gewissens, sei es nun ein "gutes" oder ein "schlechtes, meine ich, kommen diese drei formell verschiedenen und so jedenfalls abstrakt für die psychologische Analyse getrennten Funktionen vor, zunächst  Gewissensgefühl  (primordiales Gewissen), dann aber, wenn man so will, "sekundär" (1), auch  Gewissensurteil  (richterliches Gewissen) und  Gewissenspflicht  (gebieterisches Gewissen); - jedoch bei verschiedenen Gelegenheiten in sehr verschiedenen Kombinationen und zwar so, daß bald die eine und bald die andere von ihnen in den Vordergrund tritt oder, wie man zu sagen pflegt, in den Blickpunkt des Bewußtseins. Dergleichen Kombinationen oder Komplikationsformen - Arten des Gewissens werden sie zuweilen genannt - sollen hier nicht weiter besprochen werden. Meinem gegenwärtigen Zweck genüft es, auf jene drei elementaren Gewissensfunktionen hingewiesen zu haben und zugleich auf ihre genetisch bedingte Zusammengehörigkeit als ebensoviele gleich wesentliche Seiten des  ganzen  Gewissens oder Momente eines jeden sozusagen vollständigen Gewissensvorgangs. Und nur nebenbei möge noch daran erinnert werden, daß sie natürlich nicht bloß in  einer  Richtung einander bedingen und hervorrufen, sondern auch umgekehrt in mannigfacher Weise aufeinander zurückwirken, in ganz analoger Weise, wie auch sonst bei ähnlichen Wechselbeziehungen zwischen allerlei anderen Gefühlen, ihren unentbehrlichen Vorstellungsunterlagen, aus beider Verbindung hervorgehenden Werturteilen und sei es nun freien oder ganz unfreien Willensregungen.

Was nun das in allen seinen elementaren und komplizierten Regungen doch stets einheitliche Wesen des Gewissens betrifft, worin sollte dasselbe bestehen, wenn nicht zunächst darin, daß es immer und überall wenigstens beansprucht, eine  sensu eminentissimo  [Übersinn - wp] sittlicher Lebensäußerung zu sein? Und zwar nicht nur in der Bedeutung einer spezifisch ausgeprägten Form unseres sittlichen Bewußtseins, neben anderen solchen, sondern noch mehr darf ich doch sagen, die gemeinsame Urquelle nicht weniger als die letzte und höchste Norm allen sittlichen Lebens überhaupt. Diese unserem Gewissen innewohnenden Ansprüche ließen sich wohl auch so ausdrücken, daß es das besondere Organ ist oder sein will einer ganz eigenartigen - sukzessive oder simultan fühlenden, richterlich beurteilenden und gebieterischen - Wertung, freilich zunächst und unmittelbar nur des eigenen, freien Willens- und Handlungslebens jedes Einzelnen, gewissermaßen aber mittels sympathischer Übertragung und vergleichend generalisierende Reflexion auch der Handlungen anderer Leute, kurz und prägnant, also das eigentliche, etwas in unserem Geist  quod potentiam  [als Macht - wp] liegende und aus ihm sich entwickelnde  Prinzip aller ethischen Lebenswerte,  - welches Prinzip sich eben als solches, den allgemeinen Gesetzen des Seelenlebens gemäß, in jener mehrerwähnten, dreifachen Funktionsform offenbaren muß.

Wenn das bisher Gesagte richtig ist, erheben sich folgende Fragen, die von jeder auch nur einigermaßen vollständigen Theorie des Gewissens beantwortet zu werden verlangen.
    1. Was heißt  überhaupt  ethisch, ethische Wertung oder ethischer Wert? - etwas bestimmter und mehr spezialisierend formuliert: wie scheiden sich ethische Gefühle, Urteile und Gebote von allen übrigen, nicht ethischen Gefühlen, Werturteilen und Willensmotiven? Und

    2. muß natürlich viel näher und tiefer eingegangen werden auf die vorläufig nur gestreifte Frage nach dem  spezifischen  Unterschied des Gewissens im engeren und ursprünglicheren Sinne des Wortes (und zwar in jeder seiner drei elementaren Hauptfunktionen) von anderen, etwa aus diesen eigentlichen Gewissensregungen abgeleiteten und insofern peripherischen Formen des sittlichen Bewußtseins und  eo ipso  [im allgemeinen - wp] nach der eigentümlich zentralen Stellung dieses Gewissens innerhalb unseres ganzen ethisch bestimmten und bestimmbaren Lebens. Nachdem aber das Gewissen in seinem  Tatbestand  gehörig fixiert und hinreichend charakterisiert worden - und zwar wenigstens zunächst und vorläufig so, wie es nur im individuellen Bewußtsein eines normal und sittlich hoch entwickelten Kulturmenschen introspektiv gegeben ist und sein kann -, dann erst muß weiter gefragt werden

    3. nach Ursprung, Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser so beschaffenen Tatsache, - wobei wir sogleich mitten in den, wie es scheint, nie zu schlichtenden Streit geraten zwischen reinem Apriorismus, besser Nativismus, einerseits, und ebenso reinem, sei es nun onto- oder phylogenetischem [individual- oder stammesgeschichtlichem - wp], Empirismus, andererseits samt allerhand Versuchen diese beiden extremen Grundanschauungen miteinander zu vermitteln. Endlich abgesondert für sich

    4. die für jede, wie gebührt, psychologisch orientierte Moralphilosophie oder wissenschaftliche Ethik so überaus wichtige Frage nach Art und Grad der sogenannten moralischen Evidenz des Gewissens, nebst eingehender Prüfung seines hierauf gegründeten doppelten Anspruchs auf normative Autorität im praktischen Leben und zugleich darauf, als einzig sicheres Fundament oder Formalprinzip alles ethischen Erkennens anerkannt zu werden.
Diese sämtlichen Probleme und noch einige sich an sie anschließende habe ich mir gestellt und versucht, wenigstens ihrer definitiven Lösung näher zu bringen in meinen in schwedischer Sprache (1905) gedruckten Ferienkursvorlesungen:  Über das Gewissen.  - Was ich heute hier etwas näher zu erörtern wünsche, wäre eigentlich nur diese, wie es sich zeigen wird, recht folgenschwere, wenngleich zunächst rein methodologische Vorfrage:  Wo  soll die psychologische Analyse der komplizierten Gewissenstatsache, wenn sie möglichst in die Tiefe dringen will, am besten ansetzen und wie kann sie von diesem Ansatzpunkt aus weiter geführt werden?" (2)

Es könnte scheinen, als ob die rechte Gründlichkeit es verlange, daß wir mit der zeitlich oder doch psychogenetisch ersten und insofern relativ einfachsten Äußerungsform des Gewissens, als Gefühl, anfangen und dieses Gefühl direkt zu beschreiben und seiner Art nach begriffsmäßig zu bestimmen versuchten. Ein solcher Versuch würde indessen bald scheitern. Denn unter allen Erscheinungen des Seelenlebens sind die Gefühle am meisten rein subjektiv, in dem Grad sogar, daß es von aller qualitativen Bestimmtheit und allen qualitativen Differenzen innerhalb dieses Gebietes (wie z. B. zwischen Zahnweh und Gewissensbissen oder zwischen grob körperlicher Wollust und dem Genuß der Schönheit in Natur und Kunst) gilt, daß sie wohl noch so lebhaft gefühlt und in dieser Weise  erlebt,  hingegen  nie  direkt beschrieben und noch weniger in exakte Begriffsbestimmungen aufgelöst werden können. Soll trotzdem das Gefühlsleben dem wissenschaftlichen Studium (und namentlich der introspektiven Analyse) zugänglich gemacht werden, so kann das nicht anders geschehen, als  indirekt,  in seiner kausalen Verbindung mit anderweitigen, objektiv bestimmten und bestimmbaren psychischen Funktionen. Und zwar nicht bloß mit den verschiedenen Vorstellungsinhalten, welche verschiedene Gefühle erreigen und woran sich diese knüpfen, sondern nicht weniger mit den aus diesen gefühlsbetonten Vorstellungen sich entwickelnden und schon implizit darin liegenden Werturteilen und Willensmotiven.

Die Vorstellungsunterlagen nun der Gewissensgefühle -  alias  die Handlungen, welche von unserem Gewissen gebilligt und mißbilligt werden, - müssen, das liegt auf der Hand, genau studiert werden in der systematischen Ethik, die darauf abzielt, den wesentlichen  Inhalt  des Sittengesetzes oder des sittlichen Ideals herauszufinden und darzustellen. Und auch aus rein psychologischen Gesichtspunkten dürfte wohl ein solches Studium geeignet sein, Aufschlüsse über die  Entwicklungsbedingungen  des Gewissens zu geben. Dagegen glaube ich nicht, daß dadurch viel zu gewinnen wäre zur Förderung unserer Einsicht in die  qualitative  Beschaffenheit unserer Gewissensgefühle und ebensowenig in ihren tiefsten Grund oder letzten  Ursprung  in unserem Gemüt. Ich glaube vielmehr, daß man gar zu leicht in die Irre geführt werden kann, wenn auf diesem Weg auch die Lösung der beiden letztgenannten Probleme verfolgt wird. Sollen  diese  Probleme - die uns doch  psychologisch  am nächsten liegen und auch am meisten interessieren müssen - überhaupt gelöst werden können, so scheint mir, als ob wir darauf angewiesen wären, über die eigenartige, rein  formale  Beschaffenheit aller ethischen Urteile, namentlich aber unseres richterlichen Gewissens als deren gemeinsamen psychischen Urform, des näheren zu reflektieren, um hieraus Rückschlüsse zu machen auf diejenigen Gefühle, worauf sich diese Urteile gründen, aus denen sie mit innerer Notwendigkeit hervorgetrieben werden und deren selbsteigene Natur und eigentliche Bedeutung sie folglich wohl müssen irgendwie verraten und in einem höher entwickelten Bewußtsein widerspiegeln.

Und zwar denke ich hier (nicht ausschließlich aber) vor allen Dingen daran, daß jede echt ethische Beurteilung, sei es nun eigener oder fremder Handlungen in der Form einer ganz  unbedingten  und insofern auch allgemeingültigen Billigung und Mißbilligung geschieht und somit unweigerlich Anspruch darauf macht, eine in ihrem Gebiet  absolute  Wertschätzung zu sein. Denn, soviel ich verstehe, ist das psychologisch nur unter der Voraussetzung möglich, daß unsere ethischen Gefühle als solche schon eine ebenso unbedingte oder absolute Wertung enthalten, nur natürlich in ihrer rein primitiven Weise als eigenartige Gefühlsqualität. Und wenn ich mich nicht irre, war und ist eben dieser Umstand von entscheidender Bedeutung dafür, daß alle ethischen Gefühle samt anderen in dieser Hinsicht ihnen ähnlichen, übrigens aber ebenso eigenartigen - intellektuellen, ästhetischen und religiösen - Gefühlen schon längst als Äußerungen unseres "höheren Gefühlslebens" betrachtet werden. Am liebsten möchte ich diese gesamte Gefühlsgruppe als  ideale Wertgefühle  bezeichnen, indem ich unter diese Benennung alles solchen Gefühle zusammenfasse, in deren Natur es liegt, unbedingte Werturteile begründen zu können oder, um einen längst dahingeschiedenen schwedischen Philosophen zu zitieren, "Zeugnis abzulegen über absolute Trefflichkeit" und absolute Verwerflichkeit.

Zur näheren Charakteristik des ethischen Gefühlslebens in seinem Unterschied von anderen idealen Wertgefühlen möge nur kurz hervorgehoben werden, wie die qualitative Eigenart ganz speziell der eigentlichen Gewissensgefühle zweifellos wesentlich davon bedingt ist, daß  hier  jene unbedingte Wertung, welche das gemeinsame wahren Wesen  aller  idealen Gefühle, ihre eigentliche Bedeutung und sozusagen ihren  konstitutiven Kern  ausmacht, innigst verschmolzen ist mit einem besonderen, unsere  eigenen  Handlungen und Willensmotive begleitenden rein elementaren  Freiheits-  oder, was ungefähr dasselbe heißt,  Verantwortlichkeitsgefühl,  eine Verschmelzung, die sich am intensivsten kund gibt in eigentümlicher Ausprägung beim sogenannten bösen Gewissen als  Schuld-  und  Reue gefühl und welches sodann aller ethischen Beurteilung überhaupt ihren so wesentlichen Imputationscharakter gibt.

Zur Frage nach dem tiefsten Grund dieses Gewissensgefühle und somit unseres ganzen Gewissens, ob und inwiefern es nativistischen [angeborenen - wp] oder empirischen Ursprungs sei, will ich nur sagen, daß es mir von allem und jedem im angegebenen Sinne idealen Wertgefühl zu gelten scheint, daß es zwar selbst mit allerlei anderen Gefühlen verschmelzen und dadurch gleichsam wechselnde Klangfarben bekommen könne,  nie  aber  lediglich  als Produkt oder "Erscheinung" einer Verschmelzung zwischen irgendwelchen andersartigen, ansich nur relative und partikulare Wertbestimmungen enthaltenden Gefühlen konstruiert werden darf, sondern allerletzt erklärt werden muß aus einer ursprünglich gegebenen, natürlich aber entwicklungsbedürftigen Anlage  sui generis  [eigener Art - wp] oder besser vielleicht etwas anders ausgedrückt, aus einer nicht etwa "sekundären", sondern ganz "primären" oder rein elementären, in seiner Art mehr oder weniger eigentümlichen Gefühlsdisposition. Und schon hieraus folgt unmittelbar, daß ich meinem verehrten Kollegen, Professor ELSENHANS, mit dem ich mich freue, sonst in wesentlichen Stücken ganz einverstanden zu sein, nicht beistimmen kann, wenn er in seinem Entwurf einer  Theorie des Gewissens,  freilich nur hypothetisch und analogieweise, das "primäre Gewissen" als "soziales Gemeingefühl" charakterisiert - eine Hypothese, wozu er gekommen ist eben auf  dem  Weg, welchen ich als leicht irreführend bezeichnet habe. (3)

Schließlich bedarf es nicht vieler Worte, um die Aufmerksamkeit noch einmal zu lenken auf die innere Verwandtschaft des richterlichen und des gebieterischen Gewissens und ganz besonders darauf, daß der  diesem  immanente, seit KANT so wohlbekannte Charakter eines unbedingten Sollens oder sogenannten kategorischen Imperativs in der Tat die ganz selbstverständliche Folge davon ist, daß  jenes  sich äußert oder geäußert hat in der Form eines nicht etwa nur über schon ausgeführte Handlungen, sondern auch über bloße Handlungsmöglichkeiten, deren Verwirklichung noch auf meinem, der eigenen Voraussetzung nach, freien Willen beruhen, ergehenden in seiner Weise ebenso kategorischen Werturteils. - Und so glaube ich, soweit es die knapp bemessene Zeit erlaubt, wenigstens die oben formulierte "methodologische Vorfrage" erledigt zu haben. Dahin nämlich, um es kurz zusammenzufassen, daß jede etwas tiefer angelegte Analyse der Gewissenstatsache am besten ist und am sichersten zum Ziel führt, wenn sie zu ihrem Ausgangs- und Angriffspunkt das  Gewissensurteil  wählt und sich über dessen ganz eigentümliche Ansprüche zunächst rein formaler Art samt deren unerläßlichen Bedingungen und Konsequenzen gründlich orientiere, in erster Linie also sich um diese richterliche Seite des Gewissens konzentriere, in der gegründeten Hoffnung, daß sich von hier aus Licht und Klarheit ausbreiten werden auch über die beiden anderen, an und für sich gleich wichtigen und interessanten Seiten des ganzen Gewissens, vorwärts über die Psychologie der gebieterischen Stimme des Gewissens nicht weniger als rückwärts über Wesen und den Ursprung des Gewissensgefühles oder primordialen Gewissens. und dies allerdings könnte ja als das eigentliche Hauptthema dieser nur einleitenden Bemerkungen zur Psychologie der Gewissens betrachtet werden.


DISKUSSION

ELSENHANS: Auf die freundschaftliche Polemik des Herrn Professor GEIJER habe ich zunächst zu erwidern, daß ich manches, was ich in meinem Buch über das Gewissen und in der Abhandlung "Theorie des Gewissens" in FALCKENBERGs Zeitschrift vertreten habe, jetzt anders fassen würde. Ich will aber doch auf einen Punkt kurz eingehen, gegen den Herr Prof. GEIJER besonders polemisiert hat, den angeblichen Widerspruch zwischem dem Gewissen als "sozialem Gemeingefühl" und seiner "reflexiven Beziehung". Gegen den ersteren Ausdruck, den ich übrigens nur hypothetisch gebraucht habe, läßt sich ja manches sagen; aber ein Widerspruch scheint mir nicht vorzuliegen. Auch als "soziales Gemeingefühl" würde das Gewissen eben das der "reflexiven Beziehung" entsprechende Urteil über die Bedeutung des  eigenen  Handelns für das soziale Ganze enthalten, während es daneben Urteile desselben Subjekts über die soziale Bedeutung gewisser Handlungen  anderer  oder gewisser Handlungen  überhaupt  gibt, die als solche nicht zum Gewissen im engeren Sinne gehören.

Professor Dr. DÖRING: Bei der Entwicklung des Gewissensbegriffs sei zunächst zwischen der  formalen  und  inhaltlichen  Seite zu unterscheiden:  Formal  betrachtet, sei der Gewissensvorgang ein nicht expliziertes, instinktives Werturteil, Gefühl nach dem vageren Gebrauch des Wortes im allgemeinen Sprachgebrauch, zugleich aber von starkem Gefühlston (Gefühl im engeren und eigentlichen Sinn) begleitet. Hinsichtlich der  inhaltlichen  Seite müsse aufs Nachdrücklichste betont werden, daß der Gewissensvorgang, bzw. das Gewissen selbst, von  komplexer  Beschaffenheit sei und nicht unter eine einheitliche Formel gebracht werden kann. Der Redner glaubt drei Hauptelemente des Gewissens unterscheiden zu dürfen:
    1. das natürliche Mitgefühl mit jedem fühlenden Wesen;

    2. das durch die Erfahrung vom ersten Lebenstag an begründete instinktive Bewußtsein der eigenen Abhängigkeit von der Gesellschaft und entsprechend der Verpflichtung gegen die Gesellschaft;

    3. das Urteil über den eigenen Wert, die eigene Wertlosigkeit oder den eigenen positiven Unwert (Schädlichkeit; KANT: du bist ein Nichtswürdiger!),
alle drei in der instinktiven, nicht explizierten Form, alle drei beim sogenannten moralischen Schwachsinn nicht vorhanden.

WALDAPFEL (Budapest): Ich möchte die Ausführungen des Herrn Vortragenden bezüglich der drei Seiten oder Momente des Gewissens und deren Beleuchtung durch sprachliche Erscheinungen mit einem Beitrag aus einer ihm wahrscheinlich völlig unbekannten Sprache ergänzen. In der Sprache meines Vaterlandes nämlich, der ungarischen Sprache, wird "Gewissen" mit einem - unserem Sprachbestand schon seit langer Zeit angehörenden - zusammengesetzten Wort "lelkiismeret" ausgedrückt. Dieses Wort, in seine Bestandteile zerlegt, heißt soviel wie "Seelenerkenntnis", ein wie mir scheint, sehr reichhaltiges, vielsagendes Wort, das von den großen Erweckern und Hütern unseres Nationalgewissens, so z. B. von STEPHAN SZECHENYI und FRANZ DICK, oft gebraucht wurde. Dieses Wort dürften den Ausführungen des Herrn Vortragenden keinesfalls widersprechen, da es wohl soviel zu sagen scheint, daß zur Gewissenhaftigkeit ein volles Erkennen der eigenen Seele, also ein volles Bewußtsein der Seele von sich selbst, ihrem Inhalt an Gedanken, Gefühlen und Strebungen, gehört, also eine Selbsterkenntnis, die bevor eine Aufgabe übernommen oder ein wichtiger Schritt getan wird, erst gründlich feststellt, was die eigene Seele denkt, fühlt und will, was sie zu leiden, was sie zu leisten und was sie zu verantworten vermag.

REINHOLD GEIJER: Nur einige ganz kurze Schlußrepliken.
LITERATUR - Reinhold Geijer, Zur Psychologie des Gewissens, Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, hg. von Theodor Elsenhans, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    1) THEODOR ELSENHANS, Theorie des Gewissens, Sonderabdruck aus  Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik,  Bd. 121, Seite 97. Vgl. die ältere Abhandlung vom selben Verfasser über  Wesen und Entstehung des Gewissens  (Leipzig 1894) Seite 162 - 172.
    2) Daß diese Analyse wesentlich (retrospektiv-) introspektiver Art sein muß, ist wohl ebenso einleuchtend, wie es andererseits kaum ausdrücklich hervorgehoben zu werden braucht, daß eine jedes solche Untersuchung nach rein "subjektiver" Methode dadurch kontrolliert und integriert werden muß, daß ihre Ergebnisse verglichen und zusammengestellt werden mit entsprechenden inneren Lebenserfahrungen anderer menschen und außerdem womöglich auch durch andere "objektive", bzw. experimentelle, Forschungsmethoden.
    3) Indem er nämlich von der ansich ganz richtigen Beobachtung ausgeht, daß schon die Vorstellungsunterlagen der primären Gewissensregungen als ihre unentbehrliche gewissermaßen immanente Voraussetzung in sich schließen ein sympathisches "Sichhineinfühlen in die Folgen der Handlung für andere fühlende Wesen" usw. - Um die betreffende Hypothese - nach welcher unsere sympathischen und sozialen Gefühle sich zum Gewissensgefühl verhalten sollten nicht bloß als evolutionistische Vorstufen oder Bedingungen seiner Aktualisierung und zugleich etwa "sekundär" als beitönende und damit verschmelzende Anklänge, sondern sogar als die eigentlich konstitutiven Elemente, aus deren Verschmelzung  untereinander  erst das Gewissengefühl selbst ohne Rest erklärt werden könnte als ihre ungeschiedene Totalität - ein wenig zu kritisieren auch aus anderen Gesichtspunkten als dem schon angeführten, daß in dieser Weise die  kategorische  Art des Gewissensurteils - und Gewissensgebotes -  nicht  erklärt wird oder werden kann, mögen hier noch folgende ganz kurze Bemerkungen erläutern. Hat doch Professor ELSENHANS selbst ausdrücklich hervorgehoben, was er den "reflexiven Charakter" des Gewissensgefühls nennt oder mit anderen Worten seine wesentliche "Beziehung auf das eigene Ich". Wie kann aber ein "reflexives" Gefühl ohne weiteres als sozial, bzw. "soziales Gemeingefühl" bezeichnet werden? Mir scheint dies gerade widersprechend. Und zwar liegt es aus diesem Gesichtspunkt näher das Gewissensgefühl eine Art - sit venia verbo [man verzeihe das Wort - wp] -  idealer Idiopathie  zu nennen. Besser wäre doch zu sagen, daß  was  vom Gewissen gefühlt oder vielmehr zunächst gefühlsweise bewertet wird, mein  eigenes  Betragen (bzw. Gesinnung) sei in erster Linie wenigstens als  animal sociale, meinen Mitmenschen  und somit Familie, Staat, Volk und Vaterland usw.  gegenüber;  - oder mit etwas anderen Worten, daß meine sympathischen und sozialen, bzw. antipathischen und antisozialen, Gefühle und Neigungen - besonders wenn sie als Motive betrachtet werden, welche meinen freien Willen sei es nun schon effektiv bestimmt haben oder zu noch möglichen Handlungen sollizitieren [entwickeln - wp] - als Bewußtseinsinhalt eine Gefühlsreaktion und zwar ganz neuer und höherer Art hervorrufen und somit  Gegenstände  sittlicher Bewertung werden, eben  deshalb  aber nicht selbst, ansich oder nur als solche, das hinreichende Motiv oder den eigentlichen Bestimmungsgrund dieser eigenartigen Wirkung ausmachen können.