F. J. NeumannG. MyrdalR. Stolzmann | |||
Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung [ 2 / 4 ]
1. Kapitel Politik und Nationalökonomie Die sozialwissenschaftliche Forschung durchlebt gegenwärtig eine kritische Übergangszeit. Es handelt sich u. a. darum, allenthalben und endgültig nur soviel von dieser Forschungseinrichtung zu verlangen, wie sie erkenntnistheoretisch leisten kann. Es gilt, mit voller Klarheit die Grenzen zu ziehen zwischen "Sein" und "Sollen", zwischen Urteilen auf der einen Seite, denen man das Attribut "wahr" oder "unwahr" beilegen kann und Werturteilen auf der anderen Seite. Solange man, oft unbewußt, wissenschaftliche Fakten und politische Ideale, Theorien und Ideologien vermengt, wird die gegenwärtig hoffnungslose Begriffs- und Meinungsverballhornung auch weiterhin herrschend bleiben. Viel spekulative Begabung und dialektisches Talent wird auf fiktive Probleme und auf einen Streit um Worte nutzlos vergeudet. In den Diskussionen, die rein wissenschaftlich sein sollten und auch den Anschein haben, es zu sein, diskutiert man in Wahrheit und ohne es zu merken schon um Wertideologien. Dadurch wird die rein wissenschaftliche Problemstellung verfälscht und eine logische Verwirrung muß die Folge sein. Aber auch die Diskussion der Wertideologien selbst leidet darunter und bewegt sich auf einem tieferen Niveau, als nötig wäre. Allzuoft muß sie der Unterlagen entbehren, die ihr von einer wissenschaftlichen Erforschung der relevanten Ursachenzusammenhänge geliefert werden könnten. Immer wieder muß man feststellen, daß die politische Diskussion von der Wissenschaft her geradezu einen schädlichen Einfluß erfährt. Sie übernimmt zuviel von der Mentalität jener wissenschaftlichen Rationalisierung politischer Glaubensbekenntnisse, die z. B. die liberalistische Nationalökonomie charakterisieren, sowohl in der klassischen wie in der neuklassischen Schule. Man bedient sich derselben Art steriler "Beweise" für das, was "gesellschaftlich nützlich" oder "dem Wohl des Landes dienlich" ist, Beweise, an denen man umso hartnäckiger festhält, da sie scheinbar rein rationelle Schlüsse aus selbstverständlichen Vordersätzen darstellen. Die ideenpolitische Diskussion zeigt dieselbe Vorliebe für logistische Formeln und axiomatische Zauberworte und täuscht sich mit diesen bedenklichen intellektuellen Prozeduren einen rein rationellen und strng sachlichen Charakter der eigenen Gedankenführung vor. Die politische Diskussion zeigt somit gewisse Züge, welche sie zuweilen zu einer Karikatur der wissenschaftlichen Diskussion in denselben Fragen machen. Hier bedarf es einer konsequenten erkenntnistheoretischen Grenzziehung. Sie ist in erster Linie vonnöten, um der wissenschaftlichen Forschung selbst den Weg zu neuer Erkenntnis frei zu machen. Wer unbefangen sieht, wird seine Verwunderung nicht unterdrücken können über den augenscheinlich sterilen Charakter, der der nationalökonomischen Forschung eigen ist auf einigen der wichtigsten Gebiete, die sich mit der praktischen Politik berühren, z. B. in der Finanzlehre. Die erkenntnislehre Bereinigung ist weiterhin vonnöten, damit die ökonomische Forschung so angelegt werden kann, daß sie wirklich den Erfordernissen des politischen Lebens dient, d. h. die Wirklichkeitsauffassung von Irrtümern freimacht, aufgrund deren sich die politischen Werturteile bilden. Der Grenzziehung bedarf es schließlich, um die Politik wirklich zu rationalisieren, d. h. im vorliegenden Fall vor allem, die Politik von der rationalistischen Chimäre zu befreien. Früher hat man, wie bekannt, nicht einmal einen Versuch gemacht, diese Grenzlinie klar zu ziehen. Man hatte auch keinen Grund dazu, da man der Überzeugung war, des politischen Problems ganz und gar mit Hilfe des Denkens Herr werden zu können. Eine Staatstheorie war ein mixtum compositum von Beobachtungen, Reflexionen und Wertsetzungen. Eine Theorie der "freien Konkurrenz" war nicht nur eine wissenschaftliche Erklärung dafür, wie die ökonomischen Verhältnisse sich gestalten würden unter gewissen angegebenen Voraussetzungen. Sie war gleichzeitig eine Art Beweisführung, daß diese preisbildungsmäßigen Voraussetzungen zu "maximaler Produktion", "größtmöglicher Bedarfsbefriedigung" führen würden und daß es sich deshalb rein a priori um ein politisches Desideratum handele. Die Forschung war gewissermaßen schieläugig: sie sah mit einem Auge auf die wissenschaftlich beobachtbare Wirklichkeit und mit dem anderen auf den "gesellschaftlichen Nutzen", "das allgemeine Beste" oder welchen Ausdruck man auch immer fand für die Vorstellung von etwas, das rein objektiv wünschenswert, "wirtschaftlich" sein sollte. Allmählich sind gewisse Voraussetzungen geschaffen worden, die die Forderung nach einer methodisch durchgeführten, streng wissenschaftlichen Grenzziehung stützen. Die Forderung würde zuerst immer bestimmter von der allgemeinen Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre geltend gemacht. Die Grenzziehung ist weiterhin dringlicher geworden, je mehr unser empirisches Erkenntnismaterial gewachsen ist und je größer der Teil der ökonomischen Forschung wird, der es mit Gewinnung, Ordnung und theoretischer Analyse dieses Beobachtungsmaterials zu tun hat. Schließlich vereinbart sie sich auch mit der größeren Skepsis gegenüber rationalen Argumenten in politischen Fragen, die heutzutage herrscht und die unsere Zeit gegenüber früheren Jahrhunderten kennzeichnet. Es besteht ein allgemeines Bedürfnis dafür, eine Konversation in sozialen Fragen über die Grenzen der politischen Überzeugungen hinweg führen zu können. Solche Diskussion muß sachliche Fragen angehen, die letzten Wertsetzungen dagegen können nur postuliert, nicht logisch kritisiert werden. So ist von verschiedenen Seiten aus eine gemeinsame Front geschaffen worden gegen die soziale Metaphysik, d. h. gegen die Methode, politische Wertsetzungen zu rationalisieren und wissenschaftlich zu verkleiden. Einzige Aufgabe der Nationalökonomie ist es, Empirisches zu beobachten und zu beschreiben und Ursachenzusammenhänge klar zu legen. Sie kann möglicherweise noch die Verhältnisse und die Zusammenhänge studieren, die herrschen würden in einem Gesellschaftszustand, der auf lediglich gedachten, mehr oder weniger abstrakten Voraussetzungen aufgebaut ist. Dagegen läßt sich rein wissenschaftlich nicht beweisen, daß ein Gesellschaftszustand vor einem anderen politisch vorzuziehen ist. Damit wird nicht behauptet, daß die Ergebnisse ökonomischer Forschung für die Bildung politischer Attitüden ohne Interesse wären. Zunächst ist es möglich, Argumente, die sich in der politischen Diskussion finden, wissenschaftlich zu kritisieren. Das gilt überhaupt für alle Argumente außer denjenigen, die unmittelbar auf subjektiven Wertsetzungen ruhen. Die politische Diskussion bedarf stets gewisser Vorstellungen darüber, was faktisch ist. Diese Vorstellungen lassen sich objektiv kritisieren. Im Gegensatz zu den äußersten Wertsetzungen können sie durch wissenschaftliche Analyse als richtig oder falsch erwiesen werden. Ausnahmslos bedürfen sie der Vervollständigung. Logisch gesehen spielen die Wertsetzungen hier nicht herein, daß sie es psychologisch gesehen doch tun, ist ein weiterer Grund für eine streng wissenschaftliche Kritik. Die emotionale Färbung unseres Bildes von der Wirklichkeit ist nämlich, was wir in der wissenschaftlichen Arbeit eine "subjektive Fehlerquelle" nennen. In diesem Sinne muß die politische Diskussion gewiß rationalisiert werden. Durch eine unparteiische Kritik der politischen Argumente, die sich in der Sphäre des Sachlichen halten, kann die Wirtschaftswissenschaft eine recht wichtige Aufgabe auch im Politischen erfüllen. Oft beruhen politische Meinungsverschiedenheiten nicht auf einer verschiedenen Auffassung dessen, was als gesellschaftliches Zukunftsbild für wünschenswert gehalten wird und dessen, was als politisches Mittel seiner Verwirklichung zu gebrauchen statthaft ist, sondern auf einer schiefen, subjektiv gefärbten Auffassung von dem, was faktisch ist. Wissenschaftlich kann man auch oft etwas aussagen über die Möglichkeiten, politische Ziele durch gewisse Mittel zu erreichen. Auch in der Politik gibt es ja solche, die das Unmögliche wollen. Sehr wichtig ist ferner das Aufzeigen der Nebenwirkungen, die durch eine an und für sich vielleicht zweckmäßige politische Maßnahme ausgelöst werden. Im sozialen Leben ist ja jede Einzelerscheinung mit jeder anderen irgendwie verbunden. Man hat die Nationalökonomie paradoxal genannt; die Zusammenhaänge sind so weitläufig und so unübersichtlich, daß sie fast immer ganz anderer Natur sind, als es bei oberflächlichem Zusehen den Anschein hat. Eine politische Maßnahme, die unter Außerachtlassung der Nebenwirkungen durchaus motiviert erscheint, erweist sich oft als vom Standpunkt derselben politischen Wertsetzung absurd, sobald man alle ökonomischen Wirkungen aufzeigt. Die Politik ist ja die Kunst des Möglichen und stellt gerade damit Forderungen an die Wissenschaft. Sie verlangt von ihr, daß sie die Wirkungen alternativ möglicher Verhaltensweisen gegenüber einer gegebenen Ausgangslage klarlegt. Darüber hinaus darf die Wissenschaft nicht gehen, darüber hinaus bedarf es nämlich noch einer Prämisse, über die die Wissenschaft nicht verfügt, einer Wertsetzung, die darüber entscheidet, welche Wirkungen politisch wünschenswert und welche Mittel zu ihrer Verwirklichung zulässig sind. Führt man diese Prämisse ein, so hat man damit ein rein wissenschaftliches zu sein und ist es am allerwenigsten dann, wenn diese Voraussetzung bei der Darstellung des Ergebnisses verschwiegen wird. Die erkenntnistheoretische Auffassung, die hier vertreten wurde, ist nicht des Verfassers Auffassung allein. Im Gegenteil kann man mit gutem Grund behaupten, daß sie die offizielle Auffassung der ökonomischen Theorie seit ungefähr einem Jahrhundert ist. Im fünften seiner brillanten Jugendessays (1), das den Titel trägt "On the Definition of Political Economy; and on the Method of Investigation proper to it" sucht JOHN STUART MILL den wissenschaftlichen Teil der Nationalökonomie zu beschränken auf die Fragen, was faktisch ist und was faktisch erwartet werden kann. Schon in seiner Antrittsvorlesung für die neu errichtete Professor in Oxford hatte SENIOR dasselbe ausdrücklich betont (2) und er wird nicht müde, es in späteren Schriften zu wiederholen. (3) Er sagt ausdrücklich, daß die Untersuchungen des Gelehrten ihm unter keinen Umständen das Recht geben, politische Verhaltensmaßregeln seinen Ergebnissen hinzuzufügen, selbst wenn diese Ergebnisse allgemeingültige Wahrheiten sind (4). Womöglich noch bestimmter drückt sich CAIRNES, der letzte große Klassiker, in dieser Frage aus. (5) Die Aufgabe der Nationalökonomie ist, sagt CAIRNES, "not to attain tangible results, not to prove any definite thesis, not to advocate any practical plan, but simply to give light, to reveal laws of nature, to tell us what phenomena are found together, what effects will follow from what causes". (6) Die Nationalökonomie ist ihm in politischer Hinsicht neutral und nicht gebunden an irgendein bestimmtes von "competing social schemes". Sie ist im selben Sinn neutral, wie die Mechanik neutral ist gegenüber verschiedenen Methoden des Eisenbahnbaus und die Chemie gegenüber verschiedenen sanitären Projekten. Der Autor, der diese Prinzipien nicht klar vor Augen hält, "labors under a constant temptation to wander from those ideas which are strictly appropriate to his subject into considerations of equity and expediency ... Instead of addressing himself to the problem, according to what law certain facts result from certain principles, he proceeds to explain how the existence of the facts in question is consistent with social well-being an natural equity; and generally succeeds in deluding himself with the idea that he has solved an economic problem, when, in fact, he has only vindicated, or persuaded himself he has vindicated, a social arrangement". (7) Der gleichen Einstellung begegnet man bei BAGEHOT (8), SIDGWICK (9), JOHN MAYNARD KEYNES (10) und einer Anzahl anderer Autoren. In der einen oder anderen Formulierung kann man sie heutzutage auch in populärwissenschaftlichen Abhandlungen finden. Der Gedanke ist zu betrachten als ein Ausdruck für den Ehrgeiz, den die Nationalökonomen immer gehabt haben, ihre Arbeit als Wissenschaft gerechnet zu wissen. Die prinzipielle Einigkeit über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie und über den Inhalt dieser Forderung wirkt jedoch verwirrend. Es ist doch nur zu wohl bekannt, daß die Nationalökonomen ununterbrochen und während des ganzen Jahrhunderts Auffassungen über das soziale "Sollen" im Namen ihrer Wissenschaft vertreten haben. Direkt aus dem wissenschaftlichen Material haben sie die "nationalökonomisch richtige" Verhaltensweise herauskalkuliert und sie haben gewisse Maßnahmen bekämpft mit dem Argument, daß sie eine "Außerachtlassung" oder geradezu "Übertretung" der ökonomischen Gesetze bedeuten würden. Sie haben politische Fragen "vom nationalökonomischen Gesichtspunkt aus" beurteilt. Auch wo man sich nicht direkt so ausgedrückt hat, liegt doch implizit in den Ergebnissen der Gedanke, daß die ökonomische Forschung "Gesetze" im werttheoretischen Sinn von Normen erbringen könne, Gesetze also nicht im Sinn beobachteter Regelmäßigkeit im Zeitablauf. Man hat Theorien aufgestellt über etwas, das man "Bevölkerungsoptimum" genannt hat. Man hat gesprochen von der "nationalökonomisch richtigen Verteilung der Arbeitskraft über den Erdball". Zuweilen hört man noch heute, daß eine freie Kapitalbewegung vom "weltwirtschaftlichen Gesichtspunkt" vorteilhaft ist, auch wenn sie sich als unvorteilhaft für einzelne Staaten erweisen sollte. Freie Kapitalbewegung würde nämlich das "Einkommen der Weltwirtschaft" maximieren lassen. Man spekuliert "richtige", "gerechte" oder "nationalökonomische" Prinzipien für die steuerliche Lastenverteilung aus. Die Finanztheorie wird ja meistens geradezu definiert als die Lehre darüber, wie das Steuersystem beschaffen sein soll. Somit gibt es auch eine nicht unbedeutende Literatur über den "richtigen" oder "gerechten" Einkommensbegriff in der Finanzlehre. In derselben Weise spekulieren wir noch immer über den "richtigen Geldwertbegriff". Aus den Begriffen "Einkommen" und "Produktivität", wie sie ADAM SMITH gebrauchte und wie sie sonst überall in der wissenschaftlichen Forschung aufgegeben sind, aus diesen Begriffen deduzieren wir noch ausführliche Normen dafür, in welchem Ausmaß öffentliche Körperschaften Anleihen aufnehmen dürfen und nach welchen Grundsätzen diese Anleihen in richtiger Weise amortisiert werden sollen. Ähnliche Beispiele ließen sich unendlich viele anführen. Bisher sind die Beispiele aus der mehr allgemeinen nationalökonomischen Spekulation entnommen worden, aber es wäre nicht schwer, sie durch andere aus mehr speziellen Diskussionen zu ergänzen. Aber wir wollen uns daran genügen lassen. Wir wollten nur einleitungsweise hinweisen auf den gänzlichen Mangel einer Übereinstimmung zwischem den wissenschaftstheoretischen Rahmen, in dem seit altersher die nationalökonomische Forschung präsentiert wird und der Praxis ihrer Arbeit. Niemand kann verneinen, daß sich aus dieser Konstellation ein ernstes methodisches Problem ergibt. Der Gegensatz wird oft in der Weise überdeckt, daß die prinzipielle erkenntnistheoretische Erklärung ihren Ehrenplatz in der Einleitung bekommt, dagegen kommen die normativen Arbeitsmethoden in den Spezialproblemen zur Anwendung. Nicht nur die zentraltheoretische Richtung in der Nationalökonomie, mit der wir uns weiterhin hauptsächlich beschäftigen wollen, beweist jenes seltene Geschick, ohne klare Wertprämissen zu politischen Verhaltensmaßregeln zu kommen. Die deutsche historische Richtung mündete ganz ebenso in eine objektive Sozialpolitik aus. Die Kritik dieser Schule gegen die klassischen Traditionen galt mehr den aprioristischen und abstrahierenden Arbeitsmethoden und der speziellen normativen Einstellung der Klassiker, dagegen lehnten sie nicht die Findung von Normen als Forschungsaufgabe überhaupt ab. Dasselbe gilt für die institutionalistische Schule in Amerika. Sie war ja bisher ziemlich heterogen und eine klare Wissenschaftstheorie hat sie jedenfalls nicht entwickelt. Ihr Grundgedanke ist jedoch, daß man vollständige, quantitative und voraussetzungslose Studien der sozialen Verhältnisse anstellen will. Man kritisiert energisch das geringe Interesse der traditionellen Nationalökonomie für die Bedeutung der sozialen Institutionen, ihre rationalistische Auffassung vom Menschen und ihre allgemeine Vorliebe für freie Konkurrenz. Man frischt also die Opposition der historischen Schule wieder auf, indem man die Arbeitsmethoden der herrschenden Theorie ablehnt und damit auch einige Ergebnisse der Theorie in der Frage, wie die soziale Wohlfahrt gefördert werden kann, die mit Hilfe dieser Methoden erlangt sind. Die Wohlfahrtsidee selbst liegt jedoch nach wie vor zugrunde. Man betrachtet die gesellschaftlichen Institutionen unter dem Gesichtspunkt, daß sie "Funktionen" zu erfüllen haben im Dienste der Gesellschaft. Dann untersucht man, wieweit sie diese Funktionen wirklich erfüllen. Man hat also im Grunde dieselbe unbewußte Wertprämisse wie in der klassischen Doktrinbildung. Gewiß spricht man nicht mehr so gern vom gesellschaftlichen Nutzen oder von der Maximierung der Bedürfnisbefriedigung, aber statt dessen von der Effektivität der Produktion oder ähnlichem, ein Begriff, den man für quantitativ bestimmter hält, schon deshalb, weil man ihn ununterbrochen "mißt". Man redet auch gern von den Funktionen der Institutionen oder davon, wie sie diese Funktionen erfüllen. Man ist interessiert an Details und macht deshalb Regeln aus den Ausnahmen der klassischen Theorie. Man bekommt eine Theorie für "social control" anstelle des alten individualistischen Postulats eines Nichtinterventionismus. Aber dieses Postulat wie überhaupt das ganze klassische Doktrinsystem hat tiefere Wurzeln. Aus den Zirkelschlüssen des doktrinären Denkens kommt man nicht dadurch heraus, daß man lediglich die normativen Schlußsätze variiert und differenziert. Der charakterisierte Gegensatz zwischen dem wissenschaftstheoretischen Grundsatz und der Praxis der Forschung ist es, der unser Problem entstehen läßt. Man meint augenscheinlich in der Nationalökonomie nicht dasselbe mit Beobachtungen und Fakten, wie sonst im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Man scheint eine objektive und der Beobachtung zugängliche Wertsphäre anzunehmen. Vielleicht nahmen wir es auch zu leicht, indem wir uns auf eine hundertjährige Kontinuität der prinzipiellen erkenntnistheoretischen Auffassung beriefen. Vielleicht sind es nur die Worte, die gleich sind, während man zuinnerst etwas ganz anderes meint. Aber was meint man eigentlich? Und weiter: wenn man eine objektive Wertsphäre innerhalb der beobachtbaren Erscheinungen existierend glaubt, warum unterstreicht man dann so stark, daß die Wissenschaft keine politischen Vorschriften geben, sondern nur das, was ist, erklären kann? Gibt es wissenschaftlich greifbare ökonomische und soziale Werte, so kann wohl auch die Forschung in einer objektiven Auffassung vom ökonomisch Wünschenswerten ausmünden. Wenn das möglich ist, so müssen wir das wohl hervorheben oder dürfen es wenigstens nicht verneinen. Hier bedarf es offenbar einer Begriffsanalyse. Um richtig kritisieren zu können, müssen wir zuvor richtig verstehen. Die einzige Methode dafür ist, das Aufkommen und die historische Entwicklung der Gedankengänge zu verfolgen. Wir müssen theoretische Aussagen zurückverfolgen bis zu ihrem Ursprung, um überhaupt ihren eigentlichen Inhalt verstehen zu können. Das werden wir auch später immer bei den Spezialproblemen tun. Wir müssen zunächst Verschiedenes voranschicken, um gleich von Anfang an das Problem klar erkennen zu lassen. Was wir da bringen können, ist nicht vollständig. Wir müssen vielmehr dauernd in starken Generalisationen manches vorwegnehmen, das späterhin ausführlicher behandelt werden wird. Die nationalökonomische Wissenschaft gewann zuerst durch die Physiokraten und ADAM SMITH theoretische Festigkeit. Deren Analyse galt im wesentlichen einem "natürlichen Zustand", der einmal ein idealtypisches Bild der Wirklichkeit war und gleichzeitig das Bild eines Zustandes, der sein soll. Die Aufstellung normativer Regeln war eine zentrale Aufgabe innerhalb der Analyse selbst, und es ist daher selbstverständlich, daß wir bei ihnen keine wissenschaftstheoretische Grenzziehung finden. RICARDOs Analyse wird als ein Fortschritt zu einer moderneren Auffassung von der Nationalökonomie als Wissenschaft bezeichnet. Das erste Problem der Nationalökonomie ist für ihn, die Gesetze zu bestimmen, die die Einkommensverteilung regulieren (11). Jedoch ist RICARDOs Grundanschauung trotz mancherlei, das sich dagegen anführen läßt, noch immer klar naturrechtsphilosophisch. Es mag gewiß zugegeben werden, daß der Begriff "Naturgesetz" bei RICARDO eine stärkere naturwissenschaftliche und weniger normativ-teleologische Betonung hat als bei ADAM SMITH. Diese Schwerpunktsverschiebung des Begriffs hatte schon stattgefunden bei den französischen Autoren. die nach den Physiokraten geschrieben hatten: GARNIER, CANARD und vor allem JEAN-BAPTISTE SAY. Es ist bekannt, daß RICARDO diese Autoren studiert und auch indirekt unter ihrem Einfluß gestanden hat, vor allem über JAMES MILL, der mit seiner größeren Literaturkenntnis und mit seiner mehr entwickelten Fähigkeit zu prinzipieller Denkklarheit in philosophischen Fragen der Lehrer seines gleichaltrigen Freundes gewesen ist, obwohl er gleichzeitig sein Schüler war in der nationalökonomischen Theorie. Wie wenig man sich bei dieser Generation von Klassikern um eine wissenschaftliche Grenzziehung im modernen Sinn gekümmert hat, wird wohl nirgends so klar wie im Einleitungskapitel zu JAMES MILLs mit so bewunderten "Elements of Political Economy" (12). Danach ist die Nationalökonomie für den Staat das, was die häusliche Wirtschaftsführung für die Familie ist. Wer eine Familienwirtschaft zu leiten hat, muß Angebot und Nachfrage derjenigen Objekte regeln, die nicht ohne Kosten erlangt werden können. Die Nationalökonomie sieht er an als die Kunst, das gleiche im größeren Rahmen der nationalen Wirtschaft durchzuführen. das ist eine Umschreibung einer bekannten Äußerung von ADAM SMITH. Gleichwohl bedeutete RICARDO eine tiefgreifende Veränderung in wissenschaftstheoretischer Hinsicht, obwohl dieses Ergebnis mehr als zufällig und jedenfalls nicht als direkt beabsichtigt angesehen werden darf. RICARDO gab sich nämlich mehr Mühe als seine Vorgänge, die einschränkenden Voraussetzungen seiner Analyse zu durchdenken. Seine Analyse war auch in weit höherem Grad abstrakt. Dieser Charakter macht es für seine Nachfolger notwendig, die Unterscheidung zwischen zwei Zweigen der Nationalökonomie stark herauszustreichen, nämlich "science" und "art", was im Deutschen etwa wiedergegeben werden könnte mit "theoretische" und "praktische" Nationalökonomie. Die Äußerungen von SENIOR, JOHN STUART MILL, CAIRNES, BAGEHOT u. a., die wir zuvor angeführt haben, gelten nur der theoretischen Nationalökonomie. Die Unterscheidung war zuerst aufgebracht worden von J. B. SAY, und sein Gedankengang wurde in Deutschland von RAU aufgenommen (13). In England waren es SENIOR und JOHN STUART MILL, die in den schon zitierten Werken die Idee entwickelten. Es ist außerordentlich wichtig, sich über die Bedeutung dieser Unterscheidung vollkommen klar zu werden und vor allen Dingen darüber, warum sie vorgenommen wurde. Nach RICARDO und bis zur Reaktion von seiten der historischen Schule wurde die ökonomische Theorie als eine extrem abstrakte Konstruktion aufgefaßt. MALTHUS, TOOKE u. a. betrieben gewiß weitläufige und eingehende historische und statistische Studien. Diese Arbeiten wurden dafür auch nicht zur eigentlichen Schule RICARDOs gerechnet. Die Methode der Nationalökonomie war aprioristisch und deduktiv, alle ihre Theoreme konnten aus einer geringen Anzahl von Postulaten oder Axiomen logisch abgeleitet werden, SENIOR zählte ihrer vier. Darin lag die Stärke der Theorie, aber auch die Begrenzung für ihre Bedeutung. Im Grunde ist es dasselbe, was MALTHUS im Sinne hat, wenn er sagt, die Nationalökonomie sei eine Wissenschaft von "Tendenzen", die im Einzelfall auch durch andere, in der Theorie nicht zum Ausdruck kommende Ursachen "aufgewogen werden können. Diese Methode glaubte man in der Natur der Sache begründet und zwingend. Das war die Methodenlehre, die JOHN STUART MILL in seinem fünften Essay entwickelte und die er später im sechsten Buch seines "Systems of Logic" präzisierte, das von den "Moral Sciences" handelte, d. h., was wir heute als Sozialwissenschaften bezeichnen würden. SENIORs methodische Grundsätze waren im wesentlichen die gleichen. Der Unterschied, der in der Denkweise beider Verfasser in diesem Punkt besteht, ist mehr formell als reell: JOHN STUART MILL und nach ihm CAIRNES, als die mehr philosophisch Veranlagten, wollten die ökonomische Theorie gern eine "hypothetische Wissenschaft" nennen, um die Abhängigkeit der Schlußsätze von der Adäquatheit der Vordersätze zu kennzeichnen, SENIOR dagegen wollte diese Terminologie MILLs nicht gutheißen. Er hob nämlich hervor, daß die Voraussetzungen nicht willkürlich gewählt zu sein brauchten, sondern daß man zutreffende Generalisationen der empirischen Wirklichkeit aufsuchen müsse. Abgesehen von dieser unterschiedlichen Nuancierung vereinigten sich beide, wie natürlich war, in den kräftigsten Warnungen gegen übereilte Schlüsse aus dieser abstrakten Theorie. Der Hauptgesichtspunkt bei dieser Grenzziehung gegen die Politik war jedoch der, daß die Nationalökonomie als theoretische und abstrakte Wissenschaft erkenntnismäßiger Daten ermangelte, die für einen direkten politischen Schluß notwendig waren (14) Gewiß sagt MILL, daß "science" sich von "art" in derselben Weise unterscheidet, wie Begreifen von Wollen oder wie der Indikativ vom Imperativ. Im ersten Fall hat man es mit Fakten, im zweiten mit Vorschriften zu tun. Aber die Quintessenz in der utilitaristischen Moralphilosophie war (15), bestand ja darin, daß der Wille auch in seiner Zielsetzung rationell sein kann und soll. Es handelt sich hier also nicht um eine Grenze zwischen Wissenschaft und etwas, das nicht Wissenschaft ist - dieser Gedanke hatte zu jener Zeit und in jenem Kreis nicht die geringsten Voraussetzungen -, sondern es handelt sich um eine Grenze zwischen zwei Wissenschaften. Daß diese Interpretaion richtig ist, wird man bei einem gewissenhaften Studium der Grundtexte bekräftigt finden. Diese klassische Auffassung lebt auch weiter bei den späteren Klassikern und den Neuklassikern. Die Unterscheidung ist mit anderen Worten nicht von der prinzipiellen Natur, wie sie für uns ist. Sie ist ausschließlich von Zweckmäßigkeitserwägungen diktiert. Nur mit solchen findet man sie motiviert, und mitunter wird das offen ausgesprochen. Es wird als natülich und in hohem Grad wünschenswert angesehen, daß die Nationalökonomen die Grenze überschreiten sollen. Es wurde nur betont, daß sie dann nicht mehr als Repräsentanten einer übergeordneten Wissenschaft "moral philosophy" sprechen. Die zweite Aufgabe war, wie die Verhältnisse lagen, nicht übermäßig dringlich, man hatte ja eine ziemlich leicht faßliche objektive Gesellschaftsphilosophie, den Utilitarismus, zur Hand, von dem die Nationalökonomie eigentlich nur eine spezielle Ausgestaltung war. Als JOHN STUART MILL später ein umfassenderes Werk schreiben wollte, so brauchte er nur den Titel des Buches ein wenig ausführlicher zu halten, um kenntlich zu machen, daß er ein größeres Arbeitsfeld behandelte als die reine ökonomische Theorie. (16) Für SIDGWICK war die Grenzziehung nur ein Einteilungsprinzip. Wer seine "Principles of Political Economy" oder mehr noch seine "Elements of Politics" gelesen hat, weiß, daß er es nicht als eine Unmöglichkeit ansah, politische Fragen wissenschaftlich zu behandeln und zu entscheiden, und zwar unter einem "rein ökonomischen oder utilitaristischen Gesichtspunkt" (from a purely economic or utilitarian point of view). Man versteht nur nicht, warum er und all die anderen soviel Aufhebens machen von einer relativ so unbedeutenden Dispositionsfrage. Man muß sich weiter gegenwärtig halten, daß die ökonomische Theorie später in hohem Grad konkretisiert wurde. Das war zum Teil eine Folge der Kritik, die die historisch und institutionalistisch eingestellten Ökonomen gegen die Klassiker richteten, und teilweise eine Folge davon, daß von öffentlicher und privater Seite historisches und statistisches Material immer reichlicher zur Verfügung gestellt wurde. Von den späteren Jahren JOHN STUART MILLs ab und seit CAIRNES, BAGEHOT und JEVONS kann man sagen, daß die ökonomische Theorie eine solche Konkretisierung sich bewußt erhoffte. Später wurde ja vor allem MARSHALL der Sprecher für diese wissenschaftliche Einstellung. Wie wir gezeigt haben, war die wissenschaftstheoretische Abgrenzung von "science" und "art" mit der euklidisch abstrakten Natur der klassischen Theorie motiviert worden. Da die Art philosophischer Wissenschaftstheorie, mit der die Ökonomen in Kontakt standen, niemals eine wirkliche Kluft geschaffen hatte zwischen Sein und Sollen - man streift gewiß auch in der ökonomischen Theorie hie und da den Gedanken, daß man Werte nicht objektiv wissen kann, aber nimmt die Sache kaum ernst -, so befand man sich in der Situation, daß ein Gedankengang von klassischer Autorität, von dem man außerdem das Gefühl hatte, daß er noch immer irgendwie relevant war, vollkommen in der Luft schwebte. Soweit man der Tradition treu blieb, zog man vor, einleitungsweise die alten Redensarten in feierlichen Worten wieder aufzufrischen, natürlich mehr im Sinne einer höflichen Verbeugung vor der Tradition und eines konventionellen Nachweises der eigenen Belesenheit und der Fähigkeit, philosophische Subtilitäten zu verstehen. Entscheidende Bedeutung konnte man ihnen vernünftigerweise nicht mehr beimessen, am allerwenigsten in den theoretischen Spezialforschungen, die ja nicht aprioristisch waren im alten Stil der Klassiker, sondern durchtränkt und in vielem verifiziert durch rein empirische Elemente. Leider bedeutete nun das mehr empirische Spezialstudium an und für sich ein vermindertes Interesse für die fundamentalen Methoden- und Prinzipienprobleme, was seinerseits wieder das Fortbestehen logischer Widersprüche im theoretischen Lehrgebäude erleichterte. Man findet also die These, daß die Nationalökonomie eine positive Wissenschaft ist von dem, was ist, und nicht eine normative Wissenschaft über das, was sein soll, selbst bei einem Theoretiker wie z. B. PIGOU, dessen Lebensarbeit als Forscher doch zum nicht geringen Teil darin besteht, diejenige Handlungsweise rationell auszukalkulieren, die nationalökonomisch und utilitaristisch die bestmögliche ist (17). Um noch ein anderes Beispiel anzuführen: die ganze theoretische Arbeit von J. B. CLARK kann als ein Versuch betrachtet werden, den Satz zu beweisen, daß die Preisbildung bei freier Konkurrenz höchste Gerechtigkeit verwirklicht, indem jeder einzelne gerade das bekommt, was seiner produktiven Leistung entspricht. Auch er fand sich bewogen, es ausdrücklich zu unterstreichen, daß die Nationalökonomie als solche nichts zu tun hat mit der Frage, inwieweit die existierenden Institutionen, Gesetze oder Bräuche gerecht oder ungerecht sind. Ähnliches gilt für die allermeisten Theoretiker der neuklassischen Richtung. Es hat jedoch auch niemals an Gegnern gefehlt, die diese zweideutige Stellungnahme als unhaltbar empfunden haben. Der bedeutende holländische Nationalökonomom PIERSON bringt in dieser Frage eine kritische Ausführung, die unwiderleglich erscheint, solange man seine Voraussetzungen anerkennt. PIERSON wollte eigentlich die Unterscheidung ganz und gar streichen, er meint, daß die alte Definition der Nationalökonomie als der Wissenschaft, die uns lehrt, welche Regeln die Menschheit beobachten muß, um sich einen materiellen Fortschritt zu sichern (18), schließlich doch nicht so verfehlt ist. Damit schließt sich PIERSON nicht nur an die Auffassung der ältesten Klassiker und mancher ihrer Nachfolger, die die Unterscheidung überhaupt nicht gemacht haben, sondern realiter spricht er damit Grundanschauung und wirkliche Praxis auch aller übrigen aus, worüber er sich vollkommen klar ist. Er will nur, daß man das, was man praktisch allenthalben tut, offen zugibt. PIERSON glaubt, daß die vermeintliche Wissenschaftlichkeit nur darin besteht, daß man logische Imperativsätze in grammatischer Indikativform schreibt. Der Imperativ liegt sachlich verborgen in Sätzen, die formell nur Behauptungen enthalten, indem man z. B. behauptet, daß irgendetwas wertvoll ist und etwas anderes schädlich. Er stellt die Frage, ob es denn irgendwie von Bedeutung ist, ob man im Ergebnis behauptet, daß Protektionismus schädlich ist, oder ob man von protektionistischen Maßnahmen direkt abrät. Kein Autor, meint er, wie immer er die Hauptabteilungen in seiner Untersuchung disponiert, hat jemals die ökonomischen Wirkungen verschiedener Geldsysteme, verschiedener Agrarverfassungen oder landwirtschaftlicher Betriebssysteme oder verschiedener außenhandelspolitischer Prinzipien erklärt, ohne seinen Ergebnissen den Charakter politischer Verhaltensmaßregeln zu geben. Und warum sollte er das auch nicht tun, da diese Regeln nichts anderes sind und auch nichts anderes sein können als eine Rekapitulation seiner Ergebnisse. Als ein prinzipielles, aber banales Zugeständnis an die Logik erklärt es PIERSON, daß alle Erkenntnis über das, was sein soll, in gewissem Sinne konditionaler Natur ist. Die Voraussetzung dafür, daß man die politischen Imperative will, die logisch beschlossen liegen in der Behauptung, daß die und die Handlungsweise zu materieller Wohlfahrt führt, ist lediglich, daß man materielle Wohlfahrt will. PIERSON gibt zu, man kann nun auch andere rein "soziale" Ziele für das politische Handeln haben, aber die Grenze, die er zwischen "ökonomisch" und "sozial" zieht (bzw. zwischen wirtschaftlicher Wohlfahrt und anderer Wohlfahrt), diese Grenze ist, wie er stark hervorhebt, nicht eine solche zwischen Wissenschaft und Politik, sondern zwischen zwei politischen Wissenschaften. Außerdem ist die Grenze fließend, sie fließt übrigens weit mehr als PIERSON glaubt. Von seinen Ausgangspunkten aus hat er aber unbedingt recht, daß es nicht möglich ist, zwischen Wissenschaft und Politik eine wissenschaftstheoretische Grenze zu ziehen von der Bedeutung, wie die starke Betonung durch die Nationalökonomen - in ihren prinzipiellen Auseinandersetzungen - glauben macht. Die Logik in PIERSONs Gedankengang scheint unantastbar. Eine Grenze aufrecht zu erhalten, wäre bestenfalls eine langweilige Pedanterie. es ist erklärlich, daß die Nationalökonomen als besonnene Leute lieber in Aussagesätzen schreiben und mit Ausrufungszeichen sparsam sind. Aber haben wir keine anderen Gründe, unsere Arbeit wissenschaftlich zu nennen, so kann diese Beschränkung als ein nutzloser und betrügerischer Snobismus gern fallen. - PIERSON spricht eigentlich nur aus, was dem "common sense" vieler Nationalökonomen zugrunde liegt, der ihnen verbietet, sich zu einer Theorie vom rin positiven Charakter der Nationalökonomie zu bekennen, während sie gleichzeitig ihre Arbeit darauf richten, Normen für die Wirtschaftspolitik zu finden. PIERSONs Logik ist unwiderleglich, aber seine Prämissen sind unhaltbar. Wäre es so, daß wir eine wirtschaftliche und soziale Wertsphäre hätten, die positiver Forschung zugänglich wäre, dann ist unsere Wissenschaft in der Lage, den Politikern objektive wirtschaftspolitische Normen zu geben, und dann haben wir keinen Grund, diese unsere glückliche Lage durch die verwirrende Behauptung des Gegenteils zu verschleiern. Könnten wir die Bedingung für ein wirtschaftliches Bevölkerungsoptimum fixieren, könnten wir die Prinzipien für die gerechte oder wirtschaftlichste steuerliche Lastenverteilung bestimmen, könnten wir die Bedingungen des größten gesellschaftlichen Nutzens von Tausch und Produktion bestimmen usw., dann wäre unsere Wissenschaft normativ. Das können wir aber gerade nicht. Es ist die mangelnde Einsicht in dieser Grundfrage, die vieles von der Unklarheit in Prinzipienfragen erklärt, die in unserer Wissenschaft herrscht. Hier kann es keine Halbheit geben. Die ständigen Versuche zu einem Kompromiß für geglückt anzusehen, wäre Selbstbetrug. Die unausgesetzten Versuche, zu objektiven Normen in dieser oder jener Einkleidung zu kommen, haben jedoch nebenbei zu einer positiven Wirtschaftswissenschaft geführt, die einen solchen relativen Grad von Vollendung erreicht hat, daß wir sie geradezu als grundlegend für die ganze Sozialwissenschaft ansehen können. Wir können sie exakt nennen in demselben Sinn wie die Naturwissenschaft. Es ist richtig, wie MENGER sagt, daß unsere Wissenschaft geschaffen und gefördert worden ist von Forschern, die sich zuweilen nicht Zeit gelassen haben zum Nachdenken und zu einer logischen Analyse ihrer eigenen Forschung. Aber gerade in der gegenwärtigen Lage der Nationalökonomie kann es nicht verlorene Mühe sein, die halbvergessenen Grundprobleme wieder zu beackern. Heute haben wir bereits eine unübersehbare Menge empirischer Erkenntnis und theoretischer Analyse gesammelt vorliegen, ohne daß wir uns voll bewußt sind, was eigentlich das Ziel unserer Erkenntnis ist und wie wir das Material sinnvoll bearbeiten sollen gegenüber den gewaltigen politischen Problemen, die heute mehr als je aktuell sind. MAX WEBER, jener bedeutende Gelehrte, der auf so vielen Hauptgebieten der sozialen Forschung Bleibendes geleistet hat (19), hat auch als Erster eine klare und konsequent durchdachte Formulierung des Grundsatzes gegeben, daß die Nationalökonomie in diesem Sinne eine theoretische Wissenschaft ist und "wertfrei" gehalten werden muß. Seine grundlegende Kritik ist transzendentaler Natur und fußt auf der modernen deutschen Logik. Er hat seine Anschauung niedergelegt in einer kritischen Behandlung der marxistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung und vor allem der deutschen sozialpolitischen Schule, die besonders durch SCHMOLLER, SCHÄFFLE und WAGNER einen sozialreformerischen Charakter bekommen hatte und im Laufe der Zeit immer mehr in einem schon von Anfang an drohenden Doktrinarismus erstarrt war. Wenn sich WEBER nicht weiter mit einer Kritik der politischen Spekulation innerhalb der klassischen und neoklassischen Theorie abgegeben hat, so ist das sehr wohl verständlich. Ökonomische Theorie war zu seiner Zeit nicht aktuell in Deutschland. Sie stand außerhalb des Interesses noch bis vor kurzem, da man theoretische Forschung wieder aufnahm, nicht zuletzt unter dem fruchtbaren Einfluß von CASSELs Werk "Theoretische Sozialkökonomie". Weiter war WEBER mehr Soziologe und Historiker als ökonomischer Theoretiker. Das ist in kurzen Zügen die historische Entwicklung, die die Vorstellungen von Aufgaben und Grenzen der nationalökonomischen Wissenschaft seit den Tagen der ältesten Klassiker durchgemacht haben. Wenn wir demnach versuchen werden, mit kurzen Worten und unter starken Generalisationen die positive Doktrinbildung zu charakterisieren, die auf dieser Grundlage entstanden ist, so geschieht das unter dem Hinweis, daß diese Generalisationen ihre nähere Verifizierung und Nuancierung in den folgenden Kapiteln finden sollen. Es geht nicht an, eine vollständige innere Homogenität für die politische Doktrinbildung in der Nationalökonomie zu behaupten. Die Doktrinen unterscheiden sich voneinander nicht im minesten in Bezug auf ihren positiven Inhalt. Die Einheitlichkeit, die gleichwohl herrscht und eine systematische Behandlung möglich macht, bezieht sich mehr auf die eigentliche Denkweise, also auf die Art, wie man theoretisch zu konkreten politischen Verhaltensmaßregeln kommt. Wenn man trotz der gemeinsamen moral-philosophischen Basis und der starken wissenschaftlichen Tradition zu unterschiedlichen politischen Schlüssen gekommen ist, so hängt das damit zusammen, daß Denkfehler deshalb nicht zu vermeiden waren, weil man etwas Unmögliches anstrebt: man will nämlich allenthalben politische Schlüsse ziehen ohne politische Prämissen. Psychologisch gesehen sind die Unterschiede in den Ergebnissen bestimmt durch Unterschiede in den persönlichen politischen Überzeugungen, als deren Rationalisierungen im psychologischen Sinne die Doktrinen zu betrachten sind. Dabei mag freilich die Rationalisierungsprozedur ihrerseits wieder irrationell das schließliche Resultat bezüglich der politischen Überzeugungen mit beeinflußt haben. Während manche Nationalökonomen, besonders früher, sich bewogen gefühlt haben, die Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit der bestehenden Einkommensverteilung zu beweisen, haben andere versucht, das Gegenteil nachzuweisen und die Veränderungen anzugeben, durch die die bestehende Verteilung zu einer gerechten werden würde. Heutzutage versucht man oft, dem ganzen Problem aus dem Weg zu gehen, z. B. durch eine theoretische Voraussetzung einer schon gerechten Besitz- und Einkommensverteilung. Unter dieser Voraussetzung begreift man alles ein, was Gegenstand einer "außerwirtschaftlichen" Wertsetzung werden kann, falls jemand mißtrauisch ist gegen eine "rein wirtschaftliche" Lösung des Problems der richtigen Einkommensverteilung. Man statuiert diese Prämisse nur, um desto unbekümmerter Normen festlegen zu können für Tausch, Produktion, Besteuerung oder irgendetwas anderes, das man gluabt, vom Verteilungsproblem isolieren und damit von politischen Prämissen unabhängig stellen können. Trotz aller Gegensätze besteht doch, wie gesagt, eine innere, rein morphologische Einheitlichkeit. Dies wird markiert vor allem von der Wertlehre. Durch die ganze Geschichte unserer Wissenschaft zieht sich die Vorstellung, daß man auf der Basis empirischer Beobachtungen durch rein logische Operationen einen "Wert" konstruieren kann, der etwas Tieferes ist als Tauschwert oder Preis, und daß man in diesem Wertbegriff einen Ausgangspunkt zu sehen hat für eine tiefere wirtschaftswissenschaftliche Analyse. Diese Wertlehre ist stets das Kernstück jeder wirtschaftspolitischen Doktrinbildung gewesen: sie wohnt implizit den Ergebnissen inne, selbst wo sie explizit beiseite geschoben wird. Gerade von diesem Gesichtspunkt aus muß die Wertlehre kritisiert werden, sonst läuft man Gefahr, den Wertbegriff als Grundlage für normative Konstruktionen nur durch andere Vorstellungen zu ersetzen, die gewöhnlich weniger durchdacht sind, aber im Grunde die gleiche Funktion und den gleichen Inhalt haben. Die klassische Realwertlehre, wohl zu unterscheiden von der Tauschwertlehre, ist rein naturrechtsphilosophischen Charakters. Sie gründet sich auf HOBBES und LOCKE's Arbeitswert- und Eigentumskonstruktion. In den Händern der Klassiker bekam sie schon bald einen psychologischen Einschlag; das beruhte einerseits wohl auf den Einflüssen aus dem utlitaristischen Gedankenmilieu, ist aber andererseits auch wieder der Grund dafür, daß die Utilitaristen sie ohne weiteres übernehmen konnten. Die neoklassische Wertlehre dagegen ist nach Idee und ursprünglicher Anlage rein psychologisch. Sie heißt deshalb auch subjektive Wertlehre oder Grenznutzentheorie. Sie ist eine für die ökonomische Theorie zurechtgelegte Ausarbeitung der BENTHAM'schen Lust- und Unlustrechnung. Sie erweist sich als ein Substrat des assoziationspsychologischen Hedonismus. Man behauptet gewiß nicht zu viel, wenn man sagt, daß diese Psychologie selbst in ihrer fachwissenschaftlichen Ausgestaltung modernen Ansprüchen an eine eingehene und adäquate Analyse des seelischen Ursachenverlaufs nicht genügt. Die psychologische Wissenschaft hat ja heute ganz und gar die Problemstellung verlassen, mit der die Assoziationspsychologie arbeitete. Die subjektiven Werttheoretiker aber haben ihre Wertlehre logisch haltbar zu machen versucht und haben dazu den in ihr enthaltenen psychologischen Hedonismus aufs äußerste verflachen müssen. Eine Tendenz dazu zeigt sich schon bei den allerersten Vertretern der Grenznutzentheorie, JEVONS, WALRAS, in gewissem Sinne auch bei MENGER und jedenfalls bei BÖHM-BAWERK. Die Entwicklung führt allmählich zu einer leeren Formel, in der der psychologische Erkenntnisinhalt gleich null ist. Mit großem Aufwand theoretischen Scharfsinns bringt mann schließlich auf der Basis reiner Zirkeldefinitionen nichts anderes zustande, als eine umständliche Formulierung einer begrifflichen Tautologie. Es wird danach die Funktion der Wertlehre, daß man mit ihr die Denkfehler verschleiert, durch die man zu politischen Normen kommt und die ohne die Wertlehre gar zu augenscheinlich zutage liegen würden. Sobald die Wertlehre jedoch psychologisch basiert wird, wird sie rein individualistisch. An und für sich macht sie politische Schlüsse nicht möglich. Die Normen müssen ja etwas darüber aussagen, was für die Gesellschaft als Ganzes wertvoll ist. Die individuelle Wertlehre muß daher in eine Sozialwertlehre transformiert werden. Der Ausdruck "Sozialwert" ist nun gar zu herausfordernd und wird auch im allgemeinen vermieden. Nur ein paar ganz hartnäckige Theoretiker sind konsequenz genug, diesen Begriff zu entwickeln. Dieselbe Idee findet sich jedoch allenthalben, auch wenn ihre Bezeichnungen wechseln. Die Idee ist nämlich identisch mit der theoretischen Anschauungsweise, deren man sich bedient, wenn man im wirtschaftlichen Ablauf eine gesellschaftliche Wirtschaftsführung sehen will. Die Analogie zwischen Gesellschaft und patriarchalischer Familienwirtschaft findet sich schon klar und grundlegend durchgeführt bei ADAM SMITH, und auch er knüpft nur an sehr alte Vorstellungen, die vor allem von den Kameralisten im 17. und 18. Jahrhundert systematisiert worden sind. Wir haben zuvor einen Ausspruch JAMES MILLs zitiert, der in die gleiche Richtung zielt. Als Definition der theoretischen Nationalökonomie fand die Analogie einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung ihren ersten Kritiker in JOHN STUART MILL. Bei seinem Versuch, eine Trennung von theoretischer und praktischer Nationalökonomie vorzunehmen, ging er aus von einer Kritik seines Vaters gerade in diesem Punkt (20). Für die umfassendere praktische Nationalökonomie behielt er die Vorstellung einer gesellschaftlichen Wirtschaftsführung im alten Sinne bei. Damit wurde also das politische Problem als letztlich ein Erkenntnisproblem gefaßt. Wenn man annahm, ein "Gesellschaftsinteresse" sei objektiv eindeutig bestimmbar, so heißt das ja, man glaubte an eine wissenschaftlich bestimmbare Wertprämisse. Diese Auffassung des politischen Problems als eines Erkenntnisproblems stimmte auch vollkommen überein mit der utlitaristischen Philosophie. Die Vorstellung bekam neue Lebenskraft durch die subjektive Wertlehre. JEVONS, der in dieser Hinsicht vielleicht von den Grenznutzentheoretikern der klarste ist, schreibt:
Um die Morphologie der politischen Doktrinen generell zu charakterisieren, müssen wir demnach einen Umstand hervorheben, dessen logisch bedingte Notwendigkeit erst allmählich im Laufe der Untersuchung klar gemacht werden kann. Die politischen Doktrinen sind, wo man sich überhaupt um einen gründlicheren Beweis gekümmert hat, regelmäßig bewiesen worden durch eine wissenschaftliche Deduktion aus gewissen abstrakten Sätzen oder Prinzipien, die sich bei näherem Zusehen als rein formell, d. h. an und für sich inhaltslos erweisen. Das Dilemma der normativen Forschung liegt tiefer gesehen gerade darin, daß die grundlegenden Prinzipien inhaltslos formuliert werden müssen, um wissenschaftlich "objektiv" zu sein, da ihnen ein Inhalt nur durch Einschmuggeln unausgesprochener Prämissen, d. h. konkreter Wertsetzungen gegeben werden kann. Man gibt also, solange man sich in der Sphäre der Prinzipien hält, seinen Auffassungen eine wie es heißt "formelle" Natur, um bei Bedarf den realen Inhalt aus anderen Quellen zu ergänzen. Von hier aus gewinnen wir eine methodische Regel für unsere Kritik: es gilt, die bestimmten Denkfehler oder Ausdeutungen von Prinzipien aufzuweisen, die durch das logisch nicht durchführbare Unterfangen aufgezwungen werden, irgendwelche politischen Schlüsse positiven Inhalts zu gewinnen aus lediglich einer Realprämisse und einer Wertprämisse ohne positiven Inhalt, die wegen ihrer Inhaltslosigkeit und solange sie nicht positiv gedeutet wird, als unwiderleglich, d. h. "objektiv" genommen werden kann. Der Umstand, daß man stets die Zuflucht zu irgendeinem rein formellen Prinzip hat nehmen müssen, ist eine indirekte Anerkennung der wissenschaftstheoretischen Grundauffassung, von der unsere Kritik ausgeht, daß nämlich die sozialwissenschaftliche Analyse wertfrei sein muß, wenn sie objektiv sein will. Man erkennt also die prinzipielle Berechtigung der Kritik an und will sich ihr dadurch entziehen, daß man Deckung sucht hinter inhaltslosen Banalitäten, z. B. daß letztes Ziel aller Politik das "allgemeine Beste", "der gesellschaftliche Nutzen" oder ähnliches sein soll. Die Unterschiede in den doktrinären Lehrgebäuden erschöpfen sich vielfach im logischen Abstand dieser äußersten formalen Prämisse von den positiven Schlüssen, also in der Anzahl der Gedankenglieder. Je gewissenhafter ein Gelehrter gewesen ist, umso weiter hat er diesen Abstand gemacht. In der praktischen wirtschaftspolitischen Diskussion finden sich fast immer nur die politischen Doktrinen als solche ohne das ganz umfassende Beweismaterial, das ihre Vertreter dafür erbringen zu können glauben. Anderes kann man vernünftigerweise auch nicht erwarten. In der wirtschaftspolitischen Arbeit bedient man sich der Doktrinen in derselben Weise, wie man die namentlich bezeichneten, wohlbekannten und ein für allem mal bewiesenen mathematischen Formeln zu Umformung von Ausdrücken in der mathematischen Analyse verwendet. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden, soweit die Doktrinen wirklich anderweitig bewiesen wären. Für den Laien sind sie in einer praktischen Argumentation oft gar nicht zu entdecken. Sie verbergen sich in unschuldig klingenden und scheinbar selbstverständlichen Ausdrücken, wenn sie nicht geradezu als Gedankenglieder übersprungen sind. Es bedarf schon eines wissenschaftlich geschulten Blickes, um sie überhaupt sehen zu können, die Doktrinen sind oft selbst Methode geworden, bestehen nur noch in der Art, "ökonomisch zu denken". Wenn eine Argumentation in einem konkreten Fall der Praxis Interessenten überzeugt, so liegt in diesem Erfolg noch keine Verifizierung der in den Reduktionsformeln enthaltenen Wertprämissen. Die Allgemeinheit ist gegen die Reduktionsformeln umso weniger kritisch, da sie, wie man finden wird, fast regelmäßig Rationalisierungen von Vorstellungen sind, die tief im populären Bewußtsein wurzeln. Die einzige Sicherung gegen Denkfehler liegt in einer unausgesetzten Selbstkritik. Welche Umstände geben uns eine Erklärung dafür, daß selbst in jüngerer Zeit die politische Spekulation in theoretischer Verkleidung in die Nationalökonomie eingedrungen ist? Die Nationalökonomen geraten oft in Konflikt nicht nur mit ihren eigenen wissenschaftstheoretischen Grundsätzen, sondern vor allem mit modernem wissenschaftlichen Denken im allgemeinen. Die Erklärung besteht in erster Linie darin, daß die Nationalökonomie unter einer Isolierung von den anderen Kulturwissenschaften gelitten hat. Diese Isolierung ist umso gefährlicher gewesen, da unsere Forschung ununterbrochen die psychologische, juristische, erkenntnistheoretische, soziologische, rechts- und wertphilosophische Sphäre berührt. Bemerkenswert ist nun, daß diese Isolierung nicht von Anfang an geherrscht hat. Die Wirtschaftswissenschaft selbst ist zu betrachten als ein Abzweig der englisch-französischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Die intime Verbindung der Nationalökonomie mit der allgemeinen geisteswissenschaftlichen Entwicklung hörte jedoch auf, und zwar deshalb, weil sie gar zu sehr an den philosophischen Grundlagen festhielt, auf denen sie, historisch gesehen, erwachsen war. Um 1870, gerade zu der Zeit, als die Psychologie im Sinne einer modernen Erfahrungswissenschaft neu begründet wurde, krönte die Nationalökonomie ihre Wertlehre durch einen minutiösen Ausbau des alten rationalistischen Hedonismus zu einer Erklärung des wirtschaftlichen Verhaltens überhaupt. Erst damals verwirklichte die Nationalökonomie ihr altes Ideal, eine vollkommene, in sich geschlossene Lust- und Unlustrechnung zu werden, ein "calculus of pleasure and pain". Ebenso ist es sicher nicht zuviel gesagt, daß die utilitaristische Moralphilosophie nur noch dank der pietätvollen Konservierung in der ökonomischen Theorie in einigermaßen systematischer Form weiterlebt. - Die wirtschaftliche Dokrtinbildung kann man deshalb nur verstehen vom Standpunkt ihrer philosophischen Voraussetzungen. Das System der ökonomischen Theorie wurde zuerst auf rein naturrechtsphilosophischer Grundlage konstruiert, allmählich fühlte man das Lehrgebäude mit etwas utilitaristischer Philosophie. Es handelt sich dabei nicht um einen revolutionierenden Durchbruch eines neuen Denksystems, sondern nur um die Ergänzung und den Ausbau des ursprünglichen, wenigstens vom Standpunkt der ökonomischen Theorie. Es geschieht einfach, was wir soeben schon andeuteten: Der logische Abstand zwischen den äußersten normativen Prämissen und den praktischen Schlußsätzen wird vergrößert durch Einfügung zusätzlicher Gedankenglieder. BENTHAM wendete sich empört gegen den Zirkelschluß in dem naturrechtlichen Gedanken, daß etwas Recht ist einfach deshalb, weil es natürlich ist oder oft noch einfacher deshalb, weil es Recht ist, aber seine eigenen Arbeiten laufen nur darauf hinaus, den Zirkel etwas weiter zu machen. Der utilitaristische Einfluß erreicht seinen Höhepunkt zugleich mit dem Durchbruch der Grenznutzentheorie. Danach kann man beobachten, wie der Zirkel sich wieder etwas zusammenzieht. Der naturrechtliche Einfluß, der die ganze Zeit latent geblieben ist, macht sich wieder geltend und tritt besonders klar zutage, wo es gilt, den Gedankengang zu konzentrieren, z. B. in den populärwissenschaftlichen Arbeiten. In den Schriften, an denen heute der naturrechtsphilosophische Charakter am meisten hervortritt, besteht das utilitaristische Element nur noch in der lose angehängten Behauptung, daß der "natürliche" Zustand, die "Gleichgewichtslage" oder wie immer man die eingeführte Norm sonst umschrieben hat, "zu maximaler Bedürfnisbefriedigung führt". Der Sache nach, wenn auch nicht dem Wortlaut nach, findet sich dieser Satz schon bei manchem alten Naturrechtsgelehrten aus längst entschwundener Zeit. Gegen diese "Verflachung" reagieren natürlich die konsequenten utilitaristischen Theoretiker, und man kann ihren Verdruß wohl verstehen. Die praktische Nationalökonomie hat, sagt man, zu ihrer ersten Aufgabe, die "objektiven höchsten Normen" festzustellen und zu beweisen, auch wenn das ein schweres und mühsames Unternehmen ist, erst danach, und mit Hilfe dieser Normen kann man sich den aktuellen politischen Fragen zuwenden. Der Unwille über die Äußerlichkeit der Naturrechtsphilosophie ist ja zu allen Zeiten das tragende Pathos des Utilitarismus gewesen. (22) Der philosophische Konservatismus der ökonomischen Theorie ist die Erklärung für die allmählich eintretende Isolierung derselben. Die Darstellung dessen wird uns später eingehend beschäftigen. Ein Gesichtspunkt muß jedoch schon hier vorgetragen werden wegen seines allgemeinen Charakters und seiner großen Bedeutung. In der Entwicklung der wissenschaftlichen Doktrinen ist nicht zuletzt die "Macht des Wortes über den Gedanken" ein dominierender Faktor gewesen. Die ganze nationalökonomische Terminologie ist ja von Anfang an mit dem Denken in den naturrechtlichen und utilitaristischen Maximen verwoben. Die sprachlichen Formen, die die wissenschaftliche Tradition dem ökonomischen Theoretiker in seiner Arbeit erbietet, verstricken ihn bei jedem Gedankenschritt in die damit verbundenen Assoziationen und locken ihn ununterbrochen zu Wertsetzungen und Verhaltensvorschriften, statt voraussetzungslos zu beschreiben und zu erklären. Der dänische Nationalökonom, Historiker und Statistiker WESTERGAARD drückt das einmal wie folgt aus: "In einer Wissenschaft, wo zufällige Ausdrücke und Bilder so leicht vermeintliche Beweise schaffen wie in der Nationalökonomie, müßte man die Entstehung dieser Lehre weit zurückverfolgen können. Ein Ausdruck, der bei einem Autor eine gewisse gebräuchliche Anwendung erfährt, wird auch vom nächsten Autor benutzt, bis er feststeht als eine überkommene Ausdrucksweise, über deren tieferen Inhalt man nicht mehr weiter nachdenkt, geschweige denn sich kritisch gegenüber ihr zu verhalten." (23) Fast alle unsere Termini haben einen Doppelsinn: sie beziehen sich sowohl auf die Sphäre des Seins wie des Sollens. Betrachten wir ein Wort wie z. B. "Prinzip". Es bedeutet auf der einen Seite "Theorie" oder "Grundzug einer Theorie" oder "Arbeitshypothese innerhalb einer Theorie", "Theorie", dabei wieder verstanden als Idealbild objektiver empirischer Regelmäßigketen zur Erklärung eines Realzusammenhangs, z. B. wenn wir mit CASSEL die Preisbildungstheorie charakterisieren als ruhend auf dem "Knappheitsprinzip" oder wenn wir das System seiner simultanen Gleichungen abschließen mit einer Serie von Gleichungen, die wir unter der Bezeichnung "Kostenprinzip" zusammenfassen. Aber Prinzip bedeutet gleichzeitig "Ziel für ein bewußtes Streben" oder "hauptsächlichstes Mittel zur Erreichung eines postulierten Ziels". Wir sind mehr oder weniger alle so unter dem Druck normativ-teleologischer Vorstellungen erzogen, daß es nur schwer glückt, von den begrifflichen Schattierungen des Wortes unser Denken nicht beeinflußen zu lassen und einen Bedeutungswechsel zu vermeiden. Ein Abgleiten ist umso gefährlicher, da es eine Normativierung des Verhaltens ermöglich ohne Stütze in einer bewußten subjektiven Zwecksetzung, also ohne Wertpostulat. Ohne sich darüber klar zu sein, versucht man, die Objektivität des "Prinzips" im Sinne einer Norm zu stützen durch seine Objektivität als Theorie. Die Norm erhält den Anschein, in der "Natur der Sache" begründet zu sein. Das ist nichts anderes als der naturrechtliche Zirkelschluß. Eine von diesem Gesichtspunkt aus auch recht gefährliche Ausdrucksweise ist "Funktion" in einer Formulierung z. B. wie folgt: es ist die Funktion des Unternehmers, Risiken zu übernehmen oder Produktionsfaktoren zusammenzuführen oder die Produktion zu dirigieren. Wir benutzen hier ein teleologisches Bild ähnlich dem, das sich in biologischen Lehrbüchern findet, wo man sagt, daß es die Funktion des Herzens ist, der Motor des Blutsystems zu sein. Aber es liegt so verführerisch nahe, im ersten Fall fortzufahren: für die Erfüllung dieser Funktion erhält er ein Entgelt, den Unternehmergewinn, und es liegt weiter nahe, in der Tatsache, daß der Unternehmer diese Funktion wahrnimmt, eine Art genereller Rechtfertigung der betreffenden Preisbildungserscheinung zu sehen. Durch das an und für sich ganz unschuldige Wort "Funktion" gleitet der theoretische Gedankengang, wie die Literatur zeigt, gar zu leicht über in eine ganz andere Bahn. Wir bringen noch ein drittes Beispiel. Es läßt sich bildlich sehr wohl sagen, daß der Preis die "Aufgabe" erfüllt, die Nachfrage zu beschränken und das Angebot zu stimulieren, so daß Gleichgewicht entsteht. Eine solche Ausdrucksweise kann sich aus dem rein stilistischen Grund empfehlen, um damit der Darstellung eine größere Lebhaftigkeit zu geben. Aber vergißt man nur einen Augenblick, daß es sich dabei lediglich um eine Metapher handelt, so fügt sich dem Hauptsatz leicht ein äußerst gefährlicher Nebensatz an: wobei die Produktionsfaktoren ihrer wirtschaftlichsten Verwendung zugeführt werden. Ist man bis zu dieser nicht nur falschen, sondern streng genommen sinnlosen Formulierung gekommen, so wird die Sache nicht besser dadurch, daß man weiterhin postuliert, das Gesagte gelte nur "vom Standpunkt der auf dem Markt oder in der Gesellschaft keine "Wertung" - im Sinular! -, sondern es gibt stattdessen ebensoviele "Wertungen" wie tauschende Personen, wenn man schon mit Wertung den ganzen psychologischen Ursachenverlauf hinter dem preisbildungsmäßig relevanten Verhalten zusammenfaßt unter dem Aspekt der rückblickenden Rationalisierung dieses psychologischen Ursachenverlaufs und so das schließlich resultierende Verhalten als den gewollten Ausdruck eines bewußten Werturteils nimmt. Die "Wertungen" sind bedingt von der ökonomischen Lage, in der sich jeder einzelne befindet, und diese ist u. a. ihrerseits wieder mitbestimmt vom gesamten Preisbildungsprozeß, wie er gerade als Resultat dieser Wertungen faktisch abläuft. Außdem sind Wertungen als soche wissenschaftlich inkommensurabel. Es ist nicht zulässig, eine einheitliche, gesellschaftliche Wertsetzung in die wissenschaftliche Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen auf diese Weise einzuschmuggeln. Vielleicht noch gefährlicher sind solche Ausdrücke wie "Produktivität" oder "Effektivität", wenn man sie ohne die nötige Vorsicht gebraucht. Setzt man als Subjekt für diese Begriffe so etwas wie die gesellschaftliche Produktion oder die Gesellschaft als Ganzes, ohne eine logisch voll präzisierte Definition - z. B. eine statistische - hinzugefügt zu haben, die die Willkürlichkeit kennzeichnet, so besteht eine große Gefahr, daß man, ohne es richtig zu merken, in einen generell normativierenden Gedankengang hinübergleitet. Bis jetzt haben wir noch nicht die direkt normativen Zentralbegriffe berührt, die am besten gänzlich ausgemustert werden, da man sie kaum durch irgendeine vernünftige Definition für die ökonomische Analyse brauchbar machen kann: Nutzen, Wert in einem anderen Sinn als Tauswert, reale oder subjektive Kosten, gesellschaftlicher Nutzen, Nationaleinkommen im Sinne summierter subjektiver Nutzengrößen, geringstes gesellschaftliches Opfer, gesellschaftliche Wirtschaftsführung und viele andere, ganz zu schweigen von solchen wie: das nationalökonomisch Richtige, das Wirtschaftliche, das Naturliche, das Gerechte usw. Ein Nationalökonom kann nicht umhin, das Mißtrauen weiter Kreise gegen die Wissenschaftlichkeit seiner Wissenschaft festzustellen. Meines Erachtens ist dieses Mißtrauen sehr wohl verständlich. Ein Wissenschaftsbetrieb, in dem man es für manche Fragen zum Prinzip erhoben hat, mit einer Prämisse zu wenig zu arbeiten, ist ja etwas beunruhigend. Es gibt aber noch einen anderen Anlaß zum Mißtrauen, der auch dem großen Laienpublikum in die Augen fallen muß, ob sie etwas verstehen von moderner wissenschaftlicher Methode oder nicht. Das ist die ziemlich einzig dastehende Verwirrung der Meinungen zwischen den verschiedenen Autoritäten der Wissenschaft selbst, wenigstens in dem Teil der Nationalökonomie, der sich mit politischen Fragen beschäftigt. Diese Gegensätzlichkeit ist nahezu sprichwörtlich geworden. HJALMAR BRANTING, der bekannte schwedische Sozialistenführer, konnte sogar schreiben: "Mit der Nationalökonomie ist es etwas anders als mit den exakten Naturwissenschaften, wo das, was ein Forscher nachgewiesen hat, nicht von einem anderen angegriffen werden kann, weil das einfach Unkenntnis beweisen würde. Noch steht auf dem Feld der Nationalökonomie Schule gegen Schule, und die Zahl wirklich anerkannter allgemeiner Wahrheiten ist leider noch recht gering." (24) Der letzte Satz enthält eine unerhörte Übertreibung, wenn die rein wissenschaftliche Theorie mit unter das Urteil fallen soll, auf diesem Gebiet ist die Nationalökonomie doch schon ziemlich weit gekommen. Das Urteil ist aber voll zutreffend auf die an die Theorie angehängten politischen Doktrinen, die Wertlehre und die Prinzipien. Glücklicherweise sind wir hier in der Lage, an eine ausgezeichnete Darstellung WICKSELLs anknüpfen zu können. Als WICKSELL vor ungefähr einem Vierteljahrhundert seine Antrittsvorlesung an er Universität Lund hielt über das Thema "Ziele und Wege der Nationalökonomie" (25), begann er seine Darstellung mit dem Hinweis, daß man bisher in der Nationalökonomie noch nicht zu allgemein anerkannten Resultaten vorgedrungen sei, "ebensowenig wie in der Theologie und ungefähr aus denselben Gründen wie dort" (26). Wir können nicht einen einzigen Lehrsatz nennen, meint er, ohne daß nicht auch das diametrale Gegenteil von Autoren mit hohem Ansehen als wissenschaftliche Wahrheit verkündet würde. - Dieser Ausspruch enthält einen guten Kern Richtigkeit, und was schlimmer ist, WICKSELLs Worte passen ebensogut auf die wissenschaftliche Situation von heutzutage, mögen sich auch die Streitfraen auf andere sachliche Gebiete verschoben haben. Nun ist es gewiß wahr, fährt WICKSELLL fort, daß es auch in anderen Wissenschaften Meinungsverschiedenheiten gibt. Meinungsgegensätze sind natürlich und notwendig für das Fortleben der Wissenschaft. Die Erweiterung unserer Kenntnis geschieht unter einem ununterbrochenen Meinungsaustausch. Die Geschichte der Wissenschaft ist die Geschichte wissenschaftlicher Kontroversen. Aber auf anderen Gebieten pflegen solche Streitigkeiten doch zum Abschluß zu führen und ein Resultat zu erbringen. Wissenschaftliche Ansichten werden widerlegt, alte Hypothesen werden durch neue wieder ersetzt und die Marksteine gesicherter Erkenntnis immer weiter nach vor verlegt. Veraltete Auffassungen werden von der Tagesordnung gestrichen, wenn nicht früher, so spätestens, wenn ihre Vertreter von der Bühne abtreten, sie werden von der jungen Generation nicht wieder zur Verteidigung aufgenommen. Der Generationenwechsel bedeutet eine ständige Erneuerung und Zuführung neuer Lebenskraft. "Es hat Anhänger und Gegner des kopernikanischen Weltbildes, des NEWTON'schen Systems, der Lehre vom Blutumlauf, der Phlogistontheorie in der Chemie ... gegeben ..., es hat sie gegeben, aber es gibt sie nicht mehr, heute gibt es nur Anhänger oder Gegner, soweit nicht im letzteren Fall die ganze Theorie der Vergessenheit anheimgefallen ist." In der Nationalökonomie sind alle Doktrinen unsterblich, keine der neuen Theorien vermag jemals die alten gänzlich zu verdrängen. Die Verwirrung müßte eigentlich immer größer werden mit jeder neuen Leistung, die nicht nur rein epigonenhaft frühere Leistungen ausdeutet. "Die MALTHUS'sche Bevölkerungslehre ist mehr als hundert Jahre diskutiert worden, und doch sind wir nicht weiter gekommen. Nach wie vor gibt es Nationalökonomen, die eine ungehemmte Bevölkerungsvermehrung als das größte Unglück für ein Land ansehen, während andere sie für das größte Glück halten und jede Einschränkung für ein großes Unglück. Der Streit über die beste äußere Handelspolitik hat noch eine viel ältere Tradition, vor einem halben Jahrhundert schien er sogar entschieden zu sein; aber nein, er lebt wieder auf, und während einige Nationalökonomen für eine Auslösuchung der nationalen Grenzen in wirtschaftlicher Hinsicht eintreten, so daß die ökonomischen Ressourcen allen Völkern der Erde zur Verfügung stehen, so streben andere danach ..., diese Grenzen zu verschärfen und ihre Bedeutung zu erhöhen." (27) WICKSELLs Kritik ist treffend. Wir haben an WICKSELL angeknüpft, weil er die Frage nach dem Grund für diese Ausnahmestellung der Nationalökonomie in einer Weise beantwortet, die an einer durchaus typischen Halbheit krankt, typisch für die Vertreter der alten Schule überhaupt. Die mangelnde Klarheit in diesem Punkt ist auch nicht ohne schädliche Wirkungen geblieben auf WICKSELLs eigene schriftstellerische Leistung. Sucht man nämlich die wissenschaftlichen Irrtümer zusammen, die man in WICKSELLs im übrigen und als Ganzes genommen so glänzender Forscherleistung finden kann, so wird man, glaube ich, feststellen müssen, daß diese Fehler zum nicht geringen Teil bedingt sind durch eine unklare Auffassung gerade in den Fragen nach Zielen und Methoden der Nationalökonomie. Wir wenden uns nunmehr sachlich zu WICKSELLs Antwort auf die Frage nach dem Grund für die Verwirrung innerhalb der Nationalökonomie. Er weist zunächst darauf hin, daß die nationalökonomischen Probleme vergleichsweise schwer sind. Das ist ja richtig, doch sind sie wohl kaum schwerer als die Probleme, die der reinen Mathematik, der Kolloidchemie oder der Atomphysik gestellt sind. Da liegt es wohl näher, anzunehmen, daß die Forschung auf all den verschiedenen Gebieten die wissenschaftliche Front so weit gegen die Sphäre des Unbekannten und Unerklärten vorrückt, wie die in jeder Gelehrtenorganisation verfügbaren Intelligenzressourcen gestatten. WICKSELL mißt diesem Argument auch kein Gewicht bei. Die Ursache zu den mannigfachen Spaltungen in der nationalökonomischen Wissenschaft ist nach WICKSELL hauptsächlich in einer anderen Richtung zu suchen, nämlich in den "sich dauernd verschiebenden Auffassungen und dem mehr oder weniger lebhaftenn Gefühl für das, was der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Ziel sein soll." Danach erwartet ein Leser vielleicht den folgenden Schlußsatz in WICKSELLs Vorlesung: da nun das Übel in der verschiedenen politischen Einstellung der Forscher gelegen ist, so wäre also das radikale Heilmittel in einer wertfreien und voraussetzungslosen Forschungsweise zu suchen. WICKSELLs Schlußsatz ist aber statt dessen eine inhaltlich etwas dunkle Verteidigung für eine bestimmte politische Wertsetzung, für gerade seine Formulierung des Ziels der sozialen Entwicklung überhaupt. WICKSELLs sonst so klarer, logischer Stil wird hier übermäßig dunkel und schwer faßlich. Zum Schluß gibt er jedenfalls der Hoffnung Ausdruck, daß wir einst alle zu der Erkenntnis kommen werden, "daß unser Ziel hier auf Erden ist, allen das größtmöglichste Maß von Glück zu verschaffen, welcher Gesellschaftsklasse, Rasse, Sprache, welches Geschlechts und Glaubensbekenntnisses sie auch sein mögen." Wenn wir einmal dahin kommen, so glaubt WICKSELL, werden wir eine angenehme Entdeckung machen und die Überraschung erleben, daß Arbeit und Ergebnisse der ganzen nationalökonomischen Forschung gerade auf ein solches Gesellschaftsideal abgestellt sind. (28) Wohl niemand - und der Verfasser dieser Arbeit am allerwenigsten - spürt das Verlangen, diesen frommen Glauben und die persönliche Ehrwürdigkeit, die aus diesen Woren WICKSELLs spricht und seine ganze Lebensführung beherrscht, zu bespötteln. Die Skepsis aber möchten wir doch nicht verschweigen. Rein wissenschaftlich muß nämlich Verschiedenes angemerkt werden. Ein skeptisch eingestellter Sozialforscher könnte dem von WICKSELL aufgestellten Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung zunächst einen eindeutigen und begreifbaren Inhalt absprechen. Seine Wertsetzung ist ein so weit gesteckter begrifflicher Rahmen, daß sie alles ehrliche politische Streben in sich schließt, wie sehr es auch im einzelnen gegensätzlich sein mag. Es läßt sich ja auch sagen, daß letztes Ziel aller Politik das allgemeine Beste ist. Aber was ist damit gesagt? Ist es selbstverständlich, so ist es inhaltslos, ist es nicht inhaltslos, so ist es nicht selbstverständlich. Der Skeptiker könnte also seine Kritik fortsetzen und behaupten, soweit die WICKSELL'sche Formulierung in irgendeinerm noch so geringen Grad wirklich eine Abgrenzung ist und wirklich einen Begriff mit einem, wenn auch noch so schwachen Inhalt bezeichnet, so ist das Ideal damit seiner Selbstverständlichkeit entkleidet, und leider wird es trotzdem nicht viel eindeutiger, da die Formulierung auf jeen Fall noch ein recht widersprechendes Allerlei politischer Ansichten einschließt. Man kann nämlich geteilter Meinung sein, was das Glück des einzelnen wirklich ist. Weiter bestehen ja gewisse Schwierigkeiten, ein wissenschaftliches Maß für dieses Glück zu bekommen, und schließlich hat es seine Schwierigkeiten, diese Quantitäten von Glück zu einer Summe zusammenzustellen, deren Maximierung das Ziel alles politischen Strebens sein soll. - Gerade in den beiden zuletzt genannten Punkten hat man ja geglaubt, mit Hilfe der subjektiven Wertlehre der wirtschaftspolitischen Argumentation eine haltbare Grundlage zu geben. Wenn also, wie bei WICKSELL, die Formulierung der politischen Wertprämisse zu weit ist, um dieser einen eindeutig bestimmten Inhalt zu geben, und wenn sie weiter nicht irgendwie selbstverständlich und objektiv ist, so macht die Aufstellung der Wertprämisse auch die herrschende wissenschaftliche Verwirrung noch nicht unmöglich. Für WICKSELL persönlich hatte jedoch die Angabe seines sozialpolitischen Ideals einen ganz bestimmten Inhalt - das beweisen die bestimmten Schlußsätze, die er mit seiner Hilfe in verschiedenen wirtschaftspolitischen Problemen erlangte. Für ihn persönlich war diese politische Wertsetzung auch absolut und selbstverständlich, das ist das Wesen seiner Religiosität. Die wissenschaftliche Arbeit war für ihn ganz gewiß zu einem großen Teil ein Mittel, für die Verwirklichung seines persönlichen Ideals einzutreten. Aber in dem Grad, wie seine persönliche Moralität auf seine Forschertätigkeit abfärbte, verlor die letztere ihren streng wissenschaftliche Charakter, d. h. ihren Wahrheitsgehalt, ihre überzeugende Kraft auf gegen prinzipielle Meinungsgegner. das ist natürlich das Dilemma WICKSELLs als eines Gelehrten, gleich wie es unser aller Dilemma ist, wenn wir nicht ein für allemal beide Sphären trennen. WICKSELLs Vorschlag, eine Brücke zu schlagen zwischen der Welt der Werte und der Welt der Realitäten, ist deshalb eine unhaltbare Lösung des Problems "Politik und Wissenschaft", es ist eine Scheinlösung, zu der er selbst nicht immer das rechte Vertrauen hatte, wie aus seinen Schriften zur Genüge hervorgeht. Hier wird eine viel radikalere Trennung erforderlich. Das Problem ist nicht damit gelöst, daß man einfach statuiert, die Nationalökonomie als Wissenschaft soll voraussetzungslos sein, nur nach Erkenntnis und nicht nach allgemeinen politischen Normen streben. Über diesen allgemeinen Satz sind sich die Nationalökonomen seit etwa einem Jahrhundert ziemlich einig, aber man hat ihm verschiedenen Inhalt gegeben. Man kritisiert deshalb die politische Spekulation in der Nationalökonomie nicht mit Erfolg, indem man lediglich hervorhebt, daß sie nicht ohne Stütze in außerwissenschaftlichen Prämissen betrieben werden kann. Eine Kritik von dieser transzendentalen Natur ist nach mancherlei Erfahrung auf vielen verschiedenen Wissenschaftsgebieten niemals richtig überzeugend. Die wirtschaftspolitische Doktrinbildung wird stets betrieben in fester Überzeugung von ihrer Objektivität, von ihrer Unabhängigkeit von außerwissenschaftlichen Prämissen. der Grund dafür liegt in ihrer Natur als einer Rationalisierung psychologischer Realitäten. Wir stehen vor einer weitgehend systematisierten Vorstellungswelt, fest wurzelnd in allen Traditionen unseres Denkens, wirkungsvoll nicht zuletzt durch die Herrschaft über die ganze Terminologie, die innerhalb dieses Vorstellungskreises aufgekommen ist und von ihm ihre bestimmte Färbung erhalten hat. Die Tradition ist zäh und geschmeidig; die logische Unbestimmtheit, die wir heutzutage mit Rücksicht auf die äußersten philosophischen Voraussetzungen gelten lassen, macht es möglich, einen Kritiker mit den weitestgehenden "prinzipiellen" Zugeständnissen abzuspeisen, ohne daß man deshalb die eigentlichen Denkmethoden umzustellen für nötig hält. Bestenfalls streicht man noch ein paar nebensächliche, besonders flagrante Formulierungen. Die Denkmethoden selbst haben durch Alter und Herkommen allmählich gewissermaßen einen höheren Grad unmittelbarer Evidenz erhalten. Die Ausbildung in der Nationalökonomie geht ja in erster Linie darauf hinaus, "ökonomisch denken" zu lehren. Darunter versteht man, wie stets hervorgehoben, die Fähigkeit, die Erscheinungen mit schnellem und sicherem Blick unter gewisse logische Kategorien ordnen zu können. Die Wahl dieser Kategorien hängt natürlich letztlich von der wissenschaftstheoretischen Grundauffassung ab. Wenn man einmal gewöhnt ist, im Rahmen dieses in sich wohl durchdachten normativen Systemss zu denken, ist es äußerst schwierig, das System selbst gewissermaßen von außen zu sehen, ebenso wie es schwer sein muß, eine dritte Dimension zu ahnen für diejenigen Wesen, die nach EINSTEINs bekanntem Beispiel auf der Oberfläche einer Kugel zweidimensional leben. Man sieht dann eben nicht die prinzipiellen Voraussetzungen des Systems, d. h. seine Begrenzung. Die Ergebnisse erscheinen als unabhängig von allen außerwissenschaftlichen Prämissen, erscheinen mit anderen Worten wissenschaftlich. Darin liegt die Erklärung für die Tatsache, daß man heutzutage glaubt, an den grundlegenden gesellschaftsphilosophischen Argumenten vorbeigehen zu können, daß man auch dann, wenn man den Boden der Politik betritt, Unabhängigkeit von politischen Prämissen für die ökonomische Forschung in Anspruch nimmt. Je mehr das System der ökonomischen Theorie ausgebildet und verfeinert worden ist, große Mengen von Erkenntnisstoff in sich aufgenommen hat und nach verschiedener Richtung in den immer verwickelteren sozialen Verhältnissen angepaßt worden ist, in dem Grad, wie dieses System durch Tradition und manche erfolgreiche praktische Anwendung Ansehen gewonnen hat, in demselben Grad hat man es natürlich leicht gehabt, von den gesellschaftsphilosophischen Spekulationen loszukommen, die manchen seiner Sätze historisch zugrunde gelegen haben und noch heute zugrunde liegen. Eine solche Stellung wäre natürlich unmöglich gewesen zu einer Zeit, da die Pioniere unserer Wissenschaft in großen Strichen das allgemeine Schema der Nationalökonomie aufzeichneten. In einem solchen Schema konnten die "Prinzipien" nicht gut verborgen bleiben. Aus den angeführten Gründen muß eine Kritik viel tiefer gehen und das System möglichst von innen heraus angreifen. Die Haltbarkeit der Theorien muß zuerst von ihren eigenen Voraussetzungen aus geprüft werden. Es heißt, in diese ganze Vorstellungswelt eindringen. Es gilt, begriffliche Klarheit zu geben für die lange Kette von Voraussetzungen und Schlüssen, die einer bequemen nationalökonomischen Reduktionsformel zugrunde liegen. Nur eine in diesem Sinne immanente Kritik ist wirklich überzeugend. Die vorliegende Arbeit kann, wiewohl unter diesem Gesichtspunkt angelegt, nicht beanspruchen, diese immanente Kritik zu Ende durchgeführt zu haben. Obwohl die Analyse an manchen Punkten auf moderne wirtschaftliche Spezialdoktrinen zu sprechen kommt, ist sie doch hauptsächlich eine theoretische und historische Vorstudie zu einer mehr eingehenden theoretischen Detailkritik. Wir machen uns im folgenden die allgemeine doktrinhistorische Methode zu eigen. Wir geben eine kritische Diskussion der verschiedenen ökonomischen Anschauungen, ordnen sie nach ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge und ihren sachlichen Zusammenhängen und studieren sie sich so ergebende Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der methodischen Anschauungen in der zugrunde liegenden Philosophie. Dann ist diese Entwicklung in gewissem Sinne "erklärt". Es ist indessen die Frage, ob diese Entwicklung damit vollständig erklärt ist. Handelte es sich um eine rein wissenschaftliche Entwicklung, könnte diese Frage vielleicht bejaht werden, aber kaum für die politische Doktrinbildung. Es erhebt sich nämlich das Problem: Wie ist man gerade zu diesen oder jenen Ansichten gekommen? Dieses Problem wird noch akzentuiert dadurch, daß verschiedene Forscher oft gleichzeitig entgegengesetzte politische Ansichten wissenschaftlich begründen zu können geglaubt haben. In gewissem Sinne erreichen wir nun zweifellos auf für die politische Doktrinbildung eine historische Erklärung mit einer rein logisch kritisierenden Methode, deren Vorgehen wir soeben andeuteten. Gerade der Umstand, daß man eine logische Formulierung und eine wissenschaftlich stichhaltige Beweisführung anstrebt, bindet die politischen Ansichten mit größerer oder geringerer Festigkeit an den wissenschaftliche Apparat. Wir werden z. B. an verschiedenen Punkten nachzuweisen versuchen, daß sich in einem primitiveren naturrechtlichen Entwicklungsstadium der ökonomischen Theorie ein Konservatismus in Fragen des Privateigentums viel leichter wissenschaftlich umkleiden läßt als ein sozialrevolutionärer Radikalismus. Das ergibt sich aus gewissen rein formal-logischen Umständen. Vor allem die inhaltlich normativen Konstruktionen, die mehr den Charakter von Instrumenten politischer Doktrinbildung und niht von unmittelbaren konkreten politischen Wertsetzungen haben, lassen sich durch eine doktrinhistorische Analyse in höherem Grad endgültig erklären. Wir denken z. B. an die Wertlehre. Obwohl sie in älterer Zeit stark politisch gefärbt war, ist sie in ihrer modernen Ausgestaltung politisch ziemlich farblos. Sie ist zwar nach wie vor inhaltlich normativ, aber mehr instrumental für konkrete Normkonstruktionen, sie kann zur Anwendung kommen für den Aufbau verschiedenartiger politischer Doktrinen mit beträchlich variierendem konkreten Inhalt. Im allgemeinen wird aber der Einfluß der Logik, der Begriffsbildung und des formalen Apparats auf den konkreten Inhalt der politischen Doktrinbildung überschätzt. Da werden wohl ganz andere Faktoren von entscheidender Bedeutung. Die Männer, die die Doktrinentwicklung vorangetragen haben, sind nicht blutleere Denkmaschinen gewesen, die lediglich ein System fortentwickelt haben entlang den Linien, die in diesem System immanent beschlossen waren. Eine wirklich erklärende Analyse muß deshalb weit mehr in die Tiefe gehen. Die Sache kommt klar zum Vorschein bei der Behandlung einer politischen Doktrin konkreten Inhalts, wie z. B. in der Doktrin der Wirtschaftsfreiheit, dem Liberalismus. Dieser Forderung nach einer tiefergehenden Erklärung will man im allgemeinen begegnen mit dem Hinweis auf "die Zeitumstände". Die zeit, sagt man, arbeitet für diese oder jene Theorie, die Zeit kommt in diesen oder jenen Autoren zum Ausdruck. Die Genialität dieser oder jener Autoren sieht man manchmal geradezu darin, daß sie früher und vollständiger als andere sahen, was in ihrer Zeit vorging. Wieweit ihre Ansichten Beachtung finden, beruth oft auf der allgemeinen Zeitstimmung. Es gibt niemanden unter uns Nationalkönomen, der es bleiben lassen könnte, sich hier und da solcher Redensarten zu bedienen. Aber man mß sich natürlich bewußt bleiben, daß wir damit nichts anderes aussagen, als daß ein Zusammenhang besteht zwischen der einzelnen wissenschaftlichen Leistung und ihrem Milieu, ein Zusammenhang dessen Erklärung gerade Problem ist. Etwas tiefer gehen schon die Erklärungen, die auf die gleichzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse als erklärende Ursache verweisen. Die Entwicklung der technischen Produktionsbedingungen, sagt man z. B., hat das und das Stadium erreicht und erfordert und schafft damit die und die gesellschaftsphilosophischen Überzeugungen. Etwas Vernünftiges liegt schon in der Argumentation, obwohl sie gewiß nicht mit dem Problem ganz auf den Grund geht. Mancherlei Einwände lassen sich gegen die materialistische Geschichtsauffassung vorbringen. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist jedenfalls, daß es nicht angeht, irgendeinen Teil des historischen Ablaufs und am allerwenigsten den wirtschaftlichen Teil desselben vom Ganzen zu trennen. Institutionen, Konventionen und Überzeugungen sind gewiß nicht nur abhängige Variable in einem großen soziologischen Zusammenhang. Am allerwenigsten in die Tiefe gehen wohl die "wirtschaftlichen" Erklärungsversuche, die einzelne Punkte in der Situation des einzelnen Verfassers und seiner Persönlichkeit isolieren wollen, z. B. seine wirtschaftliche Lage. Die Differenzen der Auffassung von RICARDO und MALTHUS nicht nur über zollpolitische Fragen, sondern auch in ihren mehr zentraltheoretischen Anschauungen hat man z. B. zurückführen wollen auf die Tatsache, daß RICARDO ein jüdischer Bankier war, der sein Vermögen im Börsenhandel verdient hatte, während MALTHUS nähere persönliche Beziehungen zur englischen Grundbesitzerklasse hatte. So eine Psychologie ist wohl etwas zu einfach, um richtig zu sein. Es gibt heutzutage reichhaltiges Material in kulturhistorischen und wirtschaftsgeschichlichen Darstellungen, mit dessen Hilfe sich gewiß studieren ließe, wie denn die Bildung politischer Überzeugungen oder politischer Attitüden überhaupt zustande kommt, die ja auch der hier zu schildernden Doktrinentwicklung zugrunde liegt. Aber es ist größtenteils eben nur eine Frage des Materials. Man daraf es als gewiß nehmen, daß die politischen Attitüden der einzelnen Verfasser und noch mehr der Widerhall, den ihre Doktrinen im Publikum finden, aus Material der genannten Art erklärt werden kann. Das Problem ist aber ein verwickeltes psychologisches und dazu hauptsächlich sozialpsychologisches Problem. Es erfordert Untersuchungen von ganz anderer Art, als meistens angestellt worden sind. Man darf sich dabei nicht mehr zufrieden geben, lediglich eine Menge Daten aufzuweisen, die ganz offenbar miteinader in Zusammenhang stehen, und man darf sich nicht mehr lediglich an Parallelen und Analogien genügen lassen. Das Problem der politische Attitüden- und Doktrinbildung gilt vor allem der psychologischen Reaktion des einzelnen Gelehrten gegenüber einem sozialen Milieu und der Gegenreaktion dieses Milieus. In gewissem Grad werden, wie wir schon hervorgehoben haben, beide Arten von Reaktionen, vor allem aber wird die erste mitbestimmt durch einen unmittelbaren Einfluß von älteren und gerade gangbaren Theorien, Begriffssystemen, Prinzipien und anderen logischen Konstruktionen, also von einem Kreis von Erscheinungen, der Gegenstand unserer Diskussion im folgenden werden wird. In welchem Grad aber solcher Einfluß wirksam wird, die jeweilige Nuancierung und die Richtlinien für aufkommende Neubildungen, das beruth doch alles in der Hauptsache auf anderen ursächlichen Faktoren. Wir müssen uns gegen die Äußerlichkeit wenden, die darin liegt, daß man in der Doktrinentwicklung einen in sich geschlossenen Vorgang erblickt, vorangetragen lediglich von Ursachen, die aus ihm selbst heraus wirksam werden. Wir stellen uns aber ebenso ablehnend gegen die andere Äußerlichkeit, die die Doktrinentwicklung nur als ein direktes Ergebnis der äußeren wirtschaftlichen Entwicklung ansehen will. Es fehlt niemals an Zusammenhängen zwischen den beiden Entwicklungsprozessen, aber niemals ist der Zusammenhang einfach oder der Wirkungsverlauf einsgerichtet von der äußeren wirtschaftlichen Entwicklung zur Ideenentwicklung. Die Ideenentwicklung mitbestimmt selbst über Konventionen und legale Institutionen die äußere Wirtschaftsentwicklung. Bis hierhin liegt es ja ziemlich klar. Die letze Schwierigkeit liegt darin, daß der Zusammenhang innerhalb der Ideenentwicklung, zwischen ihr und verschiedenen Punkten der äußeren wirtschaftlichen Entwicklung, überhaupt der Zusammenhang aller Glieder über komplizierte psychologische Prozesse geht, die nur ausnahmsweise in Wort und Verhlaten zu voll bewußtem Ausdruck kommen. Bei einer in die Tiefe gehenden Analyse der wirtschaftlichen Doktrinentwicklung müßte man deshalb schon auf die verfeinerten analytischen Methoden zurückgreifen, die jetzt immer öfter in literaturhistorischen Untersuchungen zur Anwendung kommen. Die einzelne intellektuelle Leistung darf niemals ohne psychologische Deutung bleiben, ihre Ursachen und Wirkungen müssen mit der gleichzeitigen sozialen und kulturellen Entwicklung als ein integrierender Bestandteil derselben in einen soziologischen Zusammenhang gebracht werden. Wir haben dieses vorausgeschickt, um zu betonen, daß das Folgende eine recht äußerliche Darstellung wäre, wenn man sie als eine vollständige Erklärung der wirtschaftlichen Doktrinentwicklung ansehen wollte. Solche hat man vielmehr in soziologischen und psychologischen Prozessen zu suchen, die hier kaum angedeutet werden können. Im folgenden handelt es sich hauptsächlich nur um eine generalisierende Schildung der Doktrinen als solcher und eine rein wissenschaftliche Kritik ihres logischen Inhalts. Dagegen haben wir nur wenig zu sagen von den treibenden Kräften der Doktrinbildung, die außerhalb unseres Problemkreises bleiben müssen. Eine Schilderung der Zusammenhänge in der rein logischen Sphäre, gefolgt von einer theoretischen Kritik, kann jedoch, obwohl von einem tieferen Erklärungsgesichtspunkt aus stets unzureichend, an und für sich von Interesse sein. Wir werden nämlich in unserer Kritik Vorstellungselemente antreffen, die sich noch heute in denjenigen Teil unseres Weltbildes einschleichen, den wir auf reiner Erkenntnis der Wirklichkeit basiert glauben. Wenn es auch praktisch nicht ganz durchführbar ist, so können wir es doch gleichwohl zum Ziele unseres Erkenntnisstrebens machen, die allgemeine politische Attitüdenbildung von Rationalisierungen frei zu halten, die unser Weltbild verfälschen; freilich muß es dahingestellt bleiben, ob ein solches Ideal überhaupt als wünschenswert angesehen wird. Erkennt man es aber an, so kann der jeweilige Vorrat von Theorien und Begriffen gar nicht kritisch genug überprüft werden. Eine solche Überprüfung muß in erster Linie doktrinhistorisch sein. Besonders in der Nationalökonomie, wo ja nichts richtig alt ist und auch nichts richtig neu, ist die Doktringeschichte und Dogmenkritik ein wichtiges Stück bei jedem Versuch einer Feststellung dessen, was wir gegenwärtig für wahr halten, und der Art, wie wir denken, wichtig auch, um festzustellen, was und wie wir weiterhin denken dürfen, wenn wir uns nicht in wissenschaftliche Verwirrung verlieren wollen. Die wissenschaftstheoretische These, um die unsere Darstellung gravitiert, daß nämlich die Nationalökonomie als Wissenschaft "wertfrei" sein soll, war dunkel antizipiert, mindestens schon von der Zeit an, da die Physiokraten und ADAM SMITH den naturrechtlichen Gesetzesbegriff und die naturwissenschaftliche Gleichgewichtsvorstellung einführten. Nach einer langen Entwicklung ist diese These wieder von MAX WEBER aufgestellt worden mit einer Spitze gegen den "wissenschaftlichen Sozialismus" und die deutsche sozialpolitische Schule. Von MAX WEBER prinzipieller Auffassung weicht die unsere nur in einer Beziehung ab, die doch vielleicht wesentlicher ist, als es scheinen mag (29). In Schweden hat AXEL HÄGERSTRÖM mit großem Scharfsinn und originellem Denkvermögen eine Erkenntnistheorie entwickelt, die in noch tieferem Sinn kritisch ist als die MAX WEBERs und seiner Lehrer. Er hat als akademischer Lehrer Jahre hindurch auf die ganz jüngere Generation in Schweden einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt, und die vorliegende Arbeit verdankt somit auch ihm ihre Anregung. Der allgemeine Zusammenhang der ökonomischen Theorie mit der naturrechtlichen und utilitaristischen Philosophie liegt offen zutage und ist auch stets in jeder mehr in die Tiefe gehenden doktrinhistorischen Analyse beachtet worden. Die immanente Kritik der im einzelnen behandelten ökonomischen Theorien, die den Hauptteil des Buches ausmacht, ist im wesentlichen nur ein Versuch, ein fast schon Jahrhunderte alte Diskussion zusammenzufassen und zum Abschluß zu bringen. Vieles von dem, was wir über die klassische Wertlehre zu sagen haben, findet sich schon glänzend dargestellt bei SAMUEL BAILEY, dessen bedeutende Arbeit "A Critical Dissertation on the Nature, Measures and Causes of Value" (30) zwei Jahre nach RICARDOs Tod herausgegeben, aber durch die schon damals einsetzende Kanonisierung RICARDOs beiseite geschoben wurde und einer unverdienten Vergessenheit anheim fiel. - Die vormarxistischen Sozialisten in England richteten gegen den klassische Liberalismus eine Kritik von der Art, die wir heute institutionalistisch nennen würden. Diese Kritik wurde später direkt wieder aufgenommen von JOHN STUART MILL und den späteren englischen Nationalökonomen, in einer noch radikaleren Formulierung fand sie über MARX Eingang in die deutsche sozialpolitische Schule. In einer etwas veränderten Nuancierung wird sie heute von der institutionalistischen Richtung in der amerikanischen Nationalökonomie vertreten. - Die sozialistische Mehrwertlehre zieht die logischen Konsequenzen der Ricardianischen Realwertlehre - meines Erachtens handelt es sich gar nicht um ein grobes Mißverständnis von seiten der Sozialisten -, und die späteren Klassiker und Neoklassiker sorgen schon für eine richtige Kritik. Sie schrieben ja, wie schon CAIRNES hervorhob, stets mit einem gewissen Seitenblick auf die gefährlichen sozialistischen Lehrer, die in erster Linie widerlegt werden mußten, ein Ausspruch, den CAIRNES an die Adresse der französischen Nationalökonomie richtete, vor allem gegen J. B. SAY und BASTIAT, der aber auch für viele seiner Landsleute gilt. Die subjektive Wertlehre erfuhr schon bei ihrem ersten Hervortreten von den noch lebenden Klassikern und von den Historikern eine Kritik, die einen wesentlichen Kern Wahrheit enthält. - MENGER kritisierte treffend die "ethische Einstellung" der deutschen historischen Schule, während die Historiker ihrerseits mit Geschick das Wiederaufleben des "homo oeconomicus" in der österreichischen Schule kritisierten. - In der Steuerlehre kritisierten die Leistungsfähigkeitstheoretiker das alte Interesseprinzip, aber sie wurden selbst später von den Anhängern der Theorie des kleinsten Totalopfers treffend widerlegt usw. Die Schwierigkeit unserer Aufgabe liegt natürlich darin, daß diese verschiedenen kritischen Elemente sich nur vorfinden als Bestandteile anderer Gedankensysteme. Sehr weitgehend können wir beispielsweise der Kritik zustimmen, die von Theoretikern mit einem direkt entgegengesetzten Endziel vorgetragen worden ist. Wir denken dabei z. B. an HOBSON, der die Nationalökonomie auf eine konsequent normative Linie drängen wollte. Es ist im wesentlichen ein taktischer Vorteil, wenn wir darauf hinweisen können, daß alles, was wir zu sagen haben, weit zurückreichende Wurzeln in der Entwicklungsgeschichte der Wirtschaftswissenschaft hat. Mit Recht ist man in den Sozialwissenschaften mißtrauisch gegen alles, was in Prinzipienfragen von Grund auf neu sein will. Glücklicherweise laufen wir nur geringes Risiko, uns mit solchen Ansprüchen zu belasten, wenn wir auch ein hartes Urteil haben müssen gegen die verborgenen politischen Doktrinen, die auf dem Boden der ökonomischen Theorie allenthalben erwachsen sind. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß mit einer Anerkennung der prinzipiellen Kritik im folgenden nicht die Grundmauern der Nationalökonomie zusammenstürzen. Die normativ eingestellten Nationalökonomen haben unserer Wissenschaft einen schlechten Dienst geleistet, wenn sie versucht haben, ihre politischen Konstruktionen in das Zentrum unserer Wissenschaft zu stellen, z. B. die Wertlehre und den Begriff der Volkswirtschaft. Das hindert aber nichts an der Tatsache, daß die eigentliche Theorie nicht in irgendeinem Punkt erschüttert wird, wenn diese Konstruktionen verworfen werden. Auch die praktische Brauchbarkeit unserer Forschungsergebnisse wird damit in keinster Weise gemindert. Die Nationalökonomen, die der wirtschaftspolitischen Doktrinbildung kritisch gegenüberstehen, gehören nicht zu den Pessimisten, weder was konstruktive Theorie angeht, noch bezüglich ihrer praktischen Anwendbarkeit. Haben sie recht, so bedeutet ihre Kritik nur ein Ausmuster überflüssigen metaphysischen Ballastes, der die ökonomische Theorie schwerer zugänglich macht als sie sonst sein müßte, der eine Menge realistischer Problemstellungen verdeckt und so den wissenschaftlichen Fortschritt hemmt und schließlich wirklich praktische Leistungen in den stark politischen Fragen hindert.
1) Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, London 1844 2) An Introductory Lecture on Political Economy, London 1826 3) Artikel "Political Economy" in der Encyclopedia Metropolitana, London 1836, separat herausgekommen in zweiter Auflage, London 1850. - Ferner: Four Introductory Lectures on Political Economy, London 1852 und Industrial Efficiency and Social Economy, herausgegeben von LEVY, New York 1928. 4) MILL, Political Economy, 6. Auflage, London 1872, Seite 3 5) The Charakter and Logical Method of Political Economy, London 1857, Essays in Political Economy, Theoretical and Applied, London 1873 und Some Leading Principles of Political Economy, Newly Expounded, London 1874. 6) The Character and Logical Method of Political Economy, 3. Auflage, London 1888, Seite 34 7) a. a. O. Seite 32. Für dieses und die vorhergehenden Zitate vgl. auch die übrigen angeführten Arbeiten. 8) The Postulates of English Political Economy, in Economic Studies, posthum. ed., herausgegeben von HUTTON, London 1879, zitiert nach der 2. Auflage, London 1895. BAGEHOT sagt: "But the aim of that science is far more humble; it says these and these forces produce these and these effects, and there it stops. It does not profess to give a moral judgement on either; it leaves it for a higher science and on yet mor difficult, to pronounce what ougth and what ought not to be." (Seite 27) 9) Principles of Political Economy, London 1883 10) Scope and Method of Political Economy, London 1891 11) DAVID RICARDO, Principles of Political Economy and Taxation, London 1817, hg. von GONNER, London 1903, Vorwort zur ersten Auflage, Seite 1 12) JAMES MILL, Elements of Political Economy, London 1821, Seite 1f 13) JOHN STUART MILL, Lehrbuch der politischen Ökonomie, Heidelberg 1826 - 1837. 14) Vgl. hierzu SENIOR, Four Introductory Lectures, London 1852, Seite 57f und andere Stellen. 15) Die Unterscheidung zwischen "science" und "art" findet sich im gleichen Sinne übrigen auch bei BENTHAM, dem Hauptvertreter des Utilitarismus. 16) HENRY SIDGWICK, Principles of Political Economy with som of their applications to Social Philosophy, London 1848, zitiert nach Ausgabe ASHLEY, London 1920. 17) J. B. CLARK, Economics of Welfare, London 1920, Seite 5 18) NICOLAAS PIERSON, Principles of Economics, London 1902 - 1912, übersetzt aus dem Holländischen. Dieses und die folgenden Zitate sind aus seiner Einleitung. 19) Seine Hauptarbeiten auf diesem Gebiet sind die folgenden: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) und Wissenschaft als Beruf (1919). Sie sind jetzt zusammen mit anderen Aufsätzen in dem nach seinem Tod herausgegebenen Sammelwerk "Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre", Tübingen 1923, abgedruckt. 20) JOHN STUART MILL, Essays, London 1844, zitiert nach der 3. Auflage 1877, Seite 123, 125 und andere Stellen. Vgl. auch die zitierten Arbeiten SENIORs. 21) JEVONS, Theory of Political Economy, London 1877, zitiert nach der 4. Auflage, London 1911, Seite 267 22) Vgl. z. B. SIDGWICK, den letzten großen Systematiker des Utilitarismus, [...] Methods of Ethics, London 1874, zitiert nach der 6. Auflage, London 1901, Seite 375. In dem Zitat wendet sich SIDGWICK 23) WESTERGAARD, Den aeldre Nationalökonomis Opfattelse af de sociale Spörgsmaal, Kopenhagen 1896. Das Zitat im Text bezieht sich auf die Harmonielehre. 24) HJALMAR BRANTING, Samlade skrifter, Stockholm 1927, Seite 189 25) KNUT WICKSELL, Ekonomisk Tidskrift, Jahrgang 1904, Seite 457f 26) Sperrung von mir G. M. 27) Sperrungen von mir G. M. 28) Vgl. hierzu KNUT WICKSELL, Vorlesungen über Nationalökonomie auf Grundlage des Marginalprinzips, Bd. 1, Jena 1913 (hiernach einfach als "Vorlesungen" zitiert) Seite 3: "Die Lösung der erwähnten oft außerordentlich schwierigen Aufgabe (den Sinn und Inhalt des "nationalökonomischen Gesichtspunktes" anzugeben, oder festzustellen, was den "größten allgemeinen Nutzen" bringt. G.M.) wird natürlich in jedem besonderen Fall nicht nur von technisch-wirtschaftlichen Auseinandersetzungen, sondern auch vom Grad unserer Sympathie, d. h. unseres Verständnisses für die Interessen und Bedürfnisse anderer Menschen abhängen. Wenn man sagt, daß eine Sache "vom nationalökonomischen Gesichtspunkte aus" nützlich oder schädlich sei, so liegt dieser Redeweise tatsächlich ein ethisches oder philosophisches Postulat zugrunde, nämlich eine gewisse bestimmte Auffassung hinsichtlich der gegenseitigen Berechtigung der Menschen zum Leben und Lebensgenuß. Entweder sieht man hierbei alle Menschen als gleichberechtigt an und zählt also jedes Individuum, jedes Mitglied der Gesellschaft als eine Einheit, oder man stellt in dieser Beziehung aus einem oder dem anderen Grund einen Unterschied auf; diese Gründe müssen sich dann aber klar angeben lassen, falls von einer wissenschaftlich motivierten Ansicht die Rede sein soll." - Was WICKSELL hier mit "Gründen" meint, ist ziemlich unklar. in den schwedischen Auflagen seines Buches steht statt "Gründe" "Ursachen", und man fragt natürlich: wie kann eine Ursache oder die klare Angabe einer Ursache eine Ansicht motivieren? Forscht man nach Ursachen, so stößt man nur auf die psychologisch-emotionalen Prozesse, die für einen Außenstehenden offenbar niemals Motivationsgründe sein können. Meint WICKSELL aber nicht Ursachen in diesem Sinn, sondern wirklich Gründe, so übersieht er, was er gerade zu beachten glaubt, nämlich die letztlich rein subjektive Natur der politischen Attitüden. "Gründe" dafür sind schließlich nur von logischem Gesichtspunkt durchaus unbefriedigende Rationalisierungen. Der Grundfehler liegt in der Vorstellung, daß es möglich sein müsse, sich eine "wissenschaftlich motivierte Ansicht" zu bilden. Darum glaubt er, "Gleichheit" sei ein begrifflich eindeutiger Terminus und es handelt sich um ein "Verstehen" im intellektuellen Sinn. 29) Siehe unten Kapitel 8 und meinen Aufsatz "Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie", Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. IV, Heft 1, Wien 1933. 30) SAMUEL BAILEY, London 1825 (anonym) |