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Historischer Materialismus
HEINRICH RICKERT
Die Versuche, Geschichte nur als Wirtschaftsgeschichte und dann als Naturwissenschaft zu treiben, beruth, wie sich leicht zeigen läßt, auf einem Prinzip zur Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, das vollkommen willkürlich gewählt ist, ja ursprünglich einer total unwissenschaftlichen politischen Parteinahme seine Bevorzugung verdankt. Man kann das schon bei CONDORCET verfolgen und die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung, die nur das Extrem der ganzen Richtung bildet, ist dafür ein klassisches Beispiel. Sie hängt zum großen Teil von spezifisch sozialdemokratischen Wünschen ab. Weil das leitende Kulturideal demokratisch ist, besteht die Neigung, auch in der Vergangenheit die großen Persönlichkeiten als "unwesentlich" anzusehen und nur das etwas zu gelten lassen, was von der Menge kommt. Daher wird die Geschichtsschreibung "kollektivistisch". Vom Standpunkt des Proletariats oder vom Standpunkt den Theoretiker für den der Masse halten, kommen ferner hauptsächlich die mehr animalischen Werte in Frage, folglich ist das allein "wesentlich", was zu ihnen in direkter Beziehung steht, nämlich das wirtschaftliche Leben. Daher wird die Geschichte auch "materialistisch". Das ist dann keine empirische, nur theoretisch wertbeziehende Geschichtswissenschaft, sondern eine praktische wertende, gewaltsam und unkritisch konstruierende Geschichtsphilosophie.
Ja, die absolut gesetzten Werte sind hier so maßgebend, daß das für sie Bedeutsame in das allein wahrhaft Seiende verwandelt und daher alle andere als die wirtschaftliche Kultur bloßer "Reflex" geworden ist. Es entsteht also dadurch eine durchaus metaphysische Auffassung. die in formaler Hinsicht die Struktur des platonischen Idealismus oder Begriffsrealismus zeigt. Die Werte werden zum wahrhaft und allein Wirklichen gemacht. Nur der Unterschied besteht, daß an die Stelle der Ideale des Kopfes und des Herzens die Ideale des Magens getreten sind. Empfiehlt doch sogar der "Ideologe" LASSALLE den Arbeitern, ihr Wahlrecht als Magenfrage aufzufassen und daher auch mit der Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin zu verbreiten, weil es keine Macht gibt, die sich dem lange widersetzen würde. Man darf sich nicht darüber wundern, wenn von diesem Standpunkt aus die ganze menschliche Entwicklung schließlich als ein "Kampf um den Futterplatz" angesehen wird.
Hat man sich die Wertgesichtspunkte, auf denen der "historische Materialismus" beruth, einmal klargemacht, so sieht man, was von der Objektivität einer solchen Geschichtsschreibung zu halten ist. Sie ist vielmehr das Produkt der Parteipolitik als der Wissenschaft. Daß früher das wirtschaftliche Leben von den Historikern vielleicht allzu wenig beachtet wurde, soll nicht bestritten werden und als ergänzende Betrachtung hat die Wirtschaftsgeschichte gewiß ihren Wert. Jeder Versuch aber, alles auf sie als das einzig Wesentliche zu beziehen, muß zu den willkürlichsten Geschichtskonstruktionen gerechnet werden, die bisher überhaupt versucht worden sind.
LITERATUR, Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1926
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