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KENNETH E. BOULDING
Ökonomie als Wissenschaft

" In der Dichtung ist der Fall eines Blattes sehr einfach darzustellen, ungeachtet der komplexen Gefühle, die er zu erwecken vermag. Mathematisch gesehen ist der Fall eines Blattes so kompliziert, daß man auch heute noch nicht in der Lage ist, seinen Weg und seine Gesetzmäßigkeiten genau zu beschreiben."

In der Entwicklung des menschlichen Wissens, insbesondere auch der wissenschaftlichen Denkweise, hat die Mathematik eine zentrale Rolle gespielt. Dafür gibt es mehrere Ursachen. In erster Linie ist es der Mathematik gelungen, eine allgemein akzeptierte Sprache abstrakter Symbole zu schaffen, die eindeutig und unmißverständlich ist. Wenn ein Mathematiker den Argumentationen eines anderen Mathematikers folgt, so kann man fast sicher sein, daß der eine ohne einen Informationsverlust alle Vorstellungen des andern nachvollziehen kann. In der normalen Sprache dagegen gibt es insofern viel Ballast, als die Vorstellungen eines Sprechenden oder eines Schreibenden nicht unbedingt im Geiste des Hörers oder Lesers reproduziert werden, da dieser diese Kommunikation durch den Filter seiner eigenen Informationsverarbeitung aufnimmt.

Diese Ungenauigkeiten entstehen, weil Wörter, je nachdem in welchem Zusammenhang sie gebraucht werden, verschiedene Bedeutungen haben und nie ganz unabhängig von diesen Bedeutungen verstanden werden. Gerade diese Nuancen in den Bedeutungen verleihen einer Sprache, besonders der Dichtung, ihren Reichtum und die Fähigkeit, andere zu erfreuen. Aber diese Vielfalt der Bedeutungen stellt einen Hemmschuh dar, wenn es darum geht, einen bestimmten Aspekt der Vorstellungswelt eines Menschen unverfälscht an einen anderen zu übermitteln. Ein bedeutendes Werk der Dichtung berührt jeden anders; gerade das macht ja seine Größe aus. Aus diesem Grund ist die Dichtung auch zur Informationsübertragung ungeeignet. Auf der Ebene mathematischer Abstraktionen ist die Bedeutung der Symbole kaum umstritten. So kann z.B. x2 in keiner Sprache etwas anderes bedeuten, als daß etwas mit sich selbst multipliziert wird.

Die mathematische Sprache ermöglicht es, formale Modelle der Wirklichkeit zu formulieren, aus denen wiederum logisch unwiderlegbare Schlüsse gezogen werden können. Für den menschlichen Lernprozess ist diese Eigenschaft sehr wertvoll. Interpretiert man Lernen im wesentlichen als Entdecken und Eliminieren von Irrtümern in der Vorstellungswelt, d.h. in dem Bild, das man sich von seiner Umwelt macht, so ist ein Lernprozess eigentlich nicht denkbar, denn, wie HUME bereits vor langer Zeit aufgezeigt hat, können Bilder oder Vorstellungen immer nur mit Bildern oder Vorstellungen, nie aber mit der Wirklichkeit selbst verglichen werden. Der sogenannte Lernprozess führt jedoch gleichwohl über das Erkennen und die Korrektur von falschen Vorstellungen zur schrittweisen Annäherungen der Vorstellungen an die Wirklichkeit. Man entdeckt einen Irrtum, z.B. dann, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Eine Enttäuschung führt als solch noch nicht zu neuem Wissen. Man muß den Irrtum darüberhinaus noch ausfindig machen.

Die 'Alltagserfahrung', d.h. die Erfahrung mit den Dingen des täglichen Lebens, beinhaltet oft dermaßen vage Schlußfolgerungen und Erwartungen, daß man auf nicht erfüllte Erwartungen reagiert, indem man eher die Schlußfolgerungen, als die Vorstellungen über die Wirklichkeit verwirft. Der große Vorzug der Mathematik besteht darin, daß auf mathematischen Systemen beruhende Schlußfolgerungen, die logisch ableitbar sind, praktisch nicht verworfen werden können. Wenn sich Prognosen aus einem mathematischen Modell nicht erfüllen, ist man praktisch gezwungen, das Modell neu zu konzipieren. Wir können Fehlprognosen nicht einfach als falsche Schlußfolgerungen abtun. Es könnten allenfalls noch Beobachtungsfehler vorgelegen haben.

Man kann die Vorstellungen über die Zusammenhänge in der Wirklichkeit nur mathematisch formulieren, wenn diese Zusammenhänge tatsächlich gewissen Gesetzmäßigkeiten folgen, die der mathematischen Darstellung zugänglich sind. Die Vorstellungswelt unserer Phantasie, der Märchen und der Magie, ist eine Welt, die solchen Gesetzmäßigkeiten nicht unterliegt. In dieser Welt mit fliegenden Teppichen, Zauberstäben, Zauberhüten und ähnlichem mehr sind sogar die Gesetze der Physik aufgehoben. Vielleicht sollten wir auch froh sein, daß wir nicht in einer Phantasiewelt, sondern in einer Welt mit physikalischen Gesetzen, ja sogar biologischen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten leben. Im Unterbewußtsein erfährt das Kind schon sehr bald, daß es eine Gravitationskonstante gibt. Es lernt, daß es sich beim Hinfallen weh tut, daß es nicht allzu hoch springen und einen Ball nicht unbegrenzt weit werfen kann, usw. Ein Tennisspieler berücksichtigt eine beträchtliche Anzahl mechanischer Gesetzmäßigkeiten, die er unbewußt "kennt". Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, diese sehr vage empfundenen Gesetzmäßigkeiten dem Menschen bewußt zu machen oder in anderen Worten, die Parameter und Beziehungen, die Ausdruck dieser Gesetzmäßigkeiten sind, aufzuzeigen. Der wesentliche Beitrag der Mathematik zu dieser Aufgabe besteht in der Entwicklung von immer wirklichkeitsnäheren Modellen.

Ausgangspunkt für eine Theorie des freien Falles ist die näherungsweise Bestimmung der Gravitationskonstanten, die eine konstante Beschleunigung bewirkt und eben durch diese Beschleunigung gemessen wird. Diese konstante Beschleunigung entspricht der Gravitationskonstanten und beträgt 9,81 m pro Sekundenquadrat. Aus diesem Wert können wir die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers und den zurückgelegten Weg zu jedem Zeitpunkt ganz einfach errechnen. Bei Tests mit Körpern, die im Vergleich zu Oberfläche ein hohes Gewicht aufweisen, kann man festellen, daß dieser Wert ziemlich genau stimmt Bei Körpern, die im Vergleich zu ihrer Oberfläche leicht sind, wie Blättern oder Schneeflocken, trifft dieser Wert nicht zu. Um eine bessere Annäherung an die Realiät zu erzielen, muß man den Luftwiderstand miteinbeziehen. Nebenbei bemerkt erläutert dieses Beispiel eine Tatsache, auf die mich eigentlich ANATOL RAPOPORT aufmerksam gemacht hat; nämlich daß man lediglich durch eine empirische Untersuchung fallender Körper, wie z.B. Blätter und Schneeflocken, um nur einige zu nennen, diesem Gesetz scheinbar nicht gehorchen. Es wäre sehr schwierig gewesen, einen ersten Näherungswert für die Gravitationskonstante zu errechnen, wäre man nicht auf die Idee gekommen, den Fall von Kanonenkugeln in normaler Atmosphäre oder den leichterer Körper im Vakuum zu beobachten. Dies zeigt wiederum auf sehr subtile Weise die Bedeutung der Mathematik.

In der Dichtung ist der Fall eines Blattes sehr einfach darzustellen, ungeachtet der komplexen Gefühle, die es zu erwecken vermag. Mathematisch gesehen ist der Fall eines Blattes so kompliziert, daß man auch heute noch nicht in der Lage ist, seinen Weg und seine Gesetzmäßigkeiten seines Falles genau zu beschreiben. Einfach aufgrund der Unzulänglichkeiten der Mathematik werden wir zu Vereinfachungen gezwungen, was nichts anderes heißt, als daß man auf der Basis erster grober Näherungswerte zweite, dritte und weitere Annäherungen durchführt. Damit bewahrt man sich vor reinem Empirismus, also simplen Beobachten, Aufzeichnen und Klassifizieren aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten.

Von allen Sozialwissenschaften kann man behaupten, je weiter sie sich vom Menschen entfernen, um so abstrakter werden sie um so mehr erhalten sie den Anstrich der Wissenschaftlichkeit. Psychologiestudenten erfahren bald nach Beginn ihres Studiums, und oft zu ihrem Unbehagen, daß die Psychologie sich auch nicht näher mit dem Menschen befaßt, als die Ökonomie. Auch die Soziologie stützt sich auf sehr abstrakte Methoden. Wenn sich jemand wirklich mit Menschen befassen will, sollte er vielleicht die Sozialwissenschaften vollkommen vergessen und sich dem Literaturstudium widmen. Obwohl ich nicht einmal so sicher bin, ob man heute dort noch Menschen antrifft! Ich will Abstraktionen damit nicht als Buhmann aufbauen, denn sie sind durchaus nötig. Ich will nur davor warnen, Abstraktionen mit der Realität zu verwechseln. Nur Dummköpfe machen ihren Spaziergang auf der Landkarte. Aber andererseits kann sich eine Landkarte bei einem Spaziergang als sehr hilfreich erweisen.

Auch in den Sozialwissenschaften, besonders in der Ökonomie, zwingt uns die mathematische Ausdrucksweise zu Vereinfachungen. Darin liegt ihre Stärke als auch ihre Schwäche. Abstraktionen sind nie Wirklichkeit; die Wirklichkeit ist komplex und nie einfach. Damit besteht die große Gefahr, daß wir von der Eleganz unserer mathematischen Modelle so fasziniert werden, daß wir sie mit der Realität gleichsetzen. Diese Gefahr existierte in der theoretischen Ökonomie aber bereits zu einer Zeit, als die Mathematik noch keinen Eingang in die Ökonomie gefunden hatte. Schon die ökonomischen Modelle der Klassiker wiesen ein hohes Abstraktionsniveau auf. Diese Abstraktionen waren ihrem Gehalt nach mathematisch, wenngleich sie verbal dargestellt wurden. Diese Modelle haben vielleicht wegen ihrer literarischen Ausdruckskraft und der Eleganz der verwendeten Sprache so sehr Eingang in die Gedankenwelt der Menschen gefunden, daß sehr oft vergessen wurde, die Modelle zu revidieren und der Wirklichkeit anzupassen. In dieser Beziehung bewahrt uns vielleicht der Puritanismus der Mathematik, das Fehlen von Vielfalt, Schattierungen und Untertönen in ihrer Ausdrucksform davor, Modelle der Wirklichkeit, die zwar brauchbar, aber zugleich ungenau sind, überzubewerten.

Andererseits birgt die Mathematik die Gefahr in sich, daß ihre Kunstfertigkeiten für Schlußfolgerungen und Manipulationen dazu führen können, daß das Interesse an der Wirklichkeit verloren geht. So gesehen stellt sie ein großes Hindernis für die Fortentwicklung des Wissens dar. Es gibt dazu eine Geschichte: Ein Physiker, ein Chemiker und ein Ökonom wurden gemeinsam auf eine einsame Insel verschlagen. Sie hatten zwar eine Dose mit Lebensmitteln, jedoch keinen Dosenöffner. Um die Dose öffnen zu können, konstruierten sowohl der Physiker als auch der Chemiker ein kompliziertes und geniales Werkzeug, der Ökonom sagte einfach: "Angenommen, wir hätten einen Dosenöffner!" Die Mathematik baut notwendigerweise auf Annahmen auf. In den Anwendungsgebieten der Mathematik wird die Versuchung groß, mit unrealistischen Annahmen zu operieren und auf diese Annahmen aufbauend eine Kette von Schlußfolgerungen zu ziehen, die so kompliziert sind, daß die daraus resultierenden Ergebnisse allein durch die Eleganz der Argumentation bestechen. Man vergißt dabei leicht, daß eine Kette von Schlußfolgerungen uns nicht näher an die Wirklichkeit heranführen kann, als die zugrunde liegenden Annahmen.

Im großen und ganzen besteht heute wohl kein Zweifel darüber, daß die Mathematik auf die Ökonomie einen großen Einfluß ausgeübt hat. Die Ökonomie ist und bleibt eine Mischung aus Mathematik und etwas, das wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks als "Nichtmathematik" bezeichnen können. Was Mathematik ist, wissen wir recht gut. Weit schwieriger ist es, den Rest zu definieren, ohne die Ökonomie nicht Ökonomie, sondern lediglich eine Teildisziplin der Mathematik wäre. Meines Wissens hat die Ökonomie keinen einzigen Beitrag zur reinen Mathematik geleistet und kann keineswegs als Bereich der reinen Mathematik verstanden werden. Alle in der Ökonomie angewandten mathematischen Hilfsmittel wurden von Mathematikern und nicht von Ökonomen entwickelt.

Für den mathematischen Ökonomen sind alle Güter im wesentlichen identisch. Für ihn existieren sie nur als Abstraktionen. Die Schriften großer Ökonomen, besonders die Arbeiten von Adam Smith, vermitteln sowohl die praktischen, wirklichkeitsnahen Seiten der Güter - Fleisch ist fleischig, Stahl stählern, Salz salzig, Arbeit anstrengend und sogar der typische Geldcharakter des Geldes bleibt bei ihm erhalten - als auch die mehr abstrakten Eigenschaften dieser Güter. Im Gegensatz zum Mathematiker muß der Ökonom die Fähigkeit besitzen, nicht nur die Abstraktionen, sondern auch die den Abstraktionen zugrunde liegenden Tatbestände zu verstehen. Gelingt ihm das nicht, ist es sehr wahrscheinlich, daß die Konkretisierungen der Abstraktionen aus einem Modell keinerlei Wirklichkeitsbezug hat.

Und nicht zuletzt darf der Ökonom, will er sein Fachgebiet tatsächlich beherrschen, vor allem nie vergessen, daß die Ökonomie nur Abstraktionen ganz bestimmter Tatbestände aus der Vielfalt des menschlichen und sozialen Lebens darstellt. Die vernachlässigten Teile und die Elemente, von denen nicht abstrahiert wird, können im weiteren sehr wohl Schwierigkeiten bereiten und die elegant formulierten quantitativen Beziehungen zwischen abstrakten Größen durcheinander bringen. Mit der Verwendung der Mathematik erkauft man sich die einfache Handhabung mit einem Verzicht auf inhaltliche Komplexität. Vergißt man diese Kosten, was sehr leicht passiert, so führt man gerade die Umgänglichkeit des Modells unausweichlich auf Abwege. Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, daß alle Bereiche der angewandten Mathematik wunderbare Diener, aber schlechte Herren sind. Sie dienen sogar so vorzüglich, daß sie oft zu ungetreuen Haushaltern avancieren und schließlich versuchen, den Platz des Herrn an sich zu reißen.
LITERATUR - Kenneth E. Boulding, Ökonomie als Wissenschaft, München 1976