ra-2 Franz BleiLujo Brentano    
 
JEAN BAPTISTE SAY
Darstellung der Nationalökonomie

"Wie wenige besondere Tatsachen sind vollständig bewährt! Wie äußerst wenige sind mit allen ihren Nebenumständen beobachtet worden! Und selbst unter der Voraussetzung, daß sie tüchtig bewährt und tüchtig beobachtet seien, wie wenige darunter beweisen etwas: ja wie wenige beweisen nicht das Gegenteil von dem, was man dartun wollte! Die Kenntnis von Tatsachen, ohne die Kenntnis ihrer Verbindungsverhältnisse, ist weiter nichts als der unverdaute Notizenkram eines Buchhalters: ja selbst der bestunterrichtete Buchhalter kennt selten mit Vollständigkeit mehr als eine einzelne Reihe von Tatsachen: so daß er auf alle Fragen nur einseitige Auskunft zu geben vermag."

Vorrede des Übersetzers

Das Werk, welches ich hier in deutscher Sprache abzuspiegeln strebte, bedarf meiner Lobpreisung nicht. Gleich nachdem es im Jahre 1803 zum erstenmal, in weit minder vollkommener Gestalt, aus der Hand seines Urhebers hervorgegangen war, hat der laute Beifall des gebildeten Europa über dessen Wert entschieden. Seit der Umgestaltung der Nationalökonomie durch ADAM SMITH hatte man nur sehr wenige Lehrbücher dieser Wissenschaft erlebt, worin sich alle deren bisher verteidigte Grundsätze so vollständig zusammengestellt und mit so vielen neuen Ansichten bereichert gefunden hätten.

Schon  dieses  Verdienst würde hingereicht haben, nach dem einstimmigen Urteil der größten Sachkenner: eines LÜDER, KRAUS, JAKOB, STORCH, SIMONDE SISMONDI, RICARDO, JOSE QUEYPO u. a., dem Verfasser seinen Rang unter den ersten Schriftstellern dieses Fachs zu sichern; aber er verband damit ein  anderes,  worin er als unerreichtes Vorbild glänzt und was ihn allein zum Lehrer aller kultivierten Stände unseres Erdteils erheben konnte - das Verdienst der lichtvollsten Klarheit, Gedrängtheit und Popularität.

Mit lebhaftem Interesse vernahm hier der  Landwirt,  der  Kaufmann,  der  Manufakturist  und der  Rechtsgelehrte  zum erstenmal die Sprache der Allverständlichkeit aus dem Mund einer Wissenschaft, deren wahrer Beruf es ist, nicht bloß ihrem Priester bei nächtlicher Studierlampe Orakel einzuflößen, sondern eine Vertraute der Fürsten, eine Lehrerin der Völker und eine Dolmetscherin der Weltgeschichte zu sein.

Im Gefühl der hohen Wichtigkeit einer solchen Erscheinung huldigen auch zahlreiche Professoren und Veteranen der Nationalökonomie, vom Tajo bis zur Wolga, öffentlich SAYs klassischen Darstellungstalent, indem sie teils mit rühmlicher Selbstverleugnung dessen neue Methode adoptieren, teils dessen Werk häufig empfahlen und stellenweise in ihre Vorträge wörtlich verwebten, teils endlich dasselbe in ihre verschiedenen Muttersprachen übertrugen. Die Verpflanzung desselben auf deutschen Boden übernahm Herr Staatsrat von JAKOB im Jahr 1807 und zwar mit so glücklichem Erfolg und zu so allgemeinem Dank des vaterländischen Publikums, daß meine jetzige Bearbeitung höchst überflüssig erscheinen müßte, wenn nicht unser gemeinschaftliches Original unterdessen an Vollkommenheit unendlich sich selbst übertroffen und nicht eine völlig neue Gestalt angezogen hätte.

Allein es haben inzwischen unser Verfasser, unsere Nationalökonomie, unser Staatensystem und unsere Völker eine Periode durchlaufen, die für ihre Ausbildung von allumfassender Wichtigkeit war.

Durch den rastlosen Argwohn eines lichtscheuen Usurpators sah sich SAY von seinem Tribunatsposten verstoßen; ein politischer Obskurantismus begann, sich über des Kontinents blühendste Reiche zu lagern; die Industrie bestand einen langjährigen Vernichtungskampf mit den unersättlichen Forderungen einer zahllosen Soldateska; der Handel krümmt sich in den Fesseln eines widernatürliche Sperrsystems; die Produktion jeder Gattung wurde durch Abschaffung der Leibeigenschaft und des Zunftzwangs, durch Domänenverkauf, Prämienausschreibung und ein zweckmäßigeres Auflagensystem von der einen Seite gehoben, um sogleich auf der anderen durch Monopole, Regien, Vexationen [Quälereien - wp] aller Art, überschwengliche Konskription [Aushebung von Soldaten - wp], Besteuerung, Konfiskationen und Kriegsverheerung wieder umso tiefer hinabgedrückt zu werden: und während die Regierungen des Kontinents bei verarmenden Völkern zum Teil in Zwangsanleihen ihre Rettung suchen mußten, erblickte man die britische Nation, trotz des kolossalen Drucks ihrer wachsenden Staatsschuld, in fortschreitendem Wohlstand.

Diese ungeheure Schule der Erfahrung hat unseres Verfassers reifer Beobachtungsgeist zur Vervollkommnung seiner Einsichten und seines vorliegenden Werkes benutzt: während er zugleich durch Anlegung einer Manufaktur von 400 Arbeitern in einem armseligen Dorf Gewerbefleiß und Wohlstand erschuf und auf solche Art die segensvollen Wahrheiten seiner Theorie auch praktisch bestätigte. Die wichtigsten Schriften der nationalökonomischen, politischen und geographischen Literatur aus jener inhaltsschweren Periode hat er sorgfältig untersucht, angeführt und beurteilt; sämtliche Einwürfe - selbst die seichtesten und hinfälligsten, welche ihm schriftlich und mündlich gegen seine Lehrsätze opponiert worden waren, hat er mit musterhafter Herablassung, Bündigkeit und Klarheit widerlegt; und sich der gespannten Aufmerksamkeit selbst des oberflächlichen Lesers besonders dadurch versichert, daß er den mannigfaltigen Geist der Staatsverwaltungen neuerer Zeit, gehörigen Ortes, charakterisiert und würdigen lehrt.

In so ungleich vollkommenerer Gestalt und umso sehr viel reicher ausgestattet gab der Verfasser sein lang unterdrücktes Werk im Jahr 1814, während der Anwesenheit der verbündeten Monarchen, in Paris unter die Presse und legte es zu den Füßen ALEXANDERs, des mächtigen Beförderers aller Wissenschaft und Kultur.

Reißend vergriff sich diese neue Ausgabe des mit Ungeduld erwarteten Lehrbuchs und der Verfasser sah sich fast unmittelbar zur Veranstaltung einer dritten aufgefordert. Zur Vervollkommnung von Letzterer dienten dem berühmten Weisen die Beobachtungen, welche er inzwischen auf einer Reise durch England und Schottland gesammelt, die Unterredungen, welche er mit den ausgezeichnetsten Männern in Großbritannien und Frankreich - namentlich auch mit unserem großen Landsmann WILHELM von HUMBOLDT - geführt, und die Resultate der gesamten neuen Literatur dieses Faches, worunter vorzüglich die geistvollen Vorlesungen des Herrn Staatsrat HEINRICH von STORCH in Petersburg gehören.

So erschien, mit neuen und bedeutenden Verbesserungen, zu Anfang des laufenden Jahres 1817 die dritte Ausgabe unseres Werkes, mit einem Gepräge von Popularität, Gediegenheit und Vollendung, wofür ihrem Verfasser der höchste Lohn werden wird, wonach er gleich seinen unsterblichen Landsmännern MONTESQUIEU, BUFFON, LAVOISIER und LAPLACE gerungen hat - der Name "Lehrer des Menschengeschlechts."

Soviel glaubte ich über Geist und Geschichte meines Originals vortragen zu müssen. Zur Charakteristik meiner Übersetzung scheinen wohl folgende kurze Zeilen zu genügen. Durch ein zehnjähriges Studium der Nationalökonomie dünkte ich mir hinlänglich zu dieser Dolmetschung vorbereitet zu sein; möglichste Deutlichkeit und Treue war mein unverbrüchliches Gesetz; von ausländischen Kunstwörtern nahm ich nur solche auf, die der deutsche Sprachgebrauch entschieden adoptiert hat; durch die Einteilung in Paragraphen suchte ich das Werk zum akademischen Gebrauch bequemer zu machen; und die einzelnen Anmerkungen, womit ich den Text begleitete, haben größtenteils dessen nähere Erläuterung zur Absicht.

Mögen die Genien des Wahren und Guten dem gemeinnützigen Zweck dieser Arbeit eine wohlwollende Aufnahme bereiten!

CARL EDUARD MORSTADT

Einleitung

§ 1. Die Vervollkommnung jeder Wissenschaft ist
von genauer Bezeichnung ihrer Grenzen abhängig.

Keine Wissenschaft macht früher wahre Fortschritte, als es uns gelungen ist, mit Genauigkeit das Feld und das Ziel ihrer Forschungen abzustecken: denn sonst greift man da und dort ein Paar von ihren Wahrheiten auf, ohne deren Verkettung zu erkennen und eine Menge von Irrtümern, ohne deren Falschheit zu entdecken.

Lange hat man die eigentlich sogenannte  Politik  - die Wissenschaft der Staatenverfassung, mit der Nationalökonomie vermengt, welche lehrt, wie die Reichtümer erzeugt, verteilt und konsumiert werden. Gleichwohl stehen die Reichtümer in wesentlicher Unabhängigkeit von der Staatsorganisation. Unter jeder Regierungsform kann die bürgerliche Gesellschaft gedeihen, wenn nur die Verwaltung gut ist. Man hat Nationen reich werden sehen unter unumschränkten Monarchen; und andere verarmen sehen unter Volks-Senaten. Wirkt die öffentliche Freiheit günstiger auf die Entwicklung der Reichtümer; so erfolgt dies ebenso mittelbar, wie sie auch günstiger auf den Unterricht wirkt.

Wer die Grundsätze der besten Regierungsform und die Prinzipien aller Staats- und Privatbereicherung zum Gegenstand gemeinschaftlicher Untersuchungen zusammenzwängte, hat die Ideen begreiflicherweise nur verwirrt, statt sie aufzuklären. Diesen Tadel verdient STUART, der sein erstes Kapitel überschrieben hat:  Von der Regierung des Menschengeschlechts;  diesen Tadel verdient die Schule der  Physiokraten durch fast alle ihre Schriften; und JEAN-JAQUES ROUSSEAU, in der Enzyklopädie.


§ 2. Wie sich die Nationalökonomie von der Politik unterscheidet.
Ableitung ihres Namens.

Mich dünkt, daß man erst seit ADAM SMITH diese Wissenschaftskörper anhaltend unterschieden habe: indem der Name  Nationalökonomie  oder  Staatswirtschaft  (1) unserer Lehre von den Reichtümern vorbehalten blieb; hingegen der Titel  Politik  oder  Staatswissenschaft,  der Lehre von den Verhältnissen der Regierung zum Volke und der verschiedenen Regierungen gegeneinander.

§ 3. Wie sie sich von der Landwirtschaft,
den Künsten und dem Handel unterscheidet.

Hatte man nun einmal bei Gelegenheit der Nationalökonomie, solche Abschweifungen in die reine Politik gemacht; so wähnte man sich noch weit dringender verpflichtet, dergleichen auch in die Gebiete der Landwirtschaft, des Handels und der Künste vorzunehmen, in denen die wahren Quellen der Reichtümer liegen, worauf die Gesetze eine bloß zufällige und mittelbare Einwirkung äußern. Wie viele Auswüchse entstanden nicht seitdem! Denn sobald zum Beispiel der Handel einen Zweig der Nationalökonomie vorstellt, so bilden auch alle Arten des Handels solche Zweige: folglich der Seehandelt, folglich die Schifffahrt, die Geographie - und wo dürften wir enden? Alle menschlichen Kenntnisse greifen ineinander. Daher strebe man, die Endpunkte ihrer Berührung und die Gelenke ihrer Verbindung genau zu erforschen. Man gewinnt hierdurch eine schärfere Kenntnis von jedem ihrer Glieder, man erfährt, wo dieses sich anschließt und eben hierin liegt stets ein Teil seines eigentümlichen Wesens.

Die Nationalökonomie untersucht den Landbau, den Handel und die Künste einzig nach deren Verhältnis zur Vermehrung oder Verminderung der Reichtümer, ganz unbekümmert um die Handgriffe ihrer Ausübung. Sie weist die Fälle nach, wo der Handel wahrhaft produktiv ist; die Fälle, wo er dem Einen bloß das abwirft, was er dem Andern entrissen hat und diejenigen wo er Nutzen stiftet für Alle; sie lehrt sogar jede seiner Maßregeln würdigen: aber lediglich nach deren Resultaten. Hier ist ihre Grenze. Was der Kaufmann sonst noch lernen muß sind die Verfahrensregeln seines Gewerbes. Er muß den Gegenstand seines Umsatzes - die Waren kennen, deren Tugenden und Fehler, den Ort woher man sie bezieht, die Werte, womit er sie eintauschen kann und die Form seiner Buchführung.

Dasselbe gilt vom Landwirt, vom Manufakturisten, vom Staatswirt: sie alle bedürfen des Unterrichts der Nationalökonomie, um die Ursache und die Resultate der Erscheinungen zu erkennen und jeder mauß, um geschickt in seinem Fach zu werden, das Studium der Verfahrensregeln seiner Kunst damit verbinden.

SMITH hat auch keineswegs diese verschiedenen Gegenstände der Untersuchung vermengt; allein so wenig er selbst als seine Nachfolger, haben sich vor einer anderen Art von Verwirrung gehütet, die eine Auseinandersetzung erforderlich macht. Die Aufschlüsse, welche dadurch zu gewinnen stehen, können für die Fortschritte der menschlichen Erkenntnisse im Ganzen, so wie für unsere vorliegende Wissenschaft im Einzelnen, nicht ohne Nutzen bleiben.

In der Nationalökonomie, wie in der Naturlehre und wie überall, hat man Systeme gezimmert, bevor man Wahrheiten aufgestellt hatte: weil sich leichter ein System erbauen, als eine Wahrheit entdecken läßt. Allein unsere Wissenschaft teilte den Vorteil der musterhaften Methoden, wodurch mehrere andere so hoch emporgeblüht sind, und sie hat sichtbare Fortschritte gemacht, seitdem sie bloß genau beobachtete Tatsachen und die strengen Folgerungen aus diesen Tatsachen anzunehmen begann: denn dadurch werden alle Vorurteile und Machtsprüche ausgeschlossen, die im Reich des Denkens wie des Handelns, in der Literatur wie in der Staatsverwaltung, sich zwischen den Menschen und die Wahrheit hineindrängen.


§ 4. Wie sie sich von Statistik unterscheidet.
Seitenerörterung über die allgemeinen und besonderen Tatsachen.
Beide fließen aus der Natur der Dinge.

Allein noch hat man vielleicht nicht genau genug bemerkt, daß es zweierlei Gattungen von Tatsachen gibt. Wir haben  allgemeine  oder  bleibende Tatsachen und  andere  die  besonders  oder  veränderlich  sind. Die allgemeinen Tatsachen sind die Resultate aus der Natur der Dinge in allen ähnlichen Fällen; die besonderen entspringen zwar gleichfalls aus der Natur der Dinge; aber sie sind das Resultat mehrerer Kräfte, die gerade in einem einzelnen Fall wechselseitig durcheinander beschränkt waren. Beiderlei Tatsachen sind gleich unwiderlegbar, sogar da, wo sie sich zu widerstreiten scheinen: denn trotz dem allgemeinen Gesetz der Physik, daß schwere Körper zur Erde fallen, sehen wir doch unsere Springquellen in die Luft steigen. Die besondere Tatsache des Springquells ist ein Resultat vom Eingriff des Gleichgewichtsgesetzes in das unzerstörbare Gesetz der Schwere.

Für den Gegenstand, welcher uns beschäftigt, bildet die Kenntnis dieser zweifachen Klasse von Tatsachen zwei verschiedene Wissenschaften: die  Nationalökonomie  und die  Statistik  (2)

Die Erstere zeigt uns, mit steter Hinweisung auf scharf beobachtbare Tatsachen, welches die Natur aller Reichtümer sei. Aus dieser Kenntnis von deren Natur entwickelt sie die Mittel ihrer Erzeugung: sie zeichnet die Bahn, welche die Reichtümer in ihrer Verteilung durchlaufen und die Erscheinungen, welche deren Vernichtung begleiten. Sie ist die Zusammenstellung der  allgemeinen Tatsachen,  welche sich auf diesem Gebiet beobachten lassen: sie ist, in Beziehung auf die Reichtümer, die Kenntnis von den Wirkungen und Ursachen. Sie zeigt, welche Tatsachen sich mit Notwendigkeit verketten: so daß die eine stets die Folge der anderen ist, und zeigt die Gründe dieser Verkettung. Allein sie sucht ihre Erklärungen nicht länger in willkürlichen Voraussetzungen; sondern man soll rein aus der Natur jedes Gegenstandes begreifen, warum die Verkettung sich gebildet habe: von Gelenk zu Gelenk muß die Wissenschaft uns führen, so daß jeder gesunde Kopf zuletzt klar überschauen kann, wie diese Gelenke sämtlich ineinander greifen. Hierin besteht die Vortrefflichkeit unserer heutigen Methode.

Die Statistik schildert den Stand der Produktionen und Konsumtionen eines besonderen Ortes, in einem angegebenen Zeitraum, so wie den Stand seiner Bevölkerung, seiner Macht, seiner Reichtümer und das Verhältnis der gewöhnlichen Vorfälle (3), die sich daselbst ereignen und abschätzen lassen. Sie ist eine Zusammenstellung  besonderer Tatsachen,  und zwar füglich bin in deren kleinstes Detail.

Zwischen der Nationalökonomie und der Statistik herrscht derselbe Unterschied, wie zwischen Politik und Geschichte.

Unstreitig bedarf jede von beiden der mächtigen Unterstützung der anderen. Unmöglich kann man die Staaten aus dem ökonomischen Standpunkt mit Erfolg beobachten, solange man die allgemeinen Tatsachen mißversteht, woraus alle einzelnen Tatsachen, die man aufgesammelt hat, hergeleitet und zusammengesetzt sind, das heißt, solange man in den Prinzipien der Nationalökonomie ein Fremdling ist. Ebenso unmöglich gelangt man zu einer gründlichen Kenntnis dieser Prinzipien, bevor man allgemeine Schlüsse aus einem Heer von einzelnen, durch die Statistik gesammelten, Tatsachen gezogen hat: und hierin liegt ohne Zweifel der Grund, warum man sie bis auf diese Stund vermengt sah. SMITHs Werk ist nichts als ein verworrener Vorrat der gesundesten, mit lichtvollen Beispielen unterstützten, Grundsätze der Nationalökonomie und der merkwürdigsten, mit lehrreichen Betrachtungen durchflochtenen, Angaben der Statistik; aber eine vollständige Abhandlungen ist es weder von der einen, noch von der anderen Wissenschaft; sondern ein gewaltiges Chaos treffender Ideen und positiver Nachrichten, bunt durcheinander.


§ 5. Oft ist die Statistik ein Gewerbe von
unzuverlässigen und stets von unvollständigen Tatsachen.

Unsere Kenntnis von der Nationalökonomie kann sich zur Vollständigkeit erheben, das heißt, wir können zur Entdeckung sämtlicher allgemeiner Tatsachen gelangen, deren Inbegriff diese Wissenschaft bildet: unserer Kenntnis von der Statistik hingegen ist dieses Los für immer mißgönnt. Die Statistik, gleichwie die Geschichte, ist immer eine Darstellung mehr oder weniger unsicherer und notwendig unvollständiger Tatsachen. Über die Statistik der Vorzeit und entlegener Länder lassen sich nur abgerissene und sehr unvollkommene Versuche liefern. Was aber unsere Mitwelt betrifft, so findet sich gar selten ein Mann, welcher mit einem tüchtigen Beobachtungsgeist das Glück eines günstigen Standpunkts zur Beobachtung verbindet. Die Nachlässigkeit der Berichte, worin man Auskunft suchen muß, das rastlose Mißtrauen gewisser Regierungen, ja der Privatleute, böser Wille und Sorglosigkeit türmen unseren Bemühungen um die Aufsammlung genauer Partikularitäten oft unüberwindliche Hindernisse entgegen: und gelänge es uns auch sie aufzuschöpfen; so blieben sie doch nur auf einen Augenblick wahr. Deswegen bekennt ADAM SMITH, daß er nicht sonderlich an die politische Arithmetik glaube, welche nichts weiter als die Zusammenstellung mehrerer statistischer Angaben ist.

Im Gegensatz hiervon ruht die Nationalökonomie auf unerschütterlichen Fundamenten, wofern nur die Prinzipien, welche ihr als Grundlage dienen, strenge Folgerungen aus unstreitigen allgemeinen Tatsachen sind. Freilich sind die allgemeinen Tatsachen auf die Beobachtung besonderer Tatsachen gestützt; allein man konnte ja unter allen besonderen Tatsachen die bestbeobachteten, die bestbewährten und von uns selbst wahrgenommen auserwählen; und wenn alsdann stets gleichförmige Resultate hieraus entsprungen sind und eine gediegene Beurteilung nachweist, woher diese Gleichförmigkeit rühre und wenn sogar die Ausnahmen als Bestätigung anderer, gleich stark bewährter, Prinzipien erscheinen; so ist man berechtigt, diese Resultate für zuverlässige allgemeine Tatsachen auszugeben und sie mit Zuversicht der Kapelle all derer zu überantworten, welche dieselben einer neuen Prüfung unterwerfen wollen.


§ 6. Wie man durch Tatsachen
irre geführt werden kann.

Eine neue besondere Tatsache, wenn sie verbindungslos dasteht und wenn keine Beurteilung ihren Zusammenhang mit denen ihr zugeschriebenen Wirkungen nachweist, genügt nicht, um eine allgemeine Tatsache verdächtig zu machen: denn wer steht uns dafür, daß kein unbemerkter Nebenumstand die Verschiedenheit erzeugt habe, welche zwischen deren beiderseitigen Resultaten obwaltet? Wenn ich eine Flaumfeder sich in der Luft umherwiegen und geraume Zeit darin spielen sehe, bevor sie zur Erde sinkt: werde ich hieraus schließen, daß das Universalgesetz der Schwere für diesen Flaum nicht gelte? Mein Schluß wäre irrig. In der Nationalökonomie gilt die allgemeine Tatsache, daß der Zinsfuß des Geldes umso höher steige, je mehr der Ausleiher befürchtet, sein Zinskapital nicht zurück zu empfangen. Darf ich auf die Falschheit dieses Grundsatzes schließen, wenn ich bei irgendeiner gefahrvollen Gelegenheit einmal zu niedrigem Zins ausleihen sah? Dem Ausleiher konnte ja seine Gefahr unbekannt sein; Dankbarkeit oder Furcht konnten ihm ein Opfer abnötigen; allein das allgemeine Gesetz, wenngleich in diesem besonderen Fall gestört, würde seine volle Herrschaft ausgeübt haben, sobald jene Ursachen der Störung hinweggefallen wären. Kurz, wie wenige besondere Tatsachen sind vollständig bewährt! Wie äußerst wenige sind mit allen ihren Nebenumständen beobachtet worden! Und selbst unter der Voraussetzung, daß sie tüchtig bewährt und tüchtig beobachtet seien, wie wenige darunter beweisen etwas: ja wie wenige beweisen nicht das Gegenteil von dem, was man dartun wollte!

So gibt es überall keine abenteuerliche Meinung, die nicht mit Tatsachen belegt worden wäre (4) und so hat man durch Tatsachen von jeher die Regierung irre geführt. Die Kenntnis von Tatsachen, ohne die Kenntnis ihrer Verbindungsverhältnisse, ist weiter nichts als der unverdaute Notizenkram eines Buchhalters: ja selbst der bestunterrichtete Buchhalter kennt selten mit Vollständigkeit mehr als eine einzelne Reihe von Tatsachen: so daß er auf alle Fragen nur einseitige Auskunft zu geben vermag.

Sehr grundlos setzt man Theorie und Praxis einander entgegen. Was ist denn die Theorie anderes, als die Kenntnis der Verbindungsgesetze zwischen Ursachen und Wirkungen, das heißt zwischen Tatsachen und Tatsachen? Wer kennt die Tatsachen gründlicher als der Theoretiker, welcher sie aus allen ihren Gesichtspunkten auffaßt und ihre gegenseitigen Verhältnisse durchschaut? Und was ist die Praxis? (5) ohne Theorie, oder mit anderen Worten, die Anwendung von Mitteln, ohne Einsicht wie und warum dieselben wirken? Nichts als ein gefährlicher Handwerksgang, worin man dieselben Methoden auf entgegengesetzte Fälle anwendet, die man für gleichartig hält und worin man unwillkürlich zu einem Ziel gelangt, das man gerade vermeiden wollte.


§ 8. Die Schulsysteme (im schlimmen Sinn des Wortes) sind Lehrgebäude,
die auf unvollständigen oder schlechtbeobachteten oder zu falschen Folgerungen
mißbrauchten Tatsachen beruhen.

So sah man seit der Wiedergeburt der Wissenschaften und der Aufklärung in Europa fast allenthalben das Handelssperrsystem regieren, und sah dauernde und immer fortwachsende Auflagen, bis zu entsetzlichen Summen, über gewisse Nationen verhängen. Weil man aber zugleich dieselben Nationen wohlhabender, volkreicher und mächtiger erblickte, als sie zur Zeit ihrer Handelsfreiheit und fast gänzlichen Steuerfreiheit gewesen waren; so schloß der Pöbel, daß eben darum ihr Reichtum und ihre Macht sich emporhebe, weil man ihre Industrie mit Fesseln umgürtet und das Einkommen der Einzelnen mit Auflagen beschwert habe; und der Pöbel ließ es sich nicht ausreden, daß diese seine Ansicht auf Tatsachen gegründet sei, während er jede abweichende Meinung ein windiges und abenteuerliches Schulsystem schalt.

Dennoch ist es sehr einleuchtend, daß die Verteidiger der entgegengesetzten Meinung eine mannigfaltigere und gründlichere Kenntnis der Tatsachen haben als der Pöbel. Sie wissen, daß das sehr entschiedene Aufsprossen der Industrie in den italienischen Freistaaten des Mittelalters und in den Hansestädten des europäischen Nordens, daß das Schauspiel von Reichtümern, welches diese Industrei den Ersteren und Letzteren verschafft hatte, daß die von den Kreuzzügen bewirkte Erschütterung, daß die Fortschritte der Künste, der Wissenschaften und der Schifffahrt, daß die Entdeckung der Straße nach beiden Indien und nach dem Kontinent von Amerika, nebst einer Menge anderer, minder bedeutender, Umstände die wahrhaften Ursachen sind, woraus die Vervielfältigung der Reichtümer der geistreichsten Nationen des Erdballs entsprang. Sie wissen, daß wenn man gleich dieser Tätigkeit nach und nach Hemmketten anlegte, doch auf der anderen Seite weit peinlichere Fesseln von ihr zersprengt wurden. Die sinkende Macht der Barone und Herren vermochte nicht länger die Verbindung von Provinz mit Provinz, von Staaten mit Staaten, zu verhindern; die Landstraßen wurden besser und sicherer, die Gesetzgebung fester; die freigelassenen Städte hingen fernerhin nur von der königlichen Macht ab, die in deren Aufblühen ihren eigenen Vorteil sah; und diese Freilassung, welche durch die Macht der Verhältnisse und das Fortschreiten der Zivilisation auch auf das offene Land ausgedehnt war, genügt, um die Produkte der Industrie zum Eigentum ihres Produzenten zu machen; die Sicherheit der Personen fand in Europa die nötige allgemeine Gewährschaft, wenn auch nicht in guten Staatsverfassungen, so doch in den öffentlichen Sitten; gewisse Vorurteile, wie die Idee von Wucher, welche am Zinsdarlehen und die Idee von Adel, welche am Müßiggang klebte, gingen zu Grabe. Aber noch mehr: gute Köpfe haben nicht bloß diese Tatsachen, sondern auch den Einfluß vieler anderer verwandter Tatsachen, erwogen; sie haben gefühlt, daß durch die Untergrabung der Vorurteile das Fortschreiten der Wissenschaften und die Erkenntnis der Naturgesetze befördert, daß durch diese Wissensfortschritte das Aufblühen der Industrie begünstigt und durch die Blüte der Industrie der Reichtum der Nationen erhöht worden sei. Durch eine solche Zusammenstellung waren sie in den Stand gesetzt, mit mehr Sicherheit als der Pöbel zu schließen, daß wenn mehrere neuere Staaten mitten unter Hemmnissen und Auflagen zu Wohlstand gelangt sind, - dieses Glück nicht kraft der Auflagen und Hemmnisse, sondern vielmehr trotz dieser Ursachen der Entmutigung errungen sei und daß der Wohlstand eben dieser Staaten, unter einer aufgeklärteren Gesetzgebung, noch weit höher gestiegen sein müßte (6).

Die Ergründung der Wahrheit setzt daher nicht die Kenntnis von vielen, sondern nur von den wesentlichen und wahrhaft einwirksamen Tatsachen voraus; ferner deren Beobachtung aus allen Gesichtspunkten und vorzüglich ihre Benutzung zu bündigen Folgesätzen; und die Versicherung, daß die ihnen zugeschriebene Wirkung in der Tat aus ihnen und aus keiner sonstigen Quelle entspringe. jede andere Tatsachenkenntnis ist ein Vorrat, woraus sich nichts schöpfen läßt - eine Almanachsbildung. Allein man übersehe ja nicht, daß eben die Sammler eines solchen windigen Besitztums, Leute von hellem Gedächtnis und finsterem Verstand, welche gegen die gediegensten Wissenschaften, die Früchte einer umfassenden Erfahrung und einer gereiften Urteilskraft, deklamieren, welche jedesmal ein Hohngeschrei über das Schulsystem erheben, so oft man aus ihrem Alltagsgeleis herausschreitet, mit dem allerbuntesten Kram von Schulsystemen behängt sind, deren Verteidigung sie mit der Halsstarrigkeit des Dummkopfs führen, das heißt mehr in der Furcht vor Überwindung, als im Verlangen nach Wahrheitserkenntnis.
LITERATUR - Jean Baptiste Say, Darstellung der Nationalökonomie oder der Staatswirtschaft: enthaltend eine einfache Entwicklung, wie die Reichtümer des Privatmanns, der Völker und Regierungen erzeugt, verteilt und konsumiert werden. Erster Band. Heidelberg 1818
    Anmerkungen
    1) SAY hat nur den einzigen Namen  Economie politique  und macht darüber folgende Note: "Er stammt her von  oikos,  Haus und  nomos,  Gesetz. Mithin: Gesetz über das Haus - das Innere: das Beiwort  politique  dehnt dies auf die ganze bürgerliche Gesellschaft - auf die Nation aus. Das Wort Haus umfaßt hier unser gesamtes Vermögen und unter Vermögen ist alles zu verstehen, was zu unserem Wohlsein beiträgt. Man sehe über die Bedeutung dieser Ausdrücke, XENOPHON, zu Anfang seines Oekonomikus. Trotz dieser Erklärung will ich das Uneigentliche der Bezeichnung nicht bergen und wenn ich sie vorzugsweise, statt anderer, weit treffenderer, Namen wie z. B.  Onelogie  (Erwerbslehre) oder  Chrematonomie  (Reichstumswissenschaft) beibehielt; so geschah es nur dem Sprachgebrauch zu Ehren." - In Deutschland kursiert eine dreifache Übersetzung dieses französischen Kunstausdrucks, nämlich  Staatsökonomie, politische Ökonomie  und  Staatswirtschaft,  neben dem neuerlich gangbar gewordenen Titel  Nationalökonomie  (Nationalwirtschaftslehre). Diesem Letzteren gab ich nach JACOBs Beispiel den Vorzug: weil allein er den weiten und reinen Begriff unserer Wissenschaft anzudeuten scheint: während die drei ersteren Namen vielmehr den Prinzipien von der Verwaltung des bloßen Regierungsvermöges, das ist der Finanzwissenschaft, entsprechen.
    2) Vom lateinischen  Status  - Staat, Zustand
    3) Zum Beispiel die Summe der jährlichen Auswanderungen, Verbrechen, Werbungen, Zivilprozesse, Feuerschäden, Kunstausstellungen, Priesterweihen - ja sogar der Selbstmorde.
    4) Frankreichs Minister des Innern rühmt sich in seinem Bericht von 1813 in einer Epoche der Mißverhängnisse, wo der Handel zerstört war und die Hilfsquellen jeder Gattung zusehends vertrockneten,  mit Ziffern  erwiesen zu haben, daß Frankreich auf einer Stufe der Wohlfahrt stehe, dergleichen es zuvor noch niemals genossen.
    5) Unter dem Wort  Praxis  verstehe ich nicht die eingeübte Körpergewandtheit, wodurch man besser und leichter ein Alltagsgeschäft verrichtet: das Talent eines Tagelöhners oder Schreibers; sondern ich bezeichne damit die Methode, welche der Obervorsteher - der Verwalter des Gemeinwesens oder eines Privatgeschäfts befolgt.
    6) Hieraus erhellt sich auch, warum die Nationen fast niemals Vorteil aus der Schule der Erfahrung schöpfen. Die Bedingung dieses Vorteils wäre die Einsicht des großen Haufens in die Verknüpfung zwischen den Ursachen und Wirkungen: eine Einsicht, welche nicht geringe Aufklärung und große Überlegungskraft voraussetzt. Wären die Nationen fähig die Erfahrung zu benutzen, so bedürften sie auch keiner Erfahrung mehr: der gesunde Menschenverstand würde ihnen genügen. Hierin liegt einer der Gründe, weshalb eine unaufhörliche Leitung ihnen Not ist und wodurch das hohe Problem der Staatswissenschaft so wichtig wird:  unter den Menschen, so wie sie sind, ihre aufgeklärtesten Geister zur Oberherrschaft emporzuheben.  Dieses Problem erscheint am wichtigsten dem, welcher weiß, daß gerade die aufgeklärtesten Regierungen auch am gründlichsten überzeugt sind, es sei ihr eigener Vorteil, gemäß dem Vorteil der Untertanen zu regieren. Ihre Unerfahrenheit, ihre Leidenschaften und ihre Vorurteile sind ihnen selbst, so wie den Nationen verderblich.