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GUNNAR MYRDAL
Wertbegriff und Wirtschaftsführung
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Die erkenntnistheoretische Bereinigung ist vonnöten, um die Politik wirklich zu rationalisieren, d.h. vor allem, die Politik von der rationalistischen Chimäre zu befreien.

Die sozial wissenschaftliche Forschung durchlebt gegenwärtig eine kritische Übergangszeit. Es handelt sich u.a. darum, allenthalben und endgültig nur soviel von dieser Forschungsrichtung zu verlangen, wie sie erkenntnistheoretisch leisten kann. Es gilt, mit voller Klarheit die Grenze zu ziehen zwischen "Sein" und "Sollen", zwischen Urteilen auf der einen Seite, denen man das Attribut "wahr" oder "unwahr" beilegen kann, und Werturteilen auf der anderen Seite.

Solange man, oft unbewußt, wissenschaftliche Fakten und politische Ideale, Theorien und Ideologien vermengt, wird die gegenwärtige hoffnungslose Begriffs- und Meinungsverballhornung auch weiterhin herrschend bleiben. Viel spekulative Begabung und dialektisches Talent wird auf fiktive Probleme und auf einen Streit um Worte nutzlos vergeudet.

In den Diskussionen, die rein wissenschaftlich sein sollten und auch den Anschein haben, es zu sein, diskutiert man in Wahrheit und ohne es zu merken schon um Wertideologien. Dadurch wird die rein wissenschaftliche Problemstellung verfälscht und eine logische Verwirrung muß die Folge sein.

Aber auch die Diskussion der Wertideologien selbst leidet darunter und bewegt sich auf einem tieferen Niveau, als nötig wäre. Allzuoft muß sie der Unterlagen entbehren, die ihr von einer wissenschaftlichen Forschung der relevanten Ursachenzusammenhänge geliefert werden könnten. Immer wieder muß man feststellen, daß die politische Diskussion von der Wissenschaft her geradezu einen schädlichen Einfluß erfährt. Sie übernimmt zuviel von der Mentalität jener wissenschaftlichen Rationalisierung politischer Glaubensbekenntnisse, die z.B. die liberalistische Nationalökonomie charakterisieren, sowohl in der klassischen wie in der neuklassischen Schule.

Man bedient sich derselben Art steriler "Beweise" für das, was "gesellschaftlich nützlich" oder "dem Wohle des Landes dienlich" ist, Beweise, an denen man um so hartnäckiger festhält, da sie scheinbar rein rationelle Schlüsse aus selbstverständlichen Vordersätzen darstellen. Die ideenpolitische Diskussion zeigt dieselbe Vorliebe für logische Formeln und axiomatische Zauberworte und täuscht sich mit diesen bedenklichen intellektuellen Prozeduren einen rein rationellen und streng sachlichen Charakter der eigenen Gedankenführung vor. Die poltische Diskussion zeigt somit gewisse Züge, welche sie zuweilen zu einer Karikatur der wissenschaftlichen Diskussion in denselben Fragen machen.

Hier bedarf es einer konsequenten erkenntnistheoretischen Grenzziehung. Sie ist in erster Linie vonnöten, um der wissenschaftlichen Forschung selbst den Weg zu neuer Erkenntnis frei zu machen. Wer unbefangen sieht, wird seine Verwunderung nicht unterdrücken können über den augenscheinlich sterilen Charakter, der der nationalökonomischen Forschung eigen ist auf einigen der wichtigsten Gebiete, die sich mit der praktischen Politik berühren, z.B. in der Finanzlehre.

Die erkenntnistheoretische Bereinigung ist weiterhin vonnöten, damit die ökonomische Forschung so angelegt werden kann, daß sie wirklich den Erfordernissen des politischen Lebens dient, d.h. die Wirklichkeitsauffassung von Irrtümern freimacht, auf Grund deren sich die politischen Werturteile bilden. Der Grenzziehung bedarf es schließlich, um die Politik wirklich zu rationalisieren, d.h. im vorliegenden Falle vor allem, die Politik von der rationalistischen Chimäre zu befreien.

Früher hat man, wie bekannt, nicht einmal einen Versuch gemacht, diese Grenzlinie klar zu ziehen. Man hatte auch keinen Grund dazu, da man der Überzeugung war, des politischen Problems ganz und gar mit Hilfe des Denkens Herr werden zu können. Eine Staatstheorie war ein  mixtum compositum  von Beobachtungen, Reflexionen und Wertsetzungen. Eine Theorie der "freien Konkurrenz" war nicht nur eine wissenschaftliche Erklärung dafür, wie die ökonomischen Verhältnisse sich gestalten würden unter gewissen angegebenen Voraussetzungen. Sie war gleichzeitig eine Art Beweisführung, daß dies preisbildungsmäßigen Voraussetzungen zu "maximaler Produktion", "größtmöglicher Bedarfsbefriedigung" führen würden und daß es sich deshalb rein a priori um ein politisches Desideratum handele.

Die Forschung war gewissermaßen schieläugig: sie sah mit einem Auge auf die wissenschaftlich beobachtbare Wirklichkeit und mit dem anderen auf den "gesellschaftlichen Nutzen", "das allgemeine Beste" oder welchen Ausdruck immer man fand für die Vorstellung von etwas, das rein objektiv wünschenswert, "wirtschaftlich" sein sollte.

Allmählich sind gewisse Voraussetzungen geschaffen worden, die die Forderung nach einer methodisch durchgeführten, streng wissenschaftlichen Grenzziehung stützen. Die Forderung wurde zuerst immer bestimmter von der allgemeinen Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre geltend gemacht. Die Grenzziehung ist weiterhin dringlicher geworden, je mehr unser empirisches Erkenntnismaterial gewachsen ist und je größer der Teil der ökonomischen Forschun wird, der es mit Gewinnung, Ordnung und theoretischer Analyse dieses Beobachtungsmaterials zu tun hat.

Schließlich vereinbart sie sich auch mit der größeren Skepsis gegenüber rationalen Argumenten in politischen Fragen, die heutzutage herrscht und die unsere Zeit gegenüber früheren Jahrhunderten kennzeichnet.

Es besteht ein allgemeines Bedürfnis dafür, eine Konversation in sozialen Fragen über die Grenzen der politischen Überzeugungen hinweg führen zu können. Solche Diskussion muß sachliche Frage angehen, die letzten Wertsetzungen dagegen können nur postuliert, nicht logisch kritisiert werden. So ist von verschiedenen Seiten aus eine gemeinsame Front geschaffen worden gegen die soziale Metaphysik, d.h. gegen die Methode, politische Wertsetzungen zu rationalisieren und wissenschaftlich zu verkleiden.

Einzige Aufgabe der Nationalökonomie ist es, Empirisches zu beobachten und zu beschreiben und Ursachenzusammenhänge klar zu legen. Sie kann möglicherweise noch die Verhältnisse und die Zusammenhänge studieren, die herrschen würden in einem Gesellschaftszustand, der auf lediglich gedachten, mehr oder weniger abstrakten Voraussetzungen aufgebaut ist. Dagegen läßt sich rein wissenschaftlich nicht beweisen, daß ein Gesellschaftszustand vor einem anderen politisch vorzuziehen ist.

Damit wird nicht behauptet, daß die Ergebnisse ökonomischer Forschung für die Bildung politischer Attitüden ohne Interesse wären. Zunächst ist es möglich, Argumente, die sich in der politischen Diskussion findend, wissenschaftlich zu kritisieren. Das gilt überhaupt für alle Argumente außer denjenigen, die unmittelbar auf subjektiven Wertsetzungen ruhen.

Die politische Diskussion bedarf stets gewisser Vorstellungen darüber, was faktisch ist. Diese Vorstellungen lassen sich objektiv kritisieren. Im Gegensatz zu den äußersten Wertsetzungen können sie durch wissenschaftliche Analyse als richtig oder falsch erwiesen werden. Ausnahmslos bedürfen sie der Vervollständigung. Logisch gesehen spielen diese Wertsetzungen hier nicht herein, daß sie es psychologisch gesehen doch tun, ist ein weiterer Grund für eine streng wissenschaftliche Kritik.

Die emotionale Färbung unseres Bildes von der Wirklichkeit ist nämlich, was wir in der wissenschaftlichen Arbeit eine "subjektive Fehlerquelle" nennen. In diesem Sinne muß die politische Diskussion gewiß rationalisiert werden. Durch eine unparteiische Kritik der politischen Argumente, die sich in der Sphäre des Sachlichen halten, kann die Wirtschaftswissenschaft eine recht wichtige Aufgabe auch im Politischen erfüllen.

Oft beruhen politische Meinungsverschiedenheiten nicht auf einer verschiedenen Auffassung dessen, was als gesellschaftliches Zukunftsbild für wünschenswert gehalten wird, und dessen, was als politisches Mittel seiner Verwirklichung zu gebrauchen statthaft ist, sondern auf einer schiefen, subjektiv gefärbten Auffassung von dem, was faktisch ist.

Wissenschaftlich kann man auch oft etwas aussagen über die Möglichkeiten, politische Ziele durch gewisse Mittel zu erreichen. Auch in der Politik gibt es ja solche, die das Unmögliche wollen. Sehr wichtig ist ferner das Aufzeigen der Nebenwirkungen, die durch eine an und für sich vielleciht zweckmäßige politische Maßnahmen ausgelöst werden. Im sozialen Leben ist ja jede Einzelerscheinung mit jeder anderen irgendwie verbunden.

Man hat die Nationalökonomie paradoxal genannt: die Zusammenhänge sind so weitläufig und so unübersichtlich, daß sie fast immer ganz anderer Natur sind, als es bei oberflächlichem Zusehn den Anschein hat. Eine politische Maßnahme, die unter Außerachtlassung der Nebenwirkungen durchaus motiviert erscheint, erweist sich oft als vom Standpunkt derselben politischen Wertsetzung absurd, sobald man  alle  ökonomischen Wirkungen aufzeigt.

Die Politik ist ja die Kunst des Möglichen und stellt gerade damit Forderungen an die Wissenschaft. Sie verlangt von ihr, daß sie die Wirkungen alternativ möglicher Verhaltensweisen gegeüber einer gegebenen Ausgangslage klarlegt. Darüber hinaus bedarf es nämlich noch einer Prämisse, über die die Wissenschaft nicht verfügt, einer Wertsetzung, die darüber entscheidet, welche Wirkungen politisch wünschenswert und welche Mittel zu ihrer Verwirklichung zulässig sind.

Führt man diese Prämisse ein, so hat man damit eine neue Voraussetzung geschaffen, und das Ergebnis hört auf, ein rein wissenschaftliches zu sein, und ist es am allerwenigsten dann, wenn diese Voraussetzung bei der Darstellung des Ergebnisses verschwiegen wird.

Die prinzipielle Einigkeit über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie und über den Inhalt dieser Forderung wirkt verwirrend. Es ist doch nur zu wohl bekannt, daß die Nationalökonomen ununterbrochen und während des ganzen Jahrhunderts Auffassungen über das soziale "Sollen" im Namen ihrer Wissenschaft vertreten haben.  Direkt aus dem wissenschaftlichen Material  haben sie die "nationalökonomisch richtige" Verhaltensweise herauskalkuliert, und sie haben gewisse Maßnahmen bekämpft mit dem Argument, daß sie eine "Außerachtlassung" oder geradezu "Übertretung" der ökonomischen Gesetze bedeuten würden.

Sie haben politische Fragen "vom nationalökonomischen Gesichtspunkt aus" beurteilt. Auch wo man sich nicht direkt so ausgedrückt hat, liegt doch  implizit  in den Ergebnissen der Gedanke, daß die ökonomische Forschung "Gesetze" im werttheoretischen Sinne von  Normen  erbringen könne, Gesetze also nicht im Sinne  beobachteter Regelmäßigkeiten  im Zeitablauf.

Man hat Theorien aufgestellt über etwas, das man "Bevölkerungsoptimum" genannt hat. Man hat gesprochen von der "nationalökonomisch richtigen Verteilung der Arbeitskraft über den Erdball". Zuweilen hört man noch heute, daß freie Kapitalbewegung von "weltwirtschaftlichem Gesichtspunkt" vorteilhaft ist, auch wenn sie sich als unvorteilhaft für einzelne Staaten erweisen sollte. Freie Kapitalbewegung würde nämlich das "Einkommen der Weltwirtschaft" maximieren lassen. Man spekuliert "richtige", "gerechte" oder "nationalöknomische" Prinzipien für die steuerliche Lastenverteilung aus. Die Finanztheorie wird ja meistens geradezu definiert als die Lehre darüber, wie das Steuersystem beschaffen sein  soll. 

Somit gibt es auch eine nicht unbedeutende Literatur über den "richtigen" oder "gerechten" Einkommensbegriff in der Finanzlehre. In derselben Weise spekulieren wir noch immer über den "richtigen Geldwertbegriff". Aus den Begriffen "Einkommen" und "Produktivität", wie sie ADAM SMITH gebrauchte und wie sie sonst überall in der wissenschaftlichen Forschung aufgegeben sind, aus diesen Begriffen deduzieren wir noch ausführlichere Normen dafür, in welchem Ausmaße öffentliche Körperschaften Anleihen aufnehmen dürfen und nach welchen Grundsätzen diese Anleihen in richtiger Weise amortisiert werden sollen. Ähnliche Beispiele ließen sich unendlich viele anführen.

Bisher sind die Beispiele aus der mehr allgemeinen national-ökonomischen Spekulation entnommen worden, aber es wäre niht schwer, sie durch andere aus mehr speziellen Diskussionen zu ergänzen. Aber wir wollen uns daran genügen lassen. Wir wollten nur einleitungsweise hinweisen auf den gänzlichen Mangel einer Übereinstimmung zwischen dem wissenschaftstheoretischen Rahmen, in dem seit altersher die nationalökonomische Forschung präsentiert wird, und der Praxis ihrer Arbeit. Niemand kann verneinen, daß aus dieser Konstellation ein ernstes methodisches Problem sich ergibt.

Der Gegensatz wird oft in der Weise überdeckt, daß die prinzipielle erkenntnistheoretische Erklärung ihren Ehrenplatz in der Einleitung bekommt, dagegen die normativen Arbeitsmethoden in den Spezialproblemen zur Anwendung kommen.

Nicht nur die zentraltheoretische Richtung in der Nationalökonomie, mit der wir uns weiterhin hauptsächlich beschäftigen wollen, beweist jenes seltene Geschick, ohne klare Wertprämissen zu politischen Verhaltensmaßregeln zu kommen. Die deutsche historische Richtung mündete ganz ebenso in objektive Sozialpolitik aus. Die Kritik dieser Schule gegen die klassischen Traditionen galt mehr den aprioristischen und abstrahierenden Arbeitsmethoden und der speziellen normativen Einstellung der Klassiker, dagegen lehnten sie nicht die Findung von Normen als Forschungsaufgabe überhaupt ab.

Dasselbe gilt für die moderne institutionalistische Schule in Amerika. Sie war ja bisher ziemlich heterogen, und eine klare Wissenschaftstheorie hat sie jedenfalls nicht entwickelt. Ihr Grundgedanke ist jedoch, daß man vollständige, quantitative und voraussetzungslose Studien der sozialen Verhältnisse anstellen will.

Man kritisiert energisch das geringe Interesse der traditionellen Nationalökonomie für die Bedeutung der sozialen Institutionen, ihre rationalistische Auffassung vom Menschen und ihre allgemeine Vorliebe für die freie Konkurrenz. Man frischt also die Opposition der historischen Schule wieder auf, indem man die Arbeitsmethoden der herrschenden Theorie ablehnt und damit auch einige Ergebnisse der Theorie in der Frage, wie die soziale Wohlfahrt gefördert werden kann, die mit Hilfe dieser Methoden erlangt sind.

Die Wohlfahrtsidee selbst liegt jedoch nach wie vor zugrunde. Man betrachtet die gesellschaftlichen Institutionen unter dem Gesichtspunkt, daß sie "Funktionen" zu erfüllen haben im Dienste der Gesellschaft. Dann untersucht man, wieweit sie diese Funktionen wirklich erfüllen. Man hat also im Grunde dieselbe unbestimmte Wertprämisse wie in der klassischen Doktrinbildung. Gewiß spricht man nicht mehr so gern vom gesellschaftlichen Nutzen oder von der Maximierung der Bedürfnisbefriedigung, aber statt dessen von der Effektivität der Produktion oder ähnlichem, ein Begriff, den man für quantitativ bestimmter hält, schon deswegen, weil man ihn ununterbrochen "mißt".

Man redet auch gern von den Funktionen der Institutionen oder davon, wie sie diese Funktionen erfüllen. Man ist interessiert für Details und macht deshalb Regeln aus den Ausnahmen der klassichen Theorie. Man bekommt eine Theorie für "social control" an Stelle des alten individualistischen Postulats des Nichtinterventionismus. Aber dieses Postulat wie überhaupt das ganze klassische Doktrinsystem hat tiefere Wurzeln. Aus den Zirkelschlüssen des doktrinären Denkens kommt man nicht dadurch heraus, daß man lediglich die normativen Schlußsätze variiert und differenziert.

Der charakteristische Gegensatz zwischen dem wissenschaftstheoretischen Grundsatz und der Praxis der Forschung ist es, der unser Problem entstehen läßt. Man meint augenscheinlich in der Nationalökonomie nicht dasselbe mit Beobachtungen und Fakten, wie sonst im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Man scheint  eine objektive und der Beobachtung zugängliche Wertsphäre  anzunehmen. Vielleicht nahmen wir es auch zu leicht, indem wir uns auf eine hundertjährige Kontinuität der prinzipiellen erkenntnistheoretischen Auffassung beriefen. Vielleicht sind es nur die Worte, die gleich sind, während man zuinnerst etwas ganz anderes meint.

Und was meint man denn eigentlich? Und weiter: wenn man eine objektive Wertsphäre innerhalb der beobachtbaren Erscheinungen existierend glaubt, warum unterstreicht man dann so stark, daß die Wissenschaft keine politischen Vorschriften geben, sondern nur das, was ist, erklären kann? gibt es wissenschaftlich greifbare ökonomische und soziale Werte, so kann wohl auch die Forschung in einer objektiven Auffassung vom ökonomisch Wünschenswerten ausmünden. Wenn das möglich ist, so müssen wir das wohl hervorheben oder dürfen es zum wenigsten nicht verneinen.

Hier bedarf es offenbar einer Begriffsanalyse. Um richtig kritisieren zu können, müssen wir zuvor richtig verstehen. Die einzige Methode dafür ist, das Aufkommen und die historische Entwicklung von Gedankengängen zu verfolgen.

Die klassische Wertlehre
Im aristotelischen Wissenschaftssystem hatte die Nationalökonomie ihren Platz als eine Unterabteilung der Politik oder der Lehre von der Staatskunst, die ihrerseits ein Teil der Ethik im weiteren Sinne oder der allgemeinen praktischen Philosophie war. Die Sonderstellung der ökonomischen Theorie innerhalb der Politik - übrigens bis zu den Physiokraten hin recht schwach markiert -, gründete sich nicht so sehr auf eine Verschiedenheit des Untersuchungsfeldes, das ja dasselbe war, nämlich das soziale Leben.

Der Unterschied lag in der wissenschaftlichen Method und in dem besonderen Gesichtspunkt. Dieser Unterschied tritt am besten zutage durch die Angabe desjenigen Begriffes, der stets in der Nationalökonomie der zentrale gewesen ist. Wie in der Jurisprudenz und der allgemeinen Staatslehre stets der Begriff "Recht" im Zentrum gestanden hat, so für die Nationalökonomie der des "Wertes". Es besteht eine sehr interessante Parallelität in bezug auf die Entwicklungsgeschichte dieser beiden Begriffe.

Die beiden Zentralbegriffe - und damit die beiden Wissenschaften - sind im Laufe der Zeit auf verschiedene Art und Weise miteinander verbunden worden. Die Verschiedenheiten hierin hängen zusammen mit dem verschiedenen relativen Gewicht, das man jedem dieser Begriffe gegeben hat. Die Römer, di ja wie bekannt das juridische System weitestgehend ausgebaut hatten, schoben im Gegensatz zu den Griechen den Wertbegriff beiseite und damit die wirtschaftliche Methode der Behandlung von Sozialproblemen. Durch die Scholastik wurde jedoch der Schwerpunkt von neuem mehr zugunsten der Wirtschaft verschoben.

Es ist gewiß ein fruchtbarer Gesichtspunkt, in den Systemen der mittelalterlichen Kirchengelehrten und nach ihnen der großen Naturrechtslehrer groß angelegte Versuche zu sehen die die Begriffe "Recht" und "Wert" dadurch miteinander verbinden wollen, daß sie sie aus denselben äußersten Prinzipien herleiten. Diese Entwicklung erfährt ihre konsequente Fortsetzung durch die utilitaristische Gesellschaftsphilosophie, die mindestens von BENTHAM ab ihr Ziel dahin setzt, das "Recht" dem "Wert" logisch unterzuordnen. Das ist ja der Inhalt in dem Grundsatz, daß Recht vermittels des Prinzips des gesellschaftlichen Nutzens festgestellt und interpretiert werden soll.

Dadurch bekam die Nationalökonomie eine zentrale Stellung in den Sozialwissenschaften, wie sie sie nie vorher innegehabt hatte. Sie bildete von da ab ihr Fundament, sie bekam die Aufgabe, herauszufinden, was wirklich "gesellschaftlich nützlich" war. Sie sollte die Wertprämissen deduzieren.

Die Nationalökonomie hatte sich jedoch ihrerseits in diesem Prozeß des wissenschaftlichen Gesetzesbegriffes bemächtigt. Wie schon erwähnt war dieser Begriff aus der Naturrechtsphilosophie übernommen worden. Solange nun "natürliches Gesetz" den Doppelsinn hatte, der seit altersher in dem Wort "natürlich" liegt, konnte die Feststellung der gesetzesgebundenen sozialen Wirklichkeit und die Aufgabe der Konstruktion des "Gesellschaftsnutzens" innerhalb derselben Wissenschaft ihren Platz finden.

Die utilitaristische Gesellschaftsphilosophie jedoch suchte aus ihren alten Traditionen im englischen Denken heraus programmgemäß eine empirische Grundlage. Durch die empiristische Einstellung und vielleicht mehr noch durch die Einflüsse von den in rascher Entwicklung befindlichen Naturwissenschaften her wurde der Begriff des Naturgesetzes auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften nach seinem einen Bedeutungspol hin verschoben, nämlich zum naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff. Damit beginnt der Konflikt zwischen "Wert" und "Gesetz" innerhalb der Nationalökonomie.

Ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft nach ist also die Nationalökonomie als ein groß angelegter Versuch zu betrachten, das soziale Sollen wissenschaftlich zu konstatieren. Aufgabe der Nationalökonomie wurde es, herausfinden, wie sich der allgemeine Wohlstand maximieren läßt; das kann man übrigens noch in manchem Lehrbuch lesen. Der Wertbegriff selbst ist das zentrale theoretische Instrument, das soziale Sollen festzustellen.

Die Tragik der Nationalökonomie liegt aber darin: je weiter wir in unserem Bestreben mit Beobachtung und Erklärung der sozialen Wirklichkeit vorangekommen sind, desto weiter haben wir uns von unserem Ziele entfernt, Bedingungen für die Maximierung des gesellschaftlichen Nutzens angeben zu können. Das zeigt sich z.B. darin, daß unsere Wertlehre, je mehr wir sie durchgearbeitet haben, um so inhaltsleerer und gleichzeitig wissenschaftlich überflüssig geworden ist.

Nach einem langen Entwicklungsprozeß, in dem diese Arbeit geleistet worden ist, findet sich die Nationalökonomie heute ziemlich bereit, die Aufgabe einer wissenschaftlichen Bestimmung der Wohlfahrt fallen zu lassen. Es setzt sich immer mehr die Auffassung durch, daß der Wertbegriff nicht anders verstanden werden kann als in der ganz und gar "wertfreien" Bedeutung von faktischen Tauschrelationen oder faktischen Angebots- und Nachfragepreisen, d.h. Preisen, die ein Individuum unter angegebenen Bedingungen zu geben oder im Austausch gegen Waren zu nehmen bereit ist.

Diese Resignation ist jedoch etwas mehr als eine einfache Bankrotterklärung. Geleitet von einem Streben nach einem letztlich fiktiven Ziele, haben die Theoretiker der Nationalökonomie eine Wissenschaft vom sozialen Ursachenzusammenhang aufgebaut. Seit ADAM SMITH und den Physiokraten und auf einigen Spezialgebieten noch weiter zurück, haben die Nationalökonomen eine im wesentlichen richtige systematische Erkenntnis faktischer Verhältnisse und kausaler Zusammenhänge gehabt. Dieses Erkenntnismaterial ist ununterbrochen gewachsen. Bei der Verfolgung des unmöglichen Zieles ist so allmählich und nebenbei eine moderne Realwissenschaft aufgebaut worden.

Daß der Begriff des wirtschaftlichen Wertes, wie wir eben ausgeführt haben, ein Ausdruck für die normative Herkunft der Nationalökonomie ist, darüber ist man sich prinzipiell einig, obwohl dieser Gesichtspunkt bei der Diskussion der Wertlehre allzu oft beiseite geschoben wird. Wer sich ablehnend gegen die Wertlehre verhält, setzt sich auch der Kritik aus, daß er damit einer sozialethischen und rein ökonomischen  Beurteilung  des Wirtschaftslebens die Grundlage entzieht, die Grundlage also für eine "moralische Nationalökonomie". Es will scheinen, als ob die prinzipielle Einigkeit über die Funktion der Wertlehre in der ökonomischen Theorie einen fruchtbaren Gesichtspunkt für eine kritische Betrachtung derselben abgibt.

Wie schon erwähnt hat die Lehre vom wirtschaftlichen Wert eine lange Entwicklungsgeschichte vor den englischen Klassikern. Wir können diese Vorgeschichte hier nicht eingehender schildern, möchten aber gleichwohl ein paar Worte vorausschicken über das geistige Erbgut, das die Klassiker übernahmen, d.h. über die Ideen, die sich seit altersher mit dem Begriff des wirtschaftlichen Wertes verknüpfen.

Eine ursprüngliche Bedeutung des Ausdruckes "wirtschaftlicher Wert" bezieht sich auf die Menge Tauschmittel, gegen die die Einheit einer Ware im Tausche hingegeben wurde. Es ist interessant zu beobachten, daß der Begriff seit ältesten Zeiten also mit der Vorstellung von etwas Augenscheinlichem und Wirklichem verbunden wurde, es handelt sich ja hier um  Tauschwert  im eigentlichen Sinne, beobachtbare Tauschrelationen.

Jedoch enthält die Wertidee von Anfang an auch Vorstellungen ganz anderer Natur. Der Tauschwert erschien dem Denken als etwas gar zu schnell Wechselndes, gar zu sehr abhängig von solchen Umständen, die man als "zufällige" zu betrachten geneigt war. Von diesem Gesichtspunkt aus lag es nahe, sich einen  Normalwert zu denken. Man kann natürlich auch diese Vorstellung an den faktischen Tauschwert als irgendwie gebildetes Mittel wirklicher Tauschwerte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, oder ein Tauschwert, wie er sich stellen würde, unter der Voraussetzung, daß der Tauschprozeß ablaufe ungestört durch gewisse angegebene "zufällige" Einflüsse.

Diese zwei Gesichtspunkte kann man gewöhnlich vereinigen durch eine Theorie, daß der Normalwert im ersten Sinne des Wortes auf lange Sicht unabhängig von "zufälligen" Einflüssen ist. Diese Definitionen vom Normalwert stehen noch auf sicherem Boden. Solange man nichts Metaphysisches in sie hineinliest, handelt es sich nur um Mittelwerte aus wirklichen Tauschwerten oder Tauschwerten, die unter gewissen logisch vollziehbaren Voraussetzungen existent werden würden.

Diese mehr realistische Betrachtungsweise ist jedoch für ältere Zeiten etwas vollkommen Fremdes, man neigt vielmehr dazu, der Wirklichkeit einen mehr animistischen Einschlag zu geben. Ohne Übertreibung darf gesagt werden, daß wir in der ökonomischen Theorie auch heute ständig versucht sind, einen anderen Sinn in die Vorstellung des "Normalen" hineinzulegen.

Hinter den äußeren beobachtbaren Tauschrelationen sucht man etwas "Inneres", etwas eigentlich und in höherem Sinne Wirkliches, etwas, wovon der Tauschwert nur eine Widerspiegelung oder ein Ausdruck oder eine Auswirkung ist. Man sucht etwas, worin man ein Kriterium für die "Richtigkeit" oder "Gerechtigkeit" der faktischen Tauschrelationen sehen kann. Man sucht die Idee des Wertes oder seinen inneren Grund.

Die Vorstellungen von einem "intrinsic value" wechseln oft ihre terminologische Einkleidung. Gemeinsam ist ihnen aber allen, daß sie darauf hinausgehen, etwas anderes festzustellen als den Tauschwert, etwas Allgemeines, Einheitliches und Beständiges, das gleichzeitig einen "natürlichen" Ausgangspunkt bilden kann, sowohl für die Erklärung des Tauschwerts als auch für seine sozialethische Beurteilung. Schon ARISTOTELES sucht so nach einem einheitlichen und universellen Standard um den "wirklichen" Wert zu messen zum Unterschied von den faktischen Tauschrelationen.

Zuweilen dachte man sich da in älteren Zeiten den Wert ganz einfach als eine den Waren selbst innewohnende Eigenschaft, eine Art "Kraft" oder geradezu eine "immaterielle Substanz". Wenn es aber darauf ankam, den Zusammenhang zwischen diesem inneren Wert und dem Tauschwert zu erklären, ist man im allgemeinen nicht bei der naiven Kraft- und Substanzlehre stehen geblieben, obwohl diese Idee als halbbewußte und unausgesprochene Allgemeinvorstellung latent weiterlebt und die Begriffsbildung noch immer bestimmend beeinflußt.

Man sucht auf dem einen oder anderen Wege eine Verbindung mit der "menschlichen Natur" und will den Wert gründen auf eine Auffassung von der Stellung des Menschen innerhalb der Gesellschaft und von der Gesellschaft als von einem organisierten Kampfe gegen die karge äußere Natur.

Zwei Wege öffnen sich da, entweder kann man den Wert zurückführen auf eine abstrakte Brauchbarkeit oder einen  Nutzen  der Objekte oder auf die Auffassung des Menschen von dieser Nützlichkeit (Gebrauchs- oder Nutzwert). Eine Ware hat ökonomischen Wert in dem Grade, wie sie nützlich ist für den Menschen, eine Vorstellung, der man eine mehr oder weniger psychologische Begründung geben kann. Oder man kann sich an die  Kosten  (gewöhnlich in Arbeit) halten, die die Herstellung der Ware erfordert.

Auch dieser Kostenvorstellung kann man einen mehr oder weniger psychologischen Inhalt geben. Ist die psychologische Seite stärker betont, so wird der Wert zu jener Eigenschaft der Waren, daß sie nur durch subjektive Opfer erlangt werden können, durch Schweiß und Mühe. Bei weniger stark psychologischer Betonung ist es die Eigenschaft, daß die Waren gewissermaßen gegenständlich gewordene Arbeit sind, daß sie die Arbeit enthalten, mit der sie erschaffen sind.

Diese verschiedenen Wertvorstellungen trifft man nun in allen möglichen Konstellationen gemischt und auch vereinigt mit anderen Gedankenelementen. Zu merken ist dabei, daß fast alle Wertbegriffe mit dem Begriff des "gerechten" oder "richtigen" Preises, des  justum pretium  (gerechten Lohn) identifiziert werden. - Es beruht hauptsächlich auf der Weltanschauung und der allgemeinen philosophischen Einstellung des Betreffenden, ob er dieses  justum pretium  in den faktischen Tauschrelationen respektive den normalen Tauschrelationen verwirklicht sieht oder nicht.
LITERATUR - Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, Berlin 1932