ra-2 W. SombartF. A. LangeSchulze-Gaevernitz    
 
KARL VORLÄNDER
Kant und Marx
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"Ludwig Feuerbach war es, der in seinem 1841 erschienenen, mächtige Sensation erregenden Buch  Wesen des Christentums  mit begeistertem Mund verkündete:  Es gibt nichts außer der Natur; diese besteht unabhängig von aller Philosophie und das einzige Mittel zu ihrer Erkenntnis ist die sinnliche Anschauung.  Mochte dieser Naturalismus noch so dogmatisch und noch so gefühlsmäßig auftreten: er wirkte, vielleicht gerade deshalb, eine zeitlang ungeheuer auf die radikale Jugend.  Die Begeisterung war allgemein,  schreibt Engels,  wir waren alle momentan Feuerbachianer." 

Marx und Kant !   Welche Flut entgegengesetzter Gedanken rufen diese beiden inhaltsschweren Namen in uns wach! Dort der Begründer des modernen Sozialismus, der  Gelehrte,  der sich durch die Schärfe seines Denkens und den Umfang seines Wissen auch in den Reihen seiner wissenschaftlichen Gegner eine immer steigende Anerkennung errungen hat, und  zugleich  der  Urheber  einer gewaltigen, welthistorischen Bewegung, die heute Millionen in allen Kulturländern bis Japan hin zu ihren Bekennern zählt, zum dem ungezählte Tausende in gläubiger Bewunderung aufschauen. Und im Gegensatz zu dem von Land zu Land getriebenen leidenschaftlichen Revolutionär - auf der anderen Seite der ruhig heitere Weise im weltabgelegenen Königsberg, der nie aus seiner heimatlichen Provinz herauskam, der fast philiströs erscheinende deutsche Professor, dessen Leben wie nach der Uhr verlief und der dennoch eine Revolution im Reich der Geister hervorbrachte, die noch heute - nach mehr als hundert Jahren - aufs lebendigste nachwirkt, der sich auf den verschiedensten Gebieten der Philosophie so schöpferisch erwies, daß noch Jahrhunderte von seinen Gedankenschätzen werden zehren können. Doch nicht darum kann es sich für mich handeln - und so reizvoll es ist, es wäre auch im Rahmen einer kurzen Stunde ganz unmöglich -, Ihnen ein Bild des Gesamtwerkes und -wirkens der beiden Großen zu entrollen, ja auch nur eine ausführliche Charakteristik ihrer Persönlichkeit zu entwerfen. Auf den Kern ihres Wesens, mindestens ihrer  wissenschaftlichen  Persönlichkeit werden wir dennoch stoßen, wenn wir  die  Frage miteinander erwägen, die allein unser heutiges Thema bilden soll:  Worin besteht die Bedeutung beider Denker für die philosophische Grundlegung des Sozialismus? 

Vielleicht wird mancher von Ihnen schon vorhin bei der Formulierung meines Themas, bei der Zusammenstellung der beiden Namen "Marx und Kant", ungläubig den Kopf geschüttelt haben und mir entgegenhalten: Wie sollte zwischen zwei Männern von so entgegengesetztem Lebensgang und Charakter, die in so verschiedener Zeit, unter so verschiedenen Bedingungen und in so grundverschiedener Weise gelehrt und gewirkt haben, ein Zusammenhang oder gar eine innere Verbindung möglich sein? Weiß doch jedermann, daß die Wirksamkeit IMMANUEL KANTs beinahe zwei Menschenalter vor diejenige von KARL MARX und in eine Zeit fällt, in der von theoretischem wie praktischem Sozialismus noch nicht ernstlich die Rede sein konnte; und ist es doch andererseits kein Geheimnis, daß der große Sozialist des 19. den großen Philosophen des 18. Jahrhunderts zwar gekannt hat, aber, soviel wir wissen, nie von ihm im Innersten seiner Seele gepakct und beeinflußt worden ist. Wir müssen jenen Zusammenhang also tiefer als in den  persönlichen,  wir müssen ihn in den  sachlichen  Beziehungen zu ergründen suchen.

Zuerst ein paar einleitende Erwägungen allgemeinster Art. Daß zunächst ein Zusammenhang zwischen  Sozialismus  und  Philosophie  überhaupt besteht und bestehen muß, das wird, hoffe ich, niemand von Ihnen im Ernst bestreiten. Ich bin gewiß der letzte, zu leugnen, daß man auf den verschiedensten Wegen zu sozialistischen oder sagen wir weitherziger zu  sozialen  Anschauungen gelangen kann. Der eine wird durch die Notlage des Proletariats, die er entweder am eigenen Leib spürt oder klar vor Augen sieht und in ihrer Gefahr für den Bestand der Gesellschaft erkennt, dazu getrieben. Ein anderer kommt vielleicht durch nationalökonomische, der dritte durch historische Studien, der vierte durch ethische Betrachtungen dazu, wieder einen anderen treibt die Konsequenz seiner politisch-demokratischen Anschauungen, noch andere endlich ihre religiöse Stellung oder gar künstlerische oder poetische Motive. Und ebenso wie die  Wege  durchaus verschieden sind, auf denen die einzelnen dazu gelangen, so werden sie sich auch je nach ihrer individuellen Veranlagung, Temperament und Charakter in verschiedener Weise  betätigen. 

Es ist durchaus nicht notwendig, daß jeder Sozialist  Philosoph  sei, wie ja auch umgekehrt - mag man das begrüßen oder bedauern - bei weitem nicht alle Philosophen  Sozialisten  sind.

Aber  daß  zwischen Sozialismus und Philosophie geschichtlich wie systematisch ein natürlicher, notwendiger Zusammenhang besteht, das brauche ich vor  Ihnen  wohl kaum näher zu begründen. Würde doch der Sozialismus sich selber ins Gesicht schlagen, wenn er, der mit vollem Recht eine Weltanschauung zu sein beansprucht, es versäumen wollte, ein Verhältnis zu demjenigen zu gewinnen, was die bedeutendsten Philosophen aller Zeiten in der Kraft methodischen Denkens geleistet haben. Er würde damit seine eigene Geschichte, genauer gesagt, die Geschichte seiner eigenen Theorie verleugnen, die, um nur die Hauptgestalten herauszugreifen, mit dem "göttlichen" PLATO beginnt und mit dem Hegelianer MARX einen vorläufigen Abschluß gefunden hat. "Einzelne Gegenstände des Wissen oder der Wissenschaft", sagt der Arbeiter-Philosoph JOSEF DIETZGEN, "mögen wir Fachleuten überlassen, aber das Denken im allgemeinen ist eine  allgemeine  Angelegenheit, die niemand kann erlassen sein".

Doch kehren wir zu unserem engeren Thema zurück und fragen wir: Worin besteht der philosophische Beitrag von MARX und andererseits der von KANT zur Begründung des Sozialismus? Ist MARX' Methode die allein zum Heil führende? Oder etwa eine zeitgemäße Erneuerung, bzw. Umgestaltung des KANTschen Kritizismus? Oder sollte vielleicht ein drittes, nämlich die  Verbindung  von marxistischer und kritischer Methode, das Richtige sein? Stoßen Sie sich dabei nicht an dem etwas nüchtern und langweilig klingenden Wort  "Methode".  Denn Methode, d. i. Denkverfahren, Untersuchungsweise, ist das Zentrum und der Richtpunkt aller Philosophie, alles wissenschaftlichen Denkens auch unsere beiden großen Denker überein - nicht in einer bestimmten Summe von Lehrsätzen oder Dogmen, die man allenfalls auswendig lernen kann wie einen Katechismus, sondern in der schöpferischen Kraft, Gedanken zu erzeugen, die in einer lückenlosen Kette aneinanderschließen. Philosoph sein heißt nicht: auf ein bestimmtes System schwören - starre Orthodoxie ist auf philosophischem Gebiet nicht minder gefährlich als auf kirchlichem und vielleicht auch auf ... politischem -, sondern  philosophieren,  d. h. streng methodisch denken. Das soll man lernen, darauf allein kommt es an.

Versuchen wir es jetzt, uns in die zentrale, Richtung gebende Denkweise beider Männer hineinzuversetzen. Wir beginnen,  entgegen  der chronologischen Reihenfolge, mit MARX; denn dieser ist nun einmal - auch wer ihn bestreitet, muß das zugeben - der anerkannte Begründer, der leitende Geist des heutigen theoretischen Sozialismus. Erst später wird dann zu prüfen sein, ob MARX' Methode den philosophischen Gehalt des Sozialismus völlig erschöpft, oder ob eine Ergänzung derselben möglich oder gar geboten ist.

MARXens sozialphilosophische Methode aber läßt sich nur dann klar erkennen, wenn wir uns einen Überblick über seinen philosophischen Werdegang verschaffen. Den  philosophischen  allein. Mit seinen politischen und nationalökonomischen Leistungen haben wir es hier nicht zu tun.

Sie alle kennen sicherlich das vielzitierte Wort, das MARX' geistiger Zwillingsbruder FRIEDRICH ENGELs in seinen letzten Lebensjahrene einmal unter sein Bild geschrieben hat: "Wir deutschen Sozialisten  sind stolz darauf,  abzustammen nicht nur von SAINT SIMON, FOURIER und OWEN, sondern auch von KANT, FICHTE und HEGEL." Und ebenso das andere, in das seine bekannte, 1886 niedergeschriebene Schrift über LUDWIG FEUERBACH ausklingt:  "Die deutsche Arbeiterklasse ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie."  Nach beiden Sätzen würde man ein sehr inniges Verhältnis der beiden Koryphäen des wissenschaftlichen Sozialismus zur Philosophie des deutschen Idealismus, die man sich gewöhnlich in jenem philosophischen Dreigestirn verkörpert denkt, anzunehmen geneigt sein. Dem gegenüber werden wir nun bald sehen, daß diese Erbschaftsantretung dann doch eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einer völligen Depossedierung [Enteignung - wp] des Erblassers an sich trägt. Aber zunächst müssen wir ein anderes feststellen. Unter dem  "klassischen"  Philosophen versteht ENGELS (der in diesem Fall mit seinem Freund MARX identisch ist) im Grunde nicht denjenigen Denker, der unseres Erachtens allein diesen Namen verdient, dessen Prinzipien insbesondere auch unseren beiden großen klassischen Dichtern zur Richtschnur gedient haben, (1) nämlich IMMANUEL KANT, sondern dessen Epigonen, den philosophischen Romantiker GEORG FRIEDRICH WILHELM HEGEL.

Zwar hat - um diese historischen Beziehungen gleich hier zu erledigen - der junge MARX als Berliner Student, wie er in einem für die Kenntnis seiner geistigen Entwicklung höchst interessanten Brief (2) vom 10. November 1837 seinem Vater nach Trier berichtet, anfangs dem Idealismus angehangen und ihn "mit Kantischem und Fichtischem verglichen und genährt", aber er hat sich doch schon sehr bald wieder davon entfernt, um, wie er sich ausdrückt, "im Wirklichen selbst die Ideen zu suchen". Daß er sich auch bis zum Ende seiner Studienzeit mit KANT nicht eingehender beschäftigt hat, lassen Ton und Inhalt seiner neuerdings von FRANZ MEHRING im ersten Band des "Literarischen Nachlasses" zum erstenmal veröffentlichten Doktordissertation über DEMOKRITs und EPIKURs Naturphilosophie mit ziemlicher Sicherheit vermuten, in der KANTs nur an einer Stelle und noch dazu in (wie der Herausgeber selbst zugibt) mißverständlicherweise gedacht wird. (3) Mit Hochachtung spricht der junge MARX von KANT ferner in einem Artikel der "Rheinischen Zeitung" vom 9. August 1842, wo er in geistvoller, seine spätere geschichtsmaterialistische Auffassung schon ankündigenden Weise KANTs Philosophie als "die deutsche Theorie der französischen Revolution" bezeichnet. (4) Sonst aber hat MARX, soviel bisher bekannt ist, nirgends an KANT bewußt angeknüpft. Und nicht viel anders steht es mit seinem Freund ENGELS. Auch dieser bezeigt zwar vor dem Königsberger Philosophen stets eine gewisse Hochachtung, beschäftigt sich auch mit ihm im "Feuerbach" wie im "Anti-Dühring" an mehreren Stellen, zeigt sich aber nirgends tiefer von ihm berührt, sondern sieht ihn ebenfalls ganz durch die HEGELsche Brille.

Und ebenso hat auch FICHTEs machtvolle Persönlichkeit bekanntlich zwar auf FERDINAND LASSALLE, nicht aber auf MARX und ENGELS philosophischen Einfluß geübt. Ist also bei ihnen von klassischer Philosophie die Rede, so ist in erster Linie jedesmal HEGEL gemeint, auf dessen Bedeutung für die Entstehung der MARXschen Geschichtsphilosophie wir daher zuerst unseren Blick richten müssen.

Wie war es doch möglich, so fragen wir Nachlebende uns erstaunt, daß gerade HEGEL, dieser Verfechter des Bestehenden, der in der Vorrede zu seiner "Rechtsphilosophie" den berüchtigten Satz drucken ließ: "Was wirklich ist, das ist vernünftigt", der in der geheiligten Person des erblichen Monarchen die "lebendig gewordene Gattungsvernunft" verkörpert sah und der sein Staatsideal im Hinblick auf den bestehenden preußischen Bürokratenstaat des Jahres 1821 entwarf - wie war es möglich, sage ich, daß dieser königlich-preußische Staatsphilosoph der philosophische Ausgangspunkt für die revolutionären Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus geworden ist?

Nun, einmal beherrschte in eben dem Jahrzehnt, in dem MARX und ENGELS ihre ersten tiefergehenden Bildungseindrücke empfingen, HEGELs Philosophie trotz ihres Urhebers Tod durchaus noch die Zeit. Selbst die Gegner waren, nach ENGELS Ausdruck, "von der HEGELei angesteckt". Dann aber besaß dieser Hegelianismus neben all seiner spekulativen Verstiegenheit, mit deren trübsinnigem Tiefsinn ich Ihnen dieser Stunde schönes Gut nicht verkümmern will und bei allem politischen und kirchlichen Konservatismus seines Urheber, doch  eine  sehr revolutionäre Seite. Und sie ist es, mit der wir uns hier allein zu beschäftigen haben, weil sie es war, die das Mittelglied zur späteren eigenen Philosophie von MARX und ENGELS bildete. Sie lag in der sogenannten  "dialektischen  Methode", die durch HEGELs ganzes System ging, aber erst vom radikal gesinnten Teil seiner Schule, den sogenannten Junghegelianern, von ihren "spekulativen Verbrämungen" befreit, in verständliches Deutsch übersetzt wurde. Eben deshalb brauche ich Sie nicht in die tiefsten Geheimnisse dieser berühmten Methode einzuweihen, deren verwirrende Wirkung auf seinen geusnden Menschenverstand der Abgeordnete AUER einmal vor ein paar Jahren in Hannover in seiner humoristischen Art mit den Worten schilderte: "Da ist schwarz weiß und weiß schwarz, und in der höheren Einheit entwickelt sich dann ein graues Gemisch, bei dem einen die Augen übergehen!" Löst man jedoch ihren Kern von der spekulativ-mystischen Hülle los, die er bei HEGEL trägt, so ist sie gar nicht so schwer zu begreifen. Denn da bedeutet sie im Grunde nichts anderes als den jedem von selbst einleuchtenden Satz: Alles, was in den Bereich der Menschengeschichte gehört, ist einer  fortlaufenden Entwicklung  unterworfen. Überall steht neben dem  "Sein"  der Gegenwart ein  "Nicht-mehr-sein"  der Vergangenheit, ein  "Noch-nicht-sein"  der Zukunft. Um ein Beispiel zu nehmen: das ancien régime der französischen Bourbonen war im Jahre 1789 so "unwirklich", so "unvernünftig", so aller geschichtlichen Notwendigkeit bar geworden, daß eine inzwischen in seinem Schoß herangereifte neue, lebensfrohe Wirklichkeit, nämlich die französische Revolution, an die Stelle des absterbenden Alten trat und treten mußte. Jede Stufe der geschichtlichen Entwicklung war einmal  "vernünftig",  d. h. für  ihre  Zeit berechtigt, und  "wirklich",  d. h. aus den Bedingungen ihres Ursprunges mit unausweichlicher Notwendigkeit hervorgegangen und insofern hat auch jener oben erwähnte berüchtigte Satz von der "Vernünftigkeit alles Wirklichen" seinen guten Sinn. Jede dieser Stufen mußte einmal durchgemacht werden, ja bis zur Einseitigkeit sich ausleben. Aber je stärker die Einseitigkeit war, umso sicherer und rascher stürzte sie dann auch zusammen, schlug sie in ihr Gegenteil um und aus dem Gegensatz beider entwickelte sich dann - das ist das eigentliche Geheimnis der "dialektischen Methode" - eine neue, höhere Einheit, die sich dann später wieder entzweit, so daß sich dasselbe Spiel bis ins Unendliche wiederholt. Auf die geschichtliche Wirklichkeit übertragen, heißt das im wesentlichen nichts anderes als: Alles Bestehende und augenblicklich Vernünftige wird im Laufe der Zeit "unvernünftig" und deshalb schließlich auch unwirklich; um mit FAUST zu reden: "Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht." Und umgekehrt: Die neue, aufstrebende Wirklichkeit, die sich inzwischen im Schoß des absterbenden Alten gebildet hat, die zunächst nur erst in den Köpfen der Menschen steckt, ist bestimmt, ans Licht zu treten, sobald ihre Zeit erfüllt ist". "Das Alte stirbt, es ändert sich die Zeit und - neues Leben blüht aus den Ruinen."

Überblicken wir noch einmal diesen ganzen Gedankenkomplex, so erkennen wir: diese berühmte dialektische Methode bedeutet im letzten Grunde nichts anderes als die uralte Idee des  ewigen Werdens,  die schon von zweieinhalb Jahrtausenden HERAKLIT der "Dunkle" von Ephesus in seinem  panta rhei  [alles fließt - wp] verkündet und die hier nur in moderner und komplizierterer Form erneuert wird. Mit dem Unterschied allerdings, daß bei HEGEL dieses ununterbrochene Werden im großen und ganzen einen sichtbaren  Fortschritt  zum  Höheren  zeigt, während HERAKLIT die Ewigkeit einmal einem brettspielenden Knaben vergleicht, der die Steine aufbaut und dann zwecklos wieder zusammenwirft. Menschen des 20. Jahrhunderts braucht dieser Gedanke der  Entwicklung  vom Niederen zum Höheren nicht mehr im Gewand der HEGELschen Spekulation vermittelt zu werden. Er ist uns vielmehr durch die Erfahrungsphilosophie des vor wenigen Monaten dahingeschiedenen HERBERT SPENCER, vor allem aber durch die Naturforschung DARWINs so vertraut, ja, ich möchte sagen, zu Fleisch und Blut geworden, daß wir gar nicht mehr von ihm los können. Freilich tritt entsprechend der vorzugsweise  naturwissenschaftlichen  Denkweise, vielleicht auch der Volkszugehörigkeit der beiden letztgenannten Denker bei ihnen die Entwicklung fast ausschließlich als eine langsame, allmähliche, kaum merkbare, kurzum, wie wir heute sagen, als Evolution auf, während bei HEGEL, dem naturwissenschaftlich weniger Gebildeten, die  gewaltsamen  Bewegungen oder Revolutionen einen größeren Spielraum besitzen, was denn, verbunden mit der politischen Zeitlage, auf die anfänglichen Bahnen von MARX und ENGELS wohl nicht ohne Einfluß gewesen ist.

Wie kam es nun, daß diese beiden ihre zunächst aus der HEGELschen Geschichtsauffassung entsprungene neue Anschauung vom Werden der menschlichen Gesellschaft nicht einfach als  Entwicklungs philosophie charakterisiert, vielmehr mit Namen und Gedanken des  Materialismus  verquickt haben? Nun, es rächte sich hier die Vernachlässigung der Natur, des Körperlichen, des Materiellen durch Meister HEGEL. Wie konnte eine Anschauung gleich er HEGELschen, welche die gesamte Natur bloß als - "Entäußerung des absoluten Geistes" auffaßte, Leute von gesundem Menschenverstand befriedigen? Zumal, da es mit dem vorwiegend ästhetisch-literarischen Leben, das dem alten Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Signatur gegeben hatte, zuende ging und das neue Zeitalter der naturwissenschaftlichen Entdeckungen (der Zelle, der Erhaltung der Kraft), der Eisenbahnen, der Maschinenindustrie bereits angebrochen war. So mußten die Junghegelianer - der philosophische Ausdruck des politisch und religiös radikalen Bürgertums der damaligen Zeit - sich auch ihrerseits, um im Jargon ihres Meisters zu reden, zur "Negation der Negation", d. h. also zu einer umso lebhafteren Bejahung der materiellen Welt getrieben fühlen. Und da der HEGELsche Idealismus so einseitig wie nur möglich gewesen war, sahen sie sich, eben jenem Gesetz der dialektischen Entwicklung zufolge, dem entgegengesetzten Extrem, dem Materialismus und Sensualismus des 18. Jahrhunderts, zugedrängt. Da kam ihnen nun, während sie in einem solchen inneren Umbildungsprozeß begriffen waren, die Erneuerung dieses sensualistischen Materialismus durch einen anderen Junghegelianer recht gelegen. LUDWIG FEUERBACH war es, der in seinem 1841 erschienenen, mächtige Sensation erregenden Buch "Wesen des Christentums" mit begeistertem Mund verkündete: "Es gibt nichts außer der Natur; diese besteht unabhängig von aller Philosophie und das einzige Mittel zu ihrer Erkenntnis ist die sinnliche Anschauung." Mochte dieser Naturalismus, auf dessen philosophischen Wert oder Unwert wir jetzt nicht näher eingehen können, noch so dogmatisch und noch so gefühlsmäßig auftreten: er wirkte, vielleicht gerade deshalb, eine zeitlang ungeheuer auf die radikale Jugend. "Die Begeisterung war allgemein," schreibt ENGELS, "wir waren alle momentan Feuerbachianer."

Nur  momentan!  Denn auch FEUERBACH konnte den jungen Stürmern und Drängern nicht lange genügen. MARX fühlte sich vor allem durch das bloß  theoretische  Denken des Einsiedlers von BRUCKBERG nicht befriedigt; das zeigen aufs deutlichste seine im Frühjahr 1845 "zur Selbstverständigung" niedergeschriebenen elf Thesen, die ENGELS nach dem Tod des Freundes als Anhang zu seinem "Feuerbach" veröffentlicht hat. MARX verlangt darin, daß FEUERBACHs sinnliche Anschauung sich in die PRAXIS umsetze, daß der Mensch in der Praxis die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweise (These 2). Und mit dem Schritt von der Theorie zur Praxis hängt der andere vom  individualen  zum  sozialen  Menschen zusammen. Das "menschliche Wesen", in welches FEUERBACH das religiöse Wesen aufgelöst hatte, ist, sagt MARX, kein isoliertes Abstraktum, sondern das Produkt, das Ensemble der  gesellschaftlichen  Verhältnisse (These 6 und 7). Ganz ausdrücklich scheidet er schon hier  seinen neuen  "Materialismus" vom  alten  ab. Das Objekt des alten Materialismus war die in eine masse einzelner Individuen atomistisch zerspaltene  "bürgerliche"  Gesellschaft, der Standpunkt des neuen ist die  menschliche  Gesellschaft oder die  vergesellschaftete Menschheit  (These 9 und 10). Das Endfazit zieht die Schlußthese: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden  interpretiert;  es kommt aber darauf an, sie zu  verändern". 

Wie die beiden Freunde hieraus die praktische Konsequenz für ihre eigene Person zogen, wie sie im Lauf der 40er Jahre aus dem philosophischen ganz ins politische Lager übergingen, haben wir hier nicht weiter zu verfolgen.  Theoretisch  aber bedeutet diese Wendung eine Abkehr von der Kritik des Himmels, der Religioni, der Theologie (die die STRAUSS, FEUERBACH, BRUNO BAUER u. a. Junghegelianer bis dahin hauptsächlich gepflegt hatten) und den Übergang zu einer Kritik der Erde, des Rechts und der Politik. Es galt, die HEGELsche Philosophie, welche die Welt im eigentlichsten Sinne auf den Kopf - nämlich des Menschen - gestellt, d. h. aus den Ideen der Philosophen abgeleitet hatte, sozusagen, "umzustülpen", wieder auf die Füße zu stellen. Die dialektische Methode, d. i. mit anderen Worten, wie wir jetzt wissen, der  Entwicklungs gedanke müßte aus den begrifflichen Konstruktionen HEGELs befreit, auf die  geschichtliche Wirklichkeit  angewandt werden, um in dieser und aus ihr die tatsächlich treibenden Kräfte zu entdecken, die hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehen. Damit ist nicht nur - und, wie uns dünkt, mit vollem Recht - HEGELs spekulativer Idealismus, sondern auch der, auch später von beiden Dioskuren [Castrop und Rauxel - wp] stets mit ziemlicher Geringschätzung behandelte, vulgäre naturwissenschaftliche Materialismus der MOLESCHOTT, VOGT und BÜCHNER augegeben zugunsten eines neuen, des  historischen  Materialismus, der dann im kommunistischen Manifest von 1847 bereits fertig und ungeschminkt hervortritt.

Es würde weit über den Rahmen meines heutigen Vortrages hinausgehen, wollte ich Ihnen die Hauptsätze dieses historischen Materialismus, die der großen Mehrzahl von Ihnen zudem bereits bekannt sein dürfte, hier im einzelnen entwickeln. Uns kommt es nur auf seine  philosophische  Bedeutung an. Ich möchte Ihnen vor allem zeigen, wie wenig diese sich als "materialistisch" bezeichnende Theorie im Grunde mit dem Materialismus im gewöhnlichen  naturwissenschaftlichen  oder gar im  ethischen  Sinne zu tun hat, daß sie dagegen durchaus vereinbar ist mit  derjenigen  Art des philosophischen Idealismus, dessen methodische Grundlinien von KANT zuerst gezogen worden sind.

Die neue Geschichtsphilosophie birgt diejenigen Elemente in sich, auf die sich meines Erachtens jede wahrhaft methodisch vorgehende Theorie der Gesellschaft stützen muß. Ihr gebührt vor allem das große Verdienst, zum erstenmal zwischen der sogenannten materiellen und der sogenannten geistigen Welt eine Brücke geschlagen, eine wissenschaftliche Verbindung hergestellt zu haben. Denn sie denkt beide in einem großen einheitlichen Zusammenhang, der von den untersten, in der äußeren Natur gelegenen Bedingungen des sozialen Lebens bis hinauf zu seinen obersten Spitzen in ununterbrochener Kette aufsteigt. Die unterste Stufe bilden selbstverständlich die sogenannten materiellen Dinge, die uns umgebende  äußere Natur.  Und nun geht die große Stufenleiter der sozialgeschichtlichen Entwicklung und zugleich des gegenwärtigen sozialen Körpers in kontinuierlicher Reihe fort. Die rein materiellen Faktoren der äußeren Natur werden infolge der wachsenden Naturerkenntnis in immer stärkerem Maße beherrscht durch die menschliche  Technik die dann ihrerseits ganz bestimmte Wirkungen auf die wirtschaftlich sozialen Lebensbedingungen der menschlichen Gesellschaft (Vertriebsform, Arbeitsteilung, Klassenbildung usw.) ausübt. Wir brauchen uns in unserem Zeitalter der Maschinen, der Elektrotechnik, der mannigfachsten Industrien jeder Art ja nur umzuschauen: jeder Blick in unsere Umgebung bringt uns eine Fülle von Beispielen zurück. Die so entstandene "ökonomische Struktur" schafft sich sodann von selbst ihren "ideologischen Überbau", d. h. zunächst die ihr angemessenen politischen und Rechtsformen, aus denen schließlich auch, wenngleich in sehr komplizierten, oft im einzelnen für uns nicht mehr entwirrbaren Zusammenhängen, die sittlichen und religiösen, künstlerischen und philosophisch in Anschauungen der jeweiligen Zeitperioden hervorgehen.

Es war ein geradezu großartiger Gedanke von MARX, durch seine soeben nur auf das allerknappste skizzierte Theorie einen  einheitlichen Gesichtspunkt  in die Betrachtung und Erforschung der ohnedies schier unentwirrbaren, wie eine rohe, ungeordnete Masse vor uns liegenden sozialen Geschichte hineinzutragen. Umso fruchtbarer, wenn er eben nicht als feststehendes Dogma, sondern als Gesichtspunkt, als Leitfaden aufgefaßt wird, als regulative Idee im Sinne KANTs, als wissenschaftliche Hypothese im Sinne DARWINs, die uns ein bestimmtes Gebiet der Wissenschaft klarer und begreiflicher zu machen vermag. In diesem Sinne aber  haben  den historischen Materialismus MARX und ENGELS stets betrachtet und verstehen ihn auch heute noch die theoretisch Führenden unter den jüngeren Marxisten. So bezeichnet MARX selbst bereits 1859 in der Vorrede zu seiner Kritik der politischen Ökonomie das neu gewonnene Prinzip ausdrücklich als -  "Leitfaden"  für seine "Studien". Und ähnlich haben sich neuerdings so gute Marxisten wie KARL KAUTSKY und ANTONIO LABRIOLA ausgesprochen. Ich möchte diejenigen von Ihnen, die sich für die philosophische Seite des Marxismus interessieren, ganz besonder auf den vorzüglich geschriebenen Essay des letztgenannten, leider vor zwei Monaten der Wissenschaft zu früh entrissenen, geistvollen italienischen Gelehrten über den "Historischen Materialismus" (5) aufmerksam machen. Dieser überzeugte, um die Verbreitung der materialistischen Geschichtsauffassung in Italien hochverdiente Marxist erklärt ausdrücklich: Der historische Materialismus will nichts weiter als eine bessere Erklärung der Aufeinanderfolge der menschlichen Ereignisse sein (Seite 104), ist nichts anderes als ein Versuch, die Entstehung und Verwicklung, die das soziale Leben im Laufe der Jahrhunderte erfährt, gedanklich zu begreifen (Seite 106). Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf jenes MARXsche Wort vom "Leitfaden" hebt auch LABRIOLA hervor, daß der historische Materialismus bloß eine  Untersuchungsmethode  und darin dem Darwinisms (Seite 149), oder, nach einer anderen von ENGELS gebrauchten Analogie, dem Prinzip von der Erhaltung der Kraft (Seite 167) verwandt sei. Er biete ein neues Forschungsprinzip, ein präzises Orientierungsmittel, einen bestimmten Gesichtspunkt, der neues LIcht über die sozialen Geschehnisse verbreitet (Seite 249), aber er könne nur ein Schema liefern, das durch ausgedehnte historische Spezialforschungen erst ausgefüllt werden müsse, denn er stehe nicht am Ende, sonder erst am Anfang seiner eigenen Entwicklung (Seite 104). Und der Franzose PAUL LAFARGUE, MARXens Schwiegersohn und begeisterter Anhänger, schrieb noch vor drei Wochen in der "Neuen Zeit" den Satz nieder: "MARX hat seine Theorie der Geschichtsauffassung nicht in einem Lehrgebäude mit Axiomen, Theoremen, Haupt- und Hilfsätzen vorgebracht, sie ist für ihn nur ein Forschungsmittel", "ein neues Werkzeug, um eine gewisse Ordnung in die Unordnung der historischen Tatsachen zu bringen", das er im Lapidarstil formuliert, das aber der Probe durch die Tatsachen Bedarf. (6)

Ferner haben die bedeutenderen Theoretiker der MARXschen Schule fast ebenso einmütig eine einseitige und übertriebene Hervorkehrung der  ökonomischen  und  materiellen  Momente, wie sie zuweilen im Eifer für die neue Lehre von begeisterten Anhängern gepredigt wurde, von sich abgelehnt. Hier ist vor allen Dingen ENGELS selbst zu nennen, der sich in einem vom 21. September 1890 datierten Brief (7) folgendermaßen äußerte: "Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die  ökonomische  Seite gelegt wird als ihr zukommt, haben MARX und ich teilweise verschulden müssen. Wir hatten den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die  übrigen  ander  Wechselwirkung  beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. ... Es ist leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohn weiteres handhaben zu können, sobald man sich die Hauptsätze angeeignet hat und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren Marxisten nicht ersparen und es ist dann da auch wunderbares Zeug geleistet worden." Soweit ENGELS. Dem gegenüber stellt er als  seine  und - was ich besonders unterstreichen möchte, weil es vielfach unbeachtet geblieben ist - auch als die Ansicht seine verstorbenen Freundes MARX und zwar von  jeher,  folgende zwei Punkte fest:
    1. Die ökonomische Lage ist nicht das einzige, sondern nur das in  letzter Instanz  bestimmende Moment der sozialgeschichtlichen Gesamtentwicklung;

    2. die sogenannten ideologischen Faktoren, nämlich der politisch-rechtlich und der philosophisch-religiös-künstlerische "Überbau", wirken ihrerseits auf die rein ökonomischen Momente zurück, so daß zwischen beiden eine ständige und mit Erhöhung der Kultur immer mehr wachsende und sich komplizierende  Wechselwirkung  entsteht.
Dieser MARX-ENGELSschen Interpretation haben sich, soviel ich sehe, alle bedeutenderen Vertreter des historischen Materialismus angeschlossen: so neben LABRIOLA u. a. auch KARL KAUTSKY und HEINRICH CUNOW, die bei verschiedenen Gelegenheiten aufs bestimmteste erklärt haben, daß der historische Materialismus gar nicht behaupte, alles und jedes, z. B. etwa die Philosophie, in ihrem ganzen Umfang, direkt oder indirekt aus rein wirtschaftlichen Momenten ableiten zu können oder auch nur zu wollen, sondern lediglich, insofern sie - im letztgenannten Fall die praktische Philosophie - mit den sozialwissenschaftlichen Zuständen und der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit zusammenhänge.

Ich wüßte wahrhaftig nicht, was ein vernünftiger, sozusagen realistischer, an Kant gebildeter Idealismus gegen eine solche Gesellschaftstheorie einwenden könnte, warum er sie nicht vielmehr, um mich eines vielgebrauchten Schlagwortes zu bedienen, "voll und ganz" akzeptieren sollte.  Und so sehen wir dann auch, daß diejenigen Sozialphilosophen von heute, deren wissenschaftliche Methode durch die KANTsche Erkenntniskritik bestimmt ist - ich erinnere an den Philosophen PAUL NATORP in Marburg (Hessen), den Juristen STAMMLER in Halle/Saale, den Professor FRANZ STAUDINGER in Darmstadt - den historischen Materialismus als einen bedeutenden wissenschaftlichen Fortschritt anerkennen. Er ist auch vom Standpunkt des sozialen Idealismus aus betrachtet in der Tat ein vortreffliches methodisches Hilfsmittel zur immer tieferen Erforschung der sozialen Zusammenhänge und Entwicklungen der  Vergangenheit,  wie zur Erklärung der  Gegenwart;  in bedingtem Sinn auch zur Beurteilung der  Zukunft,  obwohl hier außerordentliche, von manchen übereifrigen Anhängern zuwenig beachtete Schwierigkeiten und Komplikationien vorliegen. Gewisse allgemeine Tendenzen können indessen sicherlich in vielen Fällen auch hier erkannt werden.
LITERATUR: Karl Vorländer, Kant und Marx, Vortrag gehalten in Wien am 8. April 1904, Wien 1904
    Anmerkungen
    1) Über das Verhältnis von KANT, SCHILLER, GOETHE, vgl. meine eingehenden Aufsätze in "Philosophische Monatshefte", Bd. XXX und Kantstudien Bd. 1 bis 3
    2) Veröffentlicht von seiner Tochter ELEANOR in: "Neue Zeit", Bd. XVI. 1, Seite 6 - 12.
    3) a. a. O. Seite 117f; vgl. dazu MEHRING Seite 127f
    4) a. a. O. Seite 271
    5) In französischer Übersetzung in 2. Auflage 1902 zu Paris als III. Band der Bibliothéque socialiste internationale erschienen.
    6) "Neue Zeit" XXII, Seite 781f
    7) Veröffentlicht im Sozialistischen Adademiker 1895, Seite 351