ra-2 Sozialismus und soziale BewegungDie Quintessenz des Sozialismus    
 
JULIUS WOLF
Das Ende des
wissenschaftlichen Sozialismus


"In der Agitation sich als gesinnungstreuer Sozialist zu betätigen, habe er, so wurde Bernstein gesagt, Gelegenheit genug, die kritischen Sorgen aber solle er  mit sich selbst  austragen, statt sie auf den Markt hinauszurufen. Gewiß, meinte Stadthagen, Zweifel kann jeder haben, aber dann soll er sich in ein stilles Kämmerlein setzen und so lange drucksen, bis er die Zweifel los wird."

Vor wenigen Tagen hat der Lübecker sozialdemokratische Parteitag seine Verhandlungen geschlossen. Er bedeutet zweifellos einen Markstein in der Entwicklung des Sozialismus und ganz besonders des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus. Denn er hat ausgesprochen und endlich zugestanden, daß der Marxismus eine Beleuchtung durch eine nach jeder Richtung unbefangene, von jeder Rücksicht  freie Kritik,  wenn das Interesse oder die Stimmung der Partei nicht leiden soll,  nicht verträgt.  Mit 166 gegen 71 Stimmen, also mit über zwei Drittel mehr wurde eine Resolution  abgelehnt,  welche klar, einfach, unzweideutig besagte:
    "Die Partei hält die Freiheit wissenschaftlicher Selbstkritik für eine Voraussetzung der geistigen Weiterentwicklung der Partei."
und mit 203 Stimmen gegen 31, also mit 6/7 Mehrheit, eine Resolution angenommen, welche wohl nicht versäumte, im ersten Satz auch auszusprechen: "Der Parteitag erkennt rückhaltlos die Notwendigkeit der Selbstkritik für die geistige Fortentwicklung unserer Partei an", im zweiten Satz aber zurücknahm, was der erste besagte, indem sie fortfuhr:
    "Aber die durchaus einseitge Art, wie der Genosse BERNSTEIN diese Kritik in den letzten Jahren betrieb, unter Außerachtlassung der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Trägern, hat ihn in eine zweideutige Position gebracht und die Mißstimmung eines großen Teils der Genossen erregt. In der Erwartung, daß der Genosse BERNSTEIN sich dieser Erkenntnis nicht verschließt und danach handelt, geht der Parteitag über die Anträge Nr. 52, 91, 92 und 93 zur Tagesordnung über."
Hier wird also erklärt, die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Trägern in der Wissenschaft sei die eigentliche Aufgabe des Parteigenossen, die Kritik des Marxismus verhältnismäßig in den Hintergrund zu stellen oder es sei doch von demjenigen, der auch letztere Kritik üben wolle, zu verlangen, daß er sich durch nicht minder eindringende Kritik an der bürgerlichen Wirtschaftsordnung und ihren überzeugten Vertretern ausgewiesen habe. Nicht jedermann, der als Sozialist anderen voran Kenner des Marxismus sein mag, soll ihm mit der kritischen Sonde nahetreten, sie mindestens nicht so tief einführen als er will und als ihm im Interesse der Sache, um der Erforschung der Wahrheit willen nötig und unumgänglich scheint, sondern nur derjenige, der sich zuvörderst in der Kritik der bürgerlichen Wirtschaftsordnung eine Note erworben hat. Er allein soll zugelassen sein, immer mag er dann aber die wissenschaftliche Kritik am Sozialismus behutsam üben, nicht zuviel aufdecken, um nicht die Mißstimmung der Genossen zu erregen.

Keine Interpretationskunst, keine Rabulistik hilft darüber hinweg, daß dem Kritiker und der Kritik hier die Hände gebunden sind, ihnen Vorschriften gemacht werden. Einseitige Kritik am Marxismus ist unzulässig, weil gefährlich. Es ist offenbar: würde der Marxismus vermöge seiner inneren Wahrheit aller Kritik gewachsen sein, so würde auch die allereinseitigste Kritik ihm nichts anzuhaben vermögen und die Einseitigkeit des Kritikers würde nur auf diesen zurückfallen. Keine noch so einseitige Kritik vermag, was durch gute Gründe gestützt ist, als Irrtum nachzuweisen und nur wer um gute Gründe verlegen ist, ruft nach dem Büttel [Gerichtsdiener, Henker - wp]. In der vom Parteitag angenommenen Resolution ist eine Zensur gefordert und verhängt.

Die Beleuchtung, die wir hier dem Beschluß des sozialdemokratischen Parteitags angedeihen lassen, ist von Übelwollen weit entfernt. Sie wird bloß einer Pflicht gerecht, die die Sozialdemokratie selbst bisher über alles stellte und die zum Teil ihre Stärke war, der Pflicht,  das Kind beim rechten Namen zu nennen.  Das geschieht hier, allen Versuchen der Bemäntelung, Beschönigung und Selbsttäuschung, an denen es in letzter Zeit nicht gefehlt hat, zum Trotz. Gehässigkeiten sind uns durchaus fremd. Daß der Resolution Bebel, die auf dem Parteitag zur Annahme gelangte, hier keine Auslegung gegeben wird, die ihr nicht zukommt, geht auch aus den sonstigen Äußerungen und Vorgängen auf dem Parteitag mit unverkennbarer Deutlichkeit hervor.

BERNSTEIN beschwört die Genossen, ihm das Recht der freien Meinungsäußerung nicht zu verkümmern, er erklärt, daß die Resolution Bebel, wenn angenommen, dieses Recht beschränke:
    "Und darum habe ich gesagt: Die Verarbeitung des Marxismus muß beginnen mit der Kritik: was ist auszubessern, was haben die Verhältnisse nicht bestätigt? Also  wenn Sie wirklich wissenschaftlich sein wollen,  wenn Sie  den wissenschaftlichen Geist für den Sozialismus festhalten wollen,  dann müssen Sie auch bei allem, was die Theorie anstrebt, das  Recht der Kritik  anerkennen und  gelten  lassen."
LEDEBUR wirft die Worte in die Debatte: "Bestreiten wir ja nicht." BERNSTEIN fährt fort:
    "Ja, theoretisch, in der Absicht tun Sie es nicht, aber  in Wirklichkeit  schreckt und hemmt doch die Art ihres Vorgehens diejenigen, die in der Sache arbeiten."
Und abermals:
    "Ja, werte Genossen, was soll denn der Genosse, der sich kritisch betätigt, tun? Soll er fortwährend  wiederkäuen,  was schon gesagt ist?

    "Seien Sie doch nicht so nervös! Wir sind doch heute eine starke Partei.  Bisher  hat man die Kritik  nicht  verkümmert und wir sind  vorwärts  gegangen."
Zuletzt erklärt BERNSTEIN noch:
    "Ich  bestreite  es ganz entschieden, sei es in meinen Vorträgen, sei es in meiner sonstigen Tätigkeit  irgend  eine  einseitige  Kritik geübt zu haben."
Für BERNSTEIN trat DAVID aus Mainz, auch nach BEBELs Zeugnis einer der besten Kenner des wissenschaftlichen Sozialismus, ein. "Parteigenossen!", apostrophierte er den Parteitag,
    "Parteigenossen, was an dieser Kritik richtig ist, wird Bestand haben und sich durchsetzen und wenn man es  zehnmal verdonnert,  uns was nicht richtig ist, das wird absterben", -
ein Gedanke, der früher von der Sozialdemokratie oft variiert worden war, etwa wenn es hieß, daß man geistige Bewegungen nicht mit dem Knüppel ersticken noch lenken könne. DAVID spricht sich noch drastischer aus; er appelliert an den Parteitag, BERNSTEIN nicht den Garaus zu machen, nicht "die Gurgel durchzuschneiden", und schließlich:
    "Wenn  wir uns darauf berufen, wir seien eine  wissenschaftliche  Partei,  dann dürfen  wir uns nicht dazu verstehen, einen Forscher wie BERNSTEIN in seiner Tätigkeit  herabzudrücken.  Lassen wir ihn in seinem Sinne  weiterarbeiten  im Interesse der Partei. Von der Gegenseite wird BERNSTEIN schon gesagt werden, was sie für falsch hält."
Dieser Appell fruchtete so wenig wie die Verteidigung der Freiheit der Kritik durch den Angeklagten selbst. 203 Mann gaben der Überzeugung Ausdruck, daß das Recht der freien Kritik nicht nur mißbraucht werden  könne,  sondern im vorliegenden Fall mißbraucht worden  sei.  Und da die Stimmen auch in der Sozialdemokratie nicht gewogen, sondern gezählt werden, hatte die geringe Minderheit der 31, die wirklich und wahrhaftig "rückhaltlos die Freiheit wissenschaftlicher Kritik als eine Voraussetzung der geistigen Weiterentwicklung der Partei" bezeichnete, nur eine Statistenrolle.

Die Schädigung, welche die Partei bis dahin durch die unbeschränkte Freiheit der Kritik bei BERNSTEIN erfahren haben sollte, wurde von Verschiedenen bezeugt.

GRUNDWALD-Erfurt teilte aus der Agitation mit:
    "Schon 1989 sind sehr tüchtige Genossen zu mir gekommen und haben sich darüber beschwert, daß sie aufgrund der Argumente BERNSTEINs mit den Gegnern nicht fertig geworden sind. Es ist wichtig, daß die Einheit der Grundsätze der Agitation wieder hergestellt wird."
KAUTSKY hatte ähnliche Eindrücke in der wissenschaftlichen Welt empfangen:
    "Unsere Gegner halten uns fort und fort BERNSTEIN entgegen; sie sagen: Was versteht denn Ihr vom Sozialismus? BERNSTEIN versteht das viel besser, er ist ein alter Marxist."
BEBEL faßte beides zusammen, indem er aussprach:
    "Wogegen wir uns wenden, das ist die Art, die  parteischädigende  Art der Tätigkeit, die BERNSTEIN in den letzten Jahren entfaltet hat."
BERNSTEIN hatte selbstverständlich niemals gegen die Sozialdemokratie mit Wissen und Wollen Stimmung gemacht, vielmehr, was er praktisch für die Partei leisten konnte, für sie getan. Die "parteischädigend" Art der Tätigkeit, von welcher BEBEL sprach, was also allein die wissenschaftliche Kritik, die er dem wissenschaftlichen System des Sozialismus, dem Marxismus, aufgrund einer Kenntnis desselben, die allerdings die denkbar intimste war, zuteil werden ließ. Er hatte den Becher überlaufen machen in einem Vortrag, den er über die Frage "Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?" im Berliner sozialwissenschaftlichen Studentenverein hielt, indem er aber nichts anderes tat, als daß er - der Vortrag war zum Fenster hinausgesprochen -, um sein Wahrheitsstreben vor den Genossen zu rechtfertigen und zu entschuldigen und sich die Erlaubnis, auch weiter seiner kritischen Tätigkeit unbehindert leben zu dürfen, zu erwirken, die Verschiedenheit der Ziele wissenschaftlicher und politischer Arbeit auseinandersetzte und gleichzeitig zu beweisen suchte, daß der Sozialismus zu einem Teil nicht nur unwissenschaftlich sein dürfe, sondern sein müsse. Letzteres sei er, insofern er eine Zukunft zu konstruieren suche, gewisse Ziele feststelle und festhalte, die als  notwendig  aus der Gegenwart und ihren Einrichtungen entspringend noch nicht nachzuweisen seien.

Nun war freilich der Nachweis der gesetzmäßigen Entwicklung gegen eine gewisse, nämlich kollektivistische Zukunft hin aus den Bedingungen der Gegenwart der große Ehrgeiz, die Mission, die Leistung des ökonomischen Marxismus gewesen. Nach ihm sollte ja die sozialistische Gesellschaft nur als eine nächste Etappe, eine  Entwicklungsphase,  aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen vermöge der in  dieser  wirksamen Kräfte, rein naturgesetzlich und unabwendbar. Indem BERNSTEIN die Zukunftskonstruktion von MARX wie früher schon auch diesmal abwies, gab er also das, was den Kern des ökonomischen Marxismus ausmacht, die Evolutionstheorie preis. Und unter solchen Umständen war die Verstimmung, die bei den Genossen gegen BERNSTEIN Platz griff, wohl zu begreifen. BERNSTEIN hatte seinen Standpunkt dahin bezeichnet: der kritische Sozialismus sei wissenschaftlich, der positive könne es nicht sein, er sei utopisch wie der von MARX und ENGELS abgewiesene Sozialismus der als solche bezeichneten Utopisten. Bei kritischem Sozialismus dachter er aber offenbar an einen noch zu formulierenden Sozialismus, an eine neue Kritik, die in Ablösung der von MARX in dieser Weise vielfach zu Unrecht geübten an deren Stelle zu setzen sei. Während also der positive Sozialismus unwissenschaftlich war, mußte der kritische Sozialismus erst geboren werden.

Der  politische  Sozialismus konnte zu einer Theorie, die in solche Feststellungen auslief, nicht schweigen. Es wurde nachgerade eine Existenzfrage für ihn, BERNSTEIN und anderen Kritikern, die mit ihm in die gleiche Kerbe hieben, die Kritik wenn nicht zu verbieten, so doch zu beschränken, ihnen zu sagen, bis hierher und nicht weiter, wenn die Möglichkeit, der Kritik wirksamer durch  Antikritik  zu begegnen, nicht mehr bestand. War letztere nicht möglich, so war man allerdings auf die Parteipolizei angewiesen, um die entscheidenden Sätze des ökonomischen Marxismus mindestens dem Schein nach noch eine zeitlang über Wasser zu halten.

So wurde der Krise im Marxismus kurzerhand durch Parteibeschluß ein Ende gemacht, indem man den berufensten, weil vorurteilslosesten und die größte Autorität genießenden Kritiker auf andere als die kritischen Aufgaben hinwies. In der Agitation sich als gesinnungstreuer Sozialist zu betätigen, habe er, so wurde BERNSTEIN gesagt, Gelegenheit genug, die kritischen Sorgen aber solle er  mit sich selbst  austragen, statt sie auf den Markt hinauszurufen.  "Gewiß",  meinte STADTHAGEN,  "Zweifel  kann jeder haben, aber dann soll er sich in ein stilles Kämmerlein setzen und so lange drucksen, bis er die Zweifel los wird."'

Die Fassung, die BERNSTEIN seinem Vortrag und dessen Niederschrift gegeben hatte, war nicht sonderlich glücklich gewesen. Der Vortrag war als Plädoyer gedacht für das Recht der freien Kritik an die Adresse jener, die ihm dieses Recht bestritten, von vielen wurde er aber als ein letzter  Angriff  auf die Theorie nach den mannigfaltigen Angriffen, deren Gegenstand sie bis dahin schon durch BERNSTEIN gewesen war, angesehen. BERNSTEIN hatte als Kronzeugen für die Unanfechtbarkeit seiner Forderung nach  Freiheit der Kritik  zwei bürgerliche Schriftsteller vorgeführt, einen philosophischen Historiker und einen historischen Philosophen, BUCKLE und MASARYK, aus deren Werken er zwei Motti seiner Schrift voranschickte. Das eine, BUCKLE entnommene, besagte:
    "Zum unmittelbaren Zielpunkt hat alles Können entweder den Nutzen oder das Behagen; alles  Wissen  hingegen die Erforschung der  Wahrheit  und dem entspricht auch die  Verschiedenartigkeit des beiderseitigen Bereiches." 
Aus MASARYK entlehnte er die Stelle:
    "Wie alle sozialen Reformparteien, hat auch der Sozialismus seine lebendige Quelle in den offenkundigen Unvollkommenheiten der jetzigen Gesellschaftsordnung.  Solange  diese Quelle fließt, hat die kämpfende Partei des Sozialismus, die Sozialdemokratie, von der Selbstkritik ihrer Theorie nichts zu fürchten."'
Hatte BERNSTEIN wirklich gemeint, durch Anführungen wie diese den Parteitag oder die leitenden Männer desselben zu überzeugen und seinem Ruf: "Genossen, geben Sie Gedankenfreiheit" geneigter machen zu können?

Viele aus der Versammlung hatten BERNSTEINs Broschüre sicher nicht gelesen, wenn gelesen, sie nicht verstanden, was bei den krausen, verschlungenen Gedankengängen, lästigen Wiederholungen, stumpfen Formulierungen, die den Druck andeuten, unter welchem der Autor damals schon stand und der ihm völlig frei von der Leber weg zu sprechen in diesem kritischen Augenblick nicht mehr gestattete, kaum zu verwundern war. Was die Genossen dagegen begriffen, das war die durch eine Reihe von Reden des Parteitags gehende Empfindung, daß ein Sozialist auch noch andere Pflichten habe als solche gegen die Wissenschaft, Pflichten nämlich gegen die Partei und daß bei einer Kollision der Pflichten das Interesse der Partei über dem Interesse von Wissenschaft und Wahrheit stehe.  So und nicht anders ist das Votum des Parteitags zu erklären.  Daß auch BERNSTEIN ein Verständnis für diesen Punkt hat, zeigt nicht nur seine Unterwerfung des Inhalts, ungeachtet der Überzeugung, zu  Unrecht  gerichtet worden zu sein, sich fügen und "dem Votum der Majorität des Parteitags diejenige Achtung und Beachtung entgegenbringen zu wollen, die einem solchen Kongressbeschluß gebührt", sondern auch ein Antrag, den er selbst vorher schon aus Anlaß einer anderen Frage, die den Parteitag beschäftigte, zur Beratung stellte und der offenbar mit den Beruf hatte, gleichzeitig seine Unterwerfung vorzubereiten und nach außen zu rechtfertigen. Dieser Antrag lautete:
    "Der Kampf der Arbeiterklasse auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet erfordert eine  einheitliche Zusammenfassung aller Kräfte  in den betreffenden Organisationen. Er hat zur Grundbedingung die Ausübung  strenger Disziplin  in der Aktion, die  Respektierung der Beschlüsse der Mehrheit  durch die Minderheit gemäß den  Grundsätzen der Demokratie

    Wer der Partei  oder seiner Berufsorganisation in einem von ihnen geführten Kampf durch Taten  entgegenwirkt  oder  Sonderbündelei  zur Führung einer solchen Gegenaktion  betreibt, verstößt wider das vorentwickelte Lebensprinzip der Arbeiterbewegung.  Es sind daher die örtlichen Organisationen der Partei berechtigt,  solche  Mitglieder so lange aus ihrer Mitte auszuschließen, als sie in diesem Verhalten beharren."
BERNSTEIN hatte diese Äußerungen programmatischer Natur getan, bevor er verurteilt worden war, weiterhin, wenn er kritische Bedenken habe, "sich ins stille Kämmerlein zu setzen und so lange zu drucksen, bis er die Zweifel los geworden." Er hatte in jener Resolution zu verstehen gegeben, daß er bereit sei, auch in Wissenschaftsfragen sich zu fügen, an sich eine Ungeheuerlichkeit, aber durch das Interesse und die notwendige Disziplin der Partei bei dem allzeit getreuen Genossen sicherlich verständlich.

Die Unterwerfung BERNSTEINs ist also vollzogen. Was nun? Ist diese  "Unterwerfung"  das  "Ende"  des wissenschaftlichen Sozialismus?  Sie  ist es selbstredend nicht. Mit Majoritätsbeschlüssen erschlägt man keine Wahrheiten und kein Kongreß noch so einsichtiger Männer vermag die Wissenschaft zu zwingen, einen vorgeschriebenen Weg zu gehen. BEBEL meinte allerdings
    "Ich hoffe mit DAVID, daß es heute das letzte Mal ist, wo wir über diese Dinge reden.  Und damit es wirklich das letzte Mal ist,  schlagen wir unsere Resolution vor, die sich von der nichtssagenden Form der anderen Resolution unterscheidet";
aber das war nur eine Naivität mehr in der Zahl der Naivitäten, an denen diese Verhandlung über das Thema "Partei und Wissenschaft" nicht arm war.

Die Kritik wird in Wahrheit weiter leben, allen Mahnungen und Anweisungen über das, was ein rechtschaffener Sozialist sagen darf und was er nicht sagen darf, zum Trotz, und ist nicht BERNSTEIN ihr Träger, so werden andere Genossen, offen oder versteckt, eingestandener oder uneingestandenermaßen, bewußter  oder unbewußterweise  sie üben.

In dem Sinne, daß das Ende des revisionistischen Sozialismus gekommen sei, kann also das Ende des wissenschaftlichen Sozialismus sicher nicht behauptet werden. Aber, wenn nicht in diesem Sinne, so in anderem, in jenem nämlich, daß das Ende der Theorie durch die Maßregeln, welche der Parteitag gegen die Kritik ergreift, besiegelt worden ist.

Ein süddeutsches Blatt meinte in dieser Hinsicht vor einiger Zeit:
    "BERNSTEIN hat die Revision sehr gut begonnen. Er nahm den Marxismus vor sich und ohne auf Fragen subtilster Art einzugehen, holte er ein Stück nach dem andern heraus, zergliederte es und zeigte die Fehlschlüsse.  Das haben zwar andere schon vor ihm getan,  aber wie die Dinge nun einmal liegen, mußte ein angesehener Sozialdemokrat es  noch einmal  tun. Das ist seine historische Mission. Auf diesem Weg müßte er weitergehen, wenn er sein Werk fortsetzen will, mitten in den Marxismus hineingreifen und demonstrieren - Wissenschaft gegen Wissenschaft. Wenn aber das eine von vornherein als Unwissenschaft abgetan ist, dann braucht es keiner Diskussion mehr und keiner Demonstration;  dann ist man am Ende." 
Das Blatt war unzufrieden mit solchen Aussichten und fügte hinzu: "Das wäre aber sehr schade, denn BERNSTEINs  Aufgabe  ist noch lange nicht erfüllt."

Letzteres mag der Fall sein. Aber in einem und wohl dem wichtigsten Punkt ist sie erfüllt, ist man am Ende. BERNSTEIN erklärt, es gibt keine Zukunftskonstruktion, denn die Evolutionstendenzen, die von MARX als der bürgerlichen Wirtschaftsordnung immanent bezeichnet wurden, gehören ihr nicht an. Die MARX'sche Evolutionslehre ist ein Mißverständnis, eine Mißdeutung, fast eine Umkehrung ins Entgegengesetzte des Tatsächlichen, d. h. der Tendenzen, welche die ökonomische Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft in Wirklichkeit beherrschen. Daß er damit sich zu eigen macht, was der Schreibe dieser Zeilen 1892 in der gleichen Weise einer weit widrigeren Zeitmeinung entgegen verfocht, mit dem Erfolg, die unerhörtesten Angriffe und Verdächtigungen aus sich zu vereinigen, ist von ihm nicht geleugnet. Der Parteitag führt gegen diese Feststellungen Kanonen auf oder zeiht ums sie doch Quarantänen, während er ja doch wohl weiß, daß das einzige Mittel gegen unzutreffende Kritik zutreffende Gegenkritik ist, daß Irrtum nur durch Wahrheit widerlegt werden kann. Statt mit dem Mann aus den eigenen Reihen sich zu sagen:
    "Wenn wir uns darauf berufen, wir seien eine wissenschaftliche Partei, dann dürfen wir uns nicht dazu verstehen, einen Forscher wie BERNSTEIN in seiner Tätigkeit herabzudrücken. Lassen wir ihn in seinem Sinne weiterarbeiten im Interesse der Partei. Von der Gegenseite wird BERNSTEIN schon gesagt werden, was sie für falsch hält",
wird mit 203 gegen 31 Stimmen beschlossen, mit der Bernsteinerei dürfe es so nicht weitergehen und der Genosse, der für die wissenschaftliche Arbeit am Sozialismus wie wenige geschaffen war, auf ein anderes Feld der Tätigkeit verwiesen.

Wenn die Sozialdemokratie, die Partei der rückhaltlosen Meinungsäußerung, sich zu solchen Zwangsmaßregeln hergibt, die ihrer Vergangenheit, ihrer Tradition, ihrer ganzen Natur aufs äußerste entgegen sind, dann ist diese Theorie mit der so Vieles steht und fällt, in Wahrheit aufgegeben und abgetan.
LITERATUR: Julius Wolf, Das Ende des wissenschaftlichen Sozialismus, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, IV. Jhg., Berlin 1901