ra-2cr-2von BülowA. MerkelH. GutherzA. LiebertJ. Lukas    
 
GUSTAV RADBRUCH
Die Geltung des Rechts

"Die Jurisprudenz kann über die Geltung der Rechtsordnungen nicht entscheiden - die Entscheidung wird von der Weltgeschichte gefällt.  Die Rechtsordnung gilt, die siegreich im Kampf mit den konkurrierenden Rechtsordungen sich faktische Wirksamkeit zu verschaffen vermochte, sei es, daß sie in langwieriger überzeugender oder gewöhnender Einwirkung die Gesinnung der Rechtsunterworfenen für sich gewonnen hat, sei es, daß sie ihnen durch Zwang und Strafe gewaltsam aufgenötigt worden ist."

"Es sollen die beiden zusammenhängenden Fragen beantwortet werden: wie bemächtigt sich die Macht der Rechtsunterworfenen? und: was ist überhaupt politische Macht?  Jhering hat die Machttheorie in das Schlagwort gekleidet: das Recht sei die  Politik der Gewalt. Aber worin sonst bestünde wohl jene Politik als darin, daß sich die Gewalt selbst klüglich die Schranken setzt, innerhalb deren sie von den Gewaltunterworfenen als gerechtfertigt anerkannt zu werden erwarten darf? Und jene Gewalt selbst - ist sie überhaupt etwas anderes als die Anerkennung durch die Gewaltunterworfenen? Politische Macht besteht ja nicht im Besitz von Körperkraft, Waffen und Geld, sondern im Gehorsam der Personen, welche die Waffen führen und das Geld als Zahlungsmittel annehmen. Die Aufkündigung des Gehorsams durch die Machtunterworfenen kann also jeder Macht ihr Ende setzen."

"Nicht dadurch, daß jeder einzelne für sich, sondern nur dadurch, daß das Volk wie ein Mann, das irgendwie organisierte Volk ihr den Gehorsam aufkündigt, könnte ja die Gewalt bewältigt werden. Die bestehende Organisation des Volkes sieht aber die Opposition zunächst als eine unorganisierte Summe von Einzelnen sich gegenüberstehen und ist imstande, gemäß der Grundmaxime des Despotismus  Teile und herrsche! alle gegen jeden einzelnen auszuspielen, indem sie sich ihrerseits zu organisieren verhindert."

"Ein Wert, der jedem positiven Recht schon vermöge seiner Positivität ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeit seines Inhalts anhaftet: die dadurch bewirkte Rechtssicherheit. Nichts aber wurde bisher darüber ausgemacht, inwieweit die schon durch das Dasein des Gesetzes beschaffte Rechtssicherheit die in seinem Sosein gelegene Ungerechtigkeit oder umgekehrt diese Ungerechtigkeit jene Rechtssicherheit aufzuwiegen vermöge. Nur die katholische Rechtsphilosophie hat freilich heute den Mut, die Fälle der Ungültigkeit positiven Rechts kasuistisch zu bestimmen, nur sie hat sich in einem Zeitalter der Machtpolitik, des Staatsabsolutismus und Rechtspositivismus der brutalen Faktizität nicht ganz gebeugt."

Die Frage nach der Geltung des Rechts, seinem Anspruch auf Gehorsam, seiner verpflichtenden Kraft ist in so mannigfachen Bedeutungen aufgeworfen und beantwortet worden, daß, soll nicht als gegensätzliche Beantwortung erscheinen, was nur einer verschiedenen Fragestellung entspricht, diese Fragestellungen nicht sorgfältig genug unterschieden werden können. Der Gedankenzusammenhänge, in denen das Problem der Rechtsgeltung erscheint, dürften aber drei sein: die Rechtswissenschaft, die Rechtssoziologie, die Rechtsphilosophie.

1. In seiner juristischen Auffassung stellt das Problem der Rechtsgeltung die Aufgabe, die Geltung des Rechts darzulegen, ohne die Sphäre des Rechts zu überschreiten, die Geltung von Rechtssätzen immer wieder auf die Geltung anderer Rechtssätze zu gründen. So obliegt es der Jurisprudenz, die Geltung einer Polizeiverordnung am Gesetz und die Geltung des Gesetzes wiederum an der Verfassung zu messen. Kann sie aber auch noch die Geltung der Verfassung aufzeigen? Sie wird die Geltung der Verfassung auf den Staatswillen, dessen Geltung aber, will sie sich programmgemäß innerhalb der Rechtssphäre halten, wiederum nur auf die Verfassung gründen können - hier setzt das für die juristische Betrachtung unlösbare Problem ein, ob der Staat im Recht oder das Recht im Staat gründet, das Grenzproblem der Jurisprudenz genauso wie für die Theologie der  circulus vitiosus,  daß die Geltung der Schrift auf den Willen Gottes zurückgeführt, dieser Wille Gottes aber wiederum erst aus der Schrift erschlossen werden muß. Die juristische Betrachtungsweise wird immer dabei stehenbleiben müssen, Staat und Recht als die beiden Modi einer einzigen Substanz, als ordnende und geordnete Ordnung zu betrachten, als einander gegenseitig bedingend, zusammen aber unbedingt - als einen freischwebend in sich selbst ruhenden Kosmos, nur durch sich selbst gesetzt, ursprünglich, souverän und absolut. Die Entstehung und das Dasein von Staat und Recht ist selbst rechtlich unkonstruierbar, metajuristisch, ganz ähnlich wie die Urzeugung metabiologisch sein würde. Die Jurisprudenz kann die Frage nach den Gründen der Geltung zwar für einen einzelnen Rechtssatz mittels anderer Rechtssätze, aber nicht für die Rechtsordnung als Ganzes beantworten; diese muß vielmehr als aus eigener Kraft und nur um ihrer selbst willen gültig anerkannt werden. Um eines Zweckes willen geschaffen, beansprucht das Recht doch nicht nur um dieses Zweckes willen und, soweit es ihm dient, sondern unbedingt angewendet zu werden - es verabsolutiert sich selbst. Für den Gesetzgeber, dem Recht zu schaffen obliegt, mag die Korrektur angebracht sein: "Fiat justitia, ne pereat mundus" [Gerechtigkeit soll herrschen, um die Welt nicht zu zerstören. - wp] - für den Juristen, der geschaffenes Recht auslegt und anwendet, gilt immer noch das alte  Fiat justitia - pereat mundus! [Gerechtigkeit soll herrschen, auch wenn die ganze Welt untergeht. - wp]. Für ihn, der lediglich den Sinn der fertigen Rechtsordnung herauszustellen hat, ist der absolute Geltungsanspruch der Rechtsordnung als positiv-rechtliche Wahrheit maßgebend. Wer, sei es als Philosoph, sei es als Soziologe, das Recht in seiner Faktizität, gleichsam von außen her betrachtet, dem ist es ein Inbegriff von Imperativen, von Tatsächlichkeiten also, die wie alle anderen sich die Prüfung ihrer Geltung mittels übertatsächlicher, metajuristischer Normen gefallen lassen müssen. Der Jurist aber hat es nicht mit der Tatsächlichkeit der Rechtsordnung zu tun, sondern mit ihrem Sinn, nicht damit,  daß  etwas gewollt und befohlen wird, sondern mit dem,  was  gewollt und befohlen ist. Der Sinn jedes Wollens aber, wenn wir ihn ganz sauber von seinem physisch-tatsächlichen Träger ablösen, ist - ein Sollen, der Sinn jedes Imperativs, wenn man (mit MERKELs Ausdrücken) seinen Lehrgehalt aus seinem Machtgehalt herauspräpariert, ist - eine Norm. Keine Möglichkeit, den Inhalt eines Befehls ohne Rückgriff auf die Tatsache seiner Befohlenheit anzugeben als mit den Worten: dies soll sein! Keine Möglichkeit zu befehlen ohne den Willen, daß das Anbefohlene dem Adressaten zur Norm wird. Jedes weitere Wort über diese so paradoxe wie unumstößliche Tatsache könnte nur eine weitere Wiederholung sein; es genügt, dem Leser die selbsttätige Vornahme des gedanklichen Experiments anheimzustellen: den Sinn eines Imperativs von seiner imperativen Form rein abzuschneiden - er wird nichts anderes als eine Norm erhalten (1). Die wichtigste Konsequen dieser Feststellung wird erst im nächsten, methodologischen Kapitel gezogen und soll hier nur angedeutet werden: die Rechtswissenschaft, mit den faktischen Rechtsimperativen befaßt, ihrem Gegenstand nach als eine Tatsachenwissenschaft, ist, da sie nur mit dem Sinn dieser Imperative zu schaffen hat, der Sinn jedes Imperativs aber eine Norm ist, in ihrer Methode von einer Normwissenschaft nicht zu unterscheiden. Die Jurisprudenz tut also ganz recht daran, die Imperative des Rechts, die unsere rechtsphilosophische Betrachtungsweise sorgfältig von den Normen zu unterscheiden bemüht war, unbefangen als Normen zu bezeichnen, und mit dem Begriff der Norm auch seinen Tochterbegriffen, welche die philosophische Betrachtungsweise mit ihm aus dem Rechtsgebiet ausweisen mußte, insbesondere dem Begriff der Pflicht, unbedenklich Aufnahme zu gewähren (2).

Diese Ausführungen zeigen nun aber zugleich die geringe Tragweite der juristischen Geltungstheorie, zeigen, daß sie eine ganze Reihe von Geltungsproblemen gar nicht lösen kann und will. Rein immanent, wie sie ist, gefangen und befangen in einer bestimmten Rechtsordnung, deren Sinn zu ermitteln ihre einzige Aufgabe ist, kann sie die Geltung von Rechtssätzen immer nur an anderen Rechtssätzen derselben Rechtsordnung, die Geltung der ganzen Rechtsordnung nur an ihrem eigenen Geltungsanspruch messen, niemals aber über den Geltungsanspruch der ganzen Rechtsordnung im Verhältnis zu anderen Ordnungen unparteiisch entscheiden. Der "Normenkollision" in allen ihren zahlreichen Gestalten steht sie hilflos gegenüber. Sie kann im Streit zwischen Sitte oder Sittlichkeit und Recht immer nur die Partei des Rechts nehmen, das ihm zum Gegenstand gegeben ist, niemals aber ein unparteilicher Richter über den Streitteilen sein. Sie kann die Konkurrenz zwischen Inlands- und Auslandsrecht nicht unparteiisch entscheiden, sondern nur nach Maßgabe des Geltungsanspruchs des Inlandsrechts, des "internationalen Privat"- oder "Strafrechts", das ja ein Bestandteil der nationalen Rechtsordnung ist. Sie kann im Kampf zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht, zwischen Völkerrecht und Landesrecht, zwischen Staat und Kirche, zwischen Legitimität und Revolution, dem "Kampf des alten mit dem neuen Recht" (3) immer nur der Sachwalter sein, der einseitig den Anspruch des Streitteiles darlegt, dem er dient, niemals aber der objektive Urteilsfinder. Ja sie wäre sogar unfähig, den Imperativen eines Paranoikers, der sich als König fühlt, mit zwingenden Gründen die Geltung abzusprechen. Sie kann immer nur vom Standpunkt einer Rechtsordnung aus den Geltungsanspruch der anderen kritisieren, - "tamquam e vinculis sermonicari" [daß wir uns gleichsam in Ketten unterhalten - wp] (BACON) - nicht aber aus eigener Kraft begründen, warum sie denn gerade den Standpunkt  jener  Rechtsordnung einnehme. Sie ist also nicht einmal imstande, die Wahl eines Arbeitsgebietes aus eigener Kraft zu rechtfertigen. Der Rechtswissenschaft muß der Gegenstand ihrer Arbeit durch eine außerjuristische Betrachtungsweise angewiesen werden.

2. Zur unparteiischen Entscheidung all jener Kämpfe ist also, so scheint es, eine  metabasis eis allo genos [unzulässiger Sprung in ein artfremdes Gebiet - wp] geboten, der Übergang in eine metajuristische, vielleicht überhaupt metanormative Betrachtungsweise: die Ableitung des rechtlichen Sollens aus einem Sein irgendwelcher Art, die Annahme der "Normativen Kraft des Faktischen" (4) in irgendeiner Gestalt.

Die Jurisprudenz kann über die Geltung der Rechtsordnungen nicht entscheiden - die Entscheidung wird von der Weltgeschichte gefällt.  Die  Rechtsordnung gilt, die siegreich im Kampf mit den konkurrierenden Rechtsordungen sich faktische Wirksamkeit zu verschaffen vermochte, sei es, daß sie in langwieriger überzeugender oder gewöhnender Einwirkung die Gesinnung der Rechtsunterworfenen für sich gewonnen hat, sei es, daß sie ihnen durch Zwang und Strafe gewaltsam aufgenötigt worden ist. Ihren drastischsten Ausdruck findet die an der Tatsächlichkeit orientierte Geltungslehre in der Machttheorie, die es durchzusetzen imstande ist. Aber der Befehl und die Macht bedeuten nur ein Wollen und Können, sie vermögen auf der Seite des Adressaten also allenfalls ein Müssen, nicht aber ein Sollen, Gehorsam vielleicht, aber niemals eine Pflicht zum Gehorsam hervorzubringen. Ebensowenig wie (nach MERKELs treffendem Vergleich) ein wertloses Papier dadurch Geltung erlang, daß es jemand mit der Pistole in der Hand einem anderen als Zahlungsmittel aufnötigt, gewinnt ein Imperativ demjenigen gegenüber Geltung, der sich ihm zähneknirschend zu unterwerfen gezwungen wird, - geschweige denn gegenüber dem, der sich ihm hohnlachend zu entziehen versteht. Denn gilt das Recht nur, weil hinter ihm die Macht steht, so kann es auch nur gelten, insoweit diese Macht nicht versagt; es würde die Spartanermoral gelten, daß nicht ertappt werden nicht gefehlt haben hieße, und spätestens mit der Verjährung würde nicht nur die Strafbarkeit, sondern auch die Rechtswidrigkeit in der Tat hinfallen. Auf solche Einwände pflegt die Machttheorie freilich zu erwidern, sie mache die Geltung einer Rechtsordnung nicht davon abhängig, daß sie in jedem einzelnen Fall, sondern nur davon, daß sie sich in der Regel durchsetzt. Aber offenbar kann ein Anspruch der Rechtsordnung auf den Gehorsam dieses Menschen nicht aus ihrer Wirksamkeit gegenüber anderen Menschen abgeleitet werden - und die Rechtsordnung muß sich doch jedem Einzelnen gegenüber in ihrer Geltung legitimieren können. Die abweichende Betrachtungsweise der Machttheorie, diese über den verschwindenden Ausnahmefall hinwegsehende Durchschnittsbetrachtung, zeigt deutlich, daß sie eine ganz andere Frage beantwortet, als diejenige, die hier gestellt wird. Die typisierende Betrachtungsweise gehört dem Soziologen, dem Historiker - sie dürfen die Geltung des Rechts seiner durchschnittlichen Wirksamkeit in der Gesellschaft gleichsetzen; der Jurist aber und der Rechtsphilosoph müssen den Beweis der Geltung des Rechts für jeden Einzelfall verlangen und können schon deshalb die Geltung nicht mit der Wirksamkeit, mit der Macht identifizieren, die dem Recht in jedem Einzelfall eben nicht beiwohnt. So hat auch der beredteste Vertreter der Machttheorie, LASSALLE, im Nachwort zu den berühmten Vorträgen über Verfassungswesen ausdrücklich festgestellt, daß er "keine ethische Abhandlung, sondern eine historische Untersuchung" habe liefern, nur habe zeigen wollen, "daß, während es ganz feststeht, daß Recht vor Macht gehen sollte, in der Wirklichkeit doch immer Macht vor Recht geht und allemal und so lange geht, bis das Recht nun auch seinerseits eine hinreichendere Macht hinter sich versammelt hat, um die Macht des Unrechts zu zerschmettern". (5)

Eine notwendige Korrektur der Machttheorie soll zu einer anderen Lehre von der Rechtsgeltung hinüberführen, die, auch ihrerseits soziologisch konzipiert, doch den Übergang zu einer philosophischen Geltungstheorie darstellt. Es sollen die beiden zusammenhängenden Fragen beantwortet werden: wie bemächtigt sich die Macht der Rechtsunterworfenen? und: was ist überhaupt politische Macht? JHERING (6) hat die Machttheorie in das Schlagwort gekleidet: das Recht sei die "Politik der Gewalt". Aber worin sonst bestünde wohl jene Politik als darin, daß sich die Gewalt selbst klüglich die Schranken setzt, innerhalb deren sie von den Gewaltunterworfenen als gerechtfertigt anerkannt zu werden erwarten darf? Und jene Gewalt selbst - ist sie überhaupt etwas anderes als die Anerkennung durch die Gewaltunterworfenen? Politische Macht besteht ja nicht im Besitz von Körperkraft, Waffen und Geld, sondern im Gehorsam der Personen, welche die Waffen führen und das Geld als Zahlungsmittel annehmen. Die Aufkündigung des Gehorsams durch die Machtunterworfenen kann also jeder Macht ihr Ende setzen. Keine Regierung also, die nicht letztenendes auf den Volkswillen gegründet wäre, kein Volk, das nicht gerade die Regierung hätte, die es verdient, kein Staat, in dem nicht die Volkssouveränität eine soziologische Tatsache wäre! Warum muten diese für jedes noch um seine Freiheit ringende Volk in einem doppelten Sinn "empörenden" Sätze trotz ihrer Unentrinnbarkeit so paraxox an? Weil sie das stärkste Machtmittel scheinbar unbeachtet lassen: die Organisation. Nicht dadurch, daß jeder einzelne für sich, sondern nur dadurch, daß das Volk "wie  ein Mann",  das irgendwie organisierte Volk ihr den Gehorsam aufkündigte, könnte ja die Gewalt bewältigt werden. Die bestehende Organisation des Volkes sieht aber die Opposition zunächst als eine unorganisierte Summe von Einzelnen sich gegenüberstehen und ist imstande, gemäß der Grundmaxime des Despotismus "divide et impera" [Teile und herrsche! - wp] alle gegen jeden einzelnen auszuspielen, indem sie sich ihrerseits zu organisieren verhindert. Es ist durchaus denkbar, daß die bestehende Organisation sich in ihrer überwiegenden Mehrheit aus denselben Elementen wie die Opposition zusammensetzt und dennoch zur Unterdrückung der Opposition benutzt wird; denn jede Organisation organisiert an den Einzelnen immer nur, was dem spezifischen Organisationszweck dient: eine überwiegend aus Oppositionsleuten zusammengesetzte Armee wird dennoch nicht zu einer Armee der Opposition, weil in ihr eben nicht die oppositionellen Gesinnungen, sondern nur die militärischen Qualitäten, vielleicht gerade zur Bekämpfung der Opposition ihrer Glieder organisiert sind. Gewiß: die Organisation selbst ruht letzten Endes auf dem Willen der Organisierten, aber nicht auf dem Willen der Organisierten als Einzelner, sondern eben auf ihrem Willen als Organisationsglieder - die Organisation selbst erzeugt immer wieder den Willen der Organisierten, dessen sie bedarf; es ist ja eine allbekannte Erscheinung der Massenpsychologie, daß der Mensch als einzelner schwer unter den Fesseln leidet, die er als Gemeinschaftsmitglied selbst schmieden hilft. Und so darf also der Satz, jedes Volk habe die Regierung, die es verdient, nicht dahin mißverstanden werden, daß jedes oder auch nur die Majorität seiner einzelnen Glieder keiner besseren Regierung wert sei. Das Urteil gilt dem organisierten, nicht dem isolierten Willen des einzelnen Volksgenossen, dem Einzelnen nicht sowohl als moralischem, denn als politischem Wesen.

Die Machttheorie hat sich also unter unseren Händen in die Anerkennungstheorie verwandelt, welche besonders durch BIERLING, wie man wohl sagen darf: zur Herrschaft gelangt ist (7). Man hat der Lehre, welche die Geltung des Rechts auf die Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen stützt, vorgeworfen, sie mache anarchistisch die rechtliche Bindung vom Belieben derer abhängig, die gebunden werden sollen, und zerstöre dadurch die rechtliche Bindung:  sub hac conditione si volam nulla fit obligatio [der Wille hört auf verpflichtet zu sein, wenn er sich ändert - wp]; sie bewirke dadurch, daß das Recht gerade dort versagt, woe es sich erst bewähren sollte: dem Verbrecher gegenüber, der durch die Übertretung des Gesetzes ihm doch wohl in unzweideutigster Weise seine Anerkennung entzieht. Aber dieser Einwand übersieht, daß die Anerkennung eine Funktion nicht des Willens, sondern des Gefühlvermögens ist, also nicht dem Gebiet der seelischen Spontaneität, sondern demjenigen der seelischen Passivität angehört, daß es ebensowenig in unserem Belieben steht, etwas recht oder unrecht, wie etwas schön oder häßlich, gut oder böse, wahr oder falsch zu finden und daß, wie man Geschmack, Gewissen und Logik nicht nach Belieben ausschalten kann, so selbst der Verbrecher das Rechtsgefühl, das ihn an eine Norm bindet, dadurch noch nicht abschütteln kann, daß er sie übertritt. Die vorhandene Anerkennung kann also dem Recht nicht nach Belieben entzogen werden, - andererseits ist aber die Anerkennung nicht mit unumgänglicher Notwendigkeit vorhanden, und der Anerkennungstheorie bleiben nur zwei Möglichkeiten, die Geltung des Rechts auch für diese Ausnahmefälle fehlender Anerkennung zu begründen: sie kann entweder die Geltung für schon durch die Anerkennung des Rechts seitens der überwiegenden Majorität der Rechtsgenossen begründet erklären, würde aber damit wiederum nur eine typisierende, also soziologische Geltungslehre aufstellen; oder aber sie muß die Rechtsgeltung nicht auf die wirklich vorhandene Anerkennung, sondern auf das bloße Anerkennensollen stützen und dadurch zu einer philosophischen Geltungstheorie werden. Diesen zweiten Weg gehen BIERLINGs Ausführungen. Er sieht als unbewußt und indirekt anerkannt z. B. die notwendigen Konsequenzen an, auch wenn sich im Bewußtsein des Anerkennungssubjekts nur deren Prämissen vorfinden, - wie könnte man auch wohl sonst für Interpretationsmöglichkeiten, welche erst die Jurisprudenz aufdeckt, die Anerkennung des Volkes und damit die Geltung erweisen! Diese "unbewußte" und "indirekte Anerkennung", die BIERLING selbst als eine bloß "ideale" Anerkennung bezeichnet, ist offenbar keine psychologische Tatsächlichkeit mehr, vielmehr nur "die schlechthin notwendige logische Konsequenz" einer solchen, die sich "für jeden  normal  denkenden Menschen" ganz von selbst versteht, - aber eben doch vielleicht vom  realen  Anerkennungssubjekt nicht realisiert wird, eine Tatsache des  "idealen  Bewußtseins", - aber dadurch doch noch nicht jedes  empirischen  Bewußtseins; kurzum, es wird als unbewußt und indirekt anerkannt fingiert, was vernünftigerweise nicht nicht anerkannt werden kann; das psychologische Anerkennen ist nur ein Bild für das normative Anerkennensollen des Rechts - genau wie in der Lehre vom Staatsvertrag die Tatsache, daß der Staat dem Sollen eines jeden entspricht, in einem Bild ausgedrückt wird, daß er durch das Wollen aller entstanden ist. In der Tat ist die Anerkennungstheorie trotz der gegenteiligen Versicherung ihres Hauptvertreters nur eine Neuauflage der Vertragstheorie und wie diese keine psychologistische Lehre, welche die Rechtsgeltung auf die seelische Tatsache der Zustimmung der Rechtsunterworfenen gründete, die zufällig vorliegen, ebensogut aber auch fehlen könnte, vielmehr eine philosophische Theorie, die durch eine bloße Fiktion der Zustimmung der Rechtsunterworfenen ihr ethisches Interesse an der Rechtsordnung zum Ausdruck bringen, also die Rechtsordnung in Wahrheit aus ihrem individualistischen Zweck rechtfertigen will.

3. Wird nun aber durch diese philosophische Begründung der Geltung des Rechts auf seine Zweckmäßigkeit, durch diese scheinbare Gleichsetzung des geltenden mit dem richtigen Recht, der Geltung mit der Gültigkeit, die Geltung des positiven Rechts nicht auf das schwerste gefährdet? Muß nicht die Geltung unzweckmäßigen positiven Rechts geleugnet werden? Wird nicht auch die Geltung zweckmäßigen positiven Rechts gegenüber dem Vertreter einer anderen Zweckauffassung, transpersonalistisch konzipiertes Recht dem Individualisten gegen und vice versa [umgekehrt - wp], unerweisbar? Führt also nicht die hier zu entwickelnde philosophische Geltungslehre die ganze anti-positivistische Willkür des Naturrechtszeitalters von neuem herauf?

Zweifellos: wenn der Zweck des Rechts und die zu seiner Erscheinung notwendigen Mittel wissenschaftlich erkennbar wären, wäre die Folgerung unausweichlich, daß vor diesem von der Wissenschaft einmal erkannten Naturrecht die Geltung abweichenden positiven Rechts erlöschen müßte, wie der entlarvte Irrtum vor der enthüllten Wahrheit; für die Geltung erweislich unrichtigen Rechts läßt sich keine Rechtfertigung erdenken. Ob aber ein Rechtssatz als unrichtig erwiesen sei, darüber müßte, da auf dem Gebiet des Erkennens keine Autorität gelten kann, der wissenschaftlichen Überzeugung jedes einzelnen Rechtsgenossen die Entscheidung überlassen werden, die Anerkennung des Naturrechts also folgerichtig in der Leugnung jeder autoritären Rechtssetzung, im Anarchismus enden (8).

Nun hat es sich uns aber als unmöglich erwiesen, die Frage nach dem Zweck des Rechts anders als durch die Aufzählung der mannigfaltigen Parteimeinungen darüber zu beantworten - und gerade nur aus dieser Unmöglichkeit eines Naturrechts kann die Geltung des positiven Rechts begründet werden; der Relativismus, bisher nur die Methode unserer Betrachtungen, geht an dieser Stelle selbst als Bauglied in unser System ein. Die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen bleiben, da diese verschiedenen Menschen möglicherweise entgegengesetzte Weisungen erteilen, muß vielmehr durch eine überindividuelle Instanz geregelt werden. Da nun aber Vernunft und Wissenschaft diese Aufgabe nicht erfüllen können, so muß der Wille und die Macht sie übernehmen: vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll. Das Recht ist eine Gemeinschaftsregelung im Dienst der Gerechtigkeit, es hat zum entfernteren Zweck die Gerechtigkeit, aber eben als Gemeinschaftsregelung, zum näheren Zweck die Rechtssicherheit, die Aufgabe, eine überindividuelle Ordnung irgendeiner Art zu schaffen, und so den Streit der individuellen Gerechtigkeitsanschauungen durch eine authentische [echte - wp] Entscheidung praktisch zu erledigen. Jene entferntere Aufgabe erfüllt zwar das positive Recht nur im Falle seiner inhaltlichen Richtigkeit, diese nähere dagegen immer, eben durch seine Positivität. Die Positivität des Rechts wird damit in höchst merkwürdiger Weise selbst zur Voraussetzung seiner Richtigkeit: es gehört ebensosehr zum Begriff des richtigen Rechts positiv zu sein, wie es Aufgabe des positiven Rechts ist, inhaltlich richtig zu sein. Es gibt sogar eine ganze Reihe von Rechtssätzen, welche durch ihre Positivität, durch ihr bloßes Dasein ihren Zweck bereits voll erfüllen, ohne ihrem Inhalt, ihrem Sosein nach überhaupt unter der Herrschaft eines Zweckes zu stehen, Rechtssätze, deren Gegenteil genau so gerecht wäre, die nur eine einheitliche, gleichviel welche, Regelung, die nur Rechtssicherheit, nicht auch Gerechtigkeit bezwecken, z. B. die Polizeiverordnung "Rechts fahren!", welche ihren Zweck, Zusammenstöße zu vermeiden, nicht besser erfüllt, als die entgegengesetzte Anordnung "Links fahren!" ihn erfüllen würde. Solcher Rechtssätze würde es auch in einer Gemeinschaft vollkommener Wesen bedürfen, welche die Pflichten der Gerechtigkeit restlos kennen und erfüllen. Es ist deshalb unrichtig, das Recht nur zu einem Notbehelf menschlicher Sündigkeit zu erklären, bestimmt zu verschwinden, wenn je einmal das Menschengeschlecht zu sündenfreier Sittlichkeit emporgestiegen sei. Auch die "himmlischen Heerscharen" werden eines Exerzierreglements nicht entraten können.

Der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit erweist sich nun aber tauglich, nicht nur die Positivität des Rechts überhaupt zu rechtfertigen, sondern auch die früher besprochenen "Normenkollisionen" konkurrierender positiver Rechtsordnungen zu entscheiden. Soll das gesetzte Recht jener Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegengesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtspruch zu beenden, so muß die Setzung des Rechts einem Willens zustehen, dem auch seine Durchsetzung gegenüber jeder widerstrebenden Rechtsanschauung möglich ist. Die früher als soziologische Tatsache festgestellte Verknüpfung von Macht und Recht, die Rechtsentstehung durch Rechtsbruch, die völkerrechtliche Theorie der vollendeten Tatsache, die Normativität des Faktischen, erhält also nunmehr ihre philosophische Rechtfertigung. Die Rechtsphilosophie marschiert wie der liebe Gott mit den stärkeren Bataillone. "Macht geht nicht vor Recht, aber Macht wirkt Recht, wenn sie von Erfolg begleitet ist", sagt einmal der verstorbene Berliner Publizist HÜBLER in seiner unvergeßlich prägnanten Weise. Die Rechtssicherheit, welche immer der stärksten Macht die Weihe erteilt, verlangt aber vor allem, daß  eine  Macht die stärkste ist. Sie ist es, in der die Forderung der "Einheit der Staatsgewalt" wurzelt, sie rechtfertigte die Überwindung der anarchischen Zweiherrschaft des ständischen Staates durch den Absolutismus, sie ist eine treibende Kraft in der Rechtsphilosophie dieses Absolutismus: der Lehre des HOBBES, sie vermag im konstitutionellen Staat bei einem Gleichgewicht zwischen Krone und Parlament nicht stehen zu bleiben, treibt vielmehr unaufhaltsam entweder zum "monarchischen Prinzip" oder zum "parlamentarischen Regime".

Nicht nur die rechtsetzende Gewalt, sondern auch jeder einzelne Rechtssatz verliert die Geltung, wenn hinter ihm die Macht entschwindet, wenn er nur noch "auf dem Papier steht" und deshalb die Rechtssicherheit, um deren willen ihm die Geltung zukam, nicht mehr zu gewähren vermag. Nicht nur das derogatorische [ausnahmeregelnde - wp] Gewohnheitsrecht, sondern auch die Ersitzung und die Verjährung erklären sich aus diesem Gesichtspunkt. Daß diese drei Institute auf dem gleichen Grundgedanken beruhen, ist die folgende Erwägung glaubhaft zu machen geeignet. Es liegt keinerlei Grund vor, die Rechtssätze gerade nur in einem Aggregatzustand, in der Generalisierungsphase, in der sie im Gesetz fixiert sind, als Rechtssätze aufzufassen. Niemand scheut sich, die, etwa durch Analogie gewonnenen, Verallgemeinerungen gesetzlicher Bestimmungen Rechtssätze zu nennen; es sollte sich also auch umgekehrt niemand scheuen, den Spezialisierungen der gesetzlichen Bestimmungen den Namen  Rechtssatz  beizulegen - bis hinunter zur Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall; in dem Wort "lex contractus" [Recht des Vertrages - wp] liegt ja bereits ein Ansatz zu einer solchen Terminologie vor. Auch das spezielle subjektive Recht stellt, unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, einen Spezialsatz objektiven Rechts dar, und dieser Spezialsatz muß genauso wie die generellen Rechtssätze der Derogation durch die gewohnheitsmäßige Nichtanwendung fähig sein, - welche hier eben Verjährung heißt. Daß das Recht sich übrigens nicht nur der durch Gewohnheit befestigten, sondern auch der momentanen Machtposition aus Gründen der Rechtssicherheit anbequemt, zeigt eine ganze Reihe von Rechtsinstituten - vom privatrechtlichen Schutz des Besitzes bis zur völkerrechtlichen Bedeutung des  status quo [gegenwärtiger Zustand - wp] (9).

materiellen Rechtsverwirklichung wird - immer aus dem gleichen Grund der Rechtssicherheit. So ist der Verteidiger als Anwalt nicht nur des materiellen, sondern auch des prozessualen Rechts, als Anwalt des prozessualen selbst gegen das materielle Recht, auch dann auf Freisprechung seines durch die Beweisaufnahme nicht überführten Klienten zu plädieren verpflichtet, wenn er durch ein privates Geständnis um seine Schuld weiß. Nochmals potenziert wird aber diese Opferung der Gerechtigkeit um der Rechtssicherheit willen im Gedanken der Rechtskraft, der ja nicht nur der materiellrechtlich fehlerhafte Inhalt, sondern auch eine prozeßrechtlich fehlerhafte Entstehung des Urteils nicht im Wege steht, und der Streit um die "absolute Nichtigkeit" formell rechtskräftiger Urteile wegen besonders schwerer Verstöße ist ein positivrechtliches Analogon zum rechtsphilosophischen Problem der Gültigkeit unrichtigen positiven Rechts.

Denn man glaube doch nicht, es sei dieses Problem schon durch die bisherigen Ausführungen im Sinne der Gültigkeit jedes "Schandgesetzes", jedes auch noch so unrichtigen positiven Rechts entschieden, - eine solche uneingeschränkte Gültigkeit eines positiven Gebildes, eine solche restlose Verabsolutierung einer empirischen Gegebenheit, eine solche ungetrübte Vollkommenheit eines Menschenwerks wäre ja auch in der gesamten Wertphilosophie ohne Beispiel. Freilich ist durch die bisherigen Ausführungen ein Wert aufgewiesen worden, der jedem positiven Recht schon vermöge seiner Positivität ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeit seines Inhalts anhaftet: die dadurch bewirkte Rechtssicherheit, nichts aber wurde bisher darüber ausgemacht, inwieweit die schon durch das Dasein des Gesetzes beschaffte Rechtssicherheit die in seinem Sosein gelegene Ungerechtigkeit oder umgekehrt diese Ungerechtigkeit jene Rechtssicherheit aufzuwiegen vermöge. Nur die katholische Rechtsphilosophie hat freilich heute den Mut, die Fälle der Ungültigkeit positiven Rechts kasuistisch zu bestimmen, nur sie hat sich in einem Zeitalter der Machtpolitik, des Staatsabsolutismus und Rechtspositivismus der brutalen Faktizität nicht ganz gebeugt. (10)

Die Frage nach dem Vorrang der Gerechtigkeit oder der Rechtssicherheit ist nun offenbar generell nicht zu entscheiden. Daß die Rechtssicherheit der Gerechtigkeit nicht unbedingt untergeordnet werden kann, haben die bisherigen Ausführungen gezeigt. Noch weniger kann aber die Gerechtigkeit der Rechtssicherheit schlechthin geopfert werden; man darf insbesondere den durchgängigen Vorrang der Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit nicht etwa darauf begründen wollen, daß jene das Dasein, diese nur ein Sosein des Gesetzes fordert - der Vertreter des Gerechtigkeitsstandpunktes würde mit unanfechtbarer Widerspruchslosigkeit das Sosein der Gesetze für wichtiger als ihr Dasein erklären:  sint ut sunt aut non sint! [Sie seien wie sie sind oder sie seien überhaupt nicht. - wp] Generell können also die Werte der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit einander nur koordiniert werden, und wer die Rechtssicherheit zu subaltern [auf einem niedrigeren geistigen Niveau stehend - wp] finden möchte, um in der erhabenen Gesellschaft der Gerechtigkeit und damit in der Umgebung der höchsten Werte, der Sittlichkeit, Schönheit und Wahrheit, sich gleichberechtigt zu bewegen, dem mag mit einigen Umschreibungen erwidert sein, die das Pathos auch der Rechtssicherheit stärkerzu betonen geeignet sind. Der Inhalt der Gerechtigkeit ist je nach weltanschaulichem Standpunkt Macht, Freiheit oder Kultur, das Wesen der Rechtssicherheit Ordnung, Friede, - wenn man das Recht als Friedensordnung kennzeichnet, betont man also von seinen beiden Aufgabe vornehmlich die Rechtssicherheit. Die beiden Aufgaben des Rechts sind auch gleichermaßen fähig, mit ethischem Wert umkleidet und zu sittlichen Gütern erhoben zu werden: die sittliche Pflicht, welche die Befolgung des Gesetzes um seines Soseins, seines Inhalts, seiner Gerechtigkeit willen vorschreibt, heißt Gerechtigkeit (in einem subjektiven Sinn); die sittliche Pflicht, welche Gehorsam gegen das Gesetz einfach um seines Daseins, seiner Positivität und der dadurch bewirkten Rechtssicherheit willen auferlegt, dagegen Rechtlichkeit, - nur in der Person des Richters pflegt man diese terminologische Unterscheidung nicht zu machen: man spricht niemals von "rechtlichen Richtern", nennt vielmehr nicht nur den "weisen", sondern auch den einfach gesetzestreuen einen "gerechten Richter"; warum, wird sich später zeigen.

Es ist nun aber unmöglich, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als zwei völlig getrennte Aufgaben des Rechts so beziehungslos nebeneinander stehen zu lassen. Im ersten Kapitel dieses Buches wurde gezeigt, daß der Rechtsbegriff nur aus dem Rechtszweck gewonnen werden kann: Recht ist, was den Rechtszweck hat; das Einheitsprinzip des Rechtsbegriffs ist der Rechtszweck - auch der Rechtsbegriff würde also gesprengt werden, wenn dem Recht zwei gegeneinander ganz selbständige Zweck zugewiesen würden. Es ist deshalb unumgänglich, die Rechtssicherheit zur Gerechtigkeit nun doch wieder in Beziehung zu setzen, sie einem umfassenderen Gerechtigkeitsideal einzuordnen, sie selbst als eine Forderung der Gerechtigkeit in einem weiteren Sinn zu begreifen (11). Die Lösung dieser Aufgabe kann nur darin liegen, daß die Rechtssicherheit, die Ordnung, der Friede zusammen mit der Gerechtigkeit im engeren Sinne je nach dem weltanschaulichen Standpunkt als Mittel der Macht, der Freiheit, der Kultur begriffen wird. Aber auch bei dieser Einstellung in einen umfassenderen Gerechtigkeitsbegriff bewahrt sie gegenüber der Gerechtigkeit im engeren Sinne eine höchst interessante Eigentümlichkeit: während nämlich je nach dem weltanschaulichen Ausgangspunkt der Inhalt des Ideals der Gerechtigkeit im engeren Sinne mannigfach verschieden ist, ist Rechtssicherheit, Ordnung, Friede für jeden denkbaren Rechtszweck in gleichem Maß und in gleicher Weise notwendig: ob der Zweck der Strafe die Sicherung des Staates vor dem Verbrecher sei, darum geht der erbitterte Kampf der Weltanschauungen, - daß die Aufgabe des Straf rechts  die Sicherung des Verbrechers vor dem Staat oder weniger paradox ausgedrückt: die Sicherung des Staatsbürgers vor dem Staatsanwalt sei, bestreitet niemand. Deshalb gibt es eine ganze Reihe rechtspolitischer Probleme, die vom weltanschaulich-politischen Streit über den Zweck des Rechts nicht berührt werden, vielmehr unter dem für alle Standpunkte gleichermaßen wichtigen Gesichtspunkt der Rechtssicherheit einer eindeutigen Entscheidung fähig sind; so konnten z. B. Verjährung, Besitzerschutz, Rechtskraft in diesem Kapitel eine durchaus überrelativistische Würdigung erfahren.

Durch die Unterordnung der Rechtssicherheit wie der Gerechtigkeit unter ein gemeinsames Rechtsideal, gleichviel ob der Macht, der Freiheit oder der Kultur, wird nun auch das Problem seiner Lösung zugeführt, das hier zur Erörterung steht: geht Rechtssicherheit vor Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit vor Rechtssicherheit? Daß es nicht generell beantwortet werden kann, wurde gezeigt; es kann nur von Fall zu Fall, bald in dem einen, bald in dem andern Sinn entschieden werden; diese Entscheidung ist aber zu gewinnen aus dem gemeinsamen Zweck der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit, durch die Untersuchung, ob diesem Zweck im gegebenen Fall durch die Mißachtung der Positivität oder durch die Mißachtung der Ungerechtigkeit des Rechtssatzes der größere Schaden erwächst.

Die rechtsphilosophische Geltungslehre spricht also einem ungerechtem positivem Recht unter Umständen die Geltung ab; die juristische Geltungslehre dagegen vermochte dem positiven Recht die Geltung niemals zu versagen. Wie verhalten sich diese scheinbar sich widersprechenden Lehren zueinander, wie zu der dritten, der soziologischen Geltungslehre? Es ist zweckmäßig, mit der letzten dieser Fragen zu beginnen und durch ihre Beantwortung zugleich das Verhältnis der Begriffe  Positivität  und  Geltung  festzustellen. Unter Positivität des Rechts wurde in den bisherigen Ausführungen, wohl im Einklang mit dem herrschenden Sprachgebrauch, die Wirksamkeit des Rechts in der Gesellschaft verstanden, seine Fähigkeit, sich in größerem oder geringerem Grad die Gefolgschaft des Rechtsadressaten zu verschaffen. Die Rechtspositivität ist also mit der Rechtsgeltung in ihrer soziologischen Bedeutung identisch (12) (13). Aber das Geltungsproblem, das hier zur Erörterung stand, ging nicht auf die Wirksamkeit, sondern auf die Verbindlichkeit des Rechts. Dieser normative Geltungsbegriff, dem hier nachgefragt wird, hat eine ganz andere Struktur als der deskriptive der Soziologie. Die soziale Wirksamkeit und also auch die soziologisch verstandene Geltung des Rechts ist der Gradation fähig, - Geltung im Sinne der Verbindlichkeit kann dagegen einem Rechtssatz nur entweder zukommen oder nicht zukommen, nicht aber in einem höheren oder niederem Grad zukommen. Soziale Wirksamkeit, Positivität, Geltung in einem soziologischen Sinn kann weiter zwei miteinander kämpfenden entgegengesetzten Rechtsordnungen gleichzeitig zugesprochen - die Geltung im Sinne der Verbindlichkeit dagegen bei solchen Normenkollisionen immer nur einer der konkurrierenden Rechtsordnungen beigemessen werden. Die Frage nach der Verbindlichkeit positiven Rechts beantwortet sowohl die rechtswissenschaftliche wie die rechtsphilosophische Geltungslehre. Die rechtsphilosophische Geltungslehre stellt sich unparteiisch über die konkurrierenden Rechtsordnungen und spricht ihnen die Verbindlichkeit nach Maßgabe teils ihres Macht-, teils ihres Gerechtigkeitsgehaltes zu oder ab. Die Rechtswissenschaft muß sich dagegen immer auf dem Boden einer bestimmten Rechtsordnung bewegen, deren Sinn herauszustellen ihre einzige Aufgabe ist, und, da jede Rechtsordnung  ihrem eigenen Sinn nach  verbindlich ist, der Rechtsordnung, mit der sie gerade befaßt ist, unvermeidlich und uneingeschränkt Geltung zusprechen. Diese schlechthinnige Geltung des positiven Rechts ist also eine positivrechtliche - aber eben auch  nur  positivrechtliche Wahrheit, der wahre Sinn des positiven Rechts, aber darum noch nicht die Wahrheit. Genauso wie etwas der grausige Wahnwitz, den der Ausleger als den wahren Sinn des "Hexenhammers" anerkennen muß, deshalb doch noch keineswegs von ihm als Wahrheit anerkannt werden muß. Die Gebundenheit durch den wahren Sinn kann aber immer nur eine theoretische Gebundenheit sein, eine Gebundenheit des Erkennens, das sich die Deutung einer Äußerung zur Aufgabe gesetzt hat, nicht aber eine praktische Gebundenheit des Handelns: die Geltung, die jeder Rechtsordnung ihrem Sinn nach zukommt, muß unbedingt anerkannt werden nur vom Juristen, dessen Verstand sich um den Sinn der Rechtsordnung theoretisch bemüht, nicht aber schon deshalb auch vom Rechtsgenossen, dessen Gewissen sich über ihre Verbindlichkeit praktisch befragt - und also wäre auch die juristische Geltungstheorie keine Antwort auf die hier zur Erörterung gestellte Frage. Über die wirkliche, nicht nur von ihr selbst vorgegebene Verbindlichkeit der Rechtsordnung handelt schließlich die philosophische Geltungstheorie, und wenn sich heute die juristische Geltungslehre wie das letzte Wort über die Geltungsfrage zu gebärden pflegt, so ist das ein typisches Beispiel einer scholastischen Denkweise, die, wie sie überall den "wahren Sinn", z. B. des ARISTOTELES oder der Bibel, zur Wahrheit zu hypostasieren geneigt war, auch den Geltungssinn des Gesetzes unversehens in eine wirkliche Geltung verwandelt.

Es gibt jedoch einen Berufsstand, der bei seinem beruflichen Handeln in der Tat den Geltungswillen des Gesetzes unbedingt zu respektieren hat: der Richterstand. Aber auch diese Verbindlichkeit kann nicht durch die juristische Geltungslehre auf das Gesetz, vielmehr nur durch die Ethik auf den Eid gegründet werden, durch den der Richter es bedingungslos auf sich genommen hat, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei. Man möchte aber vielleicht fragen, wie denn dieser Richtereid selbst, dieses  sacrificium intellectus [Opfer des Verstandes; man stellt sein eigenes Denken unter einem Machtanspruch zurück - wp], diese Blanko-Hingabe der eigenen Persönlichkeit an eine Rechtsordnung, deren künftige Wandlungen man nicht einmal ahnen kann, diese Verheißung, durch die (um mit bekannten Worten unseres Strafgesetzgbuchs zu reden) "gegen unbekannte Obere Gehorsam oder gegen bekanntere Obere unbedingter Gehorsam versprochen wird", überhaupt sittlich möglich sei. Darauf ist zu erwidern: wie ungerecht auch immer das Recht sich seinem Inhalt nach gestalten möge, einen Zweck wird es stets, schon durch sein bloßes Dasein erfüllen: den der Rechtssicherheit. Der Richter, indem er sich dem Gesetz ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit eidlich dienstbar macht, wird also trotzdem nicht bloß zufälligen Zwecken der Willkür dienstbar: auch, wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er doch immer Diener der Rechtssicherheit. Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt - denn das Dogma hat nur als Ausdruck des Glaubens, das Gesetz aber nicht nur als Niederschlag der Gerechtigkeit seinen Wert, sondern auch als Instrument der Rechtssicherheit, und vornehmlich als solches ist es in die Hand des Richters gegeben. Nur der sollte sich deshalb dem Beruf des Richters zuwenden, der sich mit dem entsagungsvollen Bewußtsein durchdrungen hat, daß der Richter Diener der Gerechtigkeit, sondern nur der Rechtssicherheit sei, und auch das Pathos dieser bescheideneren Aufgabe in sich lebendig zu erhalten vermag, die Überzeugung, daß es wichtiger sein kann,  daß  dem Streit ein Ende gesetzt wird, als daß ihm ein  gerechtes  Ende gesetzt wird, daß das Dasein einer Rechtsordnung wichtiger als ihre Gerechtigkeit sein kann, daß die Gerechtigkeit die zweite große Aufgabe des Rechts ist, die nächst aber Rechtssicherheit, Ordnung, Friede. Ein gerechter Mann gilt mehr als ein nur rechtlicher Mann, aber ein rechtlicher Richter ist eben dadurch (und nur dadurch) auch schon ein gerechter Richter!
LITERATUR Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914
    Anmerkungen
    1) Vgl. MAX SALOMON, Das Problem der Rechtsbegriffe, 1907, Seite 46f - er biegt freilich alsbald in einer anderen Richtung ab.
    2) Die obige Kritik der Normen- und Vergeltungstheorie bleibt jedoch unberührt, weil sie eine Antwort auf nur rechts philosophisch  beantwortbare Fragen sein will.
    3) vgl. GEORG JELLINEKs Prorektoratsrede: Der Kampf des alten mit dem neuen Recht, 1907 (abgedruck in "Schriften und Reden", Bd. I, 1911, Seite 392f.
    4) vgl. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, dritte Auflage, Seite 337f.
    5) vgl. zu ihrer Kritik: JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 192f und 360f; von WIESER, Recht und Macht, 1910; ADOLF MERKEL, Recht und Macht (Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, Seite 400f ; GIERKE, Althusius, Seite 317f und besonders ILJIN, Die Begriffe von Recht und Macht, Archiv für Systematische Philosophie, Bd. 18.
    6) RUDOLF von JHERING, Der Zweck im Recht, Bd. I, vierte Auflage, Seite 193.
    7) Vgl. BIERLING, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe I, 1877 - die immer noch beste Arbeit über das Geltungsproblem - auch Kritik II, Seite 351f und "Juristische Prinzipienlehre I", Seite 41f und 107f. Eine Modifikation der Anerkennungstheorie gibt das feinsinnige Buch von M. E. MAYER, Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903, Seite 14f: nicht Anerkennung unmittelbar der Rechtsnormen, sondern der Kulturnormen (der Religion, Sittlichkeit, Sitte usw.), mit denen die Rechtsnormen übereinstimmen - oder doch übereinstimmen sollten. Zur Kritik beider: KELSEN, Hauptprobleme der Staatslehre, 1911, Seite 346f. Über die Soziologie der Anerkennung: FRANZ KLEIN, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, 1912. Zum ganzen Problem auch: GUTHERZ, Studien zur Gesetzestechnik I, 1908, Seite 48f.
    8) Es ist deshalb kein Zufall, daß STAMMLER, der ja an ein erweislich richtiges soziales Ideal glaubt, die Selbstherrlichkeit des Rechts ihren anarchistischen Leugnern gegenüber nur sehr künstlich zu begründen vermag. (Vgl. "Wirschaft und Recht", zweite Auflage, Seite 541f), dagegen JELLINEK (Allgemeine Staatslehre, Seite 351 und KANTOROWICZ, Zur Lehre vom richtigen Recht, 1909, Seite 13f und schließlich die nunmehr modifizierte Lehre STAMMLERs: Theorie der Rechtswissenschaft, Seite 51f.
    9) Beispiele bei JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 340f.
    10) Vgl. z. B. MAUSBACH, Artikel "Gehorsam, staatsbürgerlicher", in BACHEMs Staatslexikon, vierte Auflage; von HERTLING, "Recht, Staat und Gesellschaft", Seite 58f; CATHREIN, "Recht, Naturrecht und positives Recht", 1909, besonders Seite 60f und 257f."
    11) Es ist das Verdienst ERICH JUNGs, dem Problem diese Wendung gegeben, die Gerechtigkeit in der Positivität entdeckt zu haben, wenn auch anders als es hier geschieht: wenn Gerechtigkeit die Vermeidung von Verletzung fordert, so fordert sie gerade die Verbindlichkeit des positiven Rechts, da die Abweichung von der bisherigen Übung eine Verletzung der auf die Übung bauenden Personen mit sich brächte; "alles als geltend anerkannte Recht ist richtiges Recht"; vgl. JUNG, Das Problem des natürlichen Rechts, 1912, Seite 100f und schon früher: "Positives Recht, in der Gießener Festschrift, 1907, aber auch die Besprecung von MÜNCH, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Bd. 1, 1913, Seite 111f.
    12) Über den soziologischen Geltungsbegriff MAX WEBER, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, Logos, Bd. IV, Seite 253f.
    13) Es wird also hier STAMMLERs Umdeutung des Ausdrucks "positives Recht", durch die seine überkommene Gegensätzlichkeit zum "natürlichen Recht" zerstört wird, nicht mitgemacht (vgl. "Theorie der Rechtswissenschaft", Seite 119f). Was hier Positivität oder Geltung in einem soziologischen Sinn heißt, heißt bei STAMMLER schlechtin  Geltung (= Möglichkeit der Durchsetzung; "Theorie der Rechtswissenschaft", Seite 117). Was hier Geltung in einem juristischen Sinn heißt, ist bei STAMMLER die Selbstherrlichkeit des Rechts seinem Sinn nach (a. a. O., Seite 95f). Was schließlich hier Geltung in einem rechtsphilosophischen Sinn heißt, nennt STAMMLER gelegentlich  Gültigkeit.  Hier wird das Wort "Geltung" mit voller Absicht in den letzten  beiden  Bedeutungen festgehalten, weil die Geltung, die das positive Recht  beansprucht  und der Jurist ihm zusprechen muß, in der Tat völlig gleicher Art mit der Geltung in einem philosophischen Sinn ist. Stillschweigend beansprucht jede Rechtsordnung die Geltung, welche sich die russische Verfassung ausdrücklich beilegt: "Dem Allrussischen Kaiser steht selbstherrliche Macht zu. Seiner Gewalt zu gehorchen, nicht nur aus Furcht, sondern auch im Gewissen, gebietet Gott selbst." Man muß diesen Anspruch jeglicher Rechtsordnung als Tatsache anerkennen, auch wenn man ihn als Usurpation verurteilt.