![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
||||
Kants philosophisches System [2/3]
Begriff und Einteilung der Philosophie.
Literatur: Literatur: Es kann selbstverständlich hier nicht die unendliche Menge von großen und kleinen Untersuchungen über das philosophische System KANTs aufgeführt werden. Ich verweise hierauf ÜBERWEG-HEINZE, Grundriß der Geschichte der Philosophie III (achte Auflage 1896), wo die neuere Literatur annähernd vollständig registriert ist. Über die ältere Kantliteratur in Deutschland gibt ERICH ADICKES in The philosophical Review, edited by J. G. Schurman, 1893-1896), einen überaus sorgfältigen Bericht: die Ausgaben der Werke KANTs, dann die Schriften, die über KANT handeln, bis zum Jahr 1804, werden in über 3000 Nummern behandelt und charakterisiert; man hat hier die aktenmäßige Darstellung der ganzen, durch KANT hervorgerufenen Bewegung bis zu seinem Tod. Was die Ausgaben der kantischen Werke anlangt, so ist eine Ausgabe, die alles, was uns von KANTs Hand erhalten ist, Gedrucktes und Handschriftliches, enthalten soll, im Erscheinen begriffen, sie wird im Auftrage der Berliner Akademie herausgegeben. Bisher sind erschienen: Bd. I, die vorkritischen Schrifen bis 1756 und Bd. III, die Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Auflage enthaltend. Unter den vorhandenen Ausgaben ist die zweite von HARTENSTEIN besorgte Gesamtausgabe in 8 Bänden (Leipzig 1867) die brauchbarste; sie wird hier zitiert. Daneben ist die Ausgabe von ROSENKRANZ und SCHUBERT (12 Bände, Leipzig 1838) noch vielfach in Gebrauch. Die Hauptschriften auch in sorgfältigen Ausgaben von KARL KEHRBACH in der Reclam'schen Universalbibliothek. Die Kr. d. r. V., die Prolegomena und die Kritik der Urteilskraft sind von BENNO ERDMANN mit textkritischen Anmerkungen herausgegeben. ADICKES hat die Kr. d. r. V. mit orientierenden Anmerkungen und dem Versuch einer Rekonstruktion ihrer Entstehungsgeschichte herausgegeben. Dazu eine Ausgabe von VORLÄNDER mit Sachregister. Darstellungen des kantischen Systems findet man in allen Geschichten der Philosophie; die eingehendste in zwei Bänden in KUNO FISCHERs Geschichte der neuern Philosophie, vierte Auflage, 1898. Ich mache noch aufmerksam auf die Darstellungen der Geschichte der neueren Philosophie von FALCKENBERG, WINDELBAND und HÖFFDING; ferner auf RIEHLs Geschichte und Methode des philosophischen Kritizismus und F. A. LANGEs Geschichte des Materialismus. - Von besonderen Werken führe ich an: EDWARD CAIRD, The critical philosophy of Kant, zweite Auflage, 2 Bde., 1889. HERMANN COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, zweite Auflage, 1885; Kants Begründung der Ethik, 1877 und Kants Begründung der Ästhetik. JOHANNES VOLKELT, Immanuel Kants Erkenntnistheorie, nach ihren Grundprinzipien analysiert, 1879. BENNO ERDMANN, Kants Kritizismus in der ersten und zweiten Auflage der Kr. d. r. V., 1878. ERNST LAAS, Kants Analogien der Erfahrung, 1876, EDUARD von HARTMANN, Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik, 1894. - Unter den für einen größeren Leserkreis berechneten Darstellungen nenne ich KURD LASSWITZ, Die Lehre Kants von der Idealität von Raum und Zeit im Zusammenhang mit seiner Kritik des Erkennens, 1883. MORITZ KRONENBERG, Kant - sein Leben und seine Lehre, zweite Auflage, 1904. THEODOR RUYSSEN, Kant, Paris 1900. Anderes wird später zu nennen sein. Ich bemerke nur noch, daß, nachdem KANT-Aufsätze seit 30 Jahren alle philosophischen Zeitschriften gefüllt haben, die Kantphilologie jetzt in VAIHINGERs "Kant-Studien" (seit 1897) eine eigene Zeitschrift erhalten hat. ![]() Wenn wir KANTs zerstreute und nicht ganz einstimmige Äußerungen hierüber sammeln und zusammenbiegen, so erhalten wir folgendes Schema (1): Es gibt drei große Gebiete wissenschaftlicher Erkenntnis: Philosophie, Mathematik, empirische Wissenschaften. Sie sind unterschieden durch ihre Methode; Philosophie ist reine Vernunfterkenntnis aus Begriffen, Mathematik ist reine Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion von Begriffen. Diese beiden rationalen Wissenschaften stehen die empirischen Wissenschaften gegenüber, die ihre Begriffe anhand der Erfahrung bilden und ihre Sätze auf induktive Beweise stützen, wie z. B. Chemie oder empirische Anthropologie. Wobei dann zu bemerken ist, daß nach KANTs immer festgehaltener rationalistischer Auffassung vom Wesen der Wissenschaft eigentliche Wissenschaft nur die genannt werden kann, deren Gewißheit apodiktisch [unwiderlegbar - wp] ist; "Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen." (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede). Demnach fallen Philosophie und Wissenschaft im "eigentlichen" Sinn zusammen, wogegen zwischen Philosophie und Wissenschaft in jenem uneigentliche Sinn eine scharfe Grenze gezogen wird. Es sehr bemerkenswerte Begriffsbestimmung: die Philosophie wird hier zum erstenmal von allen Wissenschaften, die Erfahrung voraussetzen, d. h. von Wissenschaften, die nach dem herrschenden Sprachgebrauch die eigentlichen Wissenschaften sind, von der Astronomie und Physik, der Biologie und Anthropologie, von der Geschichte gar nicht zu reden, reinlich getrennt und ganz auf sich gestellt: reine Wissenschaft a priori, ohne alle empirische Beimischung. Es ist damit das große Schisma zwischen Philosophie und Wissenschaft eingeleitet, das für die deutsche Philosophie so verhängnisvolle Folgen haben sollte. Die Philosophie hat wieder zwei Hauptteile: Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Die Transzendentalphilosophie ist die Disziplin, welche die Möglichkeit, Quellen und Grenzen der Erkenntnis aus reiner Vernunft untersucht. Ihre Aufgabe ist die einer Propädeutik für das System der reinen Vernunfterkenntnis oder eben die Metaphysik. Sie fällt einigermaßen mit der Wissenschaft zusammen, die heute Erkenntnistheorie genannt wird, nur daß sie nicht die Theorie der Erkenntnis überhaupt, sondern nur die Untersuchung der Erkenntnis a priori zum Gegenstand hat. Die Kritik der reinen Vernunft ist die Ausführung dieser Untersuchung, doch so, daß sie nur die Prinzipien, nicht aber auch die ganze Detailausführung enthält. Die Metaphysik ist, im Gegensatz zur formalen Disziplin der Transzendentalphilosophie, der Inbegriff der reinen Vernunfterkenntnis von Gegenständen. Sie zerfällt wieder in zwei große Zweige: Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten oder Naturphilosophie und Moralphilosophie. Die Teilung entspricht der großen Einteilung der gegenständlichen Welt in das Gebiet der Natur und der Freiheit; die physische und die moralische Welt bilden gleichsam die beiden Hemisphären des globus intellectualis; eine Einteilung, die sich übrigens mit einer anderen Unterscheidung berührt, der in den mundus sensibilis und den mundus intelligibilis. Dort handelt es sich um Naturgesetze, wodurch die Erscheinungswelt a priori konstruiert wird, hier um eine praktische Gesetzgebung nach Freiheitsbegriffen für Vernunftwesen, die doch auch als Naturgesetze der sittlichen Welt betrachtet werden können. Wir kämen so auf eine Einteilung der Philosophie, die der bei den Griechen gewöhnlichen Einteilung in Logik, Physik, Ethik verwandt ist. Logik, die Lehre von der Form des Erkennens, wo nun freilich zwei getrennte Disziplinen hervortreten: allgemeine Logik und transzendentale Logik; Physik oder rationale Physiologie (Naturlehre), die reine Vernunftwissenschaft von der Erscheinungswelt, mit zwei Hauptdisziplinen: der rationalen Körperlehre und der rationalen Seelenlehre; endlich Ethik die reine Vernunftwissenschaft von der moralischen Welt, mit der Rechtslehre und der Tugendlehre als Teilen. Die Ausführung des Systems ist hinter diesem Schema zurückgeblieben. Für die theoretische Philosophie ist die Kr. d. r. V., die ursprünglich nur die Propädeutik [Vorschule - wp] zur Metaphysik sein sollte, das Hauptwerk geblieben. Zur Bearbeitung der Metaphysik ist es nicht gekommen. Nur die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" hat KANT zustande gebracht, und an einem ferneren Werk: "Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" mit schon gelähmter Kraft gearbeitet. Dagegen ist die rationale Seelenlehre überhaupt unbearbeitet geblieben, ebenso wie die Ontologie, Kosmologie und Theologie - ein schwerer Mangel, dessen Ursache freilich nicht schwer zu verstehen ist. Einiges was hier seinen Platz gehabt hätte, ist im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft abgehandelt. Formell vollständige liegt das System der praktischen Philosophie vor. An die Kritik der praktischen Vernunft, die hier die Stellung einer propädeutischen Disziplin einnimmt, schließt sich die "Metaphysik der Sitten" als Ausführung des Systems, inhaltlich freilich geringwertig, so daß auch hier die "Kritik" mit der "Grundlegung" tatsächlich das Hauptwerk ist. So ist überall die "doktrinale" Ausführung hinter der "kritischen" Grundlegung weit zurückgeblieben, doch nicht bloß, weil dem rasch alternden Philosophen zur Durchführung die Kraft gefehlt hat. Neben der Bestimmung der wissenschaftlichen Aufgabe der Philosophie hat KANT noch eine Bestimmung ihrer allgemein menschlichen Aufgabe. Sie kommt zum Ausdruck in der Unterscheidung des Weltbegriffs der Philosophie von ihrem Schulbegriff. In dieser Absicht bestimmt er sie als "die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)"; der Philosoph in diesem Sinne ist "nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft", seine vollendete Erscheinung ist das Ideal der Weisen. Die eigentliche Aufgabe des Weisen ist die Erkenntins des höchsten Zwecks oder der Bestimmung des Menschen und zugleich ihre Darstellung in der eigenen Person. So faßten die Alten den Begriff des Philosophen. Und demgemäß war ihnen Philosophie "die Lehre vom höchsten Gut, sofern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen"; und er fügt hinzug: es wäre gut, wenn wir das Wort bei seiner alten Bedeutung lassen würden. Eine besondere Aufgabe, die sich von hier aus für den Philosophen ergibt, ist die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. Der Mathematiker, der Physiker, der Logiker sind bloß "Vernunftkünstler", Techniker der Forschung. Ein Philosoph in jenem Sinn und zugleich der ideale Lehrer, wäre der, "der alle diese ansetzt, sie als Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern." Offenbar hängt diese Betrachtung zusammen mit der Minderung des Ansehens des Philosophen als "Vernunftkünstler". Der Philosoph galt bisher als "Weltweiser", der durch Spekulation alle Geheimnisse Gottes und der Welt ans Licht bringt. Diese Stellung nimmt ihm die kritische Philosophie. Sie schlägt die Hoffnung auf eine spekulative Lösung des Welträtsels nieder. Dafür gibt sie ihm die Stellung des Gesetzgebers im Reich der Zwecke und unterstellt ihm hierfür die gesamte wissenschaftliche Forschung: diese hat die Aufgabe, unter der Anleitung der Philosophie, der Menschheit zur Erfüllung ihrer Bestimmung zu dienen. (2) Die theoretische Philosophie Wenige Jahre nach dem Erscheinen der Kr. d. r. V. schrieb K. L. REINHOLD (in seinen Briefen über die kantische Philosophie, Seite 150):
Fünf Momente treten in der theoretischen Philosophie KANTs als ebenso viele Seiten hervor, von denen man sie betrachten kann. Es sind folgende:
2) der formale Rationalismus: es gibt Erkenntnis a priori, Erkenntnis von Gegenständen durch reine Vernunft, und sie allein ist wissenschaftliche Erkenntnis im eigentlichen Sinn. Gegensatz: der sensualistische Empirismus oder Skeptizismus, der keine Erkenntnis als durch Erfahrung, d. h. durch eine bloße Summierung von Wahrnehmungen annimmt. 3) Der Positivismus oder die kritische Grenzbestimmung: unsere Verstandesbegriffe haben objektive Gültigkeit in der Anwendung auf Erscheinungen oder für den Umfang möglicher Erfahrung, nicht aber jenseits der Grenzen der Erfahrung. Gegensatz: der metaphysische Dogmatismus, der das Übersinnliche zum eigentlichen Gegenstand der Vernunfterkenntnis macht. 4) Der metaphysische Idealismus: die Dinge-ansich sind zu denken als intelligible Wesenheiten, die in der Einheit eines allerrealsten Wesens beschlossen sind; sie bilden eine ideelle Wirklichkeit, deren Naturgesetz die teleologische Beziehung auf das höchste Gut ist. Gegensatz: der atheistische Materialismus, der die Körperwelt für die absolute Wirklichkeit und den Mechanismus für ihr absolutes Gesetz hält. 5) Der Primat der praktischen Vernunft: die Weltanschauung erhält ihren Abschluß nicht durch die theoretische, sondern durch die praktische Vernunft in einem rein praktischen Vernunftglauben. Gegensatz: der dotktrinäre Intellektualismus, der nichts als wahr und wirklich gelten läßt, was der Verstand nicht wirklich beweisen und konstruieren kann. Die erste verlegt den Zielpunkt der Beweisführung in das idealistische oder phänomenalistische Element; nach ihr ist die These der kritischen Philosophie der Satz: unsere Erkenntnis kann niemals die Wirklichkeit selbst erreichen. Es ist die Auffassung, die dem Eindruck entspricht, den die Kr. d. r. V. beim ersten Erscheinen machte, und den sie auch heute noch leicht beim ersten Lesen macht: ihre erste Wirkung ist die Erschütterung des naiven Realismus. Die ersten Urteile über sie von GARVE-FEDER, MENDELSSOHN, der (in der Vorrede zu seinen Morgenstunden vom Jahr 1786 KANT den Alles Zermalmenden nennt, sind aus diesem Eindruck hervorgegangen. Auch SCHOPENHAUER (in seiner "Kritik an der kantischen Philosophie" im Anhang zum ersten Band der "Welt als Wille und Vorstellung") steht dieser Auffassung nahe. Sie führt dazu, KANT mit BERKELEY zusammenzustellen. Das rationalistische Moment wird übersehen oder als Apriorismus zum Beweisgrund für den Idealismus gemacht: Wir können die Dinge ansich nicht erkennen, weil die subjektiven Formen der Intelligenz, Raum, Zeit und Kategorien, uns nicht zu den Dingen ansich kommen lassen. Die kritische Grenzbestimmung erscheint als eine selbstverständliche Konsequenz: daß wir auch nicht durch reine Vernunft, durch rein logische Spekulation die Dinge erkennen können, bedarf kaum des Beweises. Verwandt mit dieser Ansicht ist diejenige, die in das dritte Moment, die kritische Grenzbestimmung, den Zielpunkt der Kritik verlegt; sie stellt KANT mit DAVID HUME als Vorgänger und nächsten Verwandten zusammen. Das eigentliche Dogma der Kritik wäre hiernach der Satz: nur Erfahrungserkenntnis ist möglich, transzendente Metapphysik ist unmöglich. Der Hauptvertreter dieser Ansicht ist gegenwärtig BENNO ERDMANN; er hat in zahlreichen Schriften die Behauptung zu begründen gesucht: der "Hauptzweck" der Kritik ist, zu beweisen, daß die objektive Gültigkeit der Kategorien nicht über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht. Eine dritte Ansicht sieht den Zielpunkt der Argumentation der Kritik im zweiten Stück, dem formalen Rationalismus. Sie stellt KANT in einen Gegensatz zum Empirismus, im besonderen auch zu HUME, natürlich ohne zu verkennen, daß er auch ein Verwandtschaftsverhältnis zu ihm hat. Nach ihr ist das erste Ziel der kritischen Philosophie die Begründung der Möglichkeit allgemeingültiger und notwendiger Erkenntnis in den Wissenschaften, besonders in der mathematischen Naturwissenschaft. Daran schließt sich dann ein als zweites, absolut betrachtet noch wichtigeres Ziel: die Begründung eines metaphysischen Idealismus in der Weltanschauung. Der Phänomenalismus erhält hier die Stellung eines Beweisgrundes für jene beiden Stücke; die kritische Grenzbestimmung aber ergibt sich als notwendige Konsequenz: wissenschaftliche Erkenntnis reicht nicht weiter, als wir die Dinge selbst hervorbringen; hervorbringen aber können wir natürlich nur die Erscheinungen, nicht die Dinge selbst. Die subjektiven Formen des Anschauens und Denkens sind hiernach, weit entfernt das Hindernis objektiver Erkenntnis zu sein, die Bedingung ihrer Möglichkeit. Diese letzte Ansicht halte ich für die richtigere; ich habe sie schon in meiner Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie vorgetragen und bin vor ihrer Wahrheit auch heute noch überzeugt. Unter den jüngeren Forschern ist es vor allem ERICH ADICKES, der sie sehr einsichtig und nachdrücklich vertritt. Ich möchte sie noch mit ein paar Strichen näher bezeichnen und zwar in ihrem Gegensatz zu den beiden konkurrierenden Ansichten. Es scheint mir für das Verständnis der "Kritik" von entscheidender Bedeutung, daß man über diese möglichen Auffassungen sich gleich zu Anfang orientiert. Wobei ich noch dies hervorhebe, daß es sich hier natürlich nicht darum handelt auszumachen, was das für uns wichtigste Stück der kantischen Philosophie ist, oder wodurch sie geschichtlich am bedeutendsten gewirkt hat, nicht einmal darum, woran KANT selbst schließlich am meisten gelegen ist, sondern allein darum: was sich unbefangener philosophischer Auslegung als der tatsächliche Zielpunkt der Beweisführung der kritischen Philosophie, zunächst in der Kr. d. r. V., darstellt. Nach der phänomenalistisch-positivistischen Ansicht ist dieser Zielpunkt der Satz: Erkenntnis der Dinge ansich (transzendente Metaphysik) ist uns nicht möglich.
2) eine positive Metaphysik, nämlich eine idealistische Weltanschauung. Daß es an Stellen in KANTs Schriften nicht fehlt, die sich für die idealistisch-positivistische Ansicht anführen lassen, weiß ich wohl; durch Zitate kann aber hier überhaupt nichts entschieden werden, entschieden werden muß aus dem Ganzen der Anlage und Richtung von KANTs Werk. Und da behaupte ich: es ist durchaus nicht möglich, die Kr. d. r. V. zu konstruieren als Demonstration für die Behauptung, die allerdings auch darin vorkommt: wir erkennen die Dinge nicht, wie sie ansich sind; oder jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung ist Erkenntnis nicht möglich. Wohl aber ist es möglich, sie zu konstruieren als Beweisführung für die Behauptung: es gibt rationale Erkenntnis der Wirklichkeit, Erkenntnis im eigentlichen Sinn, allerdings nur von den Gegenständen möglicher Erfahrung. Die drei Hauptteile des Werks, die Ästhetik, Analytik und Dialektik, sind auf diese Beweisführung angelegt. Die Ästhetik beweist: es gibt rationale Erkenntnis dadurch, daß die Erscheinungen durch die Einfügung in Raum und Zeit der Geometrie und Arithmetik unterworfen sind. Die Analytik beweist: es gibt rationale Erkenntnis dadurch, daß die Erscheinungen durch die Einordnung in den gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur den Verstandesgesetzen unterworfen sind, welche die formale und transzendentale Logik aufstellt. Die Dialektik beweist; es gibt notwendige Vernunftideen, die für den Verstandesgebrauch regulative Prinzipien enthalten, und zuletzt auf einen Zusammenhang der Wirklichkeit nach Zweckgedanken gehen; freilich stellen diese Ideen nicht Erkenntnis im eigentlichen Sinn, sondern bloß mögliche Gedanken dar, durch die wir die Wirklichkeit im Verhältnis zu uns mit subjektiver Notwendigkeit bestimmen. Und nach demselben Schema ist auch die Moralphilosophie entworfen: wie Verstand und Vernunft der Natur a priori Gesetze vorschreiben, so schreibt die praktische Vernunft dem Wille Gesetze vor im Gebiet der Freiheit. Es wird die Aufgabe der folgenden Darstellung sein, dies im Einzelnen zu zeigen. Hier bemerke ich nur noch: eine Verständigung mit der Ansicht ERDMANNs würde leichter sein, wenn er die "kritische Grenzbestimmung" nicht so negativ fassen wollte. Gewiß ist sie wesentlich, aber es handelt sich dabei nicht eigentlich um die Einrichtung einer Schranke, sondern um die Absteckung eines Gebiets für die Vernunft, wo fruchtbare positive Arbeit möglich ist. Diese Absteckung wird sich zugleich als schützende Grenzbestimmung gegen Verirrungen erweisen, nämlich in das Gebiet der Dialektik, das KANT als wüsten Ozean zu beschrieben liebt, wo es nur Nebel- und Eisbänke, aber kein Land zur Besiedelung gibt. Eine Grenzbestimmung kann der Natur der Sache nach nicht ein "Hauptzweck" sein, sondern nur ein Mittel zur Sicherung eines bedrohten Gebiets. Wer das nicht einräumen will, der müßte dann wohl auch bereit sein, die Behauptung zu verteidigen, daß einem Baumeister, der ein altes Gebäude (die dogmatische Metaphysik) einreißt und auf seiner Stelle zwei neue errichtet (die "reine Naturwissenschaft" und das Reich des "praktischen Vernunftglaubens") die Niederreißung des alten Baus doch der Hauptzweck ist. Meiner Ansicht ist wiederholt Einseitigkeit vorgeworfen worden, so früher von VOLKELT, jetzt von VAIHINGER und ROMUNDT. Ich meine, mit Unrecht. Es ist mir niemals eingefallen, KANTs System einzig und allein durch den formalen Rationalismus charakterisieren zu wollen. Ich sehe sehr wohl auch die andere Seite, nicht bloß die LEIBNIZ und PLATO zugewendete rationalistisch-idealistische, sondern auch die HUME zugewendete positivistische (nicht empiristische) Seite. Ich sehe auch, daß KANT eine Art Gleichgewicht in seinem Verhältnis zu ihnen erstrebt, oder also vielmehr eine schiedsrichterliche Stellung über beiden, die er unter dem Titel von Dogmatismus und Skeptizismus als die beiden bisher herrschenden falschen Richtungen des philosophischen Denkens konstruiert. Aber das hindert mich nicht zu sehen, daß die Kr. d. r. V. zunächst als eine Untersuchung angelegt ist, die gegen den Skeptizismus HUMEs die gegenständliche Gültigkeit der mathematisch-physikalischen Wissenschaften und die Möglichkeit der Metaphysik als Erhebung zum mundus intelligibilis beweisen soll. Und ferner, daß KANT tatsächlich in der Erkenntnistheorie und in der Weltanschauung LEIBNIZ näher steht als LOCKE; was natürlich nicht hindert, daß bei ihm die Polemik gegen LEIBNIZ-WOLFF stärker hervortritt, als die gegen LOCKE-HUME: lebte er doch in Deutschland und las alle Jahre über BAUMGARTENs Metaphysik; alle Polemik richtet sich der Natur der Sache nach gegen die näher stehenden Gegner mehr als gegen die ferner stehenden, um den Abstand hervorzuheben. Hätte KANT unter lauter Empiristen und Materialisten gelebt, dann würde er absolut keinen Zweifel gelassen haben, daß er sich zu den Rationalisten und Idealisten stellt. Übrigens bemerkt er doch selbst einmal, daß die Kr. d. r. V. wohl die "eigentliche Apologie für Leibniz" sein möchte, in dem bemerkenswerten Schlußabschnitt der Schrift gegen EBERHARD, wo er die Hauptsätze von LEIBNIZ im Sinne der kritischen Philosophie interpretiert (VI, 68f). Die Erkenntnistheorie KANT ist der Begründer der Erkenntnistheorie in Deutschland. Natürlich nicht in dem Sinn, daß Untersuchungen dieser Art nicht auch vor ihm dagewesen wären; Reflexionen über Natur und die Möglichkeit des Erkennens haben die philosophische Spekulation überall begleitet. Aber KANT hat als der erste unter den deutschen Philosophen diese Reflexionen von der Metaphysik abgetrennt und zur selbständigen Disziplin gemacht, freilich nicht unter dem Namen der Erkenntnistheorie (dieser ist erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich geworden), sondern unter dem Titel Transzendentalphilosophie. Der Begriff transzendental ist von ihm geprägt worden zur Bezeichnung für eine Untersuchung, die nicht auf die Gegenstände selbst,m sondern auf die Form unserer Erkenntnis, speziell auf die Form und Möglichkeit der Erkenntnis aus reiner Vernunft geht. Die Form der empirischen Forschung hat KANT überhaupt nicht zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht, zum Schaden der Sache: seiner transzendentalen Theorie wären von daher neue und bestimmtere Aufgaben zugewachsen. Dagegen hat die Transzendentalphilosophie eine sehr innige Beziehung zur Metaphysik behalten, ja man kann sagen, sie hat auf gewisse Weise die alte Metaphysik in sich aufgenommen. Während früher das umgekehrte Verhältnis stattfand, wenigstens in der dogmatischen Philosophie, daß nämlich die Metaphysik die Theorie des Erkennens in sich geschlossen hat, kommen bei KANT alle Hauptprobleme der Metaphysik in der Kritik vor, sowohl die ontologischen wie auch die psychologischen, kosmologischen und theologischen. Wieder zum Schaden der Sache: die metaphysischen Probleme fordern doch eine selbständige Untersuchung, nicht bloß eine erkenntnistheoretische; sie kommen bei KANT nun vielfach nicht zu ihrem Recht, sie werden nicht aus der Natur der Sache erwogen, sondern unter einem transzendentalen Gesichtspunkt abgetan. Besonders haben darunter die Fragen der Metaphysik der Seele gelitten. - KANT folgt übrigen darin dem Vorgang der Engländer, und das wird auch dazu beigetragen haben,m die Ansicht zu unterstützen, als sei die kritische Vernichtung der alten Metaphysik der Hauptzweck der Kr. d. r. V., umso mehr als es zu der versprochenen positiven Ausführung der Metaphysik nicht gekommen ist. Ich versuche nun zunächst den Standort KANTs in der Erkenntnistheorie mit einigen Strichen zu bezeichnen. Die Erkenntnistheorie hat zwei wesentliche Probleme: die Frage nach dem Wesen und die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis. Jede gibt Anlaß zur Entstehung eines großen Gegensatzes der Ansichten. Auf die Frage nach dem Wesen des Erkennens und seines Verhältnisses zur Wirklichkeit geben Realismus und Phänomenalismus (erkenntnistheoretischer Idealismus) entgegengesetzte Antworten. Der Realismus sieht im Erkennen die adäquate Abbildung einer unabhängig von ihm existierenden Wirklichkeit. Der Phänomenalismus hält dieses Verhältnis für unmöglich: Denken und Sein sind verschieden und völlig unvergleichbar. Auf die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis geben Empirismus und Rationalismus entgegengesetzte Antworten. Jener behauptet: alles Erkennen stammt aus der Erfahrung, zuletzt aus der Wahrnehmung. Dieser behauptet: das wahre Erkennen stammt aus dem Verstand oder der Vernunft, die ursprüngliche Prinzipien des Erkennens enthalten und aus ihnen durch Denken die Wissenschaft oder die Philosophie spontan hervorbringen. Der Ausgangspunkt aller Reflexion über das Erkennen, ist der Standpunkt des gemeinen Verstandes, der naive Realismus. Der Phänomenalismus entsteht als kritische Reflexion über das Wesen der sinnlichen Wahrnehmung: unmöglich können Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacksempfindungen absolute Eigenschaften der Dinge darstellen. Kommt also unsere Kenntnis der Dinge aus der Wahrnehmung, so gibt es nur phänomenale Erkenntnis. Gegen diese Anschauung stellt sich ein reflektierter Realismus wieder her, indem er die wahre Erkenntnis von der sinnlichen Wahrnehmung loslöst und sie aus der Vernunft ableitet. Der Rationalismus wird also die Unterlage des reflektierten, philosophischen Realismus, und zugleich pflegt er sich mit dem metaphysischen Idealismus zu verbinden, der Ansicht, daß die Wirklichkeit ansich ein Ideelles, Gedankenhaftes, dem Denken innerlich Gleichartiges und darum von ihm Durchdringliches ist. Dieser Entwicklungsgang des Denkens ist rein ausgeprägt in der griechischen Philosophie: vom naiven Realismus geht der Weg durch den Sensualismus und Phänomenalismus der Sophistik zu dem mit einem metaphysischen Idealismus verbundenen erkenntnistheoretischen Rationalismus und Realismus PLATOs. In der modernen Philosophie, die das griechische Denken vor sich hat, sind von Anfang an die beiden Richtungen nebeneinander. Der realistische Rationalismus, der ursprünglich das Übergewicht hat, ist in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland einheimisch, DESCARTES, SPINOZA, LEIBNIZ sind seine Hauptvertreter; der phänomenalistische Empirismus hat seine Heimat in England, LOCKE und HUME sind seine Hauptvertreter. Der Rationalismus neigt zu einer dogmatisch-idealistischen Metaphysik, der Empirismus neigt zum Agnostizismus und tritt wohl auch (so in der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts) zum Materialismus in Beziehung, obwohl diese Verbindung eigentlich nicht möglich ist. Von hieraus ist nun der Standort KANTs in der Erkenntnistheorie genau zu bestimmen: zum erstenmal sind hier Phänomenalismus und Rationalismus miteinander verbunden. Bisher war der Rationalismus regelmäßig als das Mittel, den erkenntnistheoretischen Realismus zu begründen, gebraucht worden. KANT benutzt stattdessen den Phänomenalismus (transzendentalen Idealismus) als Beweisgrund für einen formalen Rationalismus (Erkenntnis von Gegenständen aus reiner Vernunft). Ohne Zweifel ist es diese, für die herkömmliche Anschauung widersinnige Verbindung, die dem richtigen Verständnis vielfach den Weg verlegt hat. Dazu kommt dann das Verhältnis zur Metaphysik: der Rationalismus, sonst als Substruktion für eine dogmatische Metaphysik gebraucht, wird hier mit dem Positivismus HUMEs verbunden. ![]()
1) Die Hauptstellen: Kr. d. r. V., Methodenlehre 1. und 3. Hauptstück, sowie die Einleitung, Seite VI; die Vorreden zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und zu den Anfangsgründen der Naturwissenschaft; Kritik der Urteilskraft, Einleitung; Logik, Einleitung III. Zu vgl. auch Erdmann, Reflexionen II, Seite 20f. 2) Vgl. außer der Kr. d. r. V. im Abschnitt über die Architektonik d. r. V. und der "Kritik der praktischen Vernunft", II B. 1. Hauptstück, auch Erdmanns "Reflexionen" II, Seite 29f. Kant liebt es, den kritischen Philosophen die Rolle des Gesetzgebers, auch der Polizeit (Nr. 128) oder des Gouverneurs (Nr. 161) spielen zu lassen. An der letzten Stelle heißt es: "Daß die Vernunft einer Zucht bedarf; daß sie, wenn sie wild ihre Zweige ausbreitet, Blätter ohne Früchte bringt. Daß also ein Meister der Zucht nötig ist (nicht Zuchtmeister), welcher sie gouverniert. Daß sie ohne diese Zucht mit Religion und Sittlichkeit nicht zusammenstimmt, das große Wort führt und, indem sie sich selbst nicht kennt, den gesunden und an Erfahrung geübten Verstand verwirrt." 3) siehe besonders Erdmann, Kants Kritizismus, Seite 13f, 177f, 245f |