tb-1A. RossW. JamesE. LaskH. GomperzM. Betzler     
 
IMMANUEL KANT
Kritik der praktischen Vernunft
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"So wie demjenigen, der Gold zur Ausgabe braucht, gänzlich einerlei ist, ob die Materie desselben, das Gold, aus dem Gebirge gegraben oder aus dem Sand gewaschen ist, wenn es nur allenthalben für denselben Wert angenommen wird, so fragt kein Mensch, wenn es ihm bloß an der Annehmlichkeit des Lebens gelegen ist, ob Verstandes- oder Sinnesvorstellungen, sondern nur,  wieviel und wie großes Vergnügen  sie ihm auf die längste Zeit verschaffen."

"Konsequent  zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen, und wird doch am seltensten angetroffen. Die alten griechischen Schulen geben uns davon mehr Beispiele, als wir in unserem  synkretistischen  Zeitalter antreffen, wo ein gewisses  Koalitionssystem  widersprechender Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit erkünstelt wird, weil es sich einem Publikum besser empfiehlt, das zufrieden ist, von Allem etwas und im Ganzen nichts zu wissen, und dabei in allen Sätteln gerecht zu sein."

"Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf das jeweilige besondere Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in ein und demselben Subjekt auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse an. ... Aber praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet."

Erster Teil
Elementarlehre der reinen
praktischen Vernunft


Erstes Buch
Die Analytik der reinen praktischen Vernunft

Erstes Hauptstück
Von den Grundsätzen der reinen
praktischen Vernunft


§ 1. Erklärung

Praktische  Grundsätze  sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv oder  Maximen,  wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber, oder praktische  Gesetze,  wenn jene als objektiv, d. h. für den Willen des vernünftigen Wesens gültig erkannt wird.


Anmerkung.

Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch d. h. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten kann, so gibt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktischen Grundsätze bloße Maximen sein. In einem pathologisch-affizierten Willen eines vernünftigen Wesens kann ein Widerstreit der Maximen gegen die von ihm selbst erkannten praktischen Gesetze angetroffen werden. Zum Beispiel kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden, und doch zugleich einsehen, daß dies kein praktisches Gesetz, sondern nur seine Maxime ist, dagegen, als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens, in ein und derselben Maxime, mit sich selbst nicht zusammenstimmen kann. In der Naturerkenntnis sind die Prinzipien dessen, was geschieht (z. B. das Prinzip der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in der Mitteilung der Bewegung) zugleich Gesetze der Natur; denn der Gebrauch der Vernunft ist dort theoretisch und durch die Beschaffenheit des Objekts bestimmt. In der praktischen Erkenntnis, d. h. derjenigen, welches es bloß mit Bestimmungsgründen des Willens zu tun hat, sind Grundsätze, die man sich macht, darum noch nicht Gesetze, darunter man unvermeidlich steht, weil die Vernunft im Praktischen es mit dem Subjekt zu tun hat, nämlich dem Begehrungsvermögen, nach dessen besonderer Beschaffenheit sich die Regel vielfältig richten kann. - Die praktische Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weil sie Handlung, als Mittel zur Wirkung, als Absicht vorschreibt. Diese Regel ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein  Imperativ,  d. h. eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird, und bedeutet, daß, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde. Die Imperativen gelten also objektiv und sind von Maximen, als subjektiven Grundsätzen, gänzlich unterschieden. Jene bestimmen aber entweder die Bedingungen der Kausalität des vernünftigen Wesens, als wirkender Ursache, bloß in Anbetracht der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben, oder sie bestimmen nur den Willen, er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht. Die ersteren würden hypothetische Imperative sein und bloße Vorschriften der Geschicklichkeit enthalten; die zweiten würden dagegen kategorisch und allein praktische Gesetze sein. Maximen sind also zwar  Grundsätze,  aber keine  Imperative.  Die Imperative selber aber, wenn sie bedingt sind, d. h. nicht den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Anbetracht einer begehrten Wirkung bestimmen, d. h. hypothetische Imperative sind, sind zwar praktische  Vorschriften,  aber keine  Gesetze.  Die letzteren müssen den Willen als Willen, noch ehe ich frage, ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung erforderliche Vermögen habe, oder was mir, um diese hervorzubringen, zu tun sei, hinreichend bestimmen, mithin kategorisch sein, sonst sind es keine Gesetze; weil ihnen die Notwendigkeit fehlt, welche, wenn sie praktisch sein soll, von pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden Bedingungen unabhängig sein muß. Sagt jemandem z. B., daß er in der Jugend arbeiten und sparen muß, um im Alter nicht zu darben, so ist dies eine richtige und zugleicht wichtige praktische Vorschrift des Willens. Man sieht aber leicht, daß der Wille hierauf auf etwas  Anderes  verwiesen wird, wovon man voraussetzt, daß er es begehrt, und dieses Begehren muß man ihm, dem Täter selbst, über lassen, ob er noch andere Hilfsquellen, außer seinem selbst erworbenen Vermögen, vorhersieht, oder ob er gar nicht hofft, alt zu werden, oder denkt, sich im Fall der Not dereinst schlecht behelfen zu können. Die Vernunft, aus der allein alle Regel, die Notwendigkeit enthalten soll, entspringen kann, legt in diese Vorschrift zwar auch Notwendigkeit (denn ohne das wäre sie kein Imperativ), aber diese ist nur subjektiv bedingt, und man kann sie nicht in allen Subjekten in gleichem Grad voraussetzen. Zu ihrer Gesetzgebung aber wird erfordert, daß sie bloß  sich selbst  vorauszusetzen bedarf, weil die Regel nur dann objektiv und allgemein gültig ist, wenn sie ohne zufällige, subjektive Bedingungen gilt, die ein vernünftiges Wesen von dem andern unterscheiden. Nun sagt jemandem, er solle niemals lügenhaft versprechen, so ist dies eine Regel, die bloß seinen Willen betrifft; die Absichten, die der Mensch haben mag, mögen durch denselben erreicht werden können oder nicht; das bloße Wollen ist das, was durch jene Regel völlig a priori bestimmt werden soll. Findet sich nun, daß diese Regel praktisch richtig is, so ist sie ein Gesetz, weil sie ein kategorischer Imperativ ist. Also beziehen sich praktische Gesetze allein auf den Willen, ungeachtet dessen, was durch die Kausalität desselben ausgerichtet wird, und man kann von der letzteren (als zur Sinnenwelt gehörig) abstrahieren, um sie rein zu haben.


§ 2. Lehrsatz I.

Alle praktischen Prinzipien, die ein  Objekt  (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben.

Ich verstehe unter der Materie des Begehrungsvermögens einen Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird. Wenn die Begierde nach diesem Gegenstand nun vor der praktischen Regel vorhergeht, und die Bedingung ist, sie sich zum Prinzip zu machen, so sage ich  (erstens):  dieses Prinzip ist dann jederzeit empirisch. Denn der Bestimmungsgrund der Willkür ist dann die Vorstellung eines Objekts und dasjenige Verhältnis derselben zum Subjekt, wodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben bestimmt wird. Ein solches Verhältnis aber zum Subjekt heißt die  Lust  an der Wirklichkeit eines Gegenstandes. Also müßte diese als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung der Willkür vorausgesetzt werden. Es kann aber von keiner Vorstellung irgendeines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit  Lust  oder  Unlust  verbunden, oder  indifferent  sein wird. Also muß in einem solchen Fall der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch sein, mithin auch das praktische materiale Prinzip, welches ihn als Bedingung voraussetzt.

Da nun  (zweitens)  ein Prinzip, das sich nur auf die subjektive Bedingung der Empfänglichkeit einer Lust oder Unlust (die jederzeit nur empirisch erkannt, und nicht für alle vernünftigen Wesen in gleicher Art gültig sein kann) gründet, zwar wohl für das Subjekt, das sie besitzt, zu ihrer  Maxime,  aber auch für diese selbst (weil es ihm an objektiver Notwendigkeit, die a priori erkannt werden muß, mangelt), nicht zum  Gesetz  dienen kann, so kann ein solches Prinzip niemals ein praktisches Gesetz abgeben.


§ 3. Lehrsatz II.

Alle materialen praktischen Prinzipien sind als solche insgesamt von ein und derselben Art und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.

Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, sofern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der  Empfänglichkeit  des Subjekts, weil sie vom Dasein eines Gegenstandes  abhängt;  mithin gehört sie dem Sinn (Gefühl) und nicht dem Verstan an, der eine Beziehung der Vorstellung  auf ein Objekt,  nach Begriffen, aber nicht auf das Subjekt, nach Gefühlen, ausdrückt. Sie ist also nur sofern praktisch, als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt. Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet, die  Glückseligkeit und das Prinzip, sich diese zum höchsten Bestimmungsgrund der Willkür zu machen, das Prinzip der Selbstliebe. Also sind alle materialen Prinzipien, die den Bestimmungsgrund der Willkür in der aus irgendeines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden Lust oder Unlust setzen, sofern gänzlich von  einerlei  Art, daß sie ingesamt zum Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit gehören.


Folgerung.

Alle  materialen  praktischen Regeln setzen den Bestimmungsgrund des Willens im  unteren Begehrungsvermögen,  und gäbe es gar keine  blos formalen  Gesetze desselben, die den Willen hinreichen bestimmen, so würde auch  kein  oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können.


Anmerkung I.

Man muß sich wundern, wie sonst scharfsinnige Männer einen Unterschied zwischen dem  unteren  und  oberen Begehrungsvermögen  darin zu finden glauben können, ob die  Vorstellungen die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den  Sinnen  oder dem  Verstand  ihrer Ursprung haben. Denn es kommt, wenn man nach den Bestimmungsgründen des Begehrens fragt und sie in einer von irgendetwas erwarteten Annehmlichkeit setzt, gar nicht darauf an, wo die  Vorstellung  dieses vergnügenden Gegenstandes herkommt, sondern nur, wie sehr sie  vergnügt.  Wenn eine Vorstellung, sie mag immerhin im Verstand ihren Sitz und Ursprung haben, die Willkür nur dadurch bestimmen kann, daß sie das Gefühl einer Lust im Subjekt voraussetzt, so ist, daß sie ein Bestimmungsgrund der Willkür ist, gänzlich von der Beschaffenheit des inneren Sinnes abhängig, daß dieser nämlich dadurch mit Annehmlichkeit affiziert werden kann. Die Vorstellungen der Gegenstände mögen noch so ungleichartig, sie mögen Verstandes-, selbst Vernunftvorstellungen im Gegensatz der Vorstellungen der Sinne sein, so ist doch das Gefühl der Lust, wodurch jene doch eigentlich nur den Bestimmungsgrund des Willens ausmachen (die Annehmlichkeit, das Vergnügen, das man davon erwartet, welches die Tätigkeit zur Hervorbringung des Objekts antreibt), nicht allein sofern von einerlei Art, daß es jederzeit bloß empirisch erkannt werden kann, sondern auch sofern, als es ein und dieselbe Lebenskraft ist, die sich im Begehrungsvermögen äußert, affiziert und in dieser Beziehung von jedem anderen Bestimmungsgrund in nichts als dem Grad verschieden sein kann. Wie würde man sonst zwischen zwei, der Vorstellungsart nach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründen eine Vergleichung der  Größe  nach anstellen können, um den, der am meisten das Begehrungsvermögen affiziert, vorzuziehen? Ebenderselbe Mensch kann ein ihm lehrreiches Buch, das ihm nur einmal zu Händen kommt, angelesen zurückgeben, um die Jagd nicht zu versäumen, in der Mitte einer schönen Rede weggehen, um zur Mahlzeit nicht zu spät zu kommen, eine Unterhaltung durch vernünftige Gespräche, die er sonst sehr schätzt, verlassen, um sich an den Spieltisch zu setzen, sogar einen Armen, dem wohlzutun ihm sonst Freude ist, abweisen, weil er jetzt eben nicht mehr Geld in der Tasche hat, als er braucht, um den Eintritt in die Komödie zu bezahlen. Beruth die Willensbestimmung auf dem Gefühl der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die er aus irgendeiner Ursache erwartet, so ist es ihm gänzlich einerlei, durch welche Vorstellungsart er affiziert wird. Nur wie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wiederholt diese Annehmlichkeit ist, daran liegt es ihm, um sich zur Wahl zu entschließen. So wie demjenigen, der Gold zur Ausgabe braucht, gänzlich einerlei ist, ob die Materie desselben, das Gold, aus dem Gebirge gegraben oder aus dem Sand gewaschen ist, wenn es nur allenthalben für denselben Wert angenommen wird, so fragt kein Mensch, wenn es ihm bloß an der Annehmlichkeit des Lebens gelegen ist, ob Verstandes- oder Sinnesvorstellungen, sondern nur,  wieviel und wie großes Vergnügen  sie ihm auf die längste Zeit verschaffen. Nur diejenigen, welche der reinen Vernunft das Vermögen, ohne Voraussetzung irgendeines Gefühls den Willen zu bestimmen, gerne abstreiten möchten, können sich so weit von ihrer eigenen Erklärung verirren, das, was sie selbst vorher auf ein und dasselbe Prinzip gebracht haben, dennoch hernach für ganz ungleichartig zu erklären. So findet sich z. B., daß man auch an bloßer  Kraftanwendung,  am Bewußtsein seiner Seelenstärke in Überwindung der Hindernisse, die sich unserem Vorsatz entgegensetzen, an der Kultur der Geistestalente usw. Vergnügen finden kann, und wir nennen das mit Recht  feinere  Freuden und Ergötzungen, weil sie mehr wie andere in unserer Gewalt sind, sich nicht abnutzen, das Gefühl zu noch mehrerem Genuß derselben vielmehr stärken und, indem sie ergötzen, zugleich kultivieren. Allein sie darum für eine andere Art, den Willen zu bestimmen, als bloß durch den Sinn, auszugeben, da sie doch einmal zur Möglichkeit jener Vergnügen ein darauf in uns angelegtes Gefühl, als erste Bedingung dieses Wohlgefallens, voraussetzen, ist gerade so, als wenn Unwissende, die gern in der Metaphysik pfuschen möchten, sich die Materie so fein, so überfein, daß sie selbst darüber schwindlig werden möchten, denken, und dann glauben, auf diese Art sich ein  geistiges  und doch ausgedehntes Wesen erdacht zu haben. Wenn wir es, mit dem EPIKUR, bei der Tugend auf das bloße Vergnügen aussetzen, das sie verspricht, um den Willen zu bestimmen, so können wir ihn hernach nicht tadeln, daß er dieses mit denen der gröbsten Sinne für ganz gleichartig hält; denn man hat gar nicht Grund, ihm aufzubürden, daß er die Vorstellungen, wodurch dieses Gefühl in uns erregt würde, bloß den körperlichen Sinnen beigemessen hätte. Er hat von vielen derselben den Quell, soviel man erraten kann, ebensowohl im Gebrauch des höheren Erkenntnisvermögens gesucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht hindern, nach dem genannten Prinzip das Vergnügen selbst, das uns jene allenfalls intellektuellen Vorstellungen gewähren, und wodurch sie allein Bestimmungsgründe des Willens sein können, gänzlich für gleichartig zu halten.  Konsequent  zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen, und wird doch am seltensten angetroffen. Die alten griechischen Schulen geben uns davon mehr Beispiele, als wir in unserem  synkretistischen  Zeitalter antreffen, wo ein gewisses  Koalitionssystem  widersprechender Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit erkünstelt wird, weil es sich einem Publikum besser empfiehlt, das zufrieden ist, von Allem etwas und im Ganzen nichts zu wissen, und dabei in allen Sätteln gerecht zu sein. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit, soviel Verstand und Vernunft bei ihm auch gebraucht werden mag, würde doch für den Willen keine Bestimmungsgründe, als die dem  unteren  Begehrungsvermögen angemessen sind, in sich fassen, und es gibt also entweder gar kein oberes Begehrungsvermögen, oder  reine Vernunft  muß für sich allein praktisch sein, d. h. ohne Voraussetzung irgendeines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung der Prinzipien ist, durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen zu können. Alsdann ist Vernunft allein nur, sofern sie für sich selbst den Willen bestimmt (nicht im Dienst der Neigungen ist), ein wahres  oberes  Begehrungsvermögen, dem das pathologisch bestimmbare untergeordnet ist und wirklich, ja,  spezifisch  von diesem unterschieden, so daß sogar die mindeste Beimischung von Antrieben der letzteren ihrer Stärke und Vorzüge Abbruch tut, so wie das mindeste Empirische, als Bedingung in einer mathematischen Demonstration, ihre Würde und Nachdruck herabsetzt und vernichtet. Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetz unmittelbar den Willen, nicht mittels eines dazwischenkommenden Gefühls der Lust und Unlust, selbst nicht an diesem Gesetz, und nur, daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich,  gesetzgebend  zu sein.


Anmerkung II.

Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d. h. etwas, was sich auf ein subjektiv zum Grund liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustand bedarf, bestimmt wird. Aber eben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrund vom Subjekt bloß empirisch erkannt werden kann, ist es unmöglich, diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil dieses als objektiv in allen Fällen und für alle vernünftigen Wesen  ebendenselben Bestimmungsgrund  des Willens enthalten müßte. Denn obgleich der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der Objekte auf das Begehrungsvermögen  allerwärts  zum Grund liegt, ist er doch nur der allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe und bestimmt nichts spezifisch, darum es doch in dieser praktischen Aufgabe allein zu tun ist, und ohne welche Bestimmung sie gar nicht aufgelöst werden kann. Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf das jeweilige besondere Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in ein und demselben Subjekt auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse, nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein  subjektiv notwendiges  Gesetz (als Naturgesetz) ist also  objektiv  ein gar sehr zufälliges  praktisches  Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es bei der Begierde nach Glückseligkeit nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt, nämlich ob und wieviel Vergnügen ich in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe. Prinzipien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten; dann sind es aber bloß theoretische Prinzipien (1), z. B. wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken hat. Aber praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet.

Aber gesetzt, endliche vernünftige Wesen dächten auch in Anbetracht dessen, was sie für Objekte ihrer Gefühle des Vergnügens oder Schmerzes anzunehmen hätten, desgleichen sogar in Anbetracht der Mittel, deren sie sich bedienen müssen, um die ersteren zu erreichen, die andern abzuhalten, durchgehend einerlei, so würde das  Prinzip  der Selbstliebe dennoch von ihnen durchaus für  kein praktisches  Gesetz ausgegeben werden können; denn diese Einhelligkeit wäre selbst doch nur zufällig. Der Bestimmungsgrund wäre doch nur immer subjektiv gültig und bloß empirisch und hätte diejenige Notwendigkeit nicht, die in einem jeden Gesetz gedacht wird, nämlich die objektive aus Gründen a priori; man müßte denn die Notwendigkeit gar nicht für praktisch, sondern für bloß physisch ausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsere Neigung uns ebenso unausbleiblich abgenögtigt würde als das Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen. Man würde eher behaupten können, daß es gar keine praktischen Gesetze gibt, sondern nur  Anratungen  zum Zweck unserer Begierden, als daß bloß subjektive Prinzipien zum Rang praktischer Gesetze erhoben würden, die durchaus objektive und nicht bloß subjektive Notwendigkeit haben und durch Vernunft a priori, nicht durch Erfahrung (so empirisch allgemein diese auch sein mag) erkannt sein müssen. Selbst die Regeln einstimmiger Erscheinungen werden nur Naturgesetze (z. B. die mechanischen) genannt, wenn man sie entweder wirklich a priori erkennt oder doch (wie bei den chemischen) annimmt, sie würden a priori aus objektiven Gründen erkannt werden, wenn unsere Einsicht tiefer ginge. Allein bei bloß subjektiven praktischen Prinzipien wird das ausdrücklich zur Bedingung gemacht, daß ihnen nicht objektive, sondern subjektive Bedingungen der Willkür zum Grund liegen müssen; mithin, daß sie jederzeit nur als bloße Maximen, niemals aber als praktische Gesetze, vorstellig gemacht werden dürfen. Diese letztere Anmerkung scheint beim ersten Anblick eine bloße Wortklauberei zu sein; allein sie enthält die Wortbestimmung des allerwichtigsten Unterschiedes, der nur in praktischen Untersuchungen in Betracht kommen mag.


§ 4. Lehrsatz III.

Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselben nur als solche Prinzipien denken, die nicht der Materie, sondern bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthalten.

Die Mateie eines praktischen Prinzips ist der Gegenstand des Willens. Dieser ist entweder der Bestimmungsgrund des letzteren oder nicht. Ist er der Bestimmungsgrund desselben, so würde die Regel des Willens einer empirischen Bedingung (dem Verhältnis der bestimmenden Vorstellung zum Gefühl der Lust oder Unlust) unterworfen, folglich kein praktisches Gesetz sein. Nun bleibt von einem Gesetz, wenn man alle Materie, d. h. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Also kann ein vernünftiges Wesen sich  seine  subjektiv-praktischen Prinzipien d. h. Maximen entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muß annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene  sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken,  sie für sich allein zum praktischen Gesetz macht.


Anmerkung.

Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schickt, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden. Ich habe es mir z. B. zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern. Jetzt ist ein  Depositum  in meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat. Natürlicherweise ist dies der Fall meiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gelten kann. Ich wende jene also auf den gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen darf, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann. Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gibt. Ein praktisches Gesetz, was ich dafür erkenne, muß sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren; dies ist ein identischer Satz und so für sich klar. Sage ich nun: mein Wille steht unter einem praktischen  Gesetz,  so kann ich nicht meine Neigung (z. B. im gegenwärtigen Fall meine Habsucht) als den zu einem allgemeinen praktischen Gesetz schicklichen Bestimmungsgrund desselben anführen; denn diese, weit gefehlt, daß sie zu einer allgemeinen Gesetzgebung tauglich sein sollte, so muß sie vielmehr in der Form eines allgemeinen Gesetzes sich selbst aufreiben.

Es ist daher wunderlich, wie, da die Begierde zur Glückseligkeit, mithin auch die  Maxime,  dadurch sich jeder diese letztere zum Bestimmungsgrund seines Willens setzt, allgemein ist, es verständigen Männern habe in den Sinn kommen können, es darum für ein allgemein  praktisches Gesetz  auszugeben. denn da sonst ein allgemeines Naturgesetz  alles  einstimmig macht, so würde hier, wenn man der Maxime die Allgemeinheit eines Gesetzes geben wollte, gerade das äußerste Widerspiel der Einstimmung, der ärgste Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime selbst und ihrer Absicht erfolgen. Denn der Wille aller hat dann nicht ein und dasselbe Objekt, sondern ein jeder hat das seinige (sein eigenes Wohlbefinden), welches sich zwar zufälligerweise auch mit den Absichten anderer, die sie gleichfalls auf sich selbst richten, vertragen kann, aber lange nicht zum Gesetz hinreichend ist, weil die Ausnahmen, die man gelegentlich zu machen befugt ist, endlos sind und gar nicht bestimmt in eine allgemeine Regel befaßt werden können. Es kommt auf diese Art eine Harmonie heraus, die derjenigen ähnlich ist, welche ein gewisses Spottgedicht auf die Seeleneintracht zweier sich zugrunde richtenden Eheleute schildert:  O wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie  etc., oder was von der Forderung König FRANZ I. gegen Kaiser KARL V. erzählt wird: was mein Bruder KARL haben will (Mailand), das will ich auch haben. Empirische Bestimmungsgründe taugen zu keiner allgemeinen äußeren Gesetzgebung, aber auch ebensowenig zur inneren; denn Jener legt sein Subjekt, ein Anderer aber ein anderes Subjekt der Neigung zum Grund, und in jedem Subjekt selber ist bald die, bald eine andere im Vorzug des Einflusses. Ein Gesetz ausfindig zu machen, das sie ingesamt unter dieser Bedingung, nämlich mit allseitiger Einstimmung regiert, ist schlechterdings unmöglich.


§ 5. Aufgabe I.

Vorausgesetzt, daß die bloße gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende Bestimmungsgrund eines Willens ist: die Beschaffenheit desjenigen Willens zu finden, der dadurch allein bestimmbar ist.

Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann, und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört, so ist die Vorstellung derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetz der Kausalität unterschieden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe selbst Erscheinungen sein müssen. Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für diesen zum Gesetz dienen kann, als bloß jene allgemeine gesetzgebende Form, so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig vom Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetz der Kausalität, bzw. aufeinander, gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt  Freiheit  im strengsten, d. h. transzendentalen Verstand. Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetz dienen kann, ein freier Wille.

§ 6. Aufgabe II.

Vorausgesetzt, daß ein Wille frei ist: das Gesetz zu finden, welches ihn allein notwendig zu bestimmen tauglich ist.

Da die Materie des praktischen Gesetzes, d. h. ein Objekt der Maxime, niemals anders als empirisch gegeben werden kann, der freie Wille aber, als von empirischen (d. h. zur Sinnenwelt gehörigen) Bedingungen unabhängig, dennoch bestimmbar sein muß, so muß ein freier Wille unabhängig von der  Materie  des Gesetzes dennoch einen Bestimmungsgrund im Gesetz antreffen. Es ist aber außer der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten. Also ist die gesetzgebende Form, sofern sie in der Maxime enthalten ist, das Einzige, was einen Bestimmungsgrund des freien Willens ausmachen kann.


Anmerkung.

Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise aufeinander zurück. Ich frage hier nun nicht, ob sie auch in der Tat verschieden sind, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriff der Freiheit ist; sondern wovon unsere Erkenntnis des Unbedingt-Praktischen  anhebt,  ob von der Freiheit oder dem praktischen Gesetz. Von der Freiheit kann es nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung gibt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanismus der Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen. Also ist es das  moralische Gesetz,  dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingung zu überwiegenden, ja, davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt. Wie ist aber auch das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich? Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, ebenso, wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Notwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweist, Acht haben. Der Begriff eines reinen Willens entspringt aus den ersteren, wie das Bewußtsein eines reinen Verstandes aus dem letzteren. Daß dieses die wahre Unterordnung unserer Begriffe ist, und Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit endeckt, mithin  praktische Vernunft  zuerst der spekulativen das unauflöslichste Problem mit diesem Begriff aufstellt, um sie durch denselben in die größte Verlegenheit zu setzen, erhellt sich schon daraus, daß, da aus dem Begriff der Freiheit in den Erscheinungen nicht erklärt werden kann, sondern hier immer ein Naturmechanismus den Leitfaden ausmachen muß, überdem auch die Antinomie der reinen Vernunft, wenn sie zum Unbedingten in der Reihe der Ursachen aufsteigen will, sich bei einem so sehr, wie beim andern in Unbegreiflichkeiten verwickelt, indessen daß doch der letztere (Mechanismus) wenigstens Brauchbarkeit in der Erklärung der Erscheinungen hat, man niemals zu dem Wagstück gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm die praktische Vernunft dazu gekommen und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns. Setzt, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich, ob, wenn ein Galgen von dem Haus, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er dann nicht die Neigung bezwingen würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuten würde, ein falsches Zeugnis gegen einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich hält? Ob er es tun würde oder nicht, wird er sich vielleicht nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich ist, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilt also, daß er etwas aknn, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.


§ 7.
Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.


Anmerkung.

Die reine Geometrie hat Postulate als praktische Sätze, die aber nichts weiter enthalten, als die Voraussetzung, daß man etwas tun  kann,  wenn etwas gefordert wird, man  soll  es tun, und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein Dasein betreffen. Es sind also praktische Regeln unter einer problematischen Bedingung des Willens. Hier aber sagt die Regel: man soll schlechthin auf gewisse Weise verfahren. Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin, als kategorisch praktischer Satz, a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel selbst, die also hier Gesetz ist), objektiv bestimmt wird. Denn reine,  ansich praktische Vernunft  ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille,  durch die bloße Form des Gesetzes  als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. Die Sache ist befremdlich genug und hat ihresgleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntnis nicht. Denn der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, der also bloß problematisch ist, wird, ohne von der Erfahrung oder irgendeinem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten. Es ist aber auch keine Vorschrift, nach welcher eine Handlung geschehen soll, dadurch eine begehrte Wirkung möglich ist (denn da wäre die Regel immer physisch bedingt), sondern eine Regel, die bloß den Willen, in Anbetracht der Form der Maximen, a priori bestimmt, und da ist ein Gesetz, welches bloß zum Zweck der  subjektiven  Form der Grundsätze dient, als Bestimmungsgrund durch die  objektive  Form eines Gesetzes überhaupt wenigstens zu denken, nicht unmöglich. Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist, obgleich er analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzt, wozu aber, als positivem Begriff, eine intellektuelle Anschauung erforderlich werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als  gegeben  anzusehen, wohl bemerken, daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend  (sic volo, sic jubeo  [so will ich, so befehle ich - wp]) ankündigt.


Folgerung.

Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir  Sittengesetz  nennen.


Anmerkung.

Das vorher genannte Faktum ist unleugbar. Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen; so wird man jederzeit finden, daß, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung, jederzeit an den reinen Willen hält, d. h. ansich, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet. Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrund des Willens, unangesehen aller subjektiven Verschiedenheit desselben macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetz für alle vernünftigen Wesen, sofern sie überhaupt einen Willen, d. h. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin sofern sie der Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Prinzipien a priori (denn diese habe allein diejenige Notwendigkeit, welche die Vernunft zum Grundsatz fordert), fähig sind. Es schränkt sich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern geht auf alle endlichen Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja, schließt sogar das unendliche Wesen, als oberste Intelligenz, mit ein. Im ersteren Fall aber hat das Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar, als vernünftigem Wesen, einen  reinen,  aber, als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierten Wesen, keinen  heiligen  Willen, d. h. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetz widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann. Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein  Imperativ,  der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist; das Verhältnis eines solchen Willens zu diesem Gesetz ist  Abhängigkeit,  unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine  Nötigung,  obgleich durch bloße Vernunft und deren objektives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die darum  Pflicht  heißt, weil eine pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus  subjektiven  Ursachen entspringt, dher auch dem reinen objektiven Bestimmungsgrund oft entgegen sein kann, und so eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller Zwang genannt werden kann, als moralischer Nötigung bedarf. In der allergenügsamsten Intelligenz wird die Willkür als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich objektiv Gesetz sein könnte, mit Recht vorgestellt, und der Begriff der  Heiligkeit der ihr deswegen zukommt, setzt sie zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle praktisch-einschränkenden Gesetze, mithin Verbindlichkeit und Pflicht weg. Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendig zum  Urbild  dienen muß, welchem sich bis ins Unendliche zu nähern das Einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein, d. h. Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann, die selbst wiederum wenigstens als natürlich erworbenes Vermögen nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in einem solchen Fall niemals apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp] Gewißheit wird und als Überredung sehr gefährlich ist.
LITERATUR: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 1869 [Kirchmann-Ausgabe]
    Anmerkungen
    1) Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehre  praktisch  genannt werden, sollten eigentlich  technisch  heißen. Denn um die Willensbestimmung ist es diesen Lehren gar nicht zu tun; sie zeigen nur das Mannigfaltige der möglichen Handlung an, welches eine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichend ist, und sind also ebenso theoretisch wie alle Sätze, welche die Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung aussagen. Wem nun die letztere beliebt, der muß sich auch gefallen lassen, die erstere zu sein.