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Paulsens Kant (1)
Die Wichtigkeit dieses Buches liegt in der eigenartigen Auffassung KANTs, die darin gipfelt, KANTs philosophisches Denken in seiner geschlossenen Einheit und Gesamtheit vorzustellen, um daraus dann den eigentlichen Sinn, die Absicht und den Zweck von KANTs Hauptleistung, der Kritik der reinen Vernunft, zu erklären und zu deuten, während bisher der umgekehrte Weg eingeschlagen wurde: man suchte KANTs Denken einseitig auf den Inhalt der Kritik zu bauen, indem man sie für das Grundbuch und die Grundquelle seines gesamten Denkens ansah. Je nachdem man nun die Kritik auslegt, bekommt man ein anderes Bild von der kantischen Philosophie; die Kritik als solche und für sich betrachtet, ist ja so beschaffen, daß man "aus einzelnen Stellen ungefähr jede mögliche und unmögliche Ansicht herausbringen kann" (Seite X). KANT muß also "aus dem Ganzen" nicht bloß der Kritik, sondern seines gesamten Denkerlebens verstanden und dargelegt werden. Auf dem Grund der gesamten, sein Denken bestimmenden Ideenmasse ist auch die Kritik der reinen Vernunft erwachsen; nach den in diesem Untergrund waltenden und treibenden Prinzipien muß also auch die Kritik erklärt werden. Dies ist PAULSENs Methode. Warum hat bisher so viel Streit über KANT und seine Philosophie gegeben? Weil man bei seiner Betrachtung und der Konstruktion seines Systems eine falsche Methode anwandte: man machte die Kritik zum Grund- und Eckstein für das ganze Gebäude. Die Kritik aber bietet, wie PAULSEN klar und geschickt aufzählt, fünf verschiedene Seiten, von denen aus man sie selbst betrachten kann; man kommt also zu fünf verschiedenen, teilweise entgegengesetzten und sich widersprechenden Auffassungen und Darstellungen der kantischen Lehre. Welche von ihnen ist nun die richtige Betrachtungsweise? Das ist schwer zu entscheiden bloß von der Kritik aus. Die Einen meinen, als Hauptmomente des kantischen Denkens müßten die angesehen werden, welche die durchschlagendste Wirkung auf ihre Zeit ausgeübt haben. Da wird KANT leicht zum radikalen philosophischen Revolutionär, der die Philosophie auf den Kopf gestellt hat, wie KOPERNIKUS die geozentrische Weltbetrachtung; er wird zum Alles-Zermalmer, der doch nur dem Skeptizismus und Agnostizismus in die Hände gearbeitet hat, weil er mit allem Alten radikal aufräumte. Ihnen geht KANTs Denken schließlich auf in Kritik und Negation. Alle übrigen Gedanken KANTs erklären sie teils als Vorbereitung zur Geburt der Kritik mit ihren Negationen, teils als Abfall KANTs von sich selbst und von seiner Kritik. Ihnen schrumpft das System KANTs zusammen auf eine phänomenalistische Erkenntnistheorie und sie leugnen, daß sich aus dem übrigen Gedankenmaterial ein einheitliches, widerspruchsloses System konstruieren läßt, weil sie alles Gewicht auf die Negationen und die Polemik der Kritik legen. Andere dagegen wollen gründlicher und historischer zu Werke gehen; sie finden, das Hauptmoment in der Kritik sei KANTs Zerstörung des LEIBNIZ-WOLFFschen Dogmatismus. Die Hauptabsicht sei also die Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft und ihrer Erkenntnis. Alles Gedankenmaterial also, wodurch KANT selbst diese Grenzen überschreitet, muß aus dem System ausgeschlossen werden. Sie sind also geneigt, alle Metaphysik über Bord zu werfen und nur über das Maß des Auszuschließenden können sie sich nicht einigen; es gibt solche, welche mit der Metaphysik der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie auch die der Moral ausschließen wollen; die Dogmatik der metaphysischen Vorlesungen KANTs kann aber unter keinenn Umständen Gnade finden. Wir bekommen also von diesen auch in keinem Fall den ganzen KANT, sondern nur den in irgendeiner Weise durch die Kritik beschnittenen. Also man wird KANTs nicht Meister, wenn man den Standpunkt der Betrachtung allein oder hauptsächlich innerhalb der Kritik nimmt. PAULSEN verfährt umgekehrt und bringt es daher dazu, uns ein wohlabgerundetes, den ganzen KANT umfassendes, harmonisch zusammenstimmendes System seiner Philosophie vorzulegen, ohne irgendeine Partie der kantischen Gedanken hintanstellen zu müssen; ja gerade die bisher beiseite geschobene Partie des kantischen Denkens tritt in besonders helle Beleuchtung. PAULSEN nämlich betrachtet den vorkritischen KANT und sucht ins Licht zu stellen, welche Gedanken die ältesten und tiefsten Wurzeln in seinem Geist geschlagen haben; wie er dann zur Kritik seiner Denkart geführt wurde; welche allgemeine Weltanschauung er auch zur Zeit der Kritik noch festhielt; welche Gedanken sich ihm modifizierten; welche er ganz aufgegeben hat; welche neu hinzugekommen sind. So gewinnt PAULSEN einen Einblick in den Gesamtgehalt und dauernden Bestand dieses Denkerlebens, in welchem die Kritik nur ein einzelnes, allerdings höchst wichtiges Stadium bildet, das sich aber in all seinen Teilen und Beziehungen dem Ganzen wohl einfügt, wenn man nicht das Ganze nach diesem einzelnen Stück modeln will, sondern dieses Stück gemäß dem Ganzen des Systems interpretiert. Wo sich daher PAULSEN anschickt, die theoretische Philosophie KANTs, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft enthalten ist, auseinanderzusetzen, bahnt er sich in geschickter Weise dadurch den Weg, daß er die Erklärung einiger Begriffe vorausschickt; es sind die Begriffe Wahrnehmung, Erscheinung, Ding-ansich. Um diese Begriffe zu verdeutlichen, werden die allgemeinen Grundgedanken der kantischen Weltanschauung herbeigezogen, wie da die Sensatio der tierischen Intelligenz entspricht, die Erscheinung dem mundus sensibilis, der Welt, in der wir leben und die das Objekt der menschlichen Intelligenz ist, während das Ding-ansich, der mundus intelligibilis, Gegenstand der göttlichen Intelligenz, des intellectus archetypus, ist. Es wird gezeigt, wie das kantische Denken zeitlebens in der Idee einer intelligiblen Welt, einer Welt der Zwecke gipfelte und wie fest er demgemäß am Ding-ansich als "wirklicher Wirklichkeit" hielt. Also nicht einzelne Stellen der Kritik werden zitiert, um zu erweisen, daß KANT unter der Erscheinung keinen bloßen Schein versteht, sondern die "Vorstellung von Objekten", die in einem für alle gültigen, gesetzmäßigen Zusammenhang stehen; und wiederum wird uns nicht aus einzelnen Stellen dargelegt, daß KANT an die Realiltät des Dings-ansich geglaubt und die Existenz eines mundus intelligibilis, als der eigentlichen wahren Schöpfung des göttlichen Intellekts, statuiert hat, sondern eben eben diese seine gesamte Weltanschauung, die er zeitlebens nie aufgegeben hat, gibt den Beweisgrund für den Inhalt jener Begriffe. Eben diese umfassende, aus dem Ganzen des kantischen Denkens herausgearbeitete Darstellung der theoretischen Philosophie wird den nicht zu unterschätzenden, sondern hochbedeutsamen Erfolg haben, daß sich endlich eine allgemeine Übereinstimmung im Verständnis KANTs herausbilden wird. Das konnte solange nicht der Fall sein, als man die letzten Prinzipien zur Konstruktion des ganzen Systems aus der Kritik geschöpft hat, statt den Wert und die Bedeutung der mannigfaltigen Prinzipien, die sich in der "Kritik" gelten machen, nach der Gesamtanschauung KANTs zu bemessen. Eine allgemeine Übereinstimmung in der Auffassung KANTs muß sich aber zuerst bilden, wenn es Wahrheit und Wirklichkeit werden soll, daß "Kants Philosophie mit ihren großen Grundgedanken auch der Welt- und Lebensanschauung der Gegenwart die Wege zu weisen berufen ist" (Seite VI). Meine Überzeugung ist das auch und ich beklage es, daß dies bisher noch lange nicht genug und auch nicht in der richtigen und den letzten und tiefsten Gedanken KANTs entsprechenden Weise hat der Fall sein können. Und fragen wir nach dem Grund, so wird sich kein anderer entdecken lassen, als weil man über "die großen Grundgedanken" selbst noch so verschiedener Meinung sein konnte. Überlegen wird, wie vielerlei philosophische und theologische Welt- und Lebensanschauungen in den vergangenen hundert Jahren durch die kantische Philosophie angebahnt wurden, von FICHTE bis zu SCHOPENHAUER, RITSCHL und den deutschen Positivisten, so ergibt sich das Resultat, daß jene die Wege nach den entgegengesetzten Richtungen gewiesen hat, aber doch nur darum, weil KANT immer einseitig nach irgendeinem der in der Kritik sich findenden Wegweise aufgefaßt wurde. Wenn dies nicht so fortgehen soll, so muß ein gemeinsames und einheitliches Verständnis KANTs beschafft werden. Ich stehe nun nicht bloß unter dem Eindruck der feinen, gewandten, glänzenden und durchsichtigen Schreibart PAULSENs, wenn ich sage, es sei zu hoffen, daß diese in ihrer Art neue Darstellung der kantischen Philosophie in sich selbst die sachlichen Gründe trägt, welche eine allgemeine Übereinstimmung in der Auffassung KANTs anbahnen werden. Was nämlich an PAULSENs Darstellung wirklich neu ist, das ist der ausführliche und schöne Abschnitt über KANTs Metaphysik und die zentrale Stellung, die sie nach PAULSEN im ganzen System einnimmt. Vom metaphysischen Standpunkt KANTs aus werden wir über sein System orientiert. Daher PAULSENs bezeichnendes Wort: "Wer bei Kant auf den Platoniker nicht achtet, wird auch den Kritiker nicht verstehen." (Seite VII) Der Kritiker KANT tritt in ein ganz anderes Licht, wenn die Strahlen des metaphysischen Idealismus auf ihn fallen. In dieser Beleuchtung das ganze System und auch die Kritik der reinen Vernunft zu betrachten und vorzuführen, hat noch kein Darsteller KANTs bisher die Absicht gehabt. PAULSEN tut es, weil er die Überzeugung hegt, daß nur so der ganze, einheitliche, widerspruchslose KANT uns vors Auge tritt und so KANT nicht bloß von außen, sondern von innen heraus gesehen werden kann. Diese Betrachtungsweise gibt dem Buch seine Überzeugungskraft. Kommt nun dazu noch die glänzende Darstellungskunst PAULSENs, dann ist natürlich, daß das Buch sich rasch, besonders bei unserer studierenden Jugend, für die es in erster Linie geschrieben ist, Bahn brechen wird. So ausgezeichnete und wertvolle Darstellungen von KANTs Philosophie wir auch in Deutschland zu besitzen uns rühmen dürfen, so glaube ich doch ncht zuviel zu sagen, wenn ich die Meinung ausspreche, daß PAULSENs Buch für das Kant-Studium unserer akademischen Jugend epochemachend sein wird, weil es eine originale, das System unter einem neuen Gesichtspunkt betrachtende Darstellung ist, welche den Anspruch erheben darf, KANT in einer neuen Weise zum allseitigen und einheitlichen Verständnis zu bringen. Wenn nun auch PAULSENs Auffassung die weiteste Verbreitung und Anerkennung finden dürfte, so soll damit keineswegs gesagt sein, daß die bisherigen Auffassungsweisen und Darstellungen ganz überflüssig geworden sind. Das wäre ein Mißverständnis; auch sie haben ihre Berechtigung, weil bei PAULSEN viel weniger begreiflich wird, welche verschiedenartige Wirkung die kantische Philosophie auf ihre und die folgende Zeit ausgeübt hat und ausüben mußte. In PAULSENs Darstellung treten die scharfen Spitzen und schroffen Kanten, welche die Kritik der reinen Vernunft herauskehrt, viel weniger hervor, als in den bisherigen Darstellungen. Es erscheint alles geglättet, harmonisiert, gleichmäßig. Dies wird sich erhellen, wenn wir PAULSENs interessantes Buch genauer betrachten. Die Einleitung zeigt uns zuerst die weltgeschichtliche Stellung, welche die kantische Philosophie einnimmt. Er erscheint hier als der große Friedensstifter, der durch die kritische Philosophie das alte große Problem des Verhältnisses von Wissen und Glauben schiedlich friedlich gelöst hat. Nach PAULSEN beruth die Bedeutung und Lebenskraft seiner Philosophie in erster Linie darauf, daß KANT den glücklichen Ausweg zeigt aus dem Dilemma: entweder Glauben oder Wissen, und es möglich machte, zugleich ein ehrlich denkender und ein aufrichtig glaubender Mann zu sein. KANT ist der willkommene "Erlöser" aus einer unerträglichen Spannung. Er ist der herrliche "Vollender" dessen, was LUTHER begonnen hat: er hat den Glauben gegen das Wissen und das Wissen gegen die äußeren Autoritäten selbständig gemacht. Schon in dieser Charakteristik der welthistorischen Stellung KANTs tritt die irenische, konziliatorische [friedfertig, versöhnliche - wp] Tendenz von PAULSENs Buch hervor. KANT ist in keiner Weise der Alleszermalmer, der etwa seine Freude hätte am Zerstören alles bisher Gültigen, nicht der, welcher mit dem Schwert seiner Dialektik alle Metaphysik in Scherben schlug und mit dem verzehrenden Feuer seiner Kritik den ganzen Bau der alten Philosophie niederbrannte ohne Erbarmen und Scheu. Wir erfahren zwar, daß er "die alte scholastische Philosophie definitiv vernichtet" hat, aber dies erscheint viel weniger als Absicht, als vielmehr als glücklicher Nebenerfolg; die Hauptabsicht war ja, Frieden zu stiften, eine Erlösung zu bringen, Vollender zu sein. Gewiß war KANT im Großen und Ganzen eine friedliche Natur, man braucht ja nur das dem Buch beigegebene, für PAULSENs Wahl charakteristische Titelbild zu betrachten und man sieht, daß der schmächtige Mann, der dem robusten, lebensstrahlenden LESSING gegenübersteht gewiß ein nüchterner, friedliebender Gelehrter gewesen sein muß. Aber es gibt im Leben aller großen und tiefen Geister, die eine welthistorische Wirkung auf ihr Geschlecht auszuüben berufen sind, und zu diesen gehört auch KANT, Momente und Perioden, wo sie über ihre eigene Natur hinausgehoben erscheinen und mit heroischer Kraft und überschäumendem Mut das Schwert des Geistes schwingen, so daß nach rechts und links die Funken stieben. In solchen Augenblicken und Zeiten machen sich dann auch Kräfte und Mächte geltend, die sonst ihrer Natur und ihrem gewöhnlichen Denken und Leben fremd sind und weder früher noch später wieder auftreten. Sie sind gleichsam in Ekstase,, die sie weit und hoch über ihr eigentliches und eigenes Wesen emporhebt. In so einer gehobenen Periode, erfüllt von der Größe und Wucht seiner Sache, hat auch KANT seine Kritik der reinen Vernunft geschrieben; da war er der kampffreudige Ritter, der waghalsig vor keinem Streich zurückschreckte und kühn und frei nach allen Seiten Gedanken blitzen ließ, die ihm nachher bei ruhiger Überlegung selbst allzuverwegen und gefährlich vorgekommen sind. Dieses Heroische in KANTs Auftreten und in der Kr. d. r. V., das vermisse ich in PAULSENs Darstellung; das hätte wohl in eine stärkere Beleuchtung gesetzt werden dürfen. So dürfte es auch meines Erachtens nicht zutreffend sein zu sagen, KANT nehme hie und da in der Kritik das Ansehen des Agnostikers an. Das hat er nicht bloß "angenommen", er hat sich nicht etwa zum Schein oder um einen Effekt zu erreichen, mit diesem Mantel drapiert, sondern die Hochflut seiner Gedanken riß ihm bis zu diesen skeptischen Riffen fort, wie ein andermal der idealistische Wirbelsturm ihn bis in die gefährliche Nähe von BERKELEYs Gestirn gehoben hat. Es gibt eben Geistesmächte, die auch nur leise erregt, plötzlich übermächtig werden und den Geist und das Gehirn ihrer Werkzeuge gefangen nehmen. Ohne solche dem eigenen Wesen fremde Gewalten verschiedener Art ist kaum eine große, heroische Tat in der Geschichte vollbracht worden; und dauch die Kr. d. r. V. gehört zu den heroischen Taten des Menschengeistes. Ich meine daher, die stark phänomenalistischen, rein idealistischen, pur skeptischen und agnostischen Äußerungen, deren die Kr. d. r. V. nicht wenige bietet, sind im Moment, als KANT sie geschrieben hat, und an dem Ort, wo sie stehen, durchaus ernst gemeint, sonst hätte dieses Werk gar nicht diese gewaltigen Wirkungen nach allen Seiten hin und auf so lange Zeit hinaus in diesem Sinne haben können, wie es sie gehabt hat. Der Wein der ersten Auflage der Kritik war so echt wie stark, nicht nachgemacht oder erkünstelt; darum hat KANT nachher so viel Wasser nachgießen müssen, sobald er gesehen hat, welch betäubende Wirkung er hervorrief. In der Kr. d. r. V. überschreitet KANT sich selbst und darum haben die doch auch ein gewisses Recht, welche dieses Werk in seiner ursprünglichen Gestalt für sich allein, abgelöst vom sonstigen KANT so betrachten, wie es sich gibt, wenngleich der mehr Recht hat, der sagt, der ganze, wahre KANT kann nicht aus der "Kritik" oder von ihr aus konstruiert und dargestellt werden, vielmehr muß die Kritik vom Ganzen des kantischen Denkens aus interpretiert werden, wenn nicht KANTs Denken sich in unlösbare Widersprüche verwickeln soll, was zur Amputation ganzer Stücke des Systems führt. Während die anderen den sozusagen psychischen Exaltationszustnd, in welchem KANT sich befunden hat, der sich der epochemachenden Wirkung seines Werkes im Voraus bewußt war, als er es niederschrieb, als den maßgebenden darstellen, hat PAULSENs Darstellung eher eine ausgleichende, besänftigende Tendenz; KANT ist auch in der "Kritik" mehr nur der nüchterne Systematiker, der zu sein er sich allerdings auch hier das Ansehen geben möchte, obgleich die schwerfällige, systematisch-architektonische Richtng, in die er seine Gedanken einzuschnüren sich alle Mühe gibt, wie PAULSEN trefflich zeigt, eher verdunkelnd und hemmend wirkt. Auch in seiner zeitgeschichtlichen Umgebung nimmt KANT nach PAULSEN eine vermittelnde, ausgleichende Stellung ein: "er ist beides zugleich, Vollender und Überwinder der Aufklärung". Er gehört in die Reihe der WINCKELMANN, LESSING, HAMANN, HERDER, GOETHE, SCHILLER, die ohne dem Rationalismus abzusagen, doch aus der hausbackenen Vernunftheologie sich aufgeschwungen haben zu
Dann folgt die feinsinnige Zeichnung von KANTs Leben und philosophischer Entwicklung. Obwohl PAULSEN immer nur, wie er sich ausdrückt, "mit wenigen Strichen zeichnen" will, so ist sein Bild doch keine bloße Zeichnung, sondern eine Plastik; wir bekommen keinen bloß gemalten, sondern den leibhaftigen KANT mit seinem persönlichen Charakter, wie als Lehrer, Denker und Schriftsteller. Wer diesen Lebens- und Entwicklungsgang liest, dem geschieht, was er nicht bei jeder Biographie erlebt; er empfindet nicht nur Sympathie und Hochschätzung für Geist und Herz und Charakter des dargestellten Helden, sondern je länger umso mehr knüpft sich auch ein Band der Sympathie zwischen dem Leser und dem Biographen; und am Ende möchte er diesem dankbar die Hand drücken, weil er durch seine Beschreibung des Helden ihm auch einen Einblick in des Biographen Geist und Herz hat gewinnen lassen. In diesem Kapitel will PAULSEN keine neue Studien und Resultate über KANTs geistige Entwicklung veröffentlichen, sondern er erklärt ausdrücklich, an den in seiner schon 1875 über KANTs erkenntnistheoretischen Entwicklungsgang veröffentlichten und begründeten Ansichten festzuhalten; die Aufgabe, die PAULSEN in seinem Buch sich stellt, ist ja eine andere, als die, Spezialfragen der jetzigen Kantforschung zu entscheiden. Gleichwohl beweist sein Buch, daß PAULSEN immer noch in diesen Fragen ein gewichtiges Wort mitzureden hat und die neusten Forschungen genau prüft. Den Hauptplatz im ganzen Buch nimmt aber dann die Darstellung der theoretischen Philosophie KANTs ein. Hier zeigt PAULSEN wieder sein ausnehmendes Geschick zum philosophischen Jugendlehrer. Seine Darstellung wird zum trefflichen Lehrbuch für philosophische Übungen zur Einführung der Studierenden in das Verständnis sowohl des Ganzen wie des Einzelnen der Kritik. PAULSENs Erklärungen und Winke dürften vielen über die größten Schwierigkeiten hinweghelfen. Nicht, daß er alles wasserklar und seicht machte und dem Leser die eindringende Denkarbeit erspart; "die Pforte bleibt dabei doch eng und der Weg steil" (Seite IX), aber er weiß das herauszugreifen und ins Licht zu stellen, über was der Studierende im Voraus klar werden muß, wenn ihm überhaupt das Verständnis kommen soll. PAULSENs Buch dürfte das Lieblingsbuch aller jungen Kant-Studierenden werden. Ein solches hat bisher gefehlt; es geliefert zu haben, wird ein bleibendes Verdienst PAULSENs sein. Ich kann nicht in Einzelheiten eingehen; einiges habe ich schon oben berührt. Es sei hier nur noch der Abschnitt über die Problemstellung erwähnt. Schon in seinem früheren Buch "Versuch einer Entwicklungsgeschichte von Kants Erkenntnistheorie" hat PAULSEN eingehende Untersuchungen darüber vorgenommen. Er hat seine Ansichten auch hierüber nicht geändert, nur betont er noch schärfer, daß die Formel "wie sind synthetische Urteile a priori möglich"? eigentlich nicht die geschickteste ist und es gar kein Unglück gewesen wäre, wenn er sie überhaupt nicht gefunden hätte; sie habe, ist PAULSENs Ansicht, durch eine Art falscher Klarheit mehr beigetragen das Problem zu verwirren, als es aufzuhellen. Gewiß klarer wäre die Formel gewesen: "wodurch und wieweit ist es möglich, durch reine Vernunft (a priori) zur Erkenntnis von Gegenständen zu kommen?" Das will ja in der Tat KANT ausmachen, um gegen HUME zu beweisen, daß es auch von Tatsachen und von empirischen Gegenständen ein wirkliches Wissen und eine Wissenschaft geben kann. Wissenschaft ist ja nur da, wo allgemeine und notwendige Vernunfterkenntnis einer Sache ist. Diese alt-aristotelische Ansicht vom Wesen der Wissenschaft hält KANT streng fest. Wovon es also keine apriorische Vernunfterkenntnis gibt, davon gibt es auch keine Wissenschaft. HUMEs Skeptizismus bestand eben darin, die Möglichkeit solchen Wissens von Tatsachen zu bestreiten. Wollte KANT ihn widerlegen, und die Möglichkeit eines wirklichen Wissens von Gegenständen der tatsächlichen Erfahrung behaupten, dann mußte er darlegen, daß und wie weit die reine Vernunft a priori zur Erkenntnis von empirischen Gegenständen kommen kann. Das ist die einfache, natürliche Formulierung der Aufgabe, die KANT in der Kr. d. r. V. lösen will. Ist es nicht wirklich eine Verdunkelung des Problems, wenn KANT es in eine Formulierung einhüllt, welche nur die logische Seite des Problems ausdrückt, die erst verständlich wird, wenn man weiß, welche logischen Verhältnisse im terminus technicus "synthetisch" zusammengefaßt sind? Die Verdunkelung wird noch vermehrt durch KANTs Erklärung des Unterschiedes zwischen synthetischen und analytischen Urteilen. KANT gibt da wieder nur einen formalen Unterschied an; analytische sind Erläuterungsurteile, synthetische aber Erweiterungsurteile des Subjektbegriffs; damit ist uns aber bezüglich des Problems der Kritik nur wenig gedient. Diese Erklärung müssen wir uns wieder dahin erklären, daß die analytischen Urteile nur ein logisches Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat angeben, daß sie nur Urteile "über den Inhalt von Wortbedeutungen" sind; die synthetischen Urteile aber ein reales Verhältnis ausdrücken und die tatsächlich existierende Zugehörigkeit eines realen Prädikats zu einem realen Subjekt angeben. Synthetische Urteile sind nicht solche über Worte, sondern über Tatsachen und wirkliche Gegenstände. Jetzt also erst verstehen wir, was die Frage heißen soll: "wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Sie soll heißen: "Wie ist es möglich, von einem empirisch existierenden Gegenstand aus reiner Vernunft (a priori) ein Prädikat als ihm tatsächlich zukommend aussagen zu können? Das ist nun allerdings die Frage, welche KANT in der Kr. d. r. V. beantworten will. Kann die Vernunft von sich aus allgemeine und notwendige Urteile über Tatsachen und Gegenstände fällen, wie die Naturwissenschaften, Physik, Astronomie oder die Geisteswissenschaften, Geschichte und Sprachwissenschaft sie bieten? HUME hatte dies geleugnet und danach diesen Wissenschaften, und damit zugleich allem Wissen, den Charakter wirkliche Erkenntnis zu schaffen, abgesprochen. KANT nun will in der "Kritik" nachweisen, daß und inwiefern man diese Frage bejahen und jenen Wissenschaften ihren Wert und ihre Bedeutung lassen kann.
Tief eindringend in KANTs Denkart ist dann der zweite Grund. KANT ist geneigt, seine ganze Untersuchung unter die Formel analytischer und synthetischer Aussagen über Begriffe zu stellen, weil ihm die Begriffe überhaupt fest, in sich geschlossene Wesenheiten eigener Art sind, mit welchen als bestimmten Wesenheiten der Verstand operiert. PAULSEN sagt, das sei die allgemeine Anschauung des Rationalismus; er hätte hinzufügen können, daß dieser jene Ansicht als alte Erbschaft noch aus der Scholastik her übernommen hat. Die Scholastik betrachtete die Begriffe als entia [Seiendes - wp] und schrieb ihnen als solchen intelligibles, intentionales Sein zu; aber es wurde auch darüber gestritten, ob sie bloße entia rationis seien oder ob auch entia realia. In jedem Fall betrachtete man aber den Begriff als bestimmtes Ens. Nur so hat sich ja auch die ganze metaphysische Weltanschauung bis auf KANT vererbt, wonach
Den mit besonderer Liebe ausgeführten Abschnitt über KANTs Metaphysik leitet PAULSEN durch ein Wort HEGELs ein, wobei die Pointe darin liegt, daß die Wissenschaft nach KANT einen mannigfach ausgeschmückten Tempel, aber ohne Allerheiligstes bildet. Dieses Zitat wirft ein helles Licht auf PAULSENs eigene Wertschätzung der Metaphysik. Es ist ja seine ausgesprochene Absicht, durch seine Darstellung der kantischen Metaphysik "der idealistischen Metaphysik, die sich in jüngster Zeit wieder ans Licht zu wagen begonnen hat, Mut zu machen, indem sie zeigt, daß KANT für sie kein drohender Name, sondern ein geneigter Patron ist (Seite VIII). PAULSENs Darstellung aber hat, auch abgesehen von seiner Absicht und Hoffnung, umso größeren Wert, je stiefmütterlicher gerade diese Partie des Systems in den meisten Darstellungen bisher behandelt wurde. Die Meinung ist ja immer noch die verbreitetste, daß die in den Vorlesungen über Metaphysik von KANT ausgesprochenen Gedanken eigentlich nicht zu der in der Kritik enthaltenen Denkart passen und nur Anbequemungen an die hergebracht Philosophie und an das der philosophischen Tradition ergebene Lehrbuch BAUMGARTENs sind. Man empfand die Metaphysik wie ein Überbein oder wie sonst einen ungehörigen Auswuchs am Leib des kantischen Systems. Darum ignorierte man entweder den Inhalt der Vorlesungen oder deutete nur anhangsweise darauf hin. Dieser bisher herrschenden Ansicht gegenüber vertritt PAULSEN die bisher noch nie aufgestellte Anschauung, daß gerade die Vorlesungen uns in die innersten, durchgreifendsten und den Untergrund des kantischen Denkens bildenden Gedanken einen Einblick gestatten und einen wesentlichen Bestandteil des Systems ausmachen, ohne den das System unvollständig wäre. PAULSENs Darstellung bezweckt den Nachweis, daß die Vorlesungen über Metaphysik voll und ganz zu KANTs System gehören und gerade "in positivem Vortrag zeigen, was in der Dialektik in negativer Beleuchtung" vorliegt. Nach PAULSEN bilden sie die notwendige positive Ergänzung der kantischen Gedankenreihe, ohne welche eine Lücke in seinem philosophischen System bestehen würde. Diese positive Teil des Systems hat allerdings auf den Gang der philosophischen Entwicklung bisher noch gar keinen Einfluß gehabt. Er wirkte nicht, weil man ihn nicht ernst genommen und auch nur unzureichend gekannt hat. PAULSEN will nun zeigen, daß er ganz ernst zu nehmen ist, und ihn in seiner ganzen Bedeutung und seinem Wert uns vorführen; er würde es auch "mit Freuden sehen", wenn in der Folgezeit auch diese Seite und dieser Teil des kantischen Denkens Anstoß zu metaphysischen Leistungen in KANTs Sinn und Denkrichtung geben würde. Wenn wir einer Metaphysik bedürfen, und daß wir einer solchen bedürfen, ist für PAULSEN gewiß, dann soll es eine im Geist und Sinn der kantischen Sein. Aber ob wir wirklich so viel von der kantischen erwarten dürfen? Ob das kommende Jahrhundert eine bringen wird, die sich an die kantische anschließt? Es scheint ein uns noch ungewohnter Gedanke zu sein. Unter diesen Umständen ist es selbstverständlich, daß PAULSEN uns alle Stellen in KANTs Werken vorführt (Seite 239-240), in welchen KANT die Metaphysik als "die wahre, eigentliche Philosophie" preist, "auf der sogar das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechts ankommt". Aus KANTs Entwurf "Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff" wird mit besonderem Nachdruck der Satz hervorgehoben, daß
KANT denkt über die Metaphysik im Jahr 1791 noch genau so, wie er 1781 gedacht hat, denn auch im Entwurf sagt er:
2. die praktisch-dogmatisch bietet bloß Ergänzungsstücke des moralischen Glaubens; 3. Bedingung ist, daß ihre Sätze notwendige Postulate des moralischen Glaubens sind, was über diese moralische Notwendigkeit hinausgeht, verliert sich ins Überschwängliche; 4. Diese praktisch-moralische Doktrin bietet schlechterdings keine Erkenntnis, kein Wissen, nicht einmal ein Fürwahrhalten, dessen logischer Wert könnte Wahrscheinlichkeit genannt werden, sondern nur praktischen Glauben = annehmen, als ob.
Es ist mit der Metaphysik doch nicht so gut bestellt, wie PAULSEN uns zuredet. Übrigens brauchen wir meines Erachtens gar nicht mehr auf eine Metaphysik im Geist und Sinn KANTs zu warten, d. h. auf eine solche, die sich strikt innerhalb der von KANT gesteckten praktisch-moralischen Grenzen hält. Die neukantische Theologenschule, die von RITSCHL ihren Namen hat, hat genau und vollständig aufgezeigt, was aufgrund der kantischen Erkenntnistheorie sich an metaphysischen Glaubenssätzen über Gott, Welt und Menschenseele aufstellen und entwickeln läßt. Sicherlich würde KANT ihre Dogmatik als die gewünschten "Ergänzungsstücke" metaphysischer Art zu dem von ihm begründeten praktisch-moralischen Glauben ansehen. Diese Theologenschule scheint bereits das in dieser Beziehung Mögliche geleistet zu haben. PAULSEN scheint aber zu mehrerem ermutigen zu wollen aufgrund dessen, was KANT in seinen Vorlesungen über Metaphysik gelehrt zu haben scheint. Wie PAULSEN uns darlegt, ist KANT ja da reichlich weiter gegangen in positiv-theoretischen Spekulationen, als nach seinen eigenen Grundbestimmungen zulässig ist. Wie verhält es sich damit? Durch PAULSENs Buch ist die Frage von erheblicher Wichtigkeit geworden. PAULSEN ist der Ansicht (Seite 238),
Über diese offizielle Tätigkeit KANTs scheint mir nun HEINZE richtiger zu urteilen, als PAULSEN. Nach letzterem hat KANT in diesen Vorlesungen seines innersten Herzens alteingewurzelte Gedanken losgelegt mit Beschwichtigung seines erkenntnistheoretischen Gewissens. HEINZE in seiner Schrift "Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern", Leipzig 1894, sieht die Sache anders an (Seite 658). Er gibt zu, daß KANTs Hauptabsicht in seinen Vorlesungen vor den Studenten die Befestigung der Moral und Religion war, und daß er, dem dies allerdings sehr am Herzen lag, darum das Positive besonders stark hervortreten ließ. In Rücksicht auf seine zu bildenden, moralisch und religiöse zu festigenden Zuhörer gebrauchte er die größte Vorsicht, um sie nicht durch unzeitige Kritik mehr zu verwirren als aufzuklären. KANT war ein durch und durch positiv gerichteter Geist und "in seinem Drang nach Positivem" mag er vor seinen jugendlichen Hörern sich positiver ausgedrückt haben, als sein System eigentlich gestattet, "Das kann uns nicht mehr befremden, als wenn wir in seinen kritischen Ausführungen nicht selten schwer oder auch gar nicht zu Vereinigendes finden". Das ist das Äußerste, was man zugeben kann, ohne KANT zu nahe zu treten. Das möchte gewiß PAULSEN am wenigsten tun; eben darum scheint der Ausdruck "Kant, der Erkenntnistheoretiker, läßt sich beschwichtigen" (Seite 242) wenig glücklich gewählt. HEINZE wirft mit Recht die Frage auf: wie hat KANT selbst über seine Vorlesungen geurteilt? Er macht auf eine Briefstelle vom Jahr 1778 an HERZ aufmerksam, die ein helles Licht auf KANTs eigenes Urteil wirft. KANT wünscht, HERZ möge sich Nachschriften seiner Vorlesungen verschaffen, weil er darin "die Natur dieses Wissen oder Vernünftelns weit besser als sonst auseinandergestzt hat und manches eingeflossen sei, an dessen Bekanntmachung er gerade arbeitet." Daraus geht hervor, daß KANT nicht nur zwischen Vorlesung und seinen kritischen Gedanken keinen Widerspruch gesehen hat, sondern das Verständnis letzterer durch jene vorzubereiten und noch zu fördern glaubte. Auch ist darauf aufmerksam zu machen, daß er im Brief an HERZ von 1778 das Wissen, das er in den Vorlesungen bietet, ein Vernünfteln nennt, ganz genau, wie er im Entwurf von 1791 alle theoretisch-dogmatische Metaphysik so nennt. Mir scheint also,, daß wir uns die Sache etwa in folgender Weise zurechtlegen müssen, um KANT richtig zu verstehen ohne ihm Gewalt anzutun. KANT muß offiziell Metaphysik lesen; nach Brauch und Herkommen legt er ein Lehrbuch zugrunde, das natürlich auf dem Boden der theoretisch-dogmatischen Metaphysik steht. Was es enthält, ist für KANT im Jahre 1778 reine Vernünftelei ohne Erkenntniswert; aber er muß darüber lesen. Seine Schüler wissen und verstehen ja auch noch gar nichts von der kritischen Transzendentalphilosophie, die er ja auch erst 1781 in der Kr. d. r. V. dargestellt hat und in die Öffentlichkeit brachte. Er will aber schon in den Vorlesungen von 1778 sie auf die kommende kritische Philosophie vorbereiten. Jedoch nach seiner innersten Gesinnung soll es nicht so geschehen, daß sie zugleich den Glauben und die Religion verlieren: er will sie ja nicht zu Skeptikern machen. Wie verfährt er also? Er erklärt zuerst die Bedeutung der Lehrsätze des Buches, dann zeigt er ihre Tragweite, macht auch deutlich, was sich dagegen sagen läßt und wie eigentlich dadurch doch kein wirkliches Wissen und Erkennen gewonnen wird. Dadurch zeigt er "ddie Natur dieses Wissens oder Vernünftelns". Zum Schluß hebt er dann jeweils das Positive hervor, gleichsam als ob er sagen wollte, daß, wenn man einmal Metaphysik treibt, also vernünftelt, diese positiven Ansichten doch ein vernunftgemäßeres Vernünfteln sind, als die entgegengesetzten negativen Ansichten. KANT verfährt also ganz entgegengesetzt der Art BAYLEs. Dieser gab im Text seines Wörterbuchs immer die orthodoxen Lehren und in den Anmerkungen entwickelte er seine Kritik, wobei jedoch immer die negativen Ansichten als die probableren [glaubwürdigsten - wp] hingestellt werden. KANT aber verhehlt nirgends, daß zwar alle Spekulationen über transzendente Dinge pures Vernünfteln sind, daß aber das positive Vernünfteln doch relativ wertvoller und dem Naturdrang unserer Vernunft entsprechender und logisch richtiger gedacht ist, als der negative skeptische Vernünfteln. Dies ist KANTs pädagogisch-didaktische Methode in den Vorlesungen über Metaphysik. Wäre KANT nicht so verfahren, so hätten seine unerfahrenen Hörer falsche Schlüsse aus seinen kritischen Bemerkungen ziehen können, wie ja jetzt noch viele unvorbereitete Leser der Kr. d. r. V. tun, und auch PÖLITZ im Jahr 1821 hält nötig zu bemerken, aus den Vorlesungen werde man ersehen, "daß Kant kein Atheist gewesen ist, wie man ihn so oft beschuldigt hat". KANT wollte nicht, daß schon seine Schüler einem solchen Mißverständnis preisgegeben sind; dies wäre ein vollkommenes Verkennen seiner innersten Denkart und seiner Absichten gewesen. Aber vollen und uneingeschränkten Beifall gibt doch KANT auch in den Vorlesungen nur den metaphysischen Sätzen, die für die Moral wertvoll und Postulate der praktischen Vernunft sind. Diese Charakterisierung der Methode KANTs in den Vorlesungen entspricht genau den von HEINZE veröffentlichten Nachschriften. Sie sind voll eingestreuter polemischer und kritischer Bemerkungen und Einwendungen, wie KANT auch da des öfteren es offen ausspricht, daß wir von Gott und seinem Wesen schlechterdings gar nichts erkenne und wissen können. Dagegen scheinen die von PÖLITZ veröffentlichten Hefte schon vorher purifiziert [gereinigt - wp] gewesen zu sein. Wie diese ganze Darstellung sich leichter und flüssiger liest, so finden sich in ihr auch nur möglichst wenige kritische Bemerkungen, möglichst wenig Polemik und möglichst viel positiv-dogmatische Doktrin. HEINZEs Hefte bieten Originaleres, aber auch viel Mißverständliches und Mißverstandenes und sind voll kritischer und negativer Bemerkungen, die offenbar in PÖLITZs Heften schon ausgemerzt waren, um die positive Darstellung nicht zu unterbrechen. Bei PÖLITZ finden sich keine solchen Sätze wie die:
Nun wird uns auch die merkwürdige Stelle in einem anderen Brief KANTs an HERZ klar, die auch 1778 geschrieben ist (siehe HEINZE a. a. O.). KANT schreibt hier, Metaphysik sei ein Kolleg, das er seit den letzten Jahren so bearbeitet hat, daß er fürchtet, "es möchte auch einem scharfsinnigen Kopf schwer werden, aus dem Nachgeschriebenen die Idee präzise herauszubekommen." Das war schwer, weil er damals noch in pädagogisch-didaktischem Interesse das Dogmatisch-Positive stärker betont hat, was auch die Hörer leichter gefaßt und nachgeschrieben haben, wie eben die Manuskripte dieser Zeit beweisen, während die kritischen Bemerkungen, deren mit jedem Jahr mehr wurden, ansich schwieriger für das Verständnis, sehr häufig in den Nachschriften nur halb richtig oder ganz mangelhaft wiedergegeben sind, wie man sich aus den späteren Manuskripten überzeugen kann und wie KANT in einem Brief vom Jahr 1778 sich beklagt (siehe HEINZE Seite 562). Es ist also in der Tat schwierig, aus den früheren, wie aus den späteren Nachschriften die kritischen Ideen "präzise herauszubekommen". Wenn es sich nun aber so mit der Metaphysik in den Vorlesungen verhält, dann wird man auf ihre positiven, dogmatischen Ausführungen schwerlich so viel Gewicht legen dürfen wie PAULSEN tut, daß sie zum Ausgangspunkt für eine künftige Neubildung und Fortentwicklung der Metaphysik dienen könnten. Ich fürchte, daß KANT über jede solche urteilen würde, was er über seine eigene geurteilt hat, die er selber ein "Vernünfteln" nannte ohne eigentlichen Erkenntniswert und ohne andere Gewißheit, als die moralische, die ja aus praktischen Gründen nur annimmt, als ob die übersinnlichen Dinge wären und so wären, wie unsere Metaphysik sie denkt. Aber noch ein anderer Punkt in PAULSENs Ausführungen des kantischen Systems erweckt gegründetes Bedenken. Wie schon bemerkt, sagt PAULSEN schon in der Einleitung seines Buches, KANT habe dem poetisch-materialistischen Pantheismus die Wege gebahnt. Im Kapitel über KANTs Metaphysik wird dann zweimal davon gesprochen. Seite 257 heißt es, KANT huldige einem "dem Pantheismus sich annähernden Theismus"; und Seite 264: KANT hätte "mit dem wirklichen Spinoza doch ein gut Stück zusammengehen können". Es scheint also PAULSEN erheblich daran gelegen zu sein, KANT mit SPINOZA und dem Pantheismus zusammenzubringen. Auch dies ist neu und noch von niemandem gewagt. Worauf stützt PAULSEN seine Ansicht? Ihm scheint (Seite 257) zur Bezeichnung für KANTs religiöse Anschauung ganz geeignet der später gebildete Ausdruck Pantheismus: "Gott ist ein supramundanes Wesen, dem die Wirklichkeit immanent ist". Wo steht denn aber derartiges in KANTs Schriften? Nicht einmal in den Vorlesungen habe ich solches entdecken können. Man nenne doch eine einzige Stelle, wo KANT behauptet, der mundus intelligibilis (denn dies ist die "wirkliche Wirklichkeit") sei dem supramundanen Gott immanent. Wohl nennt er den Intellekt Gottes den Archetypus, der durch sein Denken der Schöpfer des mundus intelligibilis ist; aber eben indem er diesen mundus geschaffen hat, setzte er ihn zugleich außerhalb von sich, nicht in sich; darum nennt KANT Gott nicht bloß supramundan, sondern auch extramundan. Wenn die Welt Gott immanent wäre, so wäre sie nur praeter Deum, aber nicht extra Deum, und Gott wäre nicht extramundan, sondern nur praetermundan. Bei HEINZE (Seite 713) bestimmt KANT ausdrücklich gegen SPINOZA Gott als extramundan. Auch Seite 584 bei HEINZE steht eine Stelle, wo Gottes Verschiedenheit von der Welt gegen SPINOZAs Immanenz deutlich ausgesprochen ist. Gott steht nach KANT nicht bloß über der Welt und nicht in der Welt, sondern er steht auch so außerhalb der Welt, daß ihm die Welt (natürlich immer die intelligible) auch nicht immanent und inhärent ist. KANT sagt ausdrücklich (HEINZE, Seite 713), SPINOZA sage, die Welt inhäriere [innewohnen - wp] der Gottheit als Akzidenz [Merkmal - wp]; er selbst aber lehnt den spinozistischen Pantheismus so gut ab, wie den des Xenokrates; jenem sei Gott der Urgrund von Allem, diesem sei er das Aggregat von Allem, was in der Welt ist. Als einst JACOBI, der ja überall in der Welt, wo philosophiert wird, einen Spinozsmus gewittert hat, auch andeutete, daß KANTs Kr. d. r. V. "Vorschub zum Spinozismus leistet", wie es KANT als "kaum begreifliche Insinuation [Unterstellung - wp] zurück. Es ist wahrscheinlich, daß er auch heute noch zu PAULSENs Auseinandersetzungen dasselbe sagen würde. Denn womit beweist PAULSEN, daß KANT mit dem "wirklichen Spinoza" doch ein gut Stück hätte zusammengehen können? Er sagt:
Es folgt die schöne Darstellung von KANTs praktischer Philosophie. Diese gibt PAULSEN die herrlichstGesetze Gelegenheit, in vollkommen zutreffender Weise seiner Kunst klarer und bestimmter Darstellung Genüge zu tun, wozu es eben gehört, auch scheinbar Entlegenes "zur Einheit zusammensehen" zu können, ein Ausdruck, dessen PAULSEN selbst sich gelegentlich (Seite 293) bedient. Auch hier finden wir wieder die Menge feiner und geistvoller Gedanken. Zum Beispiel Seite 305 macht PAULSEN darauf aufmerksam, daß KANT ernsthaft darauf besteht, das Sittengesetz sei nicht bloß für alle Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt: es sei ein von übergreifender, transzendenter Bedeutung, das innerste Weltgesetz selbst mit metaphysisch-kosmischem Charakter, weil es die Naturordnung der eigentlich realen, der intelligiblen Welt ist, während das Kausalgesetz bloß die Naturordnung der Erscheinungswelt ist. Ich müßte das Buch ausschreiben, wenn ich alle die lichtvollen Bemerkungen aufzählen wollte, durch die auch dieser Teil des kantischen Systems in wunderbarer Beleuchtung erscheint. Sehr beherzigenswert ist das Kapitel, welches die Kritik der kantischen Moralphilosophie bringt, und wo als Ursache aller ihrer Mängel das verhängnisvolle Übergewicht aufgedeckt wird, das in KANTs Denken die Erkenntnistheorie gewonnen hat. Dieses Kapitel ist zugleich eine Apologie [Rechtfertigung - wp] der teleologischen Moral. Das folgende Kapitel über KANTs persönlich sittliche Anschauungen bietet eine willkommene Ergänzung zur Charakterschilderung KANTs im ersten, biographischen Teil. Geradezu erhebend ist der Vergleich der schlichten altväterischen Volksmoral KANTs mit der modernen, distinguierten [von anderen abhebend - wp] Herrenmoral, wie denn gerade die sittlichen Anschauungen KANTs wieder reichlich Gelegenheit für PAULSEN bringen, mit frankem Mut und bitterem Ernst oft grelle Schlaglichter von den Zuständen des vorigen Säkulums [Zeitraum von 100 Jahren - wp] auf die des jetzigen fallen zu lassen, nicht in der Absicht, bloß die Gegenwart zu beschämen, sondern um sie zu höherem Streben anzuspornen. Das ganze Buch PAULSENs läuft aus in eine Schlußbetrachtung über das Verhältnis der kantischen Philosophie zu den Bestrebungen der Gegenwart. PAULSEN begründet die Ansicht, daß in unserer Zeit die historisch-genetische Denkweise zum Durchbruch gelangt ist, der zufolge alle absolute, ewige Wahrheit aufgegeben ist und wir nur noch relative, sich allmählich bildende und umformende Wahrheiten kennen. Demgegenüber konstatiert PAULSEN, daß KANT zeitlebens an seiner rationalistisch-dogmatischen Denkweise mit ihrem Apriorismus festgehalten und sich entschieden auf den Boden der ewigen Wahrheiten in Mathematik, Logik und Moral gestellt hat, daß also zwischen KANT und unserer Gegenwart ein starker Gegensatz besteht, und wir uns weit von KANTs Denkart entfernt haben. Dafür kann PAULSEN zum Schluß nur den kleinen Trost geben, daß KANT aber doch durch HERDER und HEGEL, die beide von ihm ausgegangen sind, unserem saeculum historicum die Hand reicht. Das will aber doch wenig sagen. Es ist schade, daß hier am Schluß des Buches nicht zum klaren Ausspruch kommt, wie KANTs Philosophie berufen und imstande sein kann, auch unserer Gegenwart noch "die Wege zu weisen". Ich muß daher noch mit einem Wort auf Vorrede zurückgreifen, wo PAULSEN nicht bloß diese seine Überzeugung schon ausgesprochen, sondern auch Andeutungen über das Wie gegeben hat. Da wünscht PAULSEN vor allem, daß von KANTs praktischem Idealismus, von seinen hohen Ideen von Menschenwürde, Recht und Freiheit in dieser unserer Zeit des "Realismus", des Glaubens an die Macht und an das Geld wieder etwas lebendig wird. Aber wie ist das möglich, wenn PAULSEN kurz vorher erklärt, KANT sei Wege gegangen, die man nicht mehr für gangbar halten kann? Und dahin rechnet PAULSEN ganz besonders "seine aprioristisch-dogmatische Denkweise, wie sie seine Erkenntnistheorie und seine Moralphilosophie beherrscht". Aber eben dieser Apriorismus, womit KANT dem Empirismus LOCKEs und dem Skeptizismus HUMEs gegenüber so entschieden und ohne Wanken seinen Standpunkt in der intelligiblen Welt der ewigen Wahrheiten nahm, setzte ihn ja allein in den Stand, einen so erhabenen praktischen Idealismus behaupten zu können und zu dürfen. Der Apriorismus ist ja das dos moi, pou sto [gib mir einen festen Punkt, wo ich hintreten kann - wp] für das ganze idealistische System KANTs, ohne welches es schlechterdings kein Fundament und keinen Halt hätte. Aus KANT die apriorische Denkweise entfernen und für unhaltbar erklären, heißt KANT das Rückgrat brechen. Aber wie könnte dann sein gerühmter Idealismus, der theoretische und der praktische, noch aufrecht erhalten bleiben? Ohne den erkenntnistheoretischen Idealismus mit seinem Apriorismus ist ein bloß praktischer ohne allen Belang und ohne alle Widerstandskraft; er ist bloße Schwärmerei. Ob nicht KANT gerade das als Allernotwendigstes unserer Gegenwart zu sagen hat, daß es auf theoretischem und praktischem Gebiet, in der Logik und in der Moral, ein intelligibles, der Vernunft zugängliches Apriori geben muß, als Grund und Ursache für all die logischen und moralischen Relativitäten, welche in dieser, unserer empirisch sich entfaltenden Erscheinungswelt der Reihe nach zutage treten? Wie unsere empirische Phänomenalwelt nicht bestehen würde, wenn nicht eine intelligible wäre, so könnte es auch keine relativen, sich evolvierenden Wahrheiten, kein sich entwickelndes Recht, keine fortschreitende Freiheit in unserer Welt geben ohne eine ewige Wahrheit und ein ewiges Gutes, welche das Apriori auch unserer Vernunft sind. Wenn die "wirklich wirkliche Welt" ein Reich der Zwecke ist, das in unserer Erscheinungswelt existent wird, dann ist notwendigerweise der letzte, noch in fernster Zukunft zu realisierende Zweck doch schon zugleich die allererste, wirkende Ursache des ganzen Prozesses von Evolutionen; und dann muß auch aus der ganzen Reihe der sich differenzierenden Evolutionen die Natur dieses Apriori der Vernunft erkennbar werden und zwar umso erkennbarer, je höher in irgendeinem Gebiet die schon erreichte Evolutionsstufe ist. Daß die heute geltende Entwicklungstheorie SPENCERs durch ein Apriori zu ergänzen und nur so dem Agnostizismus zu entgehen ist, das gerade würde vielleicht KANT der Gegenwart zu sagen haben, denn ohne das kommen wir zu keiner Metaphysik und brauchen auch keine. Mit der Metaphysik der kantischen Vorlesungen ist ja unserer Gegenwart wenig gedient. Wir wollen also unserer Jugend den Apriorismus KANTs nicht verleiden, wenn sie nicht auch seinen praktischen Idealismus soll beiseite liegen lassen. Was würde es nützen, über den gemeinen "Realismus" zu klagen, wenn man dem Idealismus das Rückgrat gebrochen hätte? Meine Ausstellungen gelten, wie der Leser sieht, nicht PAULSENs Darstellung der kantischen Philosophie, sondern den Ausdeutungen und Anwendungen, die PAULSEN dabei macht. Ich wünsche sein Buch in der Hand unserer gesamten Kant-studierenden Jugend und danke ihm im Voraus für all die Förderung, welche sie durch das Studium von PAULSENs Buch erfahren wird. Zum Schluß möge nur noch ein Wunsch gestattet sein, daß nämlich in einer zweiten Auflage die Polemik Seite 8-11 wegfällt. In dem geisteshellen, liebenswürdig freundlichen, ausgleichenden Buch wirkt sie wie ein trübender Schatten. Was soll auch damit erreicht werden? Man wird ja doch niemals auf ein Verständnis KANTs seitens eingefleischter Thomisten hoffen dürfen. Es fehlt ihnen vollkommen an aller und jeder Apperzeptionsfähigkeit für kantisches Denken. Das zeigt auch OTTO WILLMANNs Buch auf das Deutlichste. Er hat zwar nicht im seither dritten Band seiner Geschichte des Idealismus, wie PAULSEN glaubt im Voraus schließen zu müssen, ein Kapitel mit der Überschrift "Der Kritizismus als Verwüster der idealen Prinzipien" eingefügt, aber die 155 Seiten, in denen von KANT die Rede ist, machen einen kläglichen Eindruck eben durch die Dokumentierung der vollständigen Verständnislosigkeit dessen, was KANT denkt und will; bringt es doch WILLMANN fertig, die letzten 24 Seiten des Abschnitts zu füllen mit allerlei armseligen Bemerkungen über "den unwissenschaftlichen Charakter von Kants Philosophieren". Damit glaubt er wohl, KANTs Philosophie vollends totgeschlagen zu haben. Lassen wir ihm das Vergnügen, ohne uns allzusehr darüber zu ereifern. Zeigen wir vielmehr, wie der Idealismus KANTs fruchtbar und leistungsfähig genug ist, um allen unechten Idealismus und Realismus der Gegenwart zu überwinden.
1) Friedrich Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, "Fromanns Klassiker der Philosophie", Bd. 7, Stuttgart 1898. |