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ALBERT STERN
Über die Beziehungen
Christian Garves zu Kant

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"Selbständigkeit der Forschung, Befreiung der Philosophie von der theologischen Übermacht, Beseitigung der beiden Extreme des Aberglaubens und Unglaubens, Einführung der Resultate des wissenschaftlichen Denkens in die allgemeine Volkssitte - das war die Parole jener denkwürdigen Zeit."

"Man hatte den trockenen Ton satt und wandte sich praktischen, auf das Wohl der Gesellschaft gerichteten Aufgaben zu; man stieg von den Kathedern herab und trat unters Volk. So wurde die Aufklärungsphilosophie zugleich Popularphilosophie. Der gesunde Menschenverstand galt fortan als Richtschnur für die Bearbeitung der wissenschaftlichen Probleme."

"Als Kants Hauptwerk erschien und der kühne Neuerer die herrschende Aufklärungsbildung zur Selbstbesinnung rief, als er den Umfang und die Gediegenheit ihres angeblichen Besitzstandes rückhaltlos prüfte und die (von Wolff überkommenen) dogmatischen Beweise für die objektive Gültigkeit der Begriffe von Gott, Welt und Seele als bloße Ausgeburten vernünftelnder Schlüsse erwiesen hat: wie schreckten da die meisten Aufklärer vor dem alles Zermalmenden zurück, der nicht einmal die spekulative Theologie schonte und die Grundwahrheiten der Religion zu gefährden schien! wie suchten sie andererseits mit jeglichen Mitteln die vermeintliche Bedrohung ihrer heiligsten Interessen abzuwehren!"


V o r w o r t

Wenig gelesen und ungerecht beurteilt oder vielmehr einer eingehenden Beurteilung gar nicht gewürdigt zu werden - das ist das Los CHRISTIAN GARVEs, des deutschen Popularphilosophen, geworden. Und doch war er ein klarer und scharfsinniger Kopf, ein feiner Beobachter des menschlichen Lebens, ein geschmackvoller Schriftsteller und ein verständiger, wenn auch nicht tiefer, Beurteiler KANTs, mit dem er sogar eine Zeitlang in einem bedeutsamen Briefwechsel stand, und der ihn aufrichtig hochschätzte. Die zwischen diesen beiden Männern vorhandenen Beziehungen auseinanderzusetzen und zu zeigen, wie auf einen der namhaftesten Vertreter der Aufklärungsphilosophie die kantische Lehre wirkte, ist vorliegende Arbeit unternommen worden; eine gerechtere Würdigung GARVEs und einen Beitrag zur Geschichte des kantischen Kritizismus zu liefern, ist ihre Aufgabe. Eine unschätzbare Förderung hierbei fand ich durch den, auf der Breslauer Stadtbibliothek befindlichen Nachlaß GARVEs, dessen Einsicht mir durch die Güte des Herrn Oberbibliothekars Dr. MARKGRAF gestattet wurde. Das sehr weitschichtige Material, das mir in mehr als dreißig umfangreichen Heften, Mappen und Briefkonvoluten - größtenteils ungeordnet - vorlag, enthält aus Sammlungen, Exzerpten aus Journalen und Büchern, Entwürfen zu später im Druck erschienenen Abhandlungen - auch manches wertvolle Ineditum [Unveröffentlichtes - wp], so: philosophische Anmerkungen zur "Politik" des ARISTOTELES (die bekanntlich, ebenso wie dessen "Ethik", von GARVE übersetzt wurde); eine vollständige Übersetzung von PLATONs "Apologie des Sokrates"; eine Übersetzung von PLATONs "Republik", Bd. 1 und "de legibus", Bd. 10; außerdem einige Auszüge und Entwürfe aus und über KANT, die ich im ersten Teil meiner Arbeit aufzählen werde. Die Briefe (größtenteils solche an GARVE), welche von der Hochachtung, deren sich dieser Philosophe unter seinen Zeitgenossen erfreute, sprechendes Zeugnis ablegen, enthalten gleichfalls manches, was der Veröffentlichung wert scheint. Den kostbaren Fund aber machte ich durch die Entdeckung zweier Briefe von KANT, deren Inhalt von großer Bedeutung ist. Der zu dem einen derselben zugehörige, gleichfalls noch uneditierte, Brief GARVEs der auf die Göttingische Rezensionsangelegenheit ein helles Licht wirft, wurde mir auf meine Bitte hin von Herrn Oberbibliothekar Professor Dr. REICKE in Königsberg, in dessen Händen er sich befand, in bereitwilligster Weise zu erstmaliger Publikation überlassen und kommt im Folgenden mit den beiden anderen Briefen (die durch SCHWABACHERs Schrift ausgezeichnet worden sind) und einem Brief von FEDER zum Abdruck. Alle diese Inedita habe ich in den ersten Teil der Arbeit mit aufgenommen, um den gesamten (gedruckten und ungedruckten) Briefwechsel zwischen GARVE und KANT im Zusammenhang darstellen zu können, während FEDERs Brief sich unschwer in das dritte Kapitel dieses Teils einreihen ließ. An letzterem Ort glaubte ich auch, obgleich die Frage nach KANTs und BERKELEYs Idealismus nicht mehr zu den äußeren Beziehungen gehört, doch die wesentlichen Unterschiede zwischen der Rezension von FEDER und GARVE zur Sprache bringen zu dürfen, um die Kürzungen und Verstümmelungen, welche letztere durch erstere erfahren hat, zu charakterisieren. Ein spezielles Eingehen auf GARVEs, in seiner Rezension niedergelegte, Ansichten über die Vernunftkritik mußte ich natürlich auf den zweiten Teil meiner Arbeit versparen, in welchem hingegen jene Vergleichung mit FEDER sich nur übel hätte anbringen lassen.


E i n l e i t u n g

"Es war eine schöne und große Zeit, diesen von undankbaren Nachkommen so viel geschmähte Zeitalter der deutschen Aufklärung!" Dieses Lob HERMANN HETTNERs (1) ist natürlich cum grano salis [mit einem Augenzwinkern - wp] zu verstehen. Er selbst sieht die Bedeutung jener Epoche weniger in den von ihr gelösten positiven Aufgaben, als in ihrem historischen Wert, sofern durch sie erst der Boden prüfender Vernunfterkenntnis erobert werden mußte, auf welchen die deutsche Bildung seit KANT und LESSING sich gestellt hat. Selbständigkeit der Forschung, Befreiung der Philosophie von der theologischen Übermacht, Beseitigung der beiden Extreme des Aberglaubens und Unglaubens, Einführung der Resultate des wissenschaftlichen Denkens in die allgemeine Volkssitte - das war die Parole jener denkwürdigen Zeit; unter den segensreichen Einflüssen der erleuchteten Regierung des großen FRIEDRICH reiften allmählich die Früchte, welche den Samen zu den vertieften Aufgaben und schöpferischen Leistungen späterer Jahrzehnte in sich enthielten. Die ersten Anfänge jener Richtung reichen bis auf CHRISTIAN THOMASIUS, den unerschrockenen Vorkämpfer der Volksaufklärung, zurück; eine ausgedehntere Verbreitung jedoch fand sie erst infolge der inneren Auflösung der WOLFFischen Schule. Der gegen das Ende der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts gesicherte Sieg der strengeren Anhänger dieser Schule über den Pietismus hatte nämlich zu einer Erschlaffung ihrer nur durch Kampf in Übung gehaltenen Kräfte und so zu ihrem allmählichen Verfall geführt (2), zu welchem die methodische Opposition der aus ihrem eigenen Schoß erwachsenen Gegner (LAMBERT, CRUSIUS, PLATNER) das ihre beigetragen hat. Die starren Formen des Wolffianismus verflüchtigten sich und gingen in den Eklektizismus der Aufklärungsphilosophie über. Man hatte den trockenen Ton satt und wandte sich praktischen, auf das Wohl der Gesellschaft gerichteten Aufgaben zu; man stieg von den Kathedern herab und trat unters Volk. So wurde die Aufklärungsphilosophie zugleich Popularphilosophie. Der gesunde Menschenverstand galt fortan als Richtschnur für die Bearbeitung der wissenschaftlichen Probleme; an die Stell strenger Spekulation traten gemeinverständliche Erörterungen; die Forderungen der Vernunft mußten in vorkommenden Fällen den Forderungen des Herzens weichen; kurz: man strebte, wie GERVINUS sich trefflich ausdrückt (3),
    "den gesunden Menschenverstand und Lebensart des Weltmannes und die eigentliche Philosophie nicht wie eine praktische Rechnung und wissenschaftliches Probekalkül auseinanderzuhalten, sondern in eins zu vermengen."
Eine der wichtigsten Seiten der deutschen Popularphilosophie ist ihre starke Hinneigung zum theologischen Rationalismus. Während WOLFFs Lehre noch mit naivem Zutrauen und ohne Rücksicht auf den daraus entstehenden Widerstreit gegen die (von ihr vorausgesetzte) natürliche Theologie den Wunderglauben, die übernatürlichen Offenbarungen und überhaupt einen großen Teil der orthodoxen Theologie integrierte, und auch seine unmittelbaren Schüler - trotz des erbitterten Kampfes mit dem Pietismus - sich nur wenig von der letzteren entfernten, streiften die Aufklärer ein Dogma nach dem andern vom Gottesbegriff ab bis von diesem nichts mehr übrig blieb,m als ein unbegreiflich höchstes Wesen von unsagbarer Allgemeinheit. Doch nur Wenige gingen hierbei bis zu vollständigen Verneinung aller positiven Religion, sowie des Offenbarungsglaubens und der Persönlichkeit Gottes. Zu diesen Wenigen gehört vo allem HERMANN SAMUEL REIMARUS, der durch seine "Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen (!) Verehrer Gottes" seine Geistesverwandtschaft mit den englischen Deisten bekundete. Die meisten Aufklärer lassen den theistischen Kern der Religion unangetastet, sogar teilweise auch die Möglichkeit und Wirklichkeit der Offenbarung; letztere erkennen sie aber nur insofern als maßgebend und unverfälscht an, als sie mit der natürlichen Vernunftreligion übereinstimmt. Von biblischer Rechtgläubigkeit ist nicht mehr die Rede; dafür suchen und finden sie Gott in der Natur und schließen aus der Schönheit und Zweckmäßigkeit derselben auf die unendliche Güte und Weisheit ihres Schöpfers. Weit entfernt also von materialistischen Neigungen und blasierter Freigeisterei, huldigen sie einem gemäßigtem Rationalismus, dem sogenannten "Denkglauben", welcher in seiner milden Form dem Theismus näher verwandt ist, als dem Deismus.

Liegt somit die Beschäftigung mit theologischen Fragen den deutschen Aufklärungsphilosophen durchaus nicht fern, so finden wir doch die Mehrzahl der letzteren auf einem ganz anderen Gebiet zuhause - in den fruchtbaren Gefilden der Moral. Welche Wissenschaft gäbe es auch, die auf die Verhältnisse des praktischen Lebens - und darauf kam es doch jenen Denkern hauptsächlich an - einen entscheidenderen Einfluß ausübte, als diese! Daher ist auch in dem (nächst der "Allgemeinen deutschen Bibliothek" wichtigsten) publizistischen Organ für die aufklärerischen Bestrebungen jener Zeit, der von J. E. BIESTER und F. Gedike seit 1783 herausgegebenen "Berlinischen Monatsschrift, den moralischen Untersuchungen ein so großer Raum gewährt. Daher eine ganz Gruppe unter den Aufklärern, welche man als "Moralisten schlechthin" bezeichnen kann. Hier gehören: J. A. EBERHART, J. H. SCHULZ, CHRISTIAN GARVE, G. STEINBART, J. J. ENGEL. HERMANN HETTNER unterscheidet in dieser Klasse drei verschiedene Richtungen (4);
    1. diejenige, welche die natürliche Sittenlehre von den Einflüssen der kirchlichen Glaubenslehre unabhängig zu machen sucht (Hauptvertreter: Eberhard, Verfasser der "Neuen Apologie des Sokrates", und Schulz, Verfasser von: Erweis des himmelweiten Unterschieds der Moral und der Religion usw." sowie einer gegen Mendelssohns "Jerusalem" gerichteten Streitschrift);

    2. diejenige Richtung, welche sich die wissenschaftliche Darlegung der natürlichen Sittenlehre selbst angelegen sein läßt (Hauptvertreter: Christian Garve und Steinbart, der Verfasser von "System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums"); und

    3. diejenige Richtung, welche diese natürliche Sittenlehre in die allgemeine Volksbildung einführen und auf die bestehenden Sitten und Zustände übertragen will (Hauptvertreter: Engel, Herausgeber des "Philosophen für die Welt", sowie Gedike und Biester, als Herausgeber der "Berlinischen Monatsschrift"
Der bei weitem bedeutendste und vielseitigste unter diesen Moralisten ist CHRISTIAN GARVE (geboren den 7. Januar 1742 zu Breslau, 1768-1772 außerordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Leipzig, privatisierte von da ab in seiner Vaterstadt und starb daselbst den 1. Dezember 1798) (5). Die meisten seiner Schriften sind moralisch-psychologischen Inhalts, und auch seine zahlreichen Übersetzungen haben größtenteils ethische Stoffe zur Grundlage (6). Die verschiedensten Einflüsse haben seine Richtung bestimmt. Außer den alten Philosophen (PLATON, ARISTOTELES, CICERO) zog ihn besonders die Lehre des CHRISTIAN WOLFF an, welche in ihrem Moralprinzip ("perfice te" [Vervollkommne Dich! - wp] den subjektiven Eudämonismus in seiner am wenigsten egoistischen Form darstellt; das Streben nach Vollkommenheit und die aus dem Gefühl der Selbstvervollkommnung entspringende Glückseligkeit galt ihr als Norm und Endzweck der Sittlichkeit. Auch die Ideen einiger französischer Schriftsteller, namentlich MONTESQUIEUs, wirkten nachweislich auf die Gestaltung von GARVEs Moral. Von entscheidenstem Einfluß aber war für ihn die schottische Philosophenschule, welche aus der Opposition gegen DAVID HUMEs Skeptizismus hervorgewachsen und von THOMAS REID begründet worden war. Für HUME selbst hatte er die größte Hochachtung, ebenso für dessen Freund ADAM SMITH, dessen berühmtes Werk über den Nationalreichtum er übersetzt hat (7); beiden fanden das Prinzip der Moral in der Sympathie. Von ersterem sagt er (8): "Ich gestehe, daß unter allen philosophischen Schriften keine sind, welchen ich meine eigenen Versuche ähnlich zu sehen mehr wünsche, als die seinigen"; den letzteren nennt er "den ersten unter seinen schottischen Lehrern und Freunden" (9). Innerlich weit mehr verwandt als diesen beiden ist GARVE der schottischen Oppositions-Partei; der "Gemeinsinn" (common sense) eines REID und seiner Nachfolger mußte den "gesunden Menschverstand" des deutschen Popularphilosophen ganz besonders anheimeln (10). Auch andere Briten steuerten mit ihren Ideen bei: so HUTCHESON, CLARKE und WOLLASTON, welche, wenn auch der Eine in das sittliche Gefühl, der Zweite in die naturgemäße Behandlung der Dinge, der Dritte in die Wahrheit das Wesen der Tugend setzt, doch darin miteinander übereinstimmen, daß sie dieselbe dem Menschen deshalb anempfehlen, weil sie nützlich ist und ihm das höchste Gut, nämlich die Glückseligkeit, verschafft. Unter den späteren schottischen Moralisten waren FERGUSON, PAYLEY und der Ästhetik HENRY HOME von Einfluß auf GARVE; auch her er je eines ihrer Werke übersetzt und erläutert, bzw. mit Zusätzen versehen (11). Er tat dies vornehmlich, weil er in den - ihm wichtigsten - praktischen Teilen der Philosophie (Moral und Politik) den Briten den Vorzug vor den Deutschen gegeben hat und jene durch Übertragung einiger ihrer Schriften zum Zweck der Nachahmung für diese zugänglich machen wollte (12). Man kann eine Art Wechselwirkung hierbei wahrnehmen: GARVE bevorzugte die Briten, weil sie seiner eigenen Richtung am meisten entgegengekommen sind; er hatte diese Richtung, weil er durch die Lektüre englischer Schriftsteller mit ihr befreundet worden war (13).

Ist somit Selbständigkeit und Ursprünglichkeit nichts weniger als ein Charakteristikum von GARVEs Moral, so wird doch deren eigentümliches Verdienst dadurch nicht beeinträchtigt. Selten sind die Empfindungen des Menschen, sind die einzelnen Tugenden - sowohl an und für sich, wie in ihrer Beziehung auf die verschiedenen Verhältnisse des Lebens - scharfsinniger zergliedert und feinfühliger geschildert worden, als von GARVE! Sein steter Leitfaden war ihm die Erfahrung; er benützte dieselbe aber nicht dazu, um auf ihrem Weg zu ersten und absoluten Prinzipien zu gelangen (wenn dieser Weg überhaupt zu solchen führt), sondern begnügte sich mit der Untersuchung des empirisch Gegebenen, auch hierin seine Verwandtschaft mit den Engländern offenbarend. Er geht mehr in die Breite, als in die Tiefe, und läßt die Frage nach den letzten Gründen der Moral unberührt (14). Zwar sagt er in seinem philosophischen "Glaubensbekenntnis" (15):
    "Ich gestehe, daß ich so tief in der Materie stecke, daß ich gar keinen anderen Weg weiß, zur Erkenntnis der Form zu gelangen, als indem ich sie im Stoff aufsuche oder sie aus demselben entwickle", -
und erweckt dadurch den Anschein, als wenn es ihm (sowohl auf ethischem, wie erkenntnistheoretischem Gebiet) gelungen wäre, innerhalb der "stofflichen" Erfahrung "formale" Prinzipien zu finden: doch besteht alles, wozu ihm seine induktiv-empirische Methode hierbei verhilft, in einer Anzahl von Vernunftwahrheiten einer- und von sittlichen, die sinnlichen Triebe zum Zweck der menschlichen Glückseligkeit einschränkenden, Vorschriften andererseits, die doch selbst wieder eines höheren Erklärungsgrundes bedürfen. Von diesem Standpunkt aus ist der GARVE so oft gemacht Vorwurf der Seichtigkeit nicht ganz ungerechtfertigt.

Mit dem Mangel an Tiefe hängt der Mangel an systematischer Konsequenz eng zusammen; denn, wo es an ersten Prinzipien fehlt, kann es auch keine Einheit geben. Diesen rhapsodischen [fragmentarischen - wp] Charakter seiner Untersuchung hat GARVE selbst gefühlt und aus dem populären Charakter derselben, welcher eine möglichst vielseitige Beleuchtung der Dinge verlangt, zu erklären versucht (16). Besonders störend wird dieser Mangel da, wo GARVE sich an Untersuchungen, die seiner Begabung fern liegen, heranwagt. Ein deutliches Beispiel hierfür ist seine nach seinem Tod erst erschienene Abhandlung "Über das Dasein Gottes" (17) welche - trotz VOGELs Lobpreisung (18) - eine ziemlich oberflächliche Behandlung des Problems vom Verhältnis Gottes zur Welt liefert. GARVE war eben ein viel zu unsystematischer Denker, um ein guter metaphysischer Kopf sein zu können; er,
    "der nicht leicht in der für ihn zu feinen und dünnen Luft der Spekulation atmen konnte, warf höchstens aus den angrenzenden Gefilden der Erfahrung und Beobachtung nach den Höhen der Spekulation bisweilen einen forschenden Blick." (19)
Fast noch weniger, als für Metaphysik, war GARVEs Geist für Ästhetik prädisponiert [veranlagt - wp]. Um die Werke des Genies zu beurteilen, reicht der gesunde Menschenverstand nicht aus. Finden sich auch in seinen Rezensionen und besonders in dem Aufsatz "Über das Interessierende" (20) einige Stellen, welche von feiner Beobachtung auf diesem Gebiet zeugen, so geht ihm doch im Allgemeinen jedes tiefere Verständnis für das Wesen der Kunst ab, und GOETHE hat Recht, wenn er in seinem Brief an SCHILLER (vom 24. November 1797) darüber klagt, daß man "bei diesem so guten und wackeren Mann keine Spur eines ästhetischen Gefühls" bemerkt. GARVEs eigentliche Domäne war und blieb die Moral, Politik und Psychologie: hier konnte er seine treffliche Beobachtungsgabe vollauf verwerten; die hierher gehörigen Abhandlungen enthalten eine Fülle der scharfsinnigsten Bemerkungen; hier zeigt sich auch sein liebenswürdiges, auf Innehaltung eines durchgängigen "juste milieu" [Beibehalten des Mittelmaßes - wp] gerichtetes Streben, das ihn vor schroffen Einseitigkeiten bewahrte, im vorteilhaftesten Licht.

Diese letztere Eigentümlichkeit seines Charakters war es besonders, welche ihn vor allen Popularphilosophen dazu befähigte, mit nüchterner und leidenschaftsloser Kritik an diejenige Zeiterscheinung heranzutreten, welche wie ein Wetterschlag die Lüfte zu reinigen bestimmt war. Als KANTs Hauptwerk erschien und der kühne Neuerer die herrschende Aufklärungsbildung zur Selbstbesinnung rief, als er den Umfang und die Gediegenheit ihres angeblichen Besitzstandes rückhaltlos prüfte und die (von WOLFF überkommenen) dogmatischen Beweise für die objektive Gültigkeit der Begriffe von Gott, Welt und Seele als bloße Ausgeburten vernünftelnder Schlüsse erwiesen hat: wie schreckten da die meisten Aufklärer vor dem "alles Zermalmenden" (21) zurück, der nicht einmal die spekulative Theologie schonte und die Grundwahrheiten der Religion zu gefährden schien! wie suchten sie andererseits mit jeglichen Mitteln die vermeintliche Bedrohung ihrer heiligsten Interessen abzuwehren!

Gar mannigfach war die Kampfesweise dieser Gegner. Die einen rissen aus dem Ganzen der "Vernunftkritik" einzelne Punkte heraus und knüpften daran hre, oft sehr seichte, Polemik; so J. G. H. FEDER, welcher, als Leugner jeglicher Erkenntnis a priori, KANTs transzendentale Ästhetik und zum Teil auch dessen Analytik angegriffen hat (22). Andere suchten die Originalität des neuen Systems zu verdächtigen; so EBERHARD in Halle, der die Hauptideen desselben in der Lehre von LEIBNIZ in nuce [im Kern - wp] enthalten fand (23), doch von KANT die gebührende Abfertigung erhielt (24). Noch Andere bemühten sich, in satirischen Romanen und dgl. den Kritizismus zu persiflieren; hierher gehört NICOLAIs, des bekannten Herausgebers der "Allgemeinen deutschen Bibliothek", "Leben und Meinungen des Sempronius Gundibert", (1798), auch JOHANN GEORG SCHLOSSERs "Sendschreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studieren wollte" (1797). Manche schließlich verschmähten eine planmäßige Polemik und begnügten sich mit gelegentlichen Ausfällen und wüsten Schimpfereien; so WIELAND, der Dichter unter den Popularphilosophen, der über die "die alten Scholastiker DUNS, OCKHAM und Konsorten noch transzendierende neue Schulphilosophie" (25) sich gewaltig echaffierte [aufregte - wp]. Wie sticht gegen die Expektorationen [Auswürfe, Spucke - wp] dieser erbitterten Gegner das maßvolle Urteil CHRISTIAN GARVEs ab! Weit entfernt, aus Liebe zum eigenen System dem fremden eine gerechte Würdigung zu versagen, hat er sich redlich bemüht, in dasselbe einzudringen und die dunklen Punkte, die er darin fand, aufzuhellen. Dies ist ihm auch bis zu einem gewissen Grad gelungen. Jedenfalls ist er unter allen Popularphilosophen der verständigste Darsteller und scharfsinnigste Beurteiler dieser Lehre; und manche der von ihm gemachten Einwürfe sind später von berühmteren KANT-Kritikern, wie von SCHOPENHAUER und KUNO FISCHER, wiederholt worden. Es lohnt sich daher, GARVEs Stellung zur kantischen Philosophie ins Einzelne zu verfolgen; doch sollen zuvor seine äußeren Beziehungen zu KANT auseinandergesetzt werden.

LITERATUR: Albert Stern, Über die Beziehungen Christian Garves zu Kant [Dissertation] Leipzig 1884
    Anmerkungen
    1) In seiner "Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts", Bd. III, 2, Seite 169
    2) Vgl. Benno Erdmann, "Martin Knutzen und seine Zeit", Leipzig 1876, Seite 9.
    3) "Geschichte der deutschen Dichtung", Bd. 5, Seite 452.
    4) "Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts", Bd. III, 2, Seite 249f.
    5) Eine ausführlichere und im Ganzen zuverlässige Biographie findet man in Ersch und Gruber "Enzyklopädie", Artikel "Garve".
    6) Das vollständige Verzeichnis seiner Werke, mit Nachweis der in Journalen zerstreuten Aufsätze, gibt Meusels "Lexikon der vom Jahre 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller", Bd. 4, Seite 22f.
    7) Breslau, 1794-96 in vier Teilen.
    8) "Versuche über verschiedene Gegenstände der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben", zwei Teile, Breslau 1796, Seite 427.
    9) "Übersicht der vornehmsten Prinzipien der Sittenlehre vom Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsere Zeiten", eine zu dem ersten Teil der übersetzten Ethik des Aristoteles gehörende und aus ihm besonders abgedruckte Abhandlung, Breslau 1798, Seite 160.
    10) Vgl. Kuno Fischer, "Geschichte der neuern Philosophie", Bd. III (dritte Auflage), Seite 35.
    11) Adam Fergusons "Grundsätze der Moralphilosophie", übersetzt und mit Anmerkungen, Leipzig 1772. - W. Payley "Grundsätze der Moral und Politik", aus dem Englischen mit Anmerkungen und Zusätzen, zwei Teile, Leipzig 1787. - "Vermehrung der dritten Auflage der Übersetzung Meinhards von Homes "Grundsätzen der Kritik", aus der vierten englischen Ausgabe, Leipzig 1771.
    12) Vgl. Manso in seinem trefflichen Schulprogramm: "Christian Garve nach seinem schriftstellerischen Charakter", gedruckt in Mansos "Vermischten Abhandlungen und Aufsätzen", Breslau 1821, Seite 115.
    13) Vgl. Fülleborn in seinem Aufsatz über Garve (Schlesische Provinzialblätter, Januar 1799, Seite 10).
    14) Vgl. Karl Gottlob Schelle, "Briefe über Garves Schriften und Philosophie", Leipzig 1800, Seite 369f.
    15) "Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre". Ein Anhang zu der Übersicht der verschiedenen Moralsysteme, Breslau 1798, Seite 3.
    16) "Übersicht der vornehmsten Prinzipien der Sittenlehre", Seite 334-335, Note.
    17) Im 5. Teil der "Versuche über verschiedene Gegenstände usw.", Breslau 1802.
    18) Emil Ferdinand Vogel, "Erinnerungen an Christian Garve in Briefen", in den von F. C. A. Hasse hg. "Zeitgenossen", 3. Reihe, Bd. IV, Heft 3 und 4, Seite 89f.
    19) Schelle, a. a. O., Seite 114.
    20) "Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste", neue Auflage, Leipzig 1802, Teil 1, Seite 210-371.
    21) Moses Mendelssohn im Vorwort zu seinen "Morgenstunden".
    22) in seiner kleinen Schrift "Über Raum und Kausalität", 1787.
    23) Vgl. Eberhards "Philosophisches Magazin", Bd. 1, Seite 289.
    24) In "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll", 1790 (Sämtliche Werke, Ausgabe Rosenkranz und Schubert, Bd. 1, Seite 399-482.
    25) Vgl. "Neuer teutscher Merkur", 1799, Bd. II, Seite 71.