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ERNST CASSIRER
Kants Lehre
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"Allein im Verhältnis der Qualitäten, wie mein Verstand gänzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von ihr unabhängig sind: diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Anbetracht unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst kommt."
"Was Kant später die Revolution der Denkart, was er die kopernikanische Wendung des Erkenntnisproblems genannt hat - das ist hier vollzogen. Die Betrachtung hebt nicht mehr vom Gegenstand, als dem Bekannten und Gegebenen an, um sodann zu zeigen, wie dieser Gegenstand in unsere Erkenntniskraft hinüberwandert und sich in ihr abbildet - sondern sie fragt nach dem Sinn und Inhalt des Gegenstandsbegriffs selbst, nach dem, was der Anspruch auf "Objektivität, sei es in der Mathematik, sei es in der Naturwissenschaft, sei es in der Metaphysik oder in der Moral und Ästhetik überhaupt bedeutet.
"Wenn alle vorhergehende Metaphysik mit dem Was des Gegenstandes begonnen hatte, so beginnt Kant mit dem Wie des Gegenstandsurteils. Wenn jene zuerst und ursprünglich von irgendeiner Qualität der Dinge zu berichten wußte - so untersucht und zergliedert er zunächst lediglich die Behauptung der Gegenstandserkenntnis, um festzustellen, was denn mit ihr, was mit der Beziehung, die sie aussagt, gesetzt und gemeint ist." |
Die Entdeckung des
kritischen Grundproblems
Als KANT, im Alter von 46 Jahren mit der Schrift "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" sein neues Lehramt antrat, da konnte es scheinen, als habe seine philosophische Entwicklung ihren eigentlichen Höhepunkt erreicht und als stände sie vor ihrem unmittelbaren Abschluß. Allen großen gedanklichen Mächten der Zeit war er nunmehr von Neuem gegenübergetreten, und gegen sie alle hatte er eine eigene und selbständige Stellung gewonnen. Nichts anderes schien mehr erforderlich, als den errungenen geistigen Besitz zu festigen und nach allen Seiten hin auszubauen. KANT selbst stand in dem Glauben, daß alle folgende Arbeit nur noch diesem Ziel, nur der näheren Ausführung und Begründung der gewonnenen Einsichten zu gelten haben wird. Aber eben an diesem Punkt tritt nun die entscheidende Wendung ein, die seinem Leben und Denken erst seine wahrhafte Tiefe gibt. Was für andere, was selbst für große philosophische Talente das Ende gebildet hätte, das bildet für den philosophischen Genius KANTs nur den ersten Schritt auf einer völlig neuen Bahn. KANT selbst hat später den Anfang seiner originalen Leistungen als Denker und Schriftsteller in das Jahr 1770 verlegt - und in der Tat erscheint alles, was vor diesem Zeitraum liegt, so reiche es an eigentümlichem Gehalt ist, von untergeordneter Bedeutung, wenn man es an jenen Maßstäben mißt, die durch die Entwicklung von der Inaugural-Dissertation bis zur Vernunftkritik neu geschaffen werden.
Bevor wir jedoch in die Betrachtung dieser wichtigsten Epoche der inneren Selbstbildung KANTs eintreten, ist noch kurz an einige äußere Daten zu erinnern, die KANTs Lebensgang und den Fortgang im akademischen Beruf betreffen. Die Erreichung der ordentlichen Professur für Logik und Metaphysik bildete in dieser Hinsicht einen wichtigen Abschnitt; denn durch sie erst gewann KANT die ungestörte Muße für den Ausbau seines philosophischen Werkes. Wie schwer, trotz seiner völligen Anspruchslosigkeit, mit den fortschreitenden Jahren die Sorge um die Sicherung seiner Zukunft auf KANT zu lasten begann, lehren die Briefe, die er, bei der Bewerbung um die Professur, an den Minister und an den König gerichtet hat.
"Ich trete in diesem Frühjahr" - so schreibt er - "in das 47. Jahr meines Alters, dessen Zunahme die Besorgnisse eines künftigen Mangels immer beunruhigender macht . . . Meine Jahre, und die Seltenheit der Vorfälle, die eine Versorgung auf der Akademie möglich machen, wenn man die Gewissenhaftigkeit hinzusetzt, sich nur zu denen Stellen zu melden, die man mit Ehre bekleiden kann, würden im Fall, daß mein untertänigstes Gesuch den Zweck verfehlt, in mir alle fernere Hoffnung zu künftigem Unterhalt in meinem Vaterland vertilgen und aufheben müssen." (1)
In der Tat waren alle früheren Schritte, die KANT in dieser Richtung unternommen hatte, erfolglos geblieben. In seinen ersten Magisterjahren war ihm sogar die Stelle eines Lehrers an der Kneiphöfischen Domschule in Königsberg, um die er sich beworben hat, verweigert worden; sie wurde, wie WALD in seiner Gedächtnisrede berichtet, mit einem "notorischen Ignoranten", namens KAHNERT besetzt (2). Der Versuch, einige Jahre nach dem Tod von MARTIN KNUTZEN, an dessen Stelle die außerordentliche Professur der Logik und Metaphysik zu erhalten, scheiterte gleichfalls; als KANT im April 1756 seine Bewerbung einreichte, stand unmittelbar wieder der Ausbruch des Krieges bevor und die preußische Regierung ließ aus Gründen der Sparsamkeit die Stelle unbesetzt (3). Unter noch weniger günstigen Auspizien [Aussichten - wp] stand das nächste Gesuch, das KANT zwei Jahre später einreichte und das sich auf die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik bezogen hat. Die Stelle war durch den Tod des Professors KYPKE im Jahr 1758 erledigt worden; in einer Zeit, in der ganz Ostpreußen von den Russen besetzt war und von ihren militärischen Behörden verwaltet wurde. So mußte das Bewerbungsschreiben nicht nur an die philosophische Fakultät in Königsberg, sondern zugleich an die "allerdurchlauchtigste großmächtigste Kaiserin und Selbstherrscherin aller Reußen", an die Kaiserin ELISABETH gerichtet werden. Ihr Vertreter, der russische Gouverneur von Königsberg, entschied jedoch gegen KANT; statt seiner erhielt sein Kollege BUCK die Stelle, der durch den Senat der Universität in erster Linie und zwar mit der Begrünung empfohlen worden war, daß er KANT im Dienstalter um mehr als zwölf Jahre vorangeht (4). Aber auch nachdem Königsberg wieder unter preußische Verwaltung gekommen war, und nachdem, seit Beendigung des Siebenjährigen Krieges, die Angelegenheiten des höheren Unterrichts wieder eifriger gepflegt werden konnten, bot sich dem Justizministerium, das damals die Unterrichtsangelegenheiten verwaltet hat, zunächst keinerlei Gelegenheit zur Beförderung KANTs. Zwar wird in einem Reskript vom 5. August 1764, das an die Ostpreußische Regierung in Königsberg gerichtet ist, ausdrücklich bemerkt, daß man auf einen "gewissen dortigen Magister, namens Immanuel Kant durch einige seiner Schriften, aus welchen eine sehr gründliche Gelehrsamkeit hervorleuchtet", aufmerksam geworden sei, aber die einzige Stelle, die man ihm damals anbieten konnte, bestand in einer Professur der Dichtkunst in Königsberg. Als KANT diese Stelle ausschlug, erhielt er wenigstens die Versicherung, daß er, sobald sich ein anderer Anlaß bietet, "plaziert werden soll"; und ein Handschreiben, das noch eigens an den Senat der Königsberger Universität erging, verordnete, "daß der sehr geschickte und mit allgemeinem Beifall dozierende Magister KANT bei erster Gelegenheit befördert werden soll." (5) Noch aber dauerte es über sechs Jahre, bis sich diese Gelegenheit geboten hat. Einstweilen mußte KANT damit zufrieden sein, daß ihm auf sein Gesuch das Amt eines Unterbibliothekars an der königlichen Schloßbibliothek mit 62 Talern Jahresgehalt übertragen wurde; - eine Summe, von der er, so bescheiden sie war, doch in seiner Bewerbungsschrift sagte, daß sie seiner "sehr unsicheren akademischen Subsistenz zu einiger Beihilfe dienen würde". (6) Er hat dieses Amt, das ihm, bei der Unfähigkeit seiner Vorgesetzten, des Oberbibliothekars BOCK, die gesamte Arbeit, die an der Bibliothek zu leisten war, fast allein aufgebürdet hat, mit der Sorgsamkeit und Pünktlichkeit, die er überall im Kleinsten wie im Größten beobachtete, jahrelang verwaltet. Erst im April 1772, zwei Jahre nachdem er sein Lehramt als ordentlicher Professor angetreten hatte, bat er, ihn vom Posten des Unterbibliothekars zu entheben, da er sich mit seinen neuen akademischen Obliegenheiten und mit der Einteilung seiner Zeit nicht wohl vereinigen lasse (7). Daß KANT übrigens noch in den letzten Jahren seiner Magisterzeit um die materielle Sicherung seines Alters in Sorge sein mußte, beweist, deutlicher als alles andere, der Umstand, daß er, als sich ihm im Jahre 1769 die Aussicht auf eine Berufung nach Erlangen geboten hat, diese "Gelegenheit zu einem kleinen, aber sicheren Glück" nicht kurzer Hand von sich weisen wollte. Aber er erschrak, als auf eine derartige Äußerung hin die Universität sofort seine Ernennung verfügte und ihn durch den Professor der Mathematik und Physik, SIMON GABRIEL SUCKOW, zum baldigen Antritt seines Amtes einlud. Nun erst fühlte er ganz, was die Veränderung seiner Umgebung und seiner gewohnten Lebensweise für ihn bedeutet hätte.
"Erneute und viel vermögende Versicherungen" - so schrieb er an Suckow -, "ein sich hervortuender Anschein einer vielleicht nahen Vakanz [freie Stelle - wp] hiesigen Orts, die Anhänglichkeit an eine Vaterstadt und ein ziemlich ausgebreiteter Kreis von Bekannten und Freunden, am meisten aber meine schwächliche Leibesbeschaffenheit stellen ich in meinem Gemüt diesem Vorhaben auf einmal so mächtig entgegen: daß ich die Ruhe desselben nur dasselbst ferner hoffe, wo ich sie, obgleich in beschwerlichen Umständen, bis daher jederzeit gefunden habe . . . Ich besorge sehr, Euer Wohlgeboren . . . Unwillen durch eine vergebliche Erwartung, zu der ich Anlaß gebe, auf mich zu ziehen. Allein Euer Wohlgeboren kennen die Schwächen in den Charakteren der Menschen gar zu gut, daß Sie nicht auf eine nachsichtliche Art ein Gemüt, was zu Veränderungen unentschlossen ist, die andern nur gering scheinen, den Hindernissen beizählen sollten, über die man, obgleich ihre Folgen oft nachteilig sind, so wenig wie über das Glück der Meister ist." (8)
Noch mehr festigte sich diese Denkart in KANT in den folgenden Jahren, in denen er nach Erreichung der ordentlichen Professur für Logik und Metaphysik, durch keinen Zwang materieller Sorgen mehr beengt war. Als der Minister von ZEDLITZ, der ihn nicht nur als akademischen Lehrer schätzte, sondern auch als Philosophen verehrte, im Jahre 1778 den Versucht machte, ihn zur Übernahme der Professur in Halle zu bestimmen; als er ihm, auf seine erste Ablehnung hin, nicht nur "die so kalkulatorisch-richtige Verbesserung" vorrechnete, die mit dieser Änderung seiner Stellung verbunden sein würde, sondern ihn auch daran erinnerte, aß es für einen Mann wie ihn Pflicht ist, sich dem größeren Wirkungskreis, der sich ihm darbietet, nicht zu versagen, - da blieb KANT nichtsdestoweniger fest bei seiner Entscheidung.
"Ich wollte wünschen", - so schrieb Zedlitz damals - "daß Leute von Ihren Kenntnissen und Gaben in Ihrem Fach nicht so selten wären, ich wollte Sie nicht so quälen; ich wollte aber, daß Sie auch die Pflicht nicht verkennen, so viel Nutzen zu stiften, als Sie bei den Ihnen angebotenen Gelegenheiten stiften können, und daß Sie erwägen, daß die in Halle studierenden 1000 bis 1200 Studenten ein Recht haben, von Ihnen Unterweisung zu fordern, deren Unterlassung ich nicht verantworten möchte." (9)
In der Tat genoß Halle, wo WOLFF, nach seiner Rückberufung durch FRIEDRICH den Großen, vierzehn Jahre lang gewirkt hatte, den Ruf der ersten philosophischen Universität Deutschlands und auch in den übrigen Fächern konnte ZEDLITZ, der sich eifrig um die Hebung der Universität bemühte, KANT einige große Namen vorbehalten. Schon VOLTAIRE hatte gesagt, daß man, um die Krone der deutschen Gelehrten zu sehen, nach Halle gehen muß. KANT jedoch widerstand nicht nur allen Lockungen der Eitelkeit - auch den Hofratstitel hatte ZEDLITZ ihm angeboten, für den Fall, daß "Nebenumstände, von denen sich auch der Philosoph nicht trennen kann", ihm diesen Titel angenehm machen könnten - sondern, was für ihn sicherlich mehr bedeutet hat, auch allen Vorstellungen, die ZEDLITZ auf seine Pflichten gegen die Allgemeinheit und gegen die studierende Jugend gegründet hatte.
"Gewinn und Aufsehen auf einer großen Bühne" - so schrieb er damals an Marcus Herz - "haben, wie Sie wissen, wenig Antrieb für mich. Eine friedliche und gerade meiner Bedürfnis angemessene Situation, abwechselnd mit Arbeit, Spekulation und Umgang besetzt, wo mein sehr leicht affiziertes [gereiztes - wp], aber sonst sorgenfreies Gemüt und mein noch mehr launischer, doch niemals kranker Körper ohne Anstrengung in Beschäftigung erhalten werden, ist alles, was ich gewünscht und erhalten habe. Alle Veränderung macht mich bange, obgleich sie den größten Anschein zur Verbesserung meines Zustandes gibt und ich glaube auf diesen Instinkt meiner Natur achthaben zu müssen, wenn ich den Faden, den mir die Parzen sehr dünn und zart spinnen, noch etwas in die Länge ziehen will. Den größten Dank also meinen Gönnern und Freunden, die so gütig gegen mich gesinnt sind, sich meiner Wohlfahrt anzunehmen, aber zugleich eine ergebenste Bitte, diese Gesinnung dahin zu verwenden, mir in meiner gegenwärtigen Lage alle Beunruhigung . . . abzuwehren." (10)
Man hat diesen Entschluß oft beklagt; man hat wohl auch über die überzarte Empfindlichkeit und die ängstliche Haltung des Philosophen in allen Fragen, die das äußere Leben angehen, gespottet; aber in beiden Fällen hat man mehr aus abstrakten und allgemeinen Gründen, als aus der Erwägung der konkreten Lebenslage geurteilt, aus der heraus KANT seine Entscheidung getroffen hat. Er stand damals unmittelbar vor der Ausarbeitung des Werkes, das ihm, in gedanklicher wie in literarischer Hinsicht, eine Arbeit auferlegte, wie sie größer vielleicht niemals ein Denker zu leisten hatte. Von dem Augenblick an, in dem KANT dieses Werk konzipiert hatte, besitzt gleichsam sein Leben für ihn keine selbständige und losgelöste Bedeutung mehr; es ist nur noch das Substrat für die geistige Aufgabe, die es zu bewältigen gegolten hat. Alle persönlichen Kräfte sind einzig und allein auf den abstrakten Gedankenprozeß bezogen und in seinen Dienst gestellt. Dauernd klagt er in dieser Zeit über seine schwächliche, über seine "unaufhörlich unterbrochene" Gesundheit; aber sein Körper hält vermöge einer sorgsamen, peinlich erwogenen Diät den gewaltigen, selbst für KANT unerhörten Anstrengungen stand. Man begreift, wie KANT in dieser Epoche jede Veränderung, so sehr sie im äußerlichen Sinn als Verbesserung seiner Lage erscheinen mochte, nur als Gefährdung und Beunruhigung empfunden hat. KANTs Brief an MARCUS HERZ erinnert in manchem Einzelzug, vor allem aber in seinem gesamten Stimmungsgehalt, an die Korrespondenz, die DESCARTES mit CHANUT, dem französischen Botschafter in Stockholm geführt hat, als dieser ihn an den Hof CHRISTINEs von Schweden eingeladen hat. Auch bei DESCARTES bestand ein starker Widerstand gegen diese Einladung, die ihm den Verzicht auf seinen methodisch gewählten und bisher in aller methodischen Strenge durchgeführten Lebensplan zugemutet hat, - ein Widerstan, dden er zuletzt weniger aus innerer Überzeugung, als aus äußeren Gründen aufgegeben hat. KANT hingegen blieb auch hier ohne Zögern dem inneren Gesetz treu - und man darf in der Tat überzeugt sein, daß der "Instinkt seiner Natur", auf den er sich berufen hat, in Wahrheit das Daimonion [innere Stimme göttlichen oder teuflischen Ursprungs - wp] des großen Menschen war, das seinen äußeren Lebensgang klar und sicher reinen sachlichen Forderungen seines Werkes gemäß bestimmt hat.
Wie dieses Werk sich in ihm, trotz aller inneren Schwierigkeiten und Hemmungen, in gleichmäßigem Fortschritt des Gedankens gestaltete: dafür besitzen wir im Briefwechsel, den er im Jahrzehnt von 1770 bis 1780 mit MARCUS HERZ geführt hat, ein Zeugnis von unvergleichlichem Wert: - ein Zeugnis, das freilich auch für sich allein sprechen muß, da andere Nachrichten über diesen Zeitraum so gut wie vollständig fehlen. Denn wenn man durch Rückschlüsse aus den Nachschriften, die sich von KANTs Vorlesungen über Metaphysik erhalten haben, ein Bild der philosophischen Gesamtanschauung dieser Epoche zu gewinnen gesucht hat, so ist dieses Verfahren in mehr als einer Hinsicht unsicher; abgesehen davon, daß die Datierung dieser Nachschriften sich schwerlich mit genügender Gewißheit feststellen läßt, sind in sie, teils durch die Schuld des Schreibers, teils aus dem Lehrbuch, das KANT dem Herkommen gemäß für seine Vorlesungen zugrunde gelegt hat, so viele fremdartige Bestandteile eingeflossen, daß ihr Wert als Quellen der kantischen Philosophie dadurch höchst problematisch wird. Die Briefe an HERZ hingegen geben nicht nur den objektiven Fortgang der kantischen Gedanken selbst wieder, sondern sind auch ein getreuer Spiegel der wechselnden persönlichen und intellektuellen Stimmungen, die ihn begleitet haben. MARCUS HERZ hatte bei der öffentlichen Diskussion über KANTs Schrift "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" als "Respondent" mitgewirkt und war durch KANTs persönliche Belehrung in alle Einzelheiten dieser Schrift eingeführt worden. Wenn von irgendjemand, so konnte daher KANT von ihm das Verständnis für die weiteren gedanklichen Entwicklungen erwarten, die sich an die Schrift anschließen. Die brieflichen Mitteilungen hierüber sind häufig unterbrochen worden und schienen eine Zeitlang ganz auszusetzen; aber immer fühlte KANT, der sich in ihnen gleichsam vor sich selbst Rechenschaft über den Fortschritt seines Denkens gegeben hat, das Bedürfnis, sie wieder aufzunehmen. Auch das persönliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler gestaltete sich in diesem brieflichen Verkehr immer inniger und herzlicher. "Auserlesener und unschätzbarer Freund", "würdigster und hochgeschätzter Freund" - so hat KANT, der immer karg mit diesem Titel war, HERZ in seinen Briefen angeredet. In dieser Gesinnung hat er Herz einen tieferen Einblick in die Werkstätte seines Gedankens, als irgendjemand zuvor verstattet. Schon der erste Brief vom Juni 1771 bezeichnet nicht nur die neuen Ergebnisse, zu denen er inzwischen gelangt war, sondern wirft zugleich ein helles Licht auf die subjektive Methodik des Denkens, deren er sich fortan bedient.
"Daß vernünftige Einwürfe" - so schreibt Kant an Herz, indem er die Verzögerung seiner Antwort auf Lamberts und Mendelssohns Einwände gegen die Dissertation entschuldigt - "von mir nicht bloß von der Seite angesehen werden, wie sie zu widerlegen sein könnten, sondern daß ich sie jederzeit beim Nachdenken unter meine Urteile webe und ihnen das Recht lasse, alle vorgefaßten Meinungen, die ich sonst beliebt hatte, über den Haufen zu werfen, das wissen Sie. Ich hoffe immer dadurch, daß ich meine Urteile aus dem Standpunkt anderer unparteiisch ansehe, etwas Drittes herauszubekommen, was besser ist, als mein Voriges. Überdem ist sogar der bloße Mangel der Überzeugung bei Männern von solcher Einsicht mir jederzeit ein Beweis, daß es meinen Theorien wenigstens an Deutlichkeit, Evidenz oder gar an etwas Wesentlicheren fehlen muß. Nun hat mich eine lange Erfahrung davon belehrt, daß die Einsicht in unseren vorhabenden Materien gar nicht erzwungen werden kann und durch Anstrenung beschleunigt werden, sondern eine ziemlich lange Zeit bedarf, da man mit Intervallen einerlei Begriffe in allerlei Verhältnissen und in so weitläufigem Zusammenhang betrachtet als möglich ist und vornehmlich auch, damit zwischendrin der skeptische Geist aufwache und versuche, ob das Ausgedachte gegen die schärfsten Zweifel Stich hält. Auf diesem Fuß habe ich die Zeit, welche ich mir auf Gefahr, einen Vorwurf der Unhöflichkeit zu verdienen, aber in der Tat aus Achtung vor dem Urteil beider Gelehrter gegeben habe, wie ich meine, wohl genutzt. Sie wissen, welchen großen Einfluß die gewisse und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen, was auf subjektiven Prinzipien der menschlichen Seelenkräfte, nicht allein der Sinnlichkeit, sondern auch des Verstandes beruth, von dem, was gerade auf die Gegenstände geht, in der ganzen Weltweisheit, ja sogar auf die wichtigsten Zwecke der Menschen überhaupt hat. Wenn man nicht von der Systemsucht hingerissen ist, so verifizieren sich auch einander die Untersuchungen, die man über eben dieselbe Grundregel in der weitläufigsten Anwendung anstellt. Ich bin daher jetzt damit beschäftigt, ein Werk, welches unter dem Titel » Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft« das Verhältnis der vor die Sinnenwelt bestimmten Grundbegriffe und Gesetze zusamt dem Entwurf dessen, was die Natur der Geschmackslehre, Metaphysik und Moral ausmacht, enthalten soll, etwas ausführlich auszuarbeiten. Den Winter hindurch bin ich alle Materialien dazu durchgegangen, habe alles gesichtet, gewogen, aneinander gepaßt, bin aber mit meinem Plan dazu nur erst kürzlich fertig geworden." (11)
Welches war das neue Moment, das diesen Plan vom Entwurf, der in der Inaugural-Dissertation gegeben war, unterschieden hat? Daß die Dissertation auch für die künftige Schrift, die KANT jetzt in Aussicht genommen hat, den eigentlichen Grundtext bilden sollte, wenngleich er sie in ihren besonderen Ausführungen bereits als fehlerhaft erkannt hatte, geht aus KANTs weiteren Bemerkungen im gleichen Brief an HERZ unzweifelhaft hervor. Hier muß also sowohl eine positive, wie eine negative Beziehung angenommen werden - eine Einsicht, die das grundlegende Verfahren der Schrift "De mundi sensibilis etc." bestätigte und die nichtsdestoweniger das Ergebnis, mit dem sie abgeschlossen hatte, aufhob. Worin diese Einsicht bestanden hat, dafür gewinnt man einen deutlichen Fingerzeig, wenn man sich jene Einwürfe LAMBERTs und MENDELSSOHNs vergegenwärtigt, die den Ausgangspunkt für KANTs weitere Betrachtungen gebildet haben und die zuerst dazu dienten, den "skeptischen Geist" in ihm aufzuwecken. Die Einwendungen beider Denker wendeten sich übereinstimmend gegen die Art, in der sie die Lehre von der "Idealität des Raumes und der Zeit" in der Dissertation ausgedrückt fanden. An und für sich freilich enthielt diese Lehre für beide nichts Überraschendes oder Paradoxes; denn daß Raum und Zeit nur die Ordnungen der "Phänomene" sind, galt als ein feststehender Satz in LEIBNIZ' Metaphysik, der in der philosophischen Literatur des 18. Jahrhunderts in den mannigfachsten Wendungen immer von Neuem begegnet. Nur daran also nahmen LAMBERT und MENDELSSOHN Anstoß, daß diese Idealität des Raumes und der Zeit in der Dissertation in eine bloße "Subjektivität" beider umgedeutet zu werden schien.
"Die Zeit" - so schrieb Mendelssohn - "ist nach Leibniz ein Phänomen und hat, wie alle Erscheinungen, etwas Objektives und etwas Subjektives."
Und auch LAMBERT betont, daß er sich von der Behauptung, daß die Zeit "nichts Reales" ist, bisher nicht habe überzeugen können: denn sind die Veränderungen real (wie auch ein Idealist zugeben muß, da er sie im inneren Wechsel seiner Vorstellungen unmittelbar gewahr wird), so muß es auch die Zeit sein, da alle Veränderungen an die Zeit gebunden und ohne sie nicht "gedenkbar" sind (12). Daß beide Einwürfe den eigentlichen tieferen Sinn von KANTs Lehre nicht getroffen haben, daß sie, um es in der Sprache des künftigen Systems auszudrücken, den "transzendentalen" Idealismus mit einem "psychologischen" Idealismus verwechseln: dies ist für uns heute leicht zu durchschauen und KANT selbst hat in einer bekannten Stelle der Kr. d. r. V. darauf hingewiesen (13). Aber war dieses Mißverständnis nicht verzeihlich, - war es nicht fast notwendig, wenn man die Form zugrunde legt, in der die Raum- und Zeitlehre in der Dissertation vorgetragen worden war? Mußte hier die "Subjektivität" der Anschauungsformen, wenngleich auf sie die Gewißheit der Mathematik und der Naturwissenschaft gegründet wurde, nicht dennoch wie ein Makel erscheinen, der sie von den "reinen Verstandesbegriffen" zu ihrem Nachteil unterschieden hat? Denn diesen letzteren war ja ausdrücklich zugestanden, daß sie uns die Dinge nicht nur, wie sie erscheinen, sondern wie sie an und für sich sind, zu erkennen geben. Mochte daher immerhin betont werden, daß, obgleich Raum und Zeit keine absoluten Gegenstände sind, ihr Begriff nichtsdestoweniger "höchst wahr" ist (14): so blieb doch diese Wahrheit immer eine Wahrheit zweiter Ordnung, solange es andere Begriffe gab, die den Anspruch erheben konnten, sich "unmittelbar auf die Dinge", nicht bloß auf die "Erscheinungen" und ihre Verknüpfung zu beziehen.
KANTs Brief an HERZ zeigt uns, wie seine fortschreitende Betrachtung genau an diesem schwierigsten Punkt einsetzt. Er hält als unumstößlich gewisses Ergebnis die Unterscheidung der "sinnlichen" Begriffe von den "intellektuellen" Begriffen fest; aber zugleich dehnt er nunmehr den Unterschied zwischen dem, was auf "subjektivischen Prinzipien" beruth und dem, "was gerade auf die Gegenstände" geht, auch auf die letztere, von der Kritik bisher nicht betroffene Sphäre aus. Die "Subjektivität" "nicht allein der Sinnlichkeit, sondern auch des Verstandes" beginnt jetzt, sich ihm immer bestimmter und deutlicher darzustellen; - aber statt daß er hierdurch in eine allgemeine Zweifelslehre verstrickt würde, nehmen vielmehr umgekehrt die Verstandesbegriffe das gleiche Gepräge der "Wahrheit" wie die Formen der reinen Anschauung an. Auch für sie gilt jetzt, daß sie nicht darum wahr sind, weil sie uns die Welt der absoluten Gegenstände abbilden, sondern weil sie im System der Erkenntnis, im Aufbau der Erfahrungswirklichkeit, als Bedingungen unentbehrlich und daher von allgemeiner und notwendiger Geltung sind. Daß dies der Fall ist, hatte schon die Dissertation erkannt und ausgesprochen; aber sie hatte diesem bloß "logischen" Gebrauch der Verstandesbegriffe, gegenüber dem "realen" Gebrauch, der auf die Erkenntnis übersinnlicher Objekte gerichtet ist, nur eine relativ untergeordnete Bedeutung zugestanden (15). Jetzt jedoch beginnt der Schwerpunkt des Problems sich zu verschieben. An die Stelle der Trennung in den Gegenständen, an Stelle des Dualismus der sinnlichen und übersinnlichen Welt tritt die Trennung in den Erkenntnisfunktionen, die "Objektivität" irgendwelcher Art begründen oder für sich in Anspruch nehmen. Die Grenze wird nicht mehr zwischen dem "mundus intelligibilis" und dem "mundus sensibilis", sondern zwischen "Sinnlichkeit" und "Vernunft gezogen. Und die letztere ist hierbei noch in ihrem weitesten, umfassenden Sinn genommen. Ebenso wie wir fragen können, welches die eigentümliche Form der Objektivität ist, die dem Raum und der Zeit zukommt, und wie wir diese Form entdecken, indem wir uns den Aufbau und die Erkenntnisweise der reinen Mathematik und der reinen Mechanik zur Klarheit bringen - so können und müssen wir andererseits nach dem Prinzip fragen, auf welchem die Notwendigkeit der reinen Verstandeserkenntnis oder das Recht und die Geltung unserer ersten sittlichen oder ästhetischen Grundurteile beruth. Ein Werk, das alle diese Fragen beantworten, das die verschiedenen Geltungsansprüche innerhalb der theoretischen Erkenntnis, wie innerhalb des ethischen und ästhetischen Gebietes feststellen und gegeneinander abgrenzen soll, steht jetzt KANT, im ersten Umriß, deutlich vor Augen; nur noch die nähere Ausführung des in all seinen Grundzügen scharf erfaßten Planes scheint erforderlich, um es zur Vollendung zu bringen. -
Aber nachdem wir bis zu diesem Punkt fortgeschritten sind, setzt nunmehr doch erst die eigentlich entscheidende Frage ein. Angenommen, wir hätten die Grenzen zwischen dem theoretischen, dem ethischen, dem ästhetischen Urteil bestimmt: hätten wir dann wirklich ein "System" der Vernunft oder nicht vielleicht ein bloßes "Aggregat" erreicht? Ist es genug, dieses Mannigfaltige und Heterogene einfach nebeneinander zu stellen und nebeneinander zu behandeln oder müssen wir nicht nach einem gemeinsamen Gesichtspunkt suchen, der all diesen verschiedenen Fragestellungen zugrunde liegt? Jede Grenzsetzung setzt in der Scheidung, die sie vollzieht, zugleich eine ursprüngliche Verknüpfung des Getrennten, jede Analysis setzt ein Synthesis voraus. Worin besteht dieses verbindende Glied, wenn wir es nach dem Ergebnis, zu dem wir bis jetzt fortgeschritten sind, nicht mehr schlechthin in der Welt der Dinge, sondern in der Struktur und der Gesetzlichkeit der "reinen Vernunft" zu suchen haben? Auf alle diese Fragen erteilt KANTs Brief an MARCUS HERZ vom 21. Februar 1772 die Antwort: eine Antwort, die wie mit einem Schlag alle vorangehenden und alle künftigen Entwicklungen klärt und wie von innen her erleuchtet. Nicht mit Unrecht hat man von diesem Brief gesagt, daß er die eigentliche Geburtsstunde der "Kritik der reinen Vernunft" bezeichnet.
"Wenn Sie über das gänzliche Ausbleiben meiner Antworten unwillig werden",
so beginnt KANT und man muß seinen Brief hier in seiner ganzen Ausdehnung selbst sprechen lasen, wenn man all die feinen Nuancierungen des Gedankengangs festhalten will,
"so tun Sie mir hierin zwar nicht unrecht; wenn Sie aber hieraus unangenehme Folgerungen ziehen, so wünschte ich, mich in diesem Fall auf Ihre eigene Kenntnis von meiner Denkungsart berufen zu können. Statt aller Entschuldigung will ich Ihnen eine kleine Erzählung von der Art der Beschäftigung meiner Gedanken geben, welche in müßigen Stunden bei mir den Aufschub des Briefschreibens veranlassen. Nach ihrer Abreise in Königsberg sah ich in denen Zwischenzeiten der Geschäfte und der Erholungen, die ich so nötig habe, den Plan der Betrachtungen, über die wir disputiert hatten, noch einmal an, um ihn an die gesamte Philosophie und übrige Erkenntnis zu passen und dessen Ausdehnung und Schranken zu begreifen. In der Unterscheidung des Sinnlichen vom Intellektuellen in der Moral und denen daraus entspringenden Grundsätzen hatte ich es schon vorher ziemlich weit gebracht. Die Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der Beurteilungskraft mit ihren Wirkungen, dem Angenehmen, Schönen und Guten hatte ich auch schon vorlängst zu meiner ziemlichen Befriedigung entworfen und nun machte ich mir den Plan zu einem Werk, welches etwa den Titel haben könnte: Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft. Ich dachte mir darin zwei Teile, einen theoretishen und einen praktischen. Der erste enthielt in zwei Abschnitten:
1) Die Phänomenologie überhaupt.
2) Die Metaphysik, und zwar nur nach ihrer Art und Methode. Der zweite ebenalls in zwei Abschnitten:
1) Allgemeine Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der sinnlichen Begierde.
2) Die ersten Gründe der Sittlichkeit.
Indem ich den theoretischen Teil in seinem ganzen Umfang und mit den wechselseitigen Beziehungen aller Teile durchdachte, so bemerkte ich: daß mir noch etwas Wesentliches mangelt, welches ich bei meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andere, aus der Acht gelassen hatte, und welches in der Tat den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht. Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grund beruth die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?"
Diese Beziehung - so fährt die Erörterung fort - ist in zwei Fällen leicht einzusehen: wenn nämlich der Gegenstand die Vorstellung oder wenn umgekehrt diese jene erzeugt. Wir begreifen dann, woher die "Konformität" zwischen beiden stammt; da wir einzusehen glauben, daß jede Wirkung ihrer Ursache gemäß ist und sie in einem bestimmten Sinn "abbilden" muß. Das Problem scheint also gelöst, sowohl wenn wir es lediglich vom Standpunkt der sinnlichen Empfindung betrachten, als auch wenn wir uns in den Gesichtspunkt eines Verstandes versetzen, der die Gegenstände, die er erkennt, selbst hervorbringt. Denn im ersten Fall der reinen Passivität entsteht sozusagen keinerlei Differenz und Spannung zwischen dem, was "draußen" gegeben und dem, was in uns gewirkt ist: das Objekt drückt sich uns gleichsam seinem vollen Bestand nach ein und hinterläßt eine sinnliche Spur, die uns von ihm Kunde gibt. Im zweiten Fall aber, im Fall des "göttlichen Verstandes", ist wiederum die Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Gegenstand leicht einzusehen: denn hier ist es ein und dieselbe ursprüngliche Identität des göttlichen Wesens, die sich im Erkennen und Bilden, im Schauen und Schaffen gleichmäßig darstellt und expliziert. So ist demnach sowohl die Möglichkeit eines reinen schöpferischen Verstandes, eines intellectus archetypus, wie die Möglichkeit eines rein empfangenden Verstandes, eines intellectus ectypus wenigstens im Allgemeinen begreiflich. Allein unser Verstand fällt weder unter die eine, noch unter die andere dieser Kategorien: denn weder bringt er die Objekte, auf die er in seiner Erkenntnis bezogen ist, selbst hervor, noch nimmt er einfach ihre Wirkungen hin, so wie sie sich in den sinnlichen Eindrücken selbst unmittelbar darbieten. Daß die zweite Alternative ausgeschlossen ist, hatte schon die Dissertation erschöpfend dargelegt.
"Die reinen Verstandesbegriffe", so folgert nunmehr Kant weiter, "müssen also nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahiert sein, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quelle haben, aber doch weder insofern sie vom Objekt gewirkt werden, noch das Objekt selbst hervorbringen. Ich hatte mich in der Dissertation damit begnügt, die Natur der Intellektual-Vorstellungen bloß negativ auszudrücken: daß sie nämlich nicht Modifikationen der Seele durch den Gegenstand wären. Wie aber denn sonst eine Vorstellung, die sich auf einen Gegenstand bezieht, ohne von ihm auf einige Weise affiziert zu sein, möglich sein soll, überging ich mit Stillschweigen. Ich hatte gesagt: die sinnlichen Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie sie erscheinen, die intellektualen, wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns affizieren, und wenn solche intellektuale Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenstanden haben sollen?"
In der Mathematik freilich mag dieses angehen: denn hier "entsteht" in der Tat der Gegenstand erst in der anschaulichen und begrifflichen Setzung. Was ein Kreis oder ein Kegel "ist", so hatte bereits die Preisschrift vom Jahr 1763 gelehrt, darüber brauche ich nichts als den Akt der Konstruktion zu befragen, in welchem dieses Gebilde entsteht. Aber wohin geraten wir, wenn wir ein derartiges "Konstruieren" auch für die metaphysischen Begriffe zulassen und wenn wir sie in diesem Sinn "von der Erfahrung unabhängig" gestalten wollen! Die Begriffe der Größe mögen "selbsttätig" sein, weil erst in der Synthesis des Mannigfaltigen, "indem wir Eines etlichemal nehmen", das Ganze der Größe sich für uns aufbaut und die Grundsätze der reinen Größenlehre mögen demgemäß a priori und mit unbedingter Notwendigkeit gelten.
"Allein im Verhältnis der Qualitäten, wie mein Verstand gänzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von ihr unabhängig sind: diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Anbetracht unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst kommt."
Die gesamte bisherige Metaphysik läßt uns gegenüber dieser Frage im Stich. Denn was hilft es, wenn man das Rätsel dadurch zu lösen glaubt, daß man es in den letzten Ursprung der Dinge zurückschiebt: in jenen geheimnisvollen Einheitspunkt, in dem "Sein" und "Denken" sich noch nicht getrennt haben? Was fördert es uns, wenn PLATON ein geistiges ehemaliges Anschauen der Gottheit zum Urquell der reinen Verstandesbegriffe macht, wenn MALEBRANCHE zwischen dem menschlichen und göttlichen Geist eine noch fortdauernde, gegenwärtige Verknüpfung annimmt, die sich in jeder Erkenntnis eines reinen Vernunftsatzes bewährt und offenbart, wenn LEIBNIZ und CRUSIUS die Übereinstimmung zwischen der Ordnung der Dinge und der Ordnung der Verstandesregeln in einer "prästabilierten Harmonie" gegründet sein lassen? Wird nicht in all diesen scheinbaren "Erklärungen" vielmehr ein absolut Unbekanntes zur Erläuterung einer relativ Unbekannten, ein in unseren Begriffen Unfaßbares und Unverständliches zur Deutung eines bloß Problematischen gebraucht?
"Allein der deux ex machina [Trickmaschine im Theaterbetrieb - wp]", so wendet Kant gegen alle Versuche dieser Art ein - "ist in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unserer Erkenntnisse das Ungereimteste, was man nur wählen kann, und hat außer dem betrüglichen Zirkel in der Schlußreihe unserer Erkenntnisse noch das Nachteilige, daß er jeder Grille oder andächtigem oder grüblerischen Hirngespinst Vorschub gibt."
Die grundlegende Frage, die die Erkenntnis aufgeworfen hat: die Frage nach dem, was sie ihrer objektiven Gültigkeit, ihrer Beziehung auf den Gegenstand versichert, muß auf dem Boden der Erkenntnis selbst gelöst, muß im hellen Licht der Vernunft und unter der Anerkennung ihrer eigentümlichen Bedingungen und Grenzen beantwortet werden.
Der Eingang in die "Kritik der reinen Vernunft" war in der Tat gegeben, seit für KANT diese Form der Fragestellung feststand. Er selbst berichtet, in den weiteren Darlegungen des Briefes an HERZ, wie er von hier aus ein Gesamtsystem der "Transzendentalphilosophie" entworfen hat, indem er "alle Begriffe der gänzlich reinen Vernunft" auf eine gewisse Zahl von Kategorien brachte - aber nicht wie ARISTOTELES, der seine Kategorien aufs bloße Ungefähr nebeneinander gesetzt hat, sondern wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von selber in Klassen einteilen.
"Ohne mich nun" - so fährt er fort - "über die ganze Reihe der bis zu einem letzten Zweck fortgesetzten Untersuchung weitläufig hier zu erklären, kann ich sagen, daß es mir, was das Wesentliche meiner Absicht betrifft, gelungen ist, und ich jetzt imstande bin, eine Kritik der reinen Vernunft, welche die Natur der theoretischen, wie auch der praktischen Erkenntnis, sofern sie bloß intellektuell ist, enthält, vorzulegen, wovon ich den ersten Teil, der die Quellen der Metaphysik, ihre Methode und Grenzen enthält, zuerst und darauf die reinen Prinzipien der Sittlichkeit ausarbeiten und was den ersteren betrifft, binnen etwa 3 Monaten herausgeben werden."
Die Jllusion, daß KANT ein Werk, das ihn noch auf acht oder neun Jahre hinaus ausschließlich beschäftigen sollte, in drei Monaten beenden zu können glaubte, ist, so seltsam sie auf den ersten Blick erscheinen mag, dennoch verständlich: wer die neue Aufgabe in solcher Bestimmtheit und Klarheit erfaßt hatte, der durfte hoffen, schon hierin allein alle wesentlichen Bedingungen der Lösung zu besitzen. Denn wirklich sind hier bereits all die fundamentalen Einsichten gewonnen, aus denen heraus sich die Kr. d. r. V. gestaltet hat. Was KANT später die "Revolution der Denkart", was er die "kopernikanische" Wendung des Erkenntnisproblems genannt hat (16) - das ist hier vollzogen. Die Betrachtung hebt nicht mehr vom Gegenstand, als dem Bekannten und Gegebenen an, um sodann zu zeigen, wie dieser Gegenstand in unsere Erkenntniskraft "hinüberwandert" und sich in ihr abbildet (17) - sondern sie fragt nach dem Sinn und Inhalt des Gegenstandsbegriffs selbst, nach dem, was der Anspruch auf "Objektivität", sei es in der Mathematik, sei es in der Naturwissenschaft, sei es in der Metaphysik oder in der Moral und Ästhetik überhaupt bedeutet. In dieser Frage ist das vermittelnde Glied gefunden, das fortan alle Begriffe und Probleme der "reinen Vernunft" zum System zusammenschließt. Wenn alle vorhergehende Metaphysik mit dem "Was" des Gegenstandes begonnen hatte, so beginnt KANT mit dem "Wie" des Gegenstandsurteils. Wenn jene zuerst und ursprünglich von irgendeiner Qualität der Dinge zu berichten wußte - so untersucht und zergliedert er zunächst lediglich die Behauptung der Gegenstandserkenntnis, um festzustellen, was denn mit ihr, was mit der "Beziehung", die sie aussagt, gesetzt und gemeint ist.
In dieser Umformung der Frage ist die "Metaphysik" zur "Transzendentalphilosophie" geworden - in dem strengen Sinn, in welchem später die Kr. d. r. V. den neuen Terminus bestimmt hat:
"Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt." (18)
Ein Ganzes nicht von Dingen, sondern von "Erkenntnisarten" - worunter auch die Eigentümlichkeit des moralischen, des teleologischen, des ästhetischen "Beurteilungsvermögens" gehören - steht vor uns und verlangt Verknüpfung und Sonderung, Zusammenhang in einer gemeinsamen Aufgabe und Anerkennung der spezifischen Leistungen. Und zugleich ist nun, wenn nicht der Ausdruck, so doch der Gehalt der anderen großen Grundfrage der Vernunftkritik erreicht, der Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Denn eben dies ist das Problem, das KANTs Brief an HERZ sich stellt, mit welchem Recht wir von einer "apriorischen" Erkenntnis sprechen können, die über alle Gegebenheit in den passiven Elementen der Empfindung und der Sinnlichkeit, sowie über jede bloße Begriffszergliederung hinausgeht: eine Erkenntnis, die als Aussage über "reale" Verknüpfung und realen Widerstreit notwendig auf Erfahrung bezogen, die aber andererseits, weil sie von "aller Erfahrung überhaupt" gelten will, in keiner besonderen Erfahrung mehr gegründet ist. Das Allgemeingültige und Notwendige, das sich nicht nur in der Erkenntnis der Quantitäten, sondern auch in der der Qualitäten findet, das nicht nur in der Entwicklung der Beziehungen des Nebeneinander im Raum oder des Nacheinander in der Zeit, sondern auch in einer "dynamischen Verknüpfung", in den Aussagen über Dinge und Eigenschaften, über Ursache und Wirkung zutage tritt, ist zum Problem geworden: zu einem Problem, as nur mit derselben neuen Fassung des "Gegenstandsbegriffs" aufgeschlossen werden kann, in der allgemein "der Schlüssel zum ganzen Geheimnis der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik" zu suchen ist.
Je näher jedoch KANT nunmehr an die Bewältigung des Einzelnen herantritt, umso deutlicher tritt ihm die ganze Komplikation der Aufgabe, die er übernommen hat, entgegen. Hinter jeder Lösung entstehen ihm neue Fragen; hinter jeder Einteilung der Vernunftbegriffe nach festen Klassen und "Vermögen" ergeben sich wieder andere Unterteilungen, deren jede in eine neue und subtile Untersuchung hinausführt. Schon ist der Plan seiner Arbeit bekannt geworden; und insbesondere HERZ drängt, mit begreiflicher Ungeduld, zum Abschluß des versprochenen Werks. Aber KANT läßt sich durch keine Erwartung, die er selbst gehegt oder in anderen erregt hatte, von den reinen Forderungen der Sache und von ihrem stetigen Fortschritt abdrängen.
"Da ich" - so schreibt er in seinem nächsten Brief an Herz, der von dem früheren fast durch zwei Jahre getrennt ist - "da ich einmal in meiner Absicht eine so lange von der Hälfte der philosophischen Welt umsonst bearbeitete Wissenschaft umzuschaffen so weit gekommen bin, daß ich mich im Besitz eines Lehrbegriffs sehe, der das bisherige Rätsel völlig aufschließt und das Verfahren der sich selbst isolierenden Vernunft unter sichere und in der Anwendung leichte Regeln bringt, so bleibe ich nunmehr halsstarrig bei meinem Vorsatz mit keinen Autorkitzel verleiten zu lassen in einem leichteren und beliebteren Feld Ruhm zu suchen, ehe ich meinen dornigen und harten Boden eben und zur allgemeinen Bearbeitung frei gemacht habe."
Noch hofft KANT das Werk "auf Ostern" 1774 fertig liefern oder es "beinahe mit Gewißheit" eine kurze Zeit nach Ostern versprechen zu können: aber zugleich betont er doch, was es in Anbetracht der Methode, der Einteilungen, der genau angemessenen Benennungen für Mühe und Zeit kostet, "eine ganz neue Wissenschaft der Idee nach zu entwerfen und sie zugleich völlig auszuführen". Die "Transzendentalphilosophie" gedenkt er zuerst abzuschließen; dann will er zur Metaphysik übergehen, die er in zwei Teilen: als "Metaphysik der Natur" und als "Metaphysik der Sitten" auszuführen denkt; er fügt hinzu, daß er die letztere zuerst herauszugeben denkt und daß er sich auf sie schon im Voraus freut. Hier ist es von besonderem systematischen Interesse, aß die Fragen der Ethik nunmehr von den gleichen Voraussetzungen aus und nach demselben Grundplan, als die Fragen der reinen theoretischen Erkenntnis behandelt werden. Die Epoche, in der KANT sich der psychologischen Methode der Ethik, wie sie von den Engländern geübt wurde, anzunähern schien und in der er das Verfahren eines SHAFTESBURY, HUTCHESON und HUME als eine "schöne Entdeckung unserer Zeiten" gepriesen hat (19), liegt nun bereits weit zurück. Schon die Inaugural-Dissertation hatte das Problem der Moralität ganz auf die Seite des "Intelligiblen" gerückt und es, in ausdrücklichem Gegensatz gegen SHAFTESBURY, von allen sinnlichen Bestimmungsgründen der Lust und Unlust abgeschieden (20). In dieser Umbildung der Grundlagen der Ethik sah KANT, wie er bei der Übersendung der Dissertation an LAMBERT schrieb, zugleich eine der wichtigsten Absichten, bei der nunmehr veränderten Form der Metaphysik (21). Die Ethik ist gleich der Lehre von Raum und Zeit und gleich der Lehre von den reinen Intellektualbegriffen zu einer "apriorischen" Disziplin geworden: die eigentümliche Objektivität des "Sollens" unterscheidet sich auf der einen Seite von der Objektivität des Seins, wie sie andererseits diese erleuchtet und wechselweise von ihr Licht empfängt. -
Auf die weiteren Einzelheiten des Briefwechsels zwischen KANT und HERZ soll jedoch hier nicht eingegangen werden; denn in ihnen allen wiederholt sich immer von Neuem das gleiche Gesamtbild. Für einen äußeren Zuschauer hätte es hier bisweilen scheinen können, als sei der Plan, der KANT vor Augen stand, nichts als ein Irrlicht, das ihn ziellos in unbekannte Fernen des Denkens verlockt. Immer wieder glaubt er am Ende zu stehen; aber je weiter er fortschreitet, umso mehr dehnt sich vor ihm der Weg, den er noch zu durchmessen hat. Nachdem er, gegen Ende des Jahres 1773, den endgültigen Abschluß seines Werkes "nahezu mit Gewißheit" für die Zeit nach Ostern 1774 versprechen zu können glaubte, vergehen wiederum drei Jahre, in denen er, unter dem dauernden Zustrom immer neuer Fragen, offenbar noch nicht einmal mit der ersten systematischen Ausarbeitung der Niederschrift begonnen hat. Immer ungeduldiger werden die Erwartungen, immer dringender die Fragen, die aus den Kreisen des literarischen und gelehrten Deutschland an ihn gerichtet werden.
"Sagen Sie mir doch auch nur mit ein paar Zeilen" - schreibt Lavater im Februar 1774 an ihn - "sind Sie denn der Welt gestorben? warum schreiben so viele, die nicht schreiben können - und Sie nicht, die's so vortrefflich können? warum schweigen Sie - bei dieser, dieser neuen Zeit - geben keinen Ton von sich? Schlafen? Kant - nein, ich will Sie nicht loben - aber sagen Sie mir doch, warum Sie schweigen? oder vielmehr: Sagen Sie mir, daß Sie reden wollen." (22)
Als LAVATER diese Worte schrieb, da ahnte er freilich nicht, daß es eben der Anbruch dieser "neuen Zeit" war, der sich in diesem Schweigen ankündigte.
"Ich empfange von allen Seiten" - so schreibt Kant jetzt am 24. November 1776 an Herz - "Vorwürfe wegen der Untätigkeit, darin ich seit langer Zeit zu sein scheine und bin doch wirklich niemals systematischer und anhaltender beschäftigt gewesen, als seit denen Jahren, da Sie mich nicht gesehen haben. Die Materien, durch deren Ausfertigung ich wohl hoffen könnte, einen vorübergehenden Beifall zu erhalten, häufen sich unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbarer Prinzipien habhaft geworden ist. Aber sie werden insgesamt durch einen Hauptgegenstand, wie durch einen Damm zurückgehalten, an welchem ich hoffe ein dauerhaftes Verdienst zu erwerben, in dessen Besitz ich auch wirklich schon zu sein glaube und wozu nunmehr nicht sowohl nötig ist, es ausdenken, sondern nur auszufertigen . . . Es gehört, wenn ich sagen soll, Hartnäckigkeit dazu, einen Plan, wie dieser ist, unverrückt zu befolgen und oft bin ich durch Schwierigkeiten angereizt worden, mich anderen angenehmeren Materien zu widmen, von welcher Untreue aber mich von Zeit zu Zeit teils die Überwindung einiger Hindernisse, teils die Wichtigkeit des Geschäftes selber zurückgezogen haben. Sie wissen, daß das Feld der von allen empirischen Prinzipien unabhängig urteilenden, d. h. reinen Vernunft muß übersehen werden können, weil es in uns selbst a priori liegt und keine Eröffnungen von der Erfahrung erwarten darf. Um nun den ganzen Umfang desselben, die Abteilungen, die Grenzen, die ganzen Inhalt desselben nach sicheren Prinzipien zu verzeichnen und die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen kann, ob man auf dem Boden der Vernunft oder Vernünftelei sich befinde, dazu gehören: eine Kritik, eine Disziplin, ein Kanon und eine Architektonik der reinen Vernunft, folglich eine förmliche Wissenschaft, zu der man von denjenigen, die schon vorhanden sind, nichts brauchen kann und die zu ihrer Grundlegung sogar ganz eigener technischer Ausdrücke bedarf."
Nicht nur der systematische, sondern auch der technische Grundplan der Vernunftkritik steht also KANT jetzt klar vor Augen; und vor allem hat sich ihm die Scheidung von "Analytik" und "Dialektik", vom Gebiet der "Vernunft" und dem der "Vernünftelei" mit Bestimmtheit ergeben. Aber noch immer vermag er das Ganze der literarischen Aufgabe in keiner Weise zu übersehen; - denn wieder folgt die, nun schon einigermaßen fragwürdige Versicherung, daß er zwar nicht vor Ostern, wohl aber im darauffolgenden Sommer mit der ganzen Arbeit fertig zu sein hofft. Immerhin bittet er HERZ, hierüber keine Erwartungen zu erregen, "welche bisweilen beschwerlich und oft nachteilig zu sein pflegen" (23). Dreiviertel Jahre nachher, im August 1777, meldet er, daß die "Kritik der reinen Vernunft" allen anderen Plänen und Arbeiten, die er im Kopf trägt, noch immer als ein "Stein im Weg" liegt, mit dessen Wegschaffung er jedoch eben beschäftigt ist; er glaube jetzt, daß er noch "diesen Winter" damit zustande kommen wird. Was ihn noch aufhält, ist nun nichts weiter, als das Bemühen, allen seinen Gedanken die größte Deutlichkeit für andere zu geben, weil er erfahrungsgemäß auch dasjenige, was man sich selber geläufig gemacht und zur größten Klarheit gebracht habe, wenn es vom gewohnten Weg gänzlich abliegt, selbst von Kennern mißverstanden zu werden pflegt (24). Schon im April 1778 aber muß er dem Gerücht, daß von seiner "unter den Händen habenden Arbeit" bereits einige Bogen gedruckt sein sollten, abermals entgegentreten. Wollte man aber aus dieser letzten Äußerung schließen, daß damals zumindest die ersten Umrisse des Werkes und seine künftige literarische Form für KANT festgestanden haben müßten, so würde man schon durch die folgenden Sätze, die ausdrücklich von einer Schrift sprechen, "die an Bogenzahl nicht viel austragen wird", eines anderen belehrt (25). Im August des gleichen Jahres hören wir von dem Werk als einem "Handbuch der Weltweisheit", an dem er noch immer unermüdet arbeitet: und wieder nach einem Jahr wird seine Vollendung auf Weihnachten 1779 festgesetzt (26). Die Ausarbeitung muß damals jedenfalls begonnen haben: denn schon im Mai des Jahres 1779 hatte HAMANN an HERDER berichtet, daß KANT an seiner "Moral der reinen Vernunft" frisch drauflos arbeitet; im Juni 1780 wird weiter erzählt, daß er sich auf den Verzug etwas zugute tut, weil selbiger zur Vollkommenheit seiner Absicht beitragen wird (27). Die eigentliche Niederschrift kann freilich - von vorbereitenden Skizzen und Entwürfen abgesehen - nur ganz kurze Zeit in Anspruch genommen haben; KANT hat übereinstimmend an GARVE und an MENDELSSOHN berichtet, daß er den Vortrag der Materien, die er mehr als zwölf Jahre hintereinander sorgfältig durchgedacht hatte, "in etwa vier bis fünf Monaten, gleichsam im Flug" zustande gebracht hat. Nach einem Jahrzehnt der tiefsten Meditation, nach immer erneutem Aufschub, wird die Vollendung des Werkes doch nur durch einen plötzlichen Entschluß erreicht, der das Fortspinnen der Gedanken gewaltsam unterbricht. Nur die Furcht, daß der Tod oder die Schwäche des Alters ihn über der Ausarbeitung überraschen könnte, vermochte KANT schließlich dazu, seinen Gedanken einen äußeren Abschluß zu geben, den er selbst nur als vorläufig und als ungenügend empfunden hat (28). Aber auch hierin ist die "Kritik der reinen Vernunft" ein klassisches Buch: denn die Werke der großen Denker erscheinen in ihrer wahrsten Gestalt, wenn ihnen nicht, wie den großen Kunstwerken, das Siegel der Vollendung aufgeprägt ist, sondern wenn sie noch das unablässige Werden und die innere Unruhe des Gedanken selbst widerspiegeln. -
In den einzelnen Vorarbeiten zur Vernunftkritik, die wir noch besitzen, tritt dieser Prozeß in höchster Deutlichkeit und Lebendigkeit zutage. Die Papiere, die RUDOLF REICKE als "Lose Blätter aus Kants Nachlaß" veröffentlicht hat, sowie die von BENNO ERDMANN herausgegebenen "Reflexionen" enthalten Aufzeichnungen, die unverkennbar diesem Stadium der Vorbereitungen angehören; eines von REICKEs "Blätter" läßt sich zudem mit ziemlicher Genauigkeit datieren, da KANT hier für seine Niederschrift die leeren Stellen eines Briefblattes benutzt hat, das das Datum des 20. Mai 1775 trägt. Geht man von diesem Blat aus und gruppiert man um dasselbe die übrigen, mit seinem Inhalt sachlich zusammengehörenden Äußerungen, so gewinnt man ein Ganzes, das uns die Stellng des Gedankens, die KANT in dieser Epoche erreicht hat, nach den verschiedensten Richtungen hin erhellt (29). Wir können an dieser Stelle auf den Inhalt dieser Aufzeichnungen nicht näher eingehen: er ist nur verständlich, wenn man die Problemstellung und die Grundbegriffe der "Kritik der reinen Vernunft" voraussetzt. Aber fast ebenso bedeutsam wie der rein sachliche Gehalt dieser Blätter ist der Einblick, den sie in KANTs Arbeitsweise eröffnen.
"Kant", - so berichtet Borowski über diesen Punkt, - "machte sich zuvor im Kopf allgemeine Entwürfe; dann bearbeitete er diese ausführlicher; schrieb, was a oder dort noch einzuschieben oder zur näheren Erläuterung anzubringen war, auf kleine Zettel, die er dann jener erst flüchtig hingeworfenen Handschrift bloß beilegte. Nach einiger Zeit überarbeitete er das Ganze noch einmal und schrieb es dann sauber und deutlich, wie er immer schrieb, für den Buchdrucker ab." (30)
Die Aufzeichnungen, die wir aus dem Jahr 1775 besitzen, stehen noch ganz in jenem ersten Stadium der Vorbereitung, in dem KANT, ohne Rücksicht auf den Leser und auf die künftige literarische Gestalt des Werkes, den Gedanken lediglich für sich selbst festzuhalten und in den mannigfachsten Ausdrücken zu variieren sucht. Hier herrscht kein bestimmtes, streng eingehaltenes Schema der Darstellung; keine Bindung an eine feste "Disposition" oder Terminologie. Die verschiedensten Ansätze und Versuche kreuzen und verdrängen einander, ohne daß einer von ihnen den endgültigen Vorrang und abschließende feste Gestalt gewinnt. Wer sich KANTs Denken nur als ein festgepanzertes Gefüge von Definitionen, von schulmäßigen Begriffsbestimmungen und Begriffsgliederungen vorzustellen vermag, der muß erstaunt sein über die Freiheit der Bewegung, die er hier vorfindet. Mit einer wahrhaft souveränen Gleichgültigkeit steht er insbesondere allen terminologischen Fragen gegenüber. Je nach den sachlichen Erfordernissen des jeweiligen Problems werden von ihm Bezeichnungen und Unterscheidungen geprägt, um alsbald wieder fallen gelassen zu werden, sobald eine neue Wendung, die der Gedanke genommen hat, es verlangt. Nirgends wird der Fortschritt der Sache durch die Rücksicht auf eine einmal angenommene Schablone gehemmt; sondern der Inhalt schafft sich selbst jederzeit die Form, die ihm gemäß ist. So ergibt sich, wie nebenher und zufällig, eine Fülle von Ideen, die auch gegenüber der späteren, endgültigen Fassung der Gedanken in der Kr. d. r. V. noch ihren eigentümlichen und selbständigen Wert besitzen. Wer freilich hier mit jener Pedanterie, die manche als das Kennzeichen der echten und "exakten" Kant-Philologie anzusehen scheinen, die Festsetzungen KANTs verfolgt, um an einzelnen Begriffen und Ausdrücken, die gebraucht werden, die Verschiedenheiten und "Widersprüche" aufzuweisen - für den können diese Blätter nichts als ein Chaos heterogener Einfälle bedeuten. Liest man sie jedoch so, wie sie gelesen werden müssen: als verschiedenartige Versuche, den werdenden Gedanken festzuhalten und ihm einen ersten vorläufigen Umriß zu geben, so gewinnt man aus ihnen vielleicht ein lebendigeres Bild von der Eigenart und dem Stil des kantischen Denkens, als aus manchem fertigen und abgeschlossenen Werk. Andererseits begreift man freilich, welche gewaltigen inneren und äußeren Schwierigkeiten überwunden werden mußten, ehe ein derartiges Gedankenmaterial das feste Gefüge annehmen konnte, in welchem es uns in der Vernunftkritik entgegentritt. So hatte KANT in der Tat vielleicht nicht unrecht damit, wenn er in letzter Linie die Schwierigkeiten der Darstellung für den langsamen Fortgang des Werkes verantwortlich machte. Schon im Jahr 1775 sind - soviel wir aus den Aufzeichnungen dieser Zeit urteilen können - die allgemeinen Umrisse des kritischen Systems festgestellt; aber erst im Dezember 1780 erscheint, nach den Andeutungen, die HAMANNs Briefwechsel mit HARTKNOCH enthält, die Drucklegung der "Kritik der reinen Vernunft" begonnen zu haben. Am 1. Mai 1781 kann KANT in einem Brief an HERZ das baldige Erscheinen des Werkes melden.
"Diese Ostermesse wird ein Buch von mir unter dem Titel Kritik der reinen Vernunft herauskommen . . . Dieses Buch enthält den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen anfingen, welche wir zusammen, unter der Benennung des mundus sensibilis und intelligibilis abdisputierten, und es ist mir eine wichtige Angelegenheit, demselben einsehenden Mann, der es würdig fand, meine Ideen zu bearbeiten und so scharfsinnig war, darin am tiefsten hineinzudringen, diese ganze Summe meiner Bemühungen zur Beurteilung zu übergeben."
So knüpft KANT hier rückblickend sein Werk an seine philosophische Vergangenheit an. Aber wenn der nunmehr Siebenundfünfzigjährige die Schrift, die aus dem Nachdenken von zwölf Jahren hervorgegangen war, zunächst als Abschluß seiner Lebensarbeit betrachten mochte, so hat er nichtsdestoweniger in diesem Urteil sich selber unrecht getan: denn sie ist für ihn selbst, wie für die Geschichte der Philosophie der Anfang einer ganz neuen Entwicklung geworden.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin 1921
Anmerkungen
1)
An den Minister von Fürst, 16. März 1770; an Friedrich II., 19. März 1770 ( Werke Cassirer IX, 68 und 70).
2)
Siehe Reicke, Kantiana, Seite 7; Ernst Ludwig Borowski, Über Immanuel Kant [von Kant selbst genau revidiert und berichtigt], Königsberg 1804, Seite 31; es besteht kein Grund mehr, den Inhalt dieser Berichte anzuzweifeln, seitdem Arthur Warda (Zur Frage nach Kants Bewerbung um eine Lehrerstelle an der Kneiphöfischen Schule, "Altpreußische Monatsschrift", Bd. XXXV, Seite 578f) aus den Akten der Kneiphöfischen Schule nachgewiesen hat, daß Kahnert seit dem Jahr 1757 dort als Lehrer angestellt war. Ein positives Zeugnis dafür, daß Kant sich um die Stelle bewarb, hat sich allerdings in den Akten nicht gefunden.
3)
Kants Bewerbungsschreiben an König Friedrich II. vom 8. Aprio 1756 (IX, Seite 2).
4)
Kants Schreiben an Rektor und Senat, an die philosophische Fakultät in Königsberg und an die Kaiserin Elisabeth von Rußland (siehe IX, Seite 3-5). Daß das Schreiben an die Kaiserin von Rußland gerichtet werden mußte, war eine Form, die von den russischen Behörden ausdrücklich gefordert und in einer besonderen Verordnung eingeschärft worden war; näheres hierüber bei Arthur Warda, Altpreußische Monatsschrift, Bd. XXXVI, Seite 498.
5)
Über den Plan, Kant die Professur der Dichtkunst zu übertragen und die Reskripte und Verfügungen, die sich hierauf beziehen, siehe Schuberts Kant-Biographie, Seite 49f.
6)
Das Bewerbungsschreiben an König Friedrich II. und an den Minister Freiherrn von Fürst vom 24. bzw. 29. Oktober 1765 siehe IX, Seite 40, 41 (vgl. auch Warda, a. a. O. XXXV, Seite 477f).
7)
An König Friedrich II., 14. April 1772 (IX, Seite 109); näheres über Kants Stellung und Tätigkeit als Unterbibliothekar bei Vorländer, Kants Leben, Leipzig 1911, Seite 79f.
8)
An Suckow, 15. Dezember 1769 (IX, 66).
9)
Zedlitz an Kant, 28. März 1778 (XI 171).
10)
an Marcus Herz, April 1778, (IX, 174).
11)
an Marcus Herz, 7. Juni 1771 (IX, 96).
12)
Siehe Mendelssohn an Kant, 25. Dezember 1770 (IX, 90f); Lambert an Kant, 13. Oktober 1770 (IX, 80f).
13)
siehe die transzendentale Ästhetik § 7; (III, 67f)
14)
vgl. Dissertation § 14, Nr. 6: "Obgleich die Zeit, ansich und ohne Beziehung gesetzt, ein Gedankending ist, so ist sie doch, insofern sie zum unveränderlichen Gesetz des Sinnlichen als solchem gehört, ein höchst wahrer Begriff, der sich über alle möglichen Gegenstände der Sinne ohne Ende erstreckt und die Bedingung der anschaulichen Vorstellungen"; siehe auch den analogen Satz für den Raum: Dissertation § 15 E.
15)
Zum Gegensatz des "usus logicus" und des "usus realis" der Verstandesbegriffe siehe Dissertation § 5 (II, 409f).
16)
Siehe Kr. d. r. V., Vorrede zur zweiten Auflage (III, 15f).
17)
vgl. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, § 9 (IV, 31).
18)
Kr. d. r. V., Einleitung, Seite VII (III, 49).
19)
siehe Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/66 (II, 326).
20)
De mundi sensibilis etc. § 9 (II, 412).
21)
An Lambert, 2. September 1770 (IX, 73).
22)
Lavater an Kant, 8. Februar 1774 (IX, 117).
23)
an Herz, 24. November 1776 (IX, 151).
24)
an Herz, 20. August 1777 (IX, 158).
25)
an Herz, April 1778 (IX, 174).
26)
an Engel, 4. Juli 1779 (IX, 191).
27)
Hamann an Herder, 17. Mai 1779, 26. Juni 1780, Schriften (ed. Roth) (VI, 83, 146).
28)
an Garve, 7. August 1783; an Mendelssohn, 16. August 1783 (IX, 223 und 230).
29)
Näheres hierüber bei Theodor Haering, der die betreffenden Blätter neu herausgegeben und kommentiert hat: Der Duisburgsche Nachlaß und Kants Kritizismus um 1775, Tübingen 1910.
30)
Borowski, a. a. O., Seite 191f.
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