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JULIUS SCHULTZ
Die drei Welten
der Erkenntnistheorie

[Eine Untersuchung über die Grenzen
zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaft]

[2/2]

"Die Immanenten ... halten doch im letzten Grund an der Absicht fest, etwas Äußeres, Objektives gewissermaßen abzubilden; die Wissenschaft ist eine Vitrine, in welche Naturalien möglichst unverfälscht hineingelegt werden: der Herr Konservator mag sie präparieren und zerlegen und ordnet sie übersichtlich; dann hat er seine Schuldigkeit getan. Wir Andern finden diesen Erkenntnisbegriff naiv; denn uns rinnt in jedem Element des Anschauens bereits Subjektives und Objektives zusammen."

"Ich jedoch gebrauche das Wort in einem anderen Sinn. Ich nenne wirklich (und Definitionen sind ja frei!) zunächst, was ich, der empirische Julius Schultz unmittelbar erlebe: die allerwirklichste Wirklichkeit bin ich immer mir selber."

"Wer nur unbedingte Erkenntnis gelten lassen will, mag sich mit A = A begnügen; wir aber wissen, daß auch das allertiefste uns ersinnliche "Erkennen ein subjektiver Akt bleibt, abhängig von unserer Konstitution; und daß alles Erkennen daher seinem Wesen nach relativ sein muß. Uns ist deswegen das Wissen von der ersten Welt ein volles und befriedigendes Wissen."

"Also beruth die Wahrheit in der Tat auf unserer menschlichen Organisation. Und die Rede von einer Wahrheit, die nicht Wahrheit für jemanden wäre, ist widersinnig. Wer aber das Wort Wahrheit anders definiert, etwa als Identität einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand, der begnüge sich, ins Gewühl seines Empfindens und Wollens wortlos hineinzustarren - oder spiele sein Leben lang mit dem geliebten Widerspruchssatz."


I. Die erste Welt
[Fortsetzung]

8. Substanz und Ursache. Aus dem "Ich" entspringt die anthropomorphe Doppelkategorie. Wir fühlen uns als beharrend im Wechsel unserer Zustände; und lernen im Verkehr mit der Außenwelt und im Gliederstrecken, was "Wirken" ist. Und so bilden wir den Begriff der wirksamen Substanz, die dauert, während Eigenschaften sich ändern; und den der Ursache, "durch" die oder "aus" der die Vorgänge folgen. Da wir nun aber unsere Schmerzen und Strebungen nicht in einem mathemtischen Punkt unseres Kopfinnern, sondern im ganzen Bereich unseres Leibes verspüren: so wird uns unwillkürlich dieser vertraute Leib selber zur Substanz; und ihn oder seine Bewegungen - je nachdem! - fassen wir als Ursache, den Flug eines geschleuderten Steins etwa als Folge. Selbstverständlich projezieren wir dieses Schema dann weiter in alle menschlichen - und beinahe ebenso selbstverständlich in die tierischen Leiber. Aber sollten wir dabei Halt machen? Die "leblosen Körper" leisten doch Widerstände, weichen, fallen, tragen Farben und tönen wie die lebendigen! Wie sollten einzelne Substanzen im Genebel von Schatten hausen? Sind Mauern oder Bäume gleichsam weniger "wirklich" als Personen? - So substanzialisieren wir also die Welt und füllen sie mit Kräften.

Das Substanzschema macht das Dauerding zu einer Realität im genaueren Wortsinn. Ein von meinem Wahrnehmen oder Wegblicken unabhängiges Ding ist ja schließlich der Regenbogen oder ein Spiegelbild auch: und letzteres könnte Jahrhunderte dauern, wenn der Spiegel nur nicht zerbrechen würde und immer für Beleuchtung gesorgt wäre. Aber eine Substanz wird es dadurch nicht. Die dauert im Wechsel - und wirkt! gleichviel, ob kurz oder lang; auch eine Wolke, die im Nu zerfließt, war doch Substanz. Überhaupt bekommt der Unterschied von Sein und Schein erst mittels der Substanzform seinen vollen Sinn. Und so erklärt nun auch der natürliche Mensch seine Wahrnehmungen und ihre individuellen Verschiedenheiten: die Dinge sind ihm real, die Perzeptionen so etwas wie Abbilder (wie eine Spiegelung zustande kommt, läßt man meistens auf sich beruhen); und nun gibt es eben gute und trübe Spiegel! - Die Ursächlichkeit aber verwandelt das Regelmäßigkeitsschema. Wenn zwei Vorgänge erfahrungsmäßig zusammen geschehen, so unterscheiden wir: bald ist der eine die Folge des andern, bald begleitet er diesen nur. Der Begriff des "Symptoms" bekommt erst Sinn, wo man die Kausalität von ordnungsmäßiger Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] oder Koexistenz zu trennen weiß.

Über diese Doppeldenkform nun herrscht ein ernsthafter Streit: da handelt es sich keineswegs um Mißverständnisse! Die Einen wollen die "Fetischismen" des Wissens ausrotten und sich mit den Begriffen "Ding" und "Gesetz" begnügen (oder "Eindeutigkeit", wie PETZOLDT sich schärfer ausdrückt); wir Anderen sind überzeugt, daß unser Denken der Substanz und Ursache auf ewig bedarf. Irre ich? oder trennen sich gerade an diesem Punkt die beiden unversöhnlichen, unüberzeugbaren Weltanschauungen, die seit dem Anfang alles europäischen Denkens miteinander gefochten haben und sich noch heute so feindselig gegenüberstehen, wie in den Tagen des PARMENIDES und HERAKLIT?

Wesen oder Bilder? Wandlung oder Wechsel? "Durch" oder "nach"?

Fast glaube ich, gleich bei jenem ersten Zwist um das "Gegebene", den ich auf ein Mißverständnis zurückführte, handelt es sich bereits um die große Alternative. Beide Parteien wußten ja, sie würden in der Welt des Naiven Wesen und Wirken antreffen; und darum wünschte der Sensualist mit dem Urchaos der Empfindungen zu beginnen; dann brauchte er in seine Welt die verhaßten Götzen gar nicht erst hineinzubringen.

Wer aber schlichtet den Streit?

9. Fortsetzung. Je länger ich nachsinne, umso wahrscheinlicher wird mir, daß der Gegensatz bis in die vorlogischen Wurzeln der Persönlichkeiten hinunterreicht. Die tief egoistischen Menschen (keine Angst! sie können dabei herzensgute Kerle sein!), denen starke Triebe und ein ausgeprägter Sinn fürs Individuelle zu ihrem Heil oder Unheil mitgegeben wurde: die neigen offenbar dazu, das Ichhafte in den Dingen zu betonen und allen Wechsel als Wirkung nachzuleben; sie möchten innerlichst verstehen, nicht bloß erfahren. Und die Feinen, Beschaulichen, Skeptischen einerseits, andererseits die Nüchternen, Kühlen, Lebensarmen fühlen sich am wohlsten im Nach- und Beieinander bloßer Schatten; die wollen Tatsachen wissen, nicht Zusammenhänge begreifen.

Ein Mißverständnis kommt natürlich dazu, um den Streit zu vergiften. Man meint mit dem Wort "Erkenntnis" hier und drüben etwas Verschiedenes. Die Gegner, so immanent sie sich zum Teil gebärden, halten doch im letzten Grund an der Absicht fest, etwas Äußeres, Objektives gewissermaßen abzubilden; die Wissenschaft ist eine Vitrine, in welche Naturalien möglichst unverfälscht hineingelegt werden: der Herr Konservator mag sie präparieren und zerlegen und ordnet sie übersichtlich; dann hat er seine Schuldigkeit getan. Wir Andern finden diesen Erkenntnisbegriff naiv; denn uns rinnt in jedem Element des Anschauens bereits Subjektives und Objektives zusammen; das Verarbeiten und Bewältigen der sogenannten Wirklichkeit ist uns die Hauptsache.

Und nun staunt man natürlich über unsere Kindlichkeit, daß wir an Anthropomorphismen [Vermenschlichungen - wp] festhalten, die wir doch als solche klar erkannt haben! Wir glauben ja gar nicht im Ernst, daß ichhafte Kräfte in den Dingen stecken: warum tun und sagen wir dann aber so? Darum: weil diese "Introjektion" eben unser Mittel - unser einziges Mittel - ist, die Vorgänge zu verstehen, die jene bloß beschreiben und vorausberechnen wollen. Sie halten so ein einheitliches Verständnis für wertlos; aber Werte lassen wir uns nicht zudiktieren; mag jemand unser Bemühen metaphysisch oder poetisch schelten; meinetwegen; auch so gilt es uns - was es uns eben gilt. Und erscheint den Einen das Anthropomorphisieren der Anderen lächerlich, so finden wieder diese die Todesangst vor aller Metaphysik nicht wenig seltsam, die aus jeder Zeile der Positivisten spricht. Mein Gott! Der gefürchtete HEGEL ist ja nun seit 75 Jahren tot; so bangt Euch doch nicht immer noch vor seinem Gespenst! Unklarheit ist schlimm; wer jedoch gewisse Denkmittel deutlich als Vermenschlichungen erkennt; aber zugleich auch deutliche Gründe anführt, weshalb sie unserem Verstand unentbehrlich bleiben; sie alsdann bedächtig benutzt; und sich dabei hütet, notwendige Konstruktionen des Denkens mit Wirklichkeiten der Wahrnehmung zu verwechseln: der beschwört auch den alten Sophisten nicht wieder aus seinem Grab! Nur ruhig! - -

10. Fortsetzung. Aber ich schweife ab! Ich wollte ja eigentlich nur meine Gründe aufzählen, weshalb die anthropomorphe Doppelkategorie nicht aus der Welt geschafft werden kann. Hier sind sie:

1) Der psychologische Grund steckt schon im Vorhergehenden. Wir nahmen nach freier Übereinkunft als das vorläufig Gegebene die "erste Welt" an, will sagen: die von der Wissenschaft objektiv gemachte Sinnenwelt der empirischen Philosophen. An diese Einzelpersönlichkeiten wende ich mich; wer auch anders sollte mit mir disputieren? Das allgemeine Bewußtsein oder die "Reihen der Vorkommnisse" gewiß nicht! Nun kann ich doch kaum zweifeln, daß jeder, den es angeht, "sich", das heißt den so und so alten, blonden oder brünetten, von WUNDT oder SCHUPPE oder AVENARIUS belehrten, in Greifswald oder Czernowitz lebenden Menschen als ein handelndes, leidendes, empfindendes Wesen fühlt, genau wie ich das tue: oder ich wäre geisteskrank, und mich plagte eine besondere fixe Idee? Es ist möglich, daß diese unmittelbare Gewißheit sich uns später als eine Jllusion entpuppt; daß eine schärfere Analyse unser liebes Ich in disparate Elemente zerfasert. Aber wenn das je geschehen solte: dann ist es zugleich endgültig aus mit unserer Kinderwelt, in der wir uns einstweilen noch aufzuhalten wünschten: nur das behaupte ich. Und unter die gedanklichen Voraussetzungen dieser Welt (denen ich mich hier widme) darf ich folglich uns lebendige Doktoren oder Proressoren mit ruhigem Gewissen rechnen, wie auch unsere Eltern, Frauen und Freunde und die übrigen Menschen. Wenn wir nun aber die Vokabel "Wirklichkeit" aussprechen, so meinen wir damit in erster Linie das beständige Erlebnis, das wir in der Summe unserer Leibesempfindungen genießen. Mir begegnet es wohl im Halbschlaf, daß ich nicht genau weiß, ob ich wache oder träume; dann schlage ich etwa an die Bettkante und bin sogleich überzeugt: diese Hand - und folglich alles rumum - ist "wirklich"! Und was meinem Körper gleich wirklich sein will, muß es durch die Wirksamkeit auf diesen Körper beweisen. Der im Wasser gebrochene Stab ist "in Wirklichkeit" nicht da, wo er erscheint: einfach, weil er dort meinem Finger keinen Widerstand leistet. Wenn ich einem Hund oder einem Stuhl aus dem Weg gehe, so sage ich damit schon, daß diese Dinge Wirklichkeiten für mich sind, so gut wie mein eigener Leib, im Gegensatz etwa zu einer Halluzination, der ich nicht auszuweichen brauchte. Und etwas Anderes als diese immerwährende Voraussetzung, auf der unser natürliches Weltbild und alles Handeln beruth, bezeichnet der philosophische Begriff der Substanz ja eigentlich nicht.

2) Zwei allgemeine erkenntnistheoretische Gründe kommen hinzu. - Die Begriffe der Möglichkeit und der Notwendigkeit lassen sich in keiner Wissenschaft vermeiden; auf dem ersten beruth unter anderem die Infinitesimalrechnung. Analysiert man jedoch den Sinn der zwei Worte, so findet man darin das Können und das Müssen. Untersucht man weiter diese Verba, so entdeckt man, daß sie nur unter einer Voraussetzung einen Inhalt gewinnen: der nämlich von wirksamen Substanzen, die im Wandel von Tätigkeiten beharren. - Nun versteht es sich von selber: die Wissenschaft kann (schon wieder "kann"!) alle Methoden nutzen, deren sie bedarf; und braucht nicht gerade jeden ihrer Urbegriffe scharf zu beleuchten. Aber wichtig bleibt die Tatsache, daß sich sogar die Mathematik, wenn sie restlos folgerichtig sein will, substanzielle Wesen einbilden muß, die im Teilen oder im Weiterschreiten nicht gehindert werden "könnten", wenn .... Überhaupt, wer das Denken als solches zerlegt, wie tausendfach käme der auf dieses substanzial-kausale "Ichkönnte"!

Daß die zwei Begriffe in der Wahrheitstheorie etwas Anderes bedeuten, was mit Substanz und Ursache nichts zu schaffen hat, weiß jedermann.

3) Wollten wir die Ursächlichkeit mit den älteren Positivisten nur als Regel in der Sukzession der Erscheinungen auffassen, so würden singuläre Ereignisse ohne Ursache und Folge sein. Einmal begann auf Erden das erste organische Leben. Niemand kann wissen, ob je irgendwo genau die gleichen Umstände vorlagen. Und wenn nicht: so hatte die Existenz der frühesten Protisten [Einzeller - wp] oder Biophoren [Lebensträger - wp] keine Ursache? Sobald man aber zu zeigen versucht, wie dann doch die Bedingungen zu ihrer Erzeugung geeignet waren: so operiert man nicht mehr mit der gesetzlichen, sondern mit der notwendigen Folge; will sagen: man denkt kausal, ob man es nun eingesteht oder nicht.

Neuestens setzt die Schule die "eindeutige Zuordnung" anstelle der gleichartigen Aufeinanderfolge. Aber damit wird hier nicht viel gebessert. Es ließen sich Komplexe ersinnen, die eben einsam ständen; am Ende wäre die Urzeugung ein solcher? Denke ich ursächlich, so kann ich erklären, die Ursachen eines derartigen Ereignisses wären mir zwar unbekannt, aber sie müßten notwendig zumindest in der Idee aufsuchbar sein. Dächte ich dagegen wie PETZOLDT, so würde ich mich bei der Unerklärlichkeit des einzigartigen Faktums bequem beruhigen dürfen; denn wo steht eigentlich geschrieben, daß jedem Geschehen irgendein anderes zugeordnet sein muß? Und wäre es etwa ökonomisch, das Universum mühsam nach Zuordnungen zu durchstöbern für Vorgänge, die ohnehin jeder leicht behält und die sich vielleicht so niemals wiederholen werden?

4) Die historischen Wissenschaften setzen handelnde Individuen, das heißt Prototypen von Substanz und Ursache voraus. Und natürlich könnte man nicht etwa auf den Gedanken geraten, einen König substanziell, seinen Thron dagegen oder sein Pferd bloß dinglich aufzufassen. Das wäre ja, als wollte man in einem Gemälde die Figuren farbig, den Hintergrund nur mit Tusche ausführen. Dächte aber jemand als die wirksamen Substanzen der Historie nur die "Seelen", so verließe er alsbald unsere "erste Welt" - was gegen die Abrede wäre.

5) In der Geschichte und Naturbeschreibung gebraucht man häufig den Begriff der "Entwicklung". Dieser nun hat Sinn nur für jemand, der substanzial denkt. Ein Wesn dauert - im Wechsel seiner Form. Der Positivist muß den Erwachsenen und das Kind, den Baum und seinen Samen als gänzlich verschiedene Dinge ansehen, die aufeinander gefolgt sind. Das gelingt auch - aber nur mittels des Hilfsbegriffs der zu- und abströmenden Teilchen; und dieser führt einerseits abermals über die erste Welt hinaus und andererseits in eine neue Substanzialität hinein. Das wissen die Positivisten auch recht gut: vor nichts ängstigen sie sich so abergläubisch wie vor den Atomen!

Sie sagen nun wohl: dadurch, daß die Veränderungen der Dinge allmählich fortschritten, entstände unsere Gewohnheit, eine Dauer im Wechsel zu fordern; genau genommen aber wäre das erwachsene Pferd einfach ein anderer Komplex von Empfindungen als das Füllen; eine durchgreifende Einheit brauche man da nicht anzunehmen. - Doch scharf durchdacht ist diese Lehre nicht. es müßten zumindest prinzipiell die Stücke angegeben werden können, die anschließen oder wegfallen, die Zeit, während deren der Komplex ohne Veränderung dauert, das Kennzeichen für Verlust oder Gewinn. Und dabei würden wir immer wieder in die Atomistik geraten. - Oder soll ein unmerkliches, kontinuierliches Strömen stattfinden? Welches Prinzip hält dann aber die Formen zusammen? Der Atomist mag hoffen aus seinen Lagen und Kräften das organische Wachsen zu verstehen; was macht dagegen der Positivist mit der Pflanze, die beständig schwillt und abnimmt, um sich immer wieder in bestimmte Gestalten zu schmiegen? Man jagt die mechanische Substanzialität und Ursächlichkeit mit Fußtritten zur Tür hinaus; und derweilen klettert die nicht weniger substanziale und wirksame Entelechie [Zweckbestimmung - wp] wieder zum Fenster herein. - "Aber wir reden ja nicht von einer erträumten objektiven Welt, sondern vom Wechsel unserer Empfindungen"! Dann allerdings bitt' ich schön um Entschuldigung; aber dann haben wir die erste Welt bereits verlassen; und das wollten wir doch jetzt noch nicht.

6) In allen beschreibenden Wissenschaften bedarf man so gut wie im täglichen Leben des Begriffs des Symptoms; das heißt: man ordnet zwei Vorgänge einander zu, von denen man doch weiß, daß sie einander nicht gegenseitig verursachen, sondern beide ein gemeinsames Drittes als Ursache haben. Wenn das Laub bei uns gelber wird, so ziehen die Vögel nach Süden: eine gesetzmäßige Zuordnung! Aber nur ein Blödsinniger könnten denen einen Vorgang als Ursache den andern als Folge fassen. Und jeder fühlt, daß die andere Zuordnung: "Frost und Blattfärbung" vor jener ersten etwas Eigentümliches voraus hat. Und dieses X ist eben das, was wir die Kausalität im Gegensatz zur bloßen Gesetzlichkeit nennen. Oder ein Beispiel aus der Physik! Für jeden Lichtstrahl sind Schwingungszahl, Brechbarkeit, Farbe einander eindeutig koordiniert. Und doch würde sich niemand leicht entschließen, etwa das letzte Glied als Ursache des vorletzten zu setzen; vielmehr empfindet man, daß in der Schwingungszahl die gemeinsame Ursache der beiden anderen Erscheinungen stecken muß. Nun weiß ich wohl, der Positivist könnte sich herausreden: jeder der zwei "bewirkten" Glieder wäre für sich eliminierbar, das "verursachende" nicht. So hätte man z. B. auch erfahrungsmäßig festgestellt, daß bei den Wirkungen der "Schwerkraft" die Farbe und Wärme der Körper gleichgültig, weil ausschaltbar, ist, usw. Und gewiß läuft es dabei ja auf letzte "Erfahrungen" hinaus; nur sind die vor dem bewußten Menschendenken gemacht; am Gliederstrecken haben wirs schon in unmündiger Kindheit gelernt, daß eine bloße Färbung keine wirksame Kraft ist; und nun fühlen wirs instinktiv als Unsinn, daß das Violett als solches das Chromsilber der photographischen Platte zersetzt; verlangen nach etwas "Aktivem", was dergleichen bewirken könnte; und sind beruhigt, wenn wir von Wellen oder ähnlichem hören. Dergleichen "kann". Und da steckt eben die Kausalität.

Ich hebe hervor, daß dieses sechste Argument nicht zwingend ist. Wenn Männer wie MACH oder PETZOLDT das Bedürfnis, das ich zu schildern suchte, bei sich ableugnen; wenn sie erklären, sie fänden es ansich ganz denkbar, daß z. B. die Ausdehnung des Quecksilbers im Thermometer einen chemischen Vorgang einleitet weshalb sie diesen nur deswegen mit Wärme verknotet haben, nicht mit jener Extension, weil er bei jeder Erhitzung eintritt, auch unabhängig vom Dasein eines Thermometers; dann bin ich auf den Mund geschlagen, das geb' ich zu. Man muß es mit mir innerlich erleben, daß von allen regelmäßigen Zusammenhängen bestimmte vor den anderen ausgezeichnet sind, indem bei ihnen eine Wirkungsmöglichkeit vorleuchtet, bei anderen von vornherein nicht: und dann wird man sich über den Unterschied zwischen Kausalität und regelmäßiger Folge oder Zuordnung sehr klar sein. Wer's nicht erlebt, wirds auch ableugnen dürfen.

7) Aber sogar der Leugner müßte zumindest das eine zugeben: viele der eindeutigen Koordinationen sind zugleich absolut eigensinnig. Man will den Ausdruck "Ursache" möglichst vermeiden; man findet ihn undeutlich, fetischistisch; doch absurd hat noch niemand genannt; und seine Gegner brauchen ihn ja selber, wo es ihnen nicht gerade auf wissenschaftliche Schärfe ankommt, tausendmal. Nun gut, so werden sie es mir als verzeihliche Lässigkeit zumindest durchgehen lassen, wenn ich die Wellenlänge eines Lichtstrahls die Ursache seiner bestimmten Brechbarkeit nenne. Die umgekehrte Behauptung jedoch wäre nicht lässig, sondern sinnlos. Drückte man nun das Verhältnis als Funktion aus, so müßte die eine Variable mittels eines besonderen Index als die dauernd und ihrem Wesen nach unabhängige, die andere als ewig abhängige charakterisiert werden. Und dieser Index wäre dann das mathematische Zeichen für die Kausalität! Nun aber nehme man eine umkehrbare Gleichung! Wenn ich einen Elektrolyten in einen Stromkreis einschalte und wenn ich andererseits zwei Elektroden in die Lösung tauche und durch die Zersetzung erst einen Strom erzeuge: so können die Gleichungen dieselben sein, nur daß einmal die eine, einmal die andere Variable abhängig wird; ebenso steht es, wenn ich jetzt Wärme in mechanische Arbeit umsetze, dann umgekehrt; wenn ich zuerst den Druck auf eine gegebene Gasmenge verdopple und so ihr Volumen halbiere und hernach bei konstant gemachten Räumen die Drücke vergleiche. Die Mathematik wird, um den Tatbestand vollständig zu beschreiben, stets die eine Variable zur unabhängigen, die andere zur abhängigen machen müssen; und was sie nötigt, ist eben nicht das Funktionsverhältnis ansich - denn dieses wäre ja völlig neutral; auch nicht unsere Willkür; denn wir wissen von vornherein gar nicht so sicher, ob die Umkehrung erlaubt ist; für den Fall der Elektrolyse z. B. ist sie es nur unter bestimmten Bedingungen. Nein: das darüber gebietende Prinzip ist im Grunde nichts anderes als die verkleidete Kausalität.

8) Und wie steht es mit den Grundlagen der Mechanik?

Die Erfahrung lehrt und nur relative Bewegungen kennen. Also können wir niemals wissen, welche von zwei Massen die andere objektiv stärker beschleunigt. Es kommt auf unsere willkürlich gewählten Koordinaten an. Folglich haben wir keinen absoluten Maßstab für die Massen: denn wonach sollen wir sie definieren als nach ihrer gegenseitigen Einwirkung? - Für irdische Verhältnisse ließe sich ja ein Ausweg finden: die Erfahrung lehrt, daß die Körper einander in Bezug auf die Erde verschieden beschleunigen. Die Rede aber versagt für den Weltenhimmel. Denn wie sollen wir wissen, ob die Sonne die Erde umkreist oder umgekehrt? Beides ist richtig, sagt MACH, nur ein besserer Haushalter als PTOLEMÄUS war KOPERNIKUS! Hiernach steht es uns dann auch frei, wie wir das Verhältnis der Massen der beiden Gestirne annehmen wollen. Nun aber kennt man deren Größenverhältnis. Und dieses macht es nach allen irdischen Analogien fast unmöglich, die Erde für den massigeren Körper zu halten. Da hätte dann also doch die Gegenwart gegenüber dem Altertum im eigentlichen Wortsinn "recht"? Und in der Beschleunigung läge wirklich etwas Absolutes! So werden wir vom Begriff der Masse aus genötigt, die gegenseitigen Beschleunigungen der Gestirne unseren Konventionen zu entziehen und zu objektivieren; und damit werden wir unweigerlich auf das Postulat des absoluten Raums hingetrieben: für den auch NEUMANNs Alpha, LANGEs "Inertialsysteme" und all die lieblichen Schwestern dieser Konstruktionen schließlich bloß Masken sind. Die Begriffe aber der absoluten Bewegung und Ruhe sind unsinnig ohne den dynamischen Massenbegriff. Wenn ich Kräfte in die Materie lege, so kann ich einen von allen Seiten stark beeinflußten Punkt in absoluter Ruhe denken; und indem ich einen solchen nur für einen Moment fordere, fürs ganze Universum und für alle Ewigkeit mein Achsenkreuz festlegen. In Gedanken, versteht sich: aber mehr ist auch nicht nötig. Sind mir die Körper dagegen nichts als "Dinge", so sind die Wörter "absolute Ruhe", "absolute Bewegung", "absoluter Raum" einfach Vokabeln ohne Sinn; man könnte ebenso gut chinesisische an ihre Stelle setzen.

9) Gegen die positivistischen Energetiker bedarf es ausführlicher Argumentationen: wenn die interessieren, mag sie in meiner Schrift über die Bilder von der Materie nachlesen.

11. Die vier philosophischen Grundfragen. Wenn jemand die genannten acht Formen noch für zu wenig hält, so streit' ich nicht mit ihm. Gleichviel: aus diesen, vielleicht auch noch anderen Elementen und den Empfindungen setzt sich in irgendeiner Weise unsere erste Welt zusammen. Wollen wir jedoch in ihr verharren, so müssen wir vier Fragen entweder vermeiden oder nur scheinbar, gewissermaßen symbolisch beantworten. Denn gehen wir ihnen nach, dann zerspringt unsere Wirklichkeit wie eine Glasträne, die man an der einen, tödlichen Stelle zerkneift. Es sind aber folgende Probleme:

1) Wie verbinden sich die Gedankenelemente mit den sinnlichen Qualitäten? - Die naive Antwort würde etwa lauten: das Gedankliche hält die Eigenschaften zusammen und gibt der Welt gewissermaßen ihre Form.

2) Wie verhält sich in uns das Bewußtsein zum Leiblichen? - Man könnte harmlos erwidern: wie die Kategorien zu den Eigenschaften. Das Seelische macht den Leib zu einem einheitlichen Organismus; zu trennen ist beides an keiner Stelle.

3) Wie erkennen wir das Gedankliche in den Objekten? - Jemand möchte annehmen, es präge sich unserem Verstand ein; oder würde in irgendeiner Weise von unserem Denken gepackt. Das wäre die "haptische Erfahrungstheorie", wie sich SCHWARZ nicht übel ausdrückt.

4) Wie nehmen wir die Qualitäten wahr? - Ebenfalls "haptisch" oder durch Impression von Abbildern in den Sinnesorganen! würde der Naive antworten.

Die Auskünfte sind überaus albern; jeder Farbenblinde z. B. wäre ein lebendiger beweis gegen die "Hapsis". Aber dennoch bieten sie die einzige Möglichkeit, unsere empirische Welt, wie sie da als "Gegebenes" vor uns liegt, zugleich als ein Letztes zu konservieren. In dieser Absicht hat ARISTOTELES sie gegen den sophistischen Erkenntnistheoretikern geformt. Ein moderner Realist würde vorziehen, grundsätzlich jede Antwort zu verweigern. Und wer wollte ihn tadeln, wenn er erklärt: sowenig das Auge sich selber sehen kann, genau ebensowenig vermag unsere Erkenntnis sich selber zu erkennen; als Urphänomen ist sie da - wie ja Leben und Wissenschaft beweisen; vor ihr breitet sich das Unermeßliche als Gegenstand; über das Denken selber jedoch zu denken wäre ein unsinniges Unternehmen.

Nicht den Worten, aber dem Sinn nach stimmt damit KANT überein, wenn er alles Wissen prinzipiell auf die Welt der Erfahrung beschränkt. Nur daß ihm diese "erste" nicht auch zugleich die allerletzte und endgültige Welt sein konnte. Denn sonst müßten wir jene vier Probleme eben zu lösen vermögen. Deshalb nennt der Kritiker der reinen Vernunft dasjenige, was der Realist "Wirklichkeit" tauft (unsere "erste" Welt): "Phänomen". - Ich bitte um Verzeihung, aber ein wenig stark finde ich es, daß man diesen Phänomenalismus noch immer häufiger als Skeptizismus versteht! So sagt etwa FREYTAG: wenn der Phänomenalist an Kausalität glaubt und demgemäß induzieren will, so muß er jene Außenwelt als wißbar ja doch annehmen, deren Wißbarkeit er leugnet. Aber du gütiger Gott! Wann hat denn KANT die Erforschlichkeit der "Außenwelt" bestritten? Sie ist ihm ja gerade das wahre Feld für all unsere Kategorien; ist auch völlig "wirklich" im Sinne der Wissenschaft; "Erscheinung" heißt sie bloß, weil sie nichts letztlich Absolutes sein kann und das kann sie nicht, weil jedes Durchdenken der vier Rätsel sie auflöst, wir werden es sehen. Im Übrigen verfährt unser Leben und Denken mit diesem "Draußen" vollständig gleich, ob wir ihm nun den Titel Wirklichkeit verleihen oder es als Phänomen charakterisieren.

12. Phänomen und Wirklichkeit. [vgl. 10, 1)] "Aber wirklich wirklich kann doch nur Eines sein, entweder jenes kantische X oder unsere erste Welt!" - Jetzt gibt es einen Wortstreit! Daß unsere Erfahrung irgendwie bedingt ist, muß sich bald zeigen. Daß wir jenseits der Erfahrung nichts erfahren können, hat KANT bewiesen. Wenn ihr also Wirklichkeit und Unbedingtes in eins setzen wollt, so werdet ihr schließen müssen, daß die Wirklichkeit (aber nicht die Außenwelt!) unerkennbar ist. Ich jedoch gebrauche das Wort in einem anderen Sinn. Ich nenne wirklich (und Definitionen sind ja frei!) zunächst, was ich, der empirische JULIUS SCHULTZ unmittelbar erlebe: die allerwirklichste Wirklichkeit bin ich immer mir selber. Offenbar jedoch bin ich zugleich just so phänomenal wie alle anderen Menschen und Dinge. Folglich geht die Wirklichkeit in meinem Wortsinn ins Phänomen ein. Nun erkenne ich allerdings ein Bedürfnis an, auf für die Wirklichkeit jenes Endgültigen, Unerkennbaren, das dem Phänomen irgendwie zugrunde liegen mag, einen Namen zu finden. Aber da die Sprache sich nur auf das Phänomen bezieht, so kann man niemals einen recht befriedigenden bilden. KANTs "Ding-ansich" bemängelt man; wollte ich stattdessen "Wirklichkeit zweiten Grades" sagen, so würde man es wieder für unsinnig erklären, daß die Wirklichkeit Stufen haben sollte. Und doch wäre es nicht anders gemeint, als es z. B. die geläufigsten physikalischen Darstellungen meinen, wenn sie etwa sagen, das Blau ist eine Ätherundulation von der Schwingungszahl 7 x 1014. Das Blau ist "wirklich" da - im Gegensatz zu einer geträumten Farbe; die Undulation dagegen wird als "wirklich" gedacht ("gedacht!" - hier bitte keine Mißverständnis!) im Gegensatz zu jenem gesehenen, also von subjektiven Faktoren abhängigen Blau.

13. Phänomen und Erkenntnis. Auch dürfte niemand die Erkenntnis des Phänomens deswegen verachten, weil sie eben "nur" auf das Phänomen geht. Denn hier gibt es kein "nur". Wenn wir erkennenden Einzelindividuen Dinge-ansich wären, dann freilich hätte das Wissen von der Erscheinung für uns etwas Bleiches, Leeres; es müßte uns sein, als blickten wir immerfort auf Schatten. Wer aber mit diesem traurigen Gefühl seinen KANT aus der Hand legt, der hat ihn gründlich mißverstanden. Denn als Doktor der Philosophie ist er selber eine Erscheinung; und als absolutes Subjekt allen Erkennens braucht er nicht mehr zu lernen, als in seinen Schädel geht; da hat er ja gar keinen! Wer nur unbedingte Erkenntnis gelten lassen will, mag sich mit A = A begnügen; wir aber wissen, daß auch das allertiefste uns ersinnliche "Erkennen" ein subjektiver Akt bleibt, abhängig von unserer Konstitution; und daß alles Erkennen daher seinem Wesen nach relativ sein muß. Uns ist deswegen das Wissen von der ersten Welt ein volles und befriedigendes Wissen.

Eine genetische Betrachtung würde die letzten Zweifel verscheuchen. Das Gehirn entwickelt sich allmählich in der Tierreihe, wie im einzelnen Menschen, immer zusammen mit den Sinnesorganen: seine Funktion muß wie die aller Leibesteile zunächst einfach eine lebenserhaltende sein. Nun hat der Begriff des Einzellebens im Ding-ansich ja gar keinen Sinn; offenbar ist folglich: alle Erkenntnis ist anfangs auf das Phänomen zugeschnitten und für das Phänomen da. Wie sollte das nun auf menschlicher Stufe plötzlich ganz anders geworden sein? Wir werden die Erscheinung unendlich viel tiefer ergründen als das Tier; aber eben doch die Erscheinung, in die unsere Individuen samt Augen, Ohren, Gehirnen verwickelt sind. Im Gegensatz zu jenen, die phänomenales Erkennen für ungenügend erachten, darf man die Definition wagen, daß alle Erkenntnis grundsätzlich nur eine Verarbeitung des Phänomens ist.

14. Phänomen und Wahrheit. Aber da tadeln uns die immer und immer Mißverstehenden: wir brächten die "berüchtigte" Lehre von der doppelten Wahrheit wieder aufs Tapet. [Bezug eines Konferenztischs - wp]. Eine vorläufige - und eine wahrhaftige Wahrheit; diese nirgends aufzutreiben; und jene - nun eben doch nicht Wahrheit im eigentlichen Sinn! denn wahr kann nur eines sein, jenes oder dieses!

Aber warum so feierlich? Gewiß, man darf Wörter definieren, wie man mag; und wenn man Lust hat, irgendetwas Mystisches, Unerreichbares Wahrheit zu taufen: meinetwegen! Dann mag also Wahrheit ein Absolutum, und die Rede von der Wahrheit "für mich oder dich" ein Widersinn sein. Wir aber wollen uns einstweilen mit der gewohnten Bestimmung begnügen: es sei Wahrheit die Harmonie des Urteils mit seinem Gegenstand. Und die führt uns ganz andere Wege.

Des Urteils? Aber war den KEPLERs Gesetz unwahr, bevor KEPLER es ausgesprochen hat? Gibt es keine Wahrheiten über die Zustände auf der uns abgewendeten Mondseite? Und wie steht es mit der von LAPLACE geforderten Weltformel? Hier tritt der Begriff des möglichen Urteils in sein Recht; oder des "Satzes ansich", wie BOLZANO sagte. Wenn ein Mensch von KEPLERs mathematischer Vorbildung das Planetensystem vor einer Million von Jahren betrachtet hätte; wenn jemand mit JULES VERNEs Luftschiff zum Mond fliegen könnte; wenn einer das Gedächtnis und die Geisteskraft besäße ungezählte Milliarden von Formeln zu kombinieren: dann - würden jene Wahrheiten gewissermaßen aktiv, und wäre es schon vor Äonen gewesen. Nun sind sie oder waren vor ihrer Entdeckung latent; sie existierten nicht und werden zum Teil niemals existieren; aber sie "gelten" von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Jetzt scheint es fast, als hinge der Begriff der Wahrheit an dem des Urteils; und der Erkenntniskritiker muß sich zunächst in die Strudel der Urteilslehre stürzen. die aber ist heutzutage ein einziges, großes Mißverständnis. Klingt es denn nicht wie eine Wunderlegende, daß die gescheitesten und gelehrtesten Männer Generationen hindurch sich darüber streiten können, was denn eigentlich geschieht, während wir urteilen? und dabei passiert dieser Vorgang jeden Augenblick! Aber woran liegt das? Daran, daß sie nach einer "Urteilsfunktion" suchen - die es gar nicht gibt. Im Ernst nicht, all die Lanzen stoßen in Dunst und Nebel! Ich behaupte, jede intellektuelle Tätigkeit kann die geistige Seite eines Urteils ausmachen; und war sich nicht verblenden will, müßte das aus folgender Stufenleiter mit Evidenz erkennen.
    1) "Au!" - Eine Empfindung, oder was sonst?

    2) "Das tut weh!" - Eine apperzipierte Empfindung; wer hier von Subsumtionen und dgl. spricht, der phantasiert Erlebnisse in den Satz hinein, die tatsächlich niemand erlebt.

    3) "Das ist ja etwas Sonderbares!" - Eine apperzipierte Wahrnehmung, nichts weiter!

    4) "Das ist Bellis Bernardi!" - Ein Bergsteiger in Korsika apperzipiert und verbindet damit ein Erinnerungsbild: es ist der Fall der Subsumtion.

    5) "Die Hüllblätter sind dunkel und spitzlich, die Randblüten ..." - Der Entdecker der seltenen Pflanze analysiert seine Wahrnehmung, wobei gesonderte Apperzeptionen und Erinnerungsbilder jeden Schritt begleiten.

    6) "Die Pflanze heißt Bellis Bernardi!" - So spricht der Entdeckter nach vollendeter Analyse; er verbindet mit der bereicherten, apperzipierten Wahrnehmung Erinnerungsbilder und einen Wortklang; ein Willensakt mit stark betontem Ichgefühl tritt hinzu (dies ist der Fall fast reiner Synthese).

    7) "Bellis Bernardi hat dunkle, spitzliche Hüllblätter ..." - So steht es im Lehrbuch und so lernt es der Schüler. Die Analyse des Entdeckers liegt vor; und aus ihren Bestandteilen findet wieder eine Synthese statt; das Subjekt nämlich entspricht einem verschwommenen Erinnerungsbild, das durch das Prädikat mit bestimmteren Qualitäten gefüllt wird; nach Beendigung des Satzes soll eine möglichst sachgetreue Phantasie vor uns stehen. - Neben bei bemerkt: hier haben wir das eigentliche Schulbeispiel vieler Logiken; nur daß die gewöhnlich beteuern, Gold sei gelb, der Baum sei grün und die Rose rot.

    8) "Wie das Automobil stinkt!" - Eine apperzipierte Wahrnehmung wird analysiert und substanzial-ursächlich aufgefaßt, so daß das Subjekt die Substanz, das Prädikat die Wirkung ausdrückt. Und dies ist der Fall, wo Jerusalems "Urteilsfunktion" tätig ist.
Genug! Wie unser ganzes geistiges Leben: so verläuft auch unser Urteil im Empfinden, Vorstellen, Assoziieren, Apperzipieren, im Binden und im Lösen, im Vergleichen und Verursächlichen. Wer nach einer besonderen, allen Urteilen gemeinsamen Funktion sucht, der hascht nach Schemen. Und auch der hinzutretende Glaube ist natürlich das gewünschte Ingrediens nicht. Als stände es uns frei, ob wir unseren Wahrnehmungen glauben wollen - gleichwie uns freisteht, über sie zu urteilen! Als wäre eine Lüge kein Urteil!

15. Fortsetzung. Was ein Apperzipieren oder Assoziieren, eine Analyse oder eine Synthese zum Urteil erhebt, ist die Verbindung mit Signalen; seien es Schriftzeichen, Formeln, Gebärden oder Wörter. Nicht alles Denken, wohl aber alles Urteilen ist ein Sprechen; ein lautloses vielleicht; denn wir Urteilstiere sind des Redens so gewöhnt, daß wir es bereits monologisch tun, ja ohne merkliche Bewegung unseres Stimmapparates; doch das sind sekundäre Erscheinungen, auf das Phänomen der Aussage leicht zurückzuführen.

Die Aussage aber ist ein sozialer Vorgang. Und wer das versteht, weiß auch sofort, was es bedeuten will, wenn die Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit gefordert wird. Der Redende verbindet mit seinem subjektiven Zustand oder einer Kette von Vorstellungen oder Wahrnehmungen eine Reihe von Zeichen; diese erwecken im Hörer entsprechende Vorstellungen und damit Erwartungen. Die kann er nun prüfen, indem er entweder die allen Menschen gemeinsamen Gedankenoperationen richtig vollzieht oder gemäß den Anweisungen des Urteils sich die zugehörigen Wahrnehmungen aufsucht. Tritt alsdann eine Enttäuschung ein, so war das Urteil falsch oder schief; wird die Erwartung befriedigt, so ist es wahr. Enthielt es eine Darstellung innerer Erlebnisse, so kann nur der Sprechende selber unmittelbar wissen, ob es wahr gewesen ist oder nicht. Der binomische Satz ist ein Urteil. Wer seinen Inhalt nicht glaubt, muß nachrechnen; und das Rechnen ist ja nichts als ein kunstmäßiges Handhaben des Identitätssatzes. Hätte ich behauptet, (A + B)³ wäre = A³ + B ³, so wäre die durch diese Symbole hervorgerufene Erwartung mittels des Resultates der korrekten logischen Operation enttäuscht worden.

"Von meiner Zimmerdecke hängt ein Kugelfisch aus dem Roten Meer." Du glaubst es nicht? So besuche mich zu einer guten Tasse Kaffee, wenn Du sonst ein netter Mensch bist, und sieh Dir das Ungetüm an. Du glaubst nicht, daß es gerade ein Kugelfisch ist? Junger Mann, Wenn Du in der Ichthyologie gelehrter wärest, will sagen, mehr Erinnerungen an eigene Wahrnehmungen zu deiner Verfügung hättest, so würdest Du es glauben. - "Aber aus dem Roten Meer?" Wärest Du vor zwanzig Jahren dabei gewesen, als man das Tier gefischt hat, so hättest Du Dein Kriter [Kritik - wp].

"Hannibal schlug die Römer bei Cannä." - Die Wahrheit dieses Satzes beruth in letzter Linie darauf, daß ein allgegenwärtiger Augenzeuge sie hätte kontrollieren können. Daß wir dran glauben, ist ein tausendfach vermittelter Vorgang.

Also wahr ist ein Urteil, das entweder seelische Vorgänge des Urteilenden getreu abspiegelt oder verifizierbare Erwartungen weckt. Ob der Hörer selber die Prüfung ausführt oder ob diese dann günstig ausfallen würde, wenn ein gedachter Mensch sie vornähme: das ist gleichgültig. Man sieht, wie ganz unser Wahrheitsbegriff an dem der möglichen Wahrnehmung hängt.

"Unser" Begriff; das will ich nochmals betonen. Ich behaupte nicht, daß er der einzig richtige ist; andere Definitionen der Wahrheit sind gewiß ebenso erlaubt. Ich glaube nur, daß die unsrige klarer ist als die übrigen, vor unzulässigen metaphysischen Folgerungen besser behütet und - dem allgemeinen Sprachgebrauch am genauesten entspricht.

16. Fortsetzung. Ein Urteil setzt menschliches Denken und Menschenrede voraus; das erkenntnistheoretische Subjekt könnten wir uns nur schauend und erlebend einbilden; zum Urteilen gehören empirische Einzelpersönlichkeiten; nur für unsere phänomenale Gemeinschaft hat folglich das Wort "Wahrheit" seinen eigentlichsten Sinn.

Das Unmittelbargewisse, unsere Empfindungen und Vorstellungen als solche, sind uns Erlebnisse; und werden zu Wahrheiten erst, wenn wir sie als Tätigkeiten unseres erfahrungsmäßigen Ichs auffassen und Mitmenschen berichten.

Ein mythologisches Gleichnis! Für Gott könnte es nur ein Sein geben, keine "Wahrheit". Denn ein diskursiv denkender und urteilender Gott müßte sich in seinen Aussagen auf fremde Substrate beziehen, denen er als Persönlichkeit gegenüberstände - oder allenfalls auf eigene Vergangenheiten; der würde selber noch im phaenomenon wurzeln.

Also beruth die Wahrheit in der Tat auf unserer menschlichen Organisation. Und die Rede von einer Wahrheit, die nicht Wahrheit für jemanden wäre, ist widersinnig.

Wer aber das Wort "Wahrheit" anders definiert, etwa als Identität einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand, der begnüge sich, ins Gewühl seines Empfindens und Wollens wortlos hineinzustarren - oder spiele sein Leben lang mit dem geliebten Widerspruchssatz.

17. Phänomen und Wissenschaft. Nur innerhalb der ersten Welt gibt es Forscher und Urteile, Leiber, an deren Spannungen der Begriff des Wirklichen sich messen kann, und Sinnenerlebnisse als letzte Kriterien der Wahrheit von Aussagen. Nur in dieser Welt also gibt es Wissenschaft. HEINRICH RICKERT sucht zu zeigen, daß die mechanische Naturauffassung - der Glaube also an eine zweite Welt, die uns nun bald ihre dunklen Tore auftun soll - zwar ansich berechtigt ist; aber bloß für den Naturforscher, welcher auf das Allgemeine losgeht. Doch gäbe es noch ein anderes Ziel der Wissenschaft: das Typische zu erfassen; und danach strebt die geschichtliche "Begriffsbildung"; sie charakterisiert Einzelnes und muß hierbei die mannigfaltige Welt der Farben, Formen und Töne, die uns umfäng, zum Jagdgrund nehmen; wie ärmlich das Bild vom Leben, wenn schließlich alles auf Zug und Druck von Atomen hinauslaufen würde: und das Besondere und Besonderste, RAPHAELs Madonnen und NAPOLEONs Feldzüge, das größte Warenhaus und die kleinste philosophische Schrift, nur als Fälle von langweiligen Generalgesetzen mehr gelten dürften!

Ich sympathisiere sehr mit diesen Darlegungen; sind sie aber ganz von Mißverständnissen frei?

Mich dünkt, jede Wissenschaft sucht möglichst vollständige Einzelkenntnisse und zugleich möglichst allgemeine Abstraktionen. Die Geschichte wäre froh genug, wenn sie weitreichende Gesetze aufzufinden vermöchte; als Nationalökonomie versucht sie es ja teilweise. Und andererseits interessiert sich die Naturbeschreibung für jedes Detail. Wieviel mehr sieht der Botaniker in einer Butterblume, als der Landmann! Wie liebevoll unterscheidet er die dreihundert Formen deutscher Brombeeren! Ja, auch die individuelle Pflanze wird ihm wichtig, sobald sie auffallende Merkmale zeigt. Gleicht sie in allem Wesentlichen ihren Schwestern, dann bekümmert sie freilich als Einzelding den Forscher nicht mehr; aber auch der Historiker fragt nicht jedem Hans und jeder Grete nach. Und nun vergesse man nicht: nur ein Teil dessen, was sich Mineralogie, Botanik, Zoologie nennt, steckt in Büchern und Vorlesungen; jedes etikettierte Museumsexemplar, jede wissenschaftliche Bildertafel, jedes mikroskopische Präparat ist ein Stück Naturwissenschaft.

Chemie und Physik streben freilich ins Allgemeine. Aber auch sie bleiben grundsätzlich doch innerhalb der Sinnenwelt stehen. Die Chemie nun schon sicher; denn ihre Atomistik verwandelt gar nichts am natürlichen Weltbild. Wie unter dem Mikroskop der lebende Körper sich in Zellen auflöst, so scheint die empirische Tatsache der Äquivalenzgewichte und AVOGADROs empirisches Gesetz alle Stoffe in kleine Bausteinchen zu zerfällen, die mit chemischen Mitteln nicht mehr zersprengbar sind. Diese Atomistik ist einfach eine Hypothese über die letzte Zusammensetzung des Phänomens, die man für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich halten kann; zwar wird sie niemals zu verifizieren sein, aber nur deshalb nicht, weil man keine Gläser konstruieren kann, scharf genug, um die Miniaturklötzchen von DALTON zu zeigen; von Metaphyisischem braucht sie auch nicht die leiseste Spur zu enthalten. - Die Physik und die Physiologie kommen allerdings um die letzte Erkenntnisfrage kaum herum; aber nicht deswegen geraten sie immer wieder in Versuchung die Welt des Naiven aus den Angeln zu heben, weil sie auf das Allgemeine zielen; sondern weil Biologie und Nervenlehre, Optik und Akustik gerade um die kranke Stelle der ersten Welt kriechen und wühlen und immer wieder an den Punkt rühren, dessen Verschiebung das Phänomen nicht erträgt. Wäre das nicht, so brauchte die generalisierende Neigung des Physikers von unserer ersten Welt den Schmelz nicht hinwegzustreifen. Solange er nicht Philosoph wird, sind ihm ja seine Atome, Elektrone oder Energien mehr Bilder und Rechnungsunterlagen als Wirklichkeiten, die er anstelle unserer menschlichen und historischen Wirklichkeit schieben möchte. Diese muß er schon deswegen als sein Letztes voraussetzen, weil er sie praktisch beherrschen will. Kraftmaschinen baut man aus ganz empirischen Eisenplatten, nicht aus Atomen.

18. Phänomen und Werte. Auch ist die erste Welt der einzig mögliche Schauplatz für praktische und ästhetische Erlebnisse irgendwelcher Art.

Ein wunderlichstes Mißverständnis doch, wenn etwa ZIEHEN von der Welt der Empfindungen bemerkt, sie wäre schön genug; neben Unlust biete sie genug der Lustgefühle; und durch die Kunst könnten wir diese so überschwenglich vermehren, daß wir auf die Konstruktion der wissenschaftlichen Welt (unserer "ersten", im Großen und Ganzen) gerne verzichten dürften. Wie denn? Im Reich bloßer Sensationen wäre Schönheit zuhause? wäre Kunst möglich? Kunst? ohne daß empirische Persönlichkeiten Pinsel oder Feder führen? Schönheit, ohne begrenztes, pulsierendes, wollendes Ich? Ohne geliebtes Du? Kunst und Schönheit ohne "Bedutung"? Ein Nebeneinander von Farbflächen, ist das etwa "schön"? An und für sich? Ohne daß ich es schwellen fühle, Formen ertaste, Fernen ahne, subjektiven Geistes Blitze verspüre? Ist unter dummen Empfindungen der Mond etwas Besseres als eine elektrische Lampe? Was macht ihn mir zum Trost der Nächte? Daß zu seiner bleichen Scheibe seit Jahrtausenden andächtige Augen emporgeschaut haben, daß er mit meinem Jugendherzen Zwiegespräch hielt - und sich eben jetzt in südlichen Meeren spiegelt, auf reine Firnen scheint, die fahle Sahara überleuchtet, eben jetzt, da er mir zwischen den verhaßten Schloten unseres seelentötenden Industriezentrums emporsteigt. Und all das: See und Gebirge, Gottes und Mammons Altäre, Herzensglut und Todesschweigen - all das, ws mir ein einziger Blick in seinen Silberspiegel schenkt: existiert das in der Welt des Nichtsalsempfindens? In einer Welt, die keine wirksame Wesenheit kennt, kein Ich und kein Du und kein Draußen, keine Dauer und keinen Wechsel?

Aber nicht nur die ästhetischen, sondern alle nur erdenklichen Werte gelten ausschließlich für das Phänomen.

Wer uns etwa über gewisse Unvollkommenheiten des Diesseits mit einer transzendenten Weltordnung trösten wollte, die unserem beschränkten Verstand sich nur getrübt offenbart: der würde unser Seufzen mißverstehen - sie KANT, diesmal durch Theologie getäuscht, es mißverstanden hat. Wenn ich die tausend kleinen Erlebnisse, persönlichen Erinnerungen, lieben Körpergefühle, aus denen mein empirisches, phänomenales Ich besteht, wegdenke und mich zum erkenntnistheoretischen Subjekt des Empfindens oder zum Ding-ansich abkälte; wenn meine schlanke Frau mich nicht aus rehbraunen Augen mehr anlacht, die Wälder nicht rauschen, die Blumen nicht duften, die Finken nicht schlagen, die Markgräfler Weine nicht kühl in meiner empirischen Kehle herunterrinnen dürfen; wenn kein principium individuationis mehr mich von meinem Nachbarn scheidet, der Verbrecher und der Unterdrücker nicht mehr mein Gegner sein soll, mein Freund nicht mehr mein Freund; wenn nichts mehr daran liegen soll, daß die Gedanken dieses, eben dieses Hirns, das jetzt hiner seiner weißen Wand fiebert, auf andere Hirne wirken und von anderen eine Wirkung empfangen: - was hat dann die Vokabel "Wert" noch für einen Sinn? Die transzendente Ideenwelt mag samt Zubehör der Teufel in aller Gemütsruhe holen, daran liegt mir noch nicht einmal soviel wie an der Buchstabenfolge des arabischen Alphabeths. Und ich kann mich doch schwerlich irren? So geht es auch den übrigen Menschen! Oder wäre gerade ich das allerselbstüchtigste Scheusal auf Erden und stände nun als solches nackt am Pranger? Wenn man gewisse Philosophen liest, sollte man fast denken, es gäbe Leute, die an einer absoluten Ordnung der Dinge ein lebendiges Interesse nehmen; aber - das wäre so seltsam! Denn der Begriff des Interesses setzt nun doch einmal den des Individuums voraus, folglich die phänomenale Welt; und sogar der Jesus, den die Kirche predigt, starb für empirische Mitmenschen!

Sicherlich, die Mißverstehenden versetzen sich mit ihren Phantasien in irgendein halb phänomenales Himmelreich, wo sie selber, trotz allem wieder gerade sie, unter dem Schatten schematischer Wälder ein angenehmes Dasein führen. Dergleichen ist ihnen die wirkliche Welt; und wenn sie von Gott sprechen, so denken sie auch ihn dennoch und dennoch persönlich, will sagen, als eine Erscheinung. Ein Gott, der nicht das Phänomen gelegentlich durchkreuzt, hätte ja auch religiös nicht den allergeringsten Wert! Der alte Gott würde durch Wunder die Physik, der Freund der jetzigen Frommen die Psychologie ruinieren, das ist der Unterschied; täte er nicht einmal das letztere, wofür wäre er dann noch zu gebrauchen? Man muß entweder auf Unsterblichkeit verzichten oder gleich an die Auferstehung des Fleisches glauben; ob ein Noumenon, dessen Phänomen "ich" bin, nach meinem phänomenalen Tod in unpersönlicher Ewigkeit weiter dauert oder nicht, das gilt mir ganz gleich; ich würde für die Aussicht noch nicht einmal ein gut belegtes Butterbrot wegschenken.

19. Phänomen und Ethik. Was von allen Werten gilt, gilt selbstverständlich auch von den moralischen.

KANT wollte unseren souveränen Willen, der innerhalb des Erfahrungsbereichs keine Stätte findet, in die transzendente Welt hinüberretten. Aber seine intelligible Freiheit nützt uns zu nichts. Denn unser sittliches Leben setzt sich aus Handlungen zusammen, von denen jede sich auf einzelne Gegenstände des Phänomens bezieht und nur innerhalb des Phänomens ihren Wert gewinnen kann. So und so war meine bisherige Menschenentwicklung, so und so ist die empirische Lage, dieser hier, der Empirische, ist mein Freund; mit seinem empirischen Tonfall trägt er mir dies und das vor, und ich soll ihm, der empirische JULIUS SCHULTZ, den und den empirischen Dienst leisten, zum Guten oder Schlimmen. Da blitzen Werte auf. Dagegen die unzeitliche Entscheidung für oder gegen ein allgemeines Gebot steht für grundsätzlich jenseits von allen Werten. Ob sie im Sinne des kategorischen Imperativs oder im entgegengesetzten erfolgt, das bedeutet ethisch soviel wie das Rot oder Schwarz im Roulette; und wenn das Glücksspiel ein lebendiges Leben kostet: umso schlimmter! Denn Moral besteht ja nicht aus einem Ja oder Nein, sondern aus dem Kampf mit Versuchungen; und für eine Welt, wo kein Lohn reizt, kein Geld rollt, keine Frauen locken, wo kein Schreckbild droht und kein Machtbefehl einschüchtert, wo es nichts zu lieben und nichts zu hassen gibt: sind ethische Begriffe bloße Wortgebilde ohne den allergeringsten Sinn; ich könnte ebensogut von blauen Taten oder tapferen Molekülen sprechen. Hat aber der intelligible Charakter sich zu überwinden, Lüste zu besiegen, Hindernissen zu trotzen, Persönliches persönlich hinzuopfern, kurz Sittliches zu leisten: dann lebt er bereits wieder in einer empirischen Welt, nur statt in der wirklichen in einer erträumten.

Man wird also nicht mit einigen Neuesten KANTs Willenslehre rühmen, indem man seinen Kritizismus ablehnt. Umgekehrt: dieser widersteht allen Stürmen; aber tiefes Mißtrauchen ist stets am Platz, wo der große Supranaturalist theologisch wird.

20. Die erste Welt der Forschung, die zweite als die der Philosophie. Man sieht: niemand ist weiter entfernt als wir Erkenntnistheoretiker unsere blühende Wirklichkeit zugunsten von Schatten herabzusetzen. Leben, Sittlichkeit, Ästhetik, Forschung und Wahrheit: all das findet sich nur innerhalb des Phänomens, der "ersten" Welt. Was will der leidenschaftlichste Empiriker mehr? Aber da setzen sich so geistreiche Leute wie FRED BON und KARL HEIM, so scharfsinnige Gelehrte wie LUDWIG BUSSE und WILLY FREYTAG auf ihre prachtvoll gesattelten und gezäumten Mißverständnisse, um gegen uns Kantianer wie gegen Lebensvernichter zu reiten! Sie könnten ja so ruhig sein!

Ruhig auch gegenüber allen Attentaten der Schule WUNDTs. Denn dieser Denker droht zwar damit, daß fortschreitende Wissenschaft die angeblich widerspruchsvolle Welt des Naiven zerstören könnte. Aber so tückisch wird die Wissenschaft als solche schwerlich sein. Hier breitet sich das Phänomen, und seine Glieder müssen sich in Wirklichkeit vertragen; wie sollten sie in der Idee einander fressen? Die Wissenschaften tun doch nichts anderes, als die Fülle beschreiben und zusammenfassen; und wenn da ein allgemeines Prinzip, dort ein anderes herrscht, so braucht das niemals zu einem Widerspruch zu führen. Setzen wir z. B. den Fall, die Geschichte oder Psychologie würde zeigen, daß der Energiesatz für das menschliche Leben nicht gilt; so dürfte der Physiker als Physiker ganz getrost sich bescheiden. "Nun gut", mag er sagen, "so gilt das Gesetz eben bloß für unbelebte Massen." So eine Halbheit paßt uns nicht? Mir nicht, freilich! Aber keineswegs die Wissenschaft verböte mir die Ausflucht, sondern ein philosophisches Bedürfnis!

Philosophische Bedürfnisse habt Ihr nicht? Vortrefflich! so bleibt denn in der ersten Welt! Wir hindern Euch nicht; und so laßt auch uns ungehudelt! Denn wir gedenken nun freilich unser schönes Datum aufzulösen; die nötige Säure liefern uns jene vier Fragen, die wir uns vorhin (unter Punkt 11) noch verboten haben.

Wer sie niemals stellt oder mit den oberflächlichen Redensarten antiker und moderner Positivisten und Immanenzphilosophen abtut, dem braucht um den Bestand des geliebten Phänomens nicht bange zu werden. Wie gesagt, er geht links und läßt rechts hingehen. Mag Herr BON keine Erkenntniskritik treiben, so bleibt er eben davon weg - und frage nicht! Denn mit den bewußten Fragen - beginnt die Erkenntniskritik unweigerlich; hier hört die Forschung auf, als deren Feld das Phänomen bleibt, und die Philosophie geht an. Sie aber - und nicht etwa die atomistische oder energetische Physik - verwandelt die erste in eine zweite Welt.
LITERATUR - Julius Schultz, Die drei Welten der Erkenntnistheorie, Göttingen 1907