p-4W. SpechtTh. MeynertP. SamtH. ViebrockA. KronfeldH. Broch    
 
PAUL FLECHSIG
Die Grenzen geistiger Gesundheit
und Krankheit

[Rede gehalten zur Feier des Geburtstages seiner Majestät
des Königs Albert von Sachsen am 28. April 1896]


"Je nach dem Gefühlsstandpunkt des Beobachters schwankt das Urteil zwischen weit entfernten Extremen hin und her. Verbindet der Beobachter mit der Klarheit des Blicks eine innere Kälte des Gemüts, so vermag er - wie  Goethe  meint - niemanden zu achten; besitzt er ein warmes Gemüt, so verlegt er es in die anderen hinein, auch wo es nicht am Platz ist. Eine streng-objektive Individualpsychologie existiert für den gesunden mittleren Menschen nicht!"

"Es ist nicht verwunderlich, wenn Alkoholiker und Nervenkranke zu den Verbrechern ein so großes Kontigent stellen. Und dasselbe gilt, wie ich besonders hervorheben möchte, auch von häufig sich wiederholenden  hypnotischen Zuständen - zweifellos wenn sie spontan entstehen! Viele Gewohnheitsverbrecher, insbesondere Schwindler und Hochstapler, sind Hypnotiker; viele der  gefährlichsten  Insassen der Irrenanstalten gehören zu denselben. Wahrscheinlich wirkt aber auch die  künstlich,  z. B. zu  Heilzwecken  erzeugte Hypnose ähnlich!"


Hochansehnliche Versammlung!

Die wissenschaftliche Heilkunde unserer Tage hat Fortschritte zu verzeichnen dergleichen  kaum ein anderes Jahrhundert aufweisen kann - dies ist wohl die übereinstimmende Überzeugung aller urteilsfähigen Köpfe. Nur  eine medizinische Disziplin nimmt nach der Meinung vieler Laien nicht entsprechend Anteil - diejenige, welche ich an unserer Universität zu vertreten die Ehre habe, die Psychiatrie!

Fast täglich müssen wir hören, daß die  Irrenheilkunde bei weitem nicht das leistet, was man im allgemeinen Interesse von ihr verlangen dürfe.

Soweit sich die Anklagen gegen einzelne Irrenärzte, einzelne Irrenanstalten richten, haben sie kaum ein allgemeines Interesse, selbst wenn sie tatsächlich begründet sein sollten. -  Peccatur intra muros et extra! [Gesündigt wird innerhalb und außerhalb der Mauern. - wp]

Weitaus folgenschwerer erscheint der Vorwurf, daß die Psychiatrie in ihrem gegenwärtigen Zustand  ganz  im  allgemeinen  bei der Beurteilung krankhafter oder zweifelhafter Geisteszustände  von falschen Prinzipien,  von unrichtigen Voraussetzungen ausgehe, und daß die Irrenärzte  infolgedessen  die öffentliche Sicherheit, die Freiheit harmloser Staatsbürger geradezu gefährden. Die Vertreter dieser tendenziösen, in Romanen ja schon längst spekulativ ausgebeuteten Beschuldigung, stützen sich zwar keineswegs auf  irgendeine  einwurfsfreie Tatsache - es ist in Wirklichkeit in Deutschland bisher  auch nicht ein Fall  nachgewiesen, wo ein wirklich Geistesgesunder unter nichtigen Vorwänden für geisteskrankt erklärt worden wäre. Trotzdem empfiehlt es sich nicht, weiter mit Stillschweigen jenem Treiben zu begegnen. Denn der Laie ist nicht in der Lage, sich aus eigenem Wissen ein objektives Urteil über die einschlägigen Verhältnisse zu bilden; und es besteht so die Gefahr, daß die Bevölkerung das notwendige Vertrauen zu den unentbehrlichen Irrenanstalten verliert, daß die Richter den Gutachten psychiatrischer Sachverständiger unberechtigte Zweifel entgegenbringen.  Indem so wichtige öffentliche Interessen auf dem Spiel stehen,  gestatte ich mir, in dieser festlichen Stunde Ihre Aufmerksamkeit zu erbitten für die Betrachtung  einiger Grenzgebiete des Irreseins,  insbesondere mit Rücksicht auf die  Mittel, welche der wissenschaftlichen Psychiatrie zu Gebote stehen, um auf geistigem Gebiet Gesundheit und Krankheit zu unterscheiden. 

Ich hoffe, Sie hierbei überzeugen zu können, daß die Psychiatrie doch besser ist als ihr Ruf, und daß auch sie am allgemeinen Aufschwung der Medizin teilnimmt, freilich entsprechend  ihrem besonderen Objekt,  dem an Kompliziertheit und Inhalt  alles Lebendige  weit übertreffenden menschlichen Seelenorgan in etwas langsameren Tempo als diejenigen medizinischen Disziplinen, welche im Kampf gegen die pathogenen  Mikroorganismen,  die einfachsten Lebewesen, ihre hauptsächlichsten Triumphe feiern. Die Psychiatrie ist tatsächlich gerade jetzt in einer mächtigen Umwälzung begriffen, nicht sowohl weil die Seelenlehre im allgemeinen wichtige Fortschritte zu verzeichnen hätte, sondern weil die  Hirnlehre,  insbesondere die Lehre vom Hirnbau auf dem Punkt angelangt ist, für die Auffassung der Seelenerscheinungen in wichtigen Beziehungen  maßgebend  zu werden.

Untersucht man, worauf sich die befremdliche Zuversicht des Laientums gegenüber den psychiatrischen Fachmännern stützt, so stößt man auf jenes Etwas, welches schon  so vieler großer Denker  Zorn in hohem Maß herausgefordert hat, die Berufung auf den  gemeinen Menschenverstand

Der Laie glaubt zweifelhafte Geisteszustände beurteilen zu können, weil er kraft seines gesunden Menschenverstandes den  gesunden  Geist zu kennen glaubt.

Der Laie steht hiermit von vornherein auf einem Standpunkt, welcher dem des Arztes  diametral  entegengesetzt ist. Denn dieser ist überzeugt, zweifelhafte Geisteszustände beurteilen zu können, weil er die Erscheinungen der geistigen  Krankheit  genau kennt, weil er Erfahrungen besitzt über alle die  Abweichungen  von der geistigen Norm, welche  in natura  vorkommen.

Verfolgen wir die  historische  Entwicklung der Lehre von den krankhaften Geisteszuständen, so unterliegt es keinem Zweifel. daß auch die  Wissenschaft  sich von der Betrachtung der  ausgeprägten  Geisteskrankheiten her den Grenzen des Irreseins,  dem Studium der Grenzbewohner  genähert hat.

Was kann uns nun hier der sogenannte gesunde Menschenverstand nützen; hat er überhaupt etwas mit dem Problem zu tun? Ich bin  weit entfernt  dies  vollständig  zu leugnen - aber seine Geltung ist eine durchaus beschränkte. Die Psychologie der Laien basiert in erster Linie auf der  Selbstbeobachtung  - und diese ist ja tatsächlich auch für den Arzt der Hauptmaßstab für die Beurteilung der Seelenvorgänge Anderer. Was man unter Bewußtsein, Willen, Überlegung, Besonnenheit und dgl. zu verstehen hat, das lernt  jedermann  im wesentlichen aus der Beobachtung  an sich selbst.  Diese Art Psychologie ist uns  allen gemeinsam.  Nächstdem treibt der Laie das, was man am besten als  Individualpsychologie  bezeichnen könnte. Er macht sich ein mehr oder weniger genaues Bild von  einzelnen  Individualitäten, ihrem Wissen, ihrer Auffassungsgabe, ihren Handlungsmotiven, ihrer Gemütsart.

Es erscheint mir in hohem Grad bezeichnend, daß der Denker, welchem wir den Begriff der  induktiven Forschung  verdanken, Lord BACON von VERULAM, gerade diese Art psychologischer Forschung für die Voraussetzung aller psychiatrischen Urteile und Handlungen erklärt. BACON hält aber freilich nur eine Individualpsychologie für brauchbar, welche auf einer  wissenschaftlich genauen Analyse  von Seele und Charakter und den verborgenen individuellen Anlagen der einzelnen Menschen beruth.

Aber trotzdem seit BACON fast drei Jahrhunderte vergangen sind und  Millionen  sich aufgrund ihres gesunden Menschenverstandes mit Studien auf dem Gebiet der Individualpsychologie beschäftigt haben, fehlt uns vollkommen ein Werk, welches sich die Aufgabe stellte, das Fazit dieser Beobachtungen für den  mittleren normalen  Menschen vorurteilslos zu ziehen und uns zahlenmäßig zu zeigen, in welchen Formen Intellekt und Charakter des "Normalmenschen" variieren. Wissen wir vielleicht,  wieviel Prozent  Der Bevölkerung  redlich  sind, wahrhaft redlich? Die  Moralstatistik  sagt uns hierüber nichts - denn die Zahl der Redlichen deckt sich nicht mit der Zahl der Unbestraften. Und so sind wir schon auf diesem so wichtigen Gebiet auf die oberflächlichsten Schätzungen angewiesen. Hat nun SHAKESPEARE Recht, wenn er sagt: "Ein Ehrlicher ist ein Auserwählter unter Zehtausenden!" oder GOETHE, wenn er sagt: "Unter Tausenden  einen  Redlichen gefunden zu haben, das ist Etwas, das ist anzunehmen"? In der Tat, wir wissen nichts Sicheres, und je nach dem Gefühlsstandpunkt des Beobachters schwankt das Urteil zwischen weit entfernten Extremen hin und her. Verbindet der Beobachter mit der Klarheit des Blicks eine innere Kälte des Gemüts, so vermag er - wie GOETHE meint - niemanden zu achten, besitzt er ein warmes Gemüt, so verlegt er es in die anderen hinein, auch wo es nicht am Platz ist. Eine streng-objektive Individualpsychologie existiert für den gesunden mittleren Menschen nicht! Was aber die  Grenzgebiete  anlangt, so bietet sich  nur ganz wenigen  Laien die Gelegenheit, Grenzbewohner in  größerer Anzahl gründlich  kennen zu lernen. Auch der fruchtbarste Romanschriftsteller übersieht nur einen kleinen Teil der großen Reihe - und daher die vielen einseitigen Schilderungen, das voreilige Ableiten von angeblichen Gesetzen des menschlichen Handelns aus gänzlich ungenügendem Beobachtungsmaterial.

Bietet uns nun für diesen Mangel einer umfassenden Individualpsychologie nicht vielleicht die wissenschaftliche, die  allgemeine Psychologie  mit ihren  schärferen Begriffen  Ersatz? Können wir unsnicht vielleicht bei den Philosophen Rat holen, wenn sie auch Laien sind in einem ärztlichen Sinn? Bekanntlich hat er größte der kritischen Philosophen, dessen Ansehen noch heute im Wachsen begriffen ist, KANT,  mit Entschiedenheit  gefordert, daß die Beurteilung von  Verbrechern  mit Rücksicht darauf, ob sie ihre Tat im Zustand geistiger Umnachtung ausgeführt haben, ausschließlich dem Psychologen, dem Philosophen zusteht!
    "In diesem Fall", sagt  Kant  wörtlich, "kann das Gericht den Angeklagten  nicht  an die medizinische, sondern müßte (der Inkompetenz des Gerichtshofs halber) ihn an die  philosophische Fakultät  verweisen. Denn die Frage: ob der Angeklagte bei seiner Tat im Besitz seines natürlichen Verstandes- und Beurteilungsvermögens gewesen ist, ist  gänzlich psychologisch,  und obwohl die  körperliche Verschrobenheit der Seelenorgane vielleicht bisweilen  die Ursache einer unnatürlichen Übertretung des (jedem Menschen beiwohnenden) Pflichtgesetzes sein möchte, so sind die Ärzte und Physiologen  überhaupt noch nicht so weit,  um das Maschinenwesen im Menschen so tief einzusehen, daß sie die Anwandlung zu einer solchen Greueltat daraus erklären, oder (ohne eine Anatomie des Körpers) sie vorhersehen könnten; und eine gerichtliche Arzneikunde  (medicina forensis)  ist, - wenn es auf die Frage ankommt: ob der Gemütszustand des Täters eine Verrückung, oder mit gesundem Verstand genommene Entschließung gewesen ist? - Eine Einmischung in ein fremdes Geschäft, wovon der Richter nichts versteht, wenigstens es, als zu seinem Forum  nicht  gehörend, an eine andere Fakultät verweisen muß."
Soweit KANT! Ich bezweifle nicht, daß der große Denker für seine Zeit und in Anberacht  seiner  Person das Richtige in der Hauptsache getroffen hat. Das Maschinenwesen, insbesondere das des menschlichen Gehirns, war tatsächlich damals wenig bekannt, und KANT, übertraf, vermöge seines intensiven Scharfblicks, selbst einen gewiegten Hirnanatomen wie SÖMMERING an Klarheit der Anschauungen über die von physischer Seite an ein Seelenorgan zu stellenden Anforderungen, wie seine köstliche Kritik von SÖMMERINGs Lehre vom Sitz der Seele im Hirnwasser deutlich zeigt. Trotzdem hat sich meines Wissens keine Staatsregierung gefunden, welche zur Information der Richter gerichtliche  Philosophen  angestellt hätte - und die Staatslenker haben hieran  unzweifelhaft Recht getan.  Denn was von einem KANT bedingungsweise gilt, gilt darum noch lange nicht von  allen,  welche sich Philosophen nennen.

Ja, es gilt selbst nicht für Philosophen, deren Denkkraft und deren genialen Scharfsinn  kein  wirklicher  Kenner  bezweifelt, wie z. B. SCHOPENHAUER. Auch SCHOPENHAUER hat sich für die Probleme der Psychiatrie auf das lebhafteste interessiert, und in seinem Hauptwerk: "Die Welt als Wille und Vorstellung" sind mehrere Paragrapen  diesem  Thema gewidmet. Es ist schon in einem hohen Grad bezeichnend, daß dieser  Rhapsode des Willens  die Ursachen der Geistesstörung hauptsächlich, ja fast ausschließlich auf dem Gebiet des  Intellekts  sucht - und zwar  in einem ganz bestimmten Punkt,  nämlich darin, daß (im Wahnsinn zumindest) der Faden der persönlichen Erinnerung an  einer  Stelle reißt, und daß nun mittels allerhand phantastischer Kombinationen die entstandene Lücke ausgefühlt wird.

SCHOPENHAUERs  Beweisführung  ist aber noch  besonders  eigenartig. Obgleich er sich zweifellos bemüht hat, sich  aus eigener Wahrnehmung  über das Bild des Wahnsinns zu unterrichten, so stützt er sich doch in fast noch höherem Maß auf ein  ganz andersartiges  Material. Die Gestalten der genialen Dramatiker sind es, welche er im Auge hat, der  Torquato Tasso  GOETHEs, der rasende  Ajax  des SOPHOKLES, König  Lear  und  Ophelia  bei SHAKESPEARE. Diese Gestalten des echten Genius, sagt SCHOPENHAUER, sind  wirklichen  Personen an Wahrheit gleichzusetzen und geben das Wesentliche des Wahnsinns für jedermann deutlich erkennbar wieder.

Hier aber irrt er ohne Zweifel! Die Gestalten des Wahnsinns, bei SHAKESPEARE besonders, enthalten ja durchaus naturwahre  Umrisse,  durchaus richtige  Grundlinien;  aber ihr Körper besteht aus reinster Poesie. Der poetische Gehalt überragt weitaus den Gehalt an Naturwahrheit! Nur ein Geist wie SHAKESPEARE kann delirieren wie  Ophelia;  dem gewöhnlichen Menschengeist kommt solch' zarter Duft nicht zu!

Zudem nehmen die Dichter ein durchaus  einseitiges  Interesse am Wahnsinn, indem sie ihn immer aus ungeheuren inneren Konflikten, aus einem ungeheuren Seelenschmerz hervorgehen lassen, - und SCHOPENHAUER gelangt so aufgrund seines eigenartigen Materials zu dem  geradezu mystischen  Schluß, daß im Wahnsinn die Natur zum letzten Rettungsmittel greift, um die durch ein ungeheures inneres Leiden bedrohte Individualität über die Krisis hinüber zu geleiten.

Um wieviel einfacher, klarer und naturgemäßer  denkt  hier SHAKESPEARE, wenn er König  Lear  sagen läßt:  "Wir sind nicht wir, wenn die Natur im Druck die Seele zwingt zu leiden mit dem Körper". Hier  ist SHAKESPEAREs Psychologie ganz und gar die unsere. Der  Körper ist es in erster Linie, der den Geist krank macht,  und das kranke  Gehirn  hat seine eigenen Gesetze. Hier herrscht nicht die Logik des  gemeinen Menschenverstandes nicht die Logik der  Metaphysiker.  Die Besonderheiten der  kranken  Seele erklärt uns auch nicht die  Psychophysik  in ihrer heutigen Form, wir brauchen weit mehr - und soweit wir dieses Mehr nicht auf dem Weg der  methodischen, langsam  vorwärts schreitenden Forschung erreichen können, müssen wir versuchen, ob uns nicht  der glückliche Gedanke  vorwärts hilft, dessen wir auf einem so überaus verwickelten Gebiet, wie die Psychiatrie, niemals entbehren können; die freie Kombination der Erfahrungen auf den  verschiedensten  Wissensgebieten: der Anatomie, der Biologie, Pathologie und Psychologie kommt hier in Betracht. Zum umfassenden Studium alles geistigen Geschehens, ganz gleichgültig, ob es in den Bereich des Normalen oder Pathologischen fällt, muß sich das Streben gesellen,  jede  geistige Erscheinung zurückzuführen auf Eigentümlichkeiten, auf Faktoren  der körperlichen Organisation, auf körperliche Vorgänge!  Hierzu bedarf es auf der  einen  Seite einer naturgemäßen Zergliederung der  Seele,  welche  wirklich  die Darstellung der  letzten  seelischen  Elemente  gewährleistet, und der Anknüpfung dieser Elemente an ihre materiellen Träger, insbesondere das Gehirn.

Wenn man dieses Verlangen als verfrüht, als übereilt hinstellen möchte, so entgegne ich, daß wir unserem Ziel bereits viel näher sind, als die Schulweisheit es sich träumen läßt. Die Lehre vom Hirnbau, die unentbehrliche Voraussetzung jeder wirklich wissenschaftlichen Seelenlehre, hat in den letzten Jahren so große Fortschritte gemacht, daß wir uns mit Riesenschritten dem Ziel nähern, den  Ansatz zur Berechnung der menschlichen Seele  zu finden. Die Analyse des kranken Menschengeistes ist tatsächlich in erster Linie ein  physisches Problem - nur darf man nicht wähnen, wie HERBART, die Prinzipien für eine Statik und Dynamik der  psychischen Kräfte  auf dem Weg der Spekulation finden zu können - sondern jeder Schritt muß durch die Erfahrung, insbesondere die Hirnlehre, kontrolliert werden. Die Psychiatrie ist die Lehre von den Variationen des Seelenlebens unter  veränderlichen  körperlichen Bedingungen. Deshalb muß sie sich in erster Linie an die  Hirn forschung anklammern; jede Art Metaphysik wirkt hier, einem Narkotikum gleich, verwirrend auf die Klarheit unserer Anschauungen.

Was hat hier nun der gemeine Menschenverstand zu suchen? Abgesehen etwa von gelegentlichen Erfahrungen über Fieberdelirieren erlangt der Laie fast nur aus den Erscheinungen der  Alkohol-Intoxikation  eine Vorstellung von der Macht körperlicher Faktoren über das Seelenleben. So wenig erfreulich diese Tatsachen sind, so sind sie doch leider so wichtig, daß ich mir gestatten möchte, hier kurz auf dieselben einzugehen.

Die  Trunkenheit  ist durchaus nicht eine so einfache Erscheinung, daß der gemeine Menschenverstand sich von ihr eine erschöpfende und richtige Vorstellung zu machen imstande wäre. Wie kommt es, daß der Eine absolut gefeit ist gegen die Wirkungen des Alkohols (allerdings eine seltene Abnormität), während der Andere durch jeden Alkoholexzess in einen Zustand förmlicher Tobsucht gerät, während der Dritte nur eine leichte Anregung der Phantasie und dann Neigung zum Schlaf zeigt?

Gehen wir diesen einfachen Tatsachen nach, so stoßen wir alsbald auf einen wichtigen Faktor, den Einfluß der  ererbten Konstitution, der Heredität.  Die Abkömmlinge gesunder kräftiger Eltern können sich ungestraft einem Exzess überlassen, ohne daß sich sonderlich auffällige Erscheinungen bei ihnen zeigen; die Glieder von Familien, in elchen Geistes- und Nervenkrankheiten erblich auftreten, verfallen gelegentlich auch durch einen  leichten  Exzess in Zustände, welche nach allen Richtungen hin Geistesstörungen gleichen. Was bedeutet dann nur hier der  erbliche  Faktor? Nur die exakte Empirie der Psychiatrie kann hier eine Antwort geben. In den Augen der Wissenden bedeuten  gewisse, keineswegs alle, Formen der erblichen Belastung überhaupt schon eine Geistesstörung - wenn auch nicht  aktuell,  so doch  potentiell!  Die reine Erfahrung lehrt dies unabhängig von jeder Theorie - und gibt für die Beurteilung der Willensfreiheit derartiger Individuen Gesichtspunkte an die Hand, welche der gemeine Menschenverstand" ebensowenig spielend zu fassen vermag, wie er die Probleme der höheren Mathematik spielend zu bewältigen imstande ist.

In anderen Fällen besonderer, eigenartiger Reaktion auf den Alkohol beobachten wir  selbst beim Fehlen einer erblichen Belastung  gewisse Deformitäten am Körper, eine mangelhafte Bildung einzelner Teile, wie des Schädels, der Ohren u. a. m. - Das häufige Zusammentreffen solcher  "Degenerationszeichen"  mit geistigen Abnormitäten lehrt uns einen inneren Zusammenhang zwischen beiden zunächst  rein empirisch  vermuten - und weitere Erwägungen führen schließlich zu der Erkenntnis, daß  irgendwelche störenden Einflüsse das in der Entwicklung begriffene Individuum getroffen,  die Entwicklung einzelner Organe in falsche Bahnen gelenkt haben - es handelt sich ier um stets angeborene, aber nicht immer ererbte Eigentümlichkeiten, deren Bedeutung im Einzelnen zweifellos noch vielfach dunkel ist.

Bei weiteren Individuen trifft eine abnorme Reaktionsweise zusammen mit den Symptomen von  Nervenkrankheiten,  wie  Epilepsie, Hysterie  u. a. m.; in noch anderen zeigt ein vorher Normaler abnorme Reaktionsformen, seitdem er eine  Gehirnerschütterung  erlitt, mit welcher sich sein Charakter dauernd änderte, seitdem er einen  Typhus  durchgemacht hat, nachdem er längere Zeit gewohnheitsmäßig  Alkohol, Morphium  oder andere  Narkotika  genommen hat.

Solange man diese Tatsachen nicht würdigte, stand man gewissen geistigen Erscheinungen völlig ratlos gegenüber und suchte durch allerhand gekünstelte psychologische Hypothesen den Mangel an sicherem Wissen zu ersetzen. So entstand z. B. die Lehre von der  Mania transitoria.  Indem man beobachtete, daß gewisse Individuen, die anscheinend völlig gesund sind, plötzlich stundenweise heftig und sinnlos toben und wüten, um danach  nie  wieder in ihrem Leben psychisch zu erkranken, diskutierte man allen Ernstes die Frage, ob bei einem gesunden Menschen eine solche Störung plötzlich wie aus heiterem Himmel entstehen kann. Beobachtungen in meiner Klinik haben ergeben, daß diese Form gelegentlich auch entsteht bei nicht-nervenkranken Personen, welche nach dem Genuß von relativ selbst geringen Mengen Alkohol einen heftigen Stoß gegen den Kopf erleiden oder sich einer intensiven Erhitzung aussetzen - es läßt sich hier, wie ohne weiteres ersichtlich, nur eine physikalisch-chemische Erklärung des Vorgangs geben, der gemeine Menschenverstand steht sprachlos den Tatsachen gegenüber, für welche auch die subtilste Psychologie ohne eine Kenntnis der Ursachen keine Erklärung zu geben wüßte.

So lassen sich zahllose Einzelerscheinungen auf dem Gebiet des kranken Seelenlebens durch eine exakte Empirie als Wirkungen abnormer Hirnzustände erklären, direkt ohne weite Umschweife; und die Gesichtspunkte, welche wir hier gewinnen, lassen sich bei  allen  zweifelhaften Seelenzuständen in Anwendung bringen.

Gestatten Sie mir nun, hochgeehrte Anwesende, zum Beleg hierfür noch auf einige andere  wirkliche oder angebliche Grenzgebiete des Irreseins etwas näher  einzugehen.

Unter den vermeintlichen Opfern der Irrenärzte, welche in den letzten Jahren die öffentliche Meinung lebhaft erregt haben, nimmt  eine  Gruppe von Persönlichkeiten einen hervorragenden Platz ein, welche sich dadurch auszeichnen, daß sie in einem ununterbrochenen Kriegszustand mit den Gerichten und Behörden leben, sich prinzipiell in der Auslegung der Gesetze  über  den Gesetzgeber stellen und den naturgemäßen Mißerfolg dieser Bestrebungen lediglich der Unwissenheit, dem pflichtwidrigen Verhalten oder sogar verbrecherischen Absichten der  Richter  zuschreiben. Diese Individuen, auf deren geistiges Gleichgewicht die staatliche Ordnung, die geltenden rechtlichen Verhältnisse vielfach geradezu wie ein Gift wirken, werden gemeinhin als  Querulanten  bezeichnet. Ich wage es nicht, hier näher auf den Begriff des  Querulantenwahnsinns  einzugehen, da ich kaum ein allgemeineres Interesse für denselben voraussetzen darf. Ich gestatte mir aber in Anbetracht der eminent praktischen Bedeutung der Frage auch in politischer Hinsicht einige kurze Bemerkungen zu machen.

Wenn schon mir kein Fall bekannt ist, wo ein geistig Gesunder als an Querulantenwahn leidend entmündigt worden wäre, so nehmen doch meines Erachtens selbst Irrenärzte diesen Zuständen gegenüber eine Stellung ein, welche ich nicht als eine wissenschaftlich haltbare bezeichnen kann. Die Ärzte verfallen vielfach in den  Fehler  des Schematisierens, der unrichtigen Verallgemeinerung einzelner Beobachtungen.

Die sogenannten Querulanten leiden keineswegs ausnahmslos an  Wahnsinn;  sie werden nicht alle durch wahnhafte  Ideen  in ihrem Tun geleitet! Auch abgesehen von jenen Individuen, welchen zumindest teilweise  wirklich  Unrecht geschehen ist, gehört  nur ein Teil  der Querulanten zu den mit fixen  Wahnvorstellungen  behafteten, zu den chronisch verrückten Geisteskranken im Sinne der wissenschaftlichen Psychiatrie.  Diese  Individuen zeigen ja in de Tat allerhand Sinnestäuschungen und phantastisch ausgemalte Verfolgungsideen und schwelgen in ihrer Role als Erlöser der vom Gesetz bedrückten und vergewaltigten Volksgenossen. Aber  diese  äußerst leicht zu beurteilenden Verrückten oder Wahnsinnigen  bilden  eben nur einen Teil der Querulanten! Ein  weiterer  Teil zeigt in erster Linie nicht  intellektuelle Anomalien,  sondern  Charakterfehler,  welche im einzelnen wiederum mannigfaltig variieren. Eine hierher gehörige Gruppe steht der ausgeprägten  moral insanity dem moralischen Irrsinn sehr nahe; es sind sittlich defekte Individuen mit perverser verschrobener Fühlweise, welche mit Rücksichtslosigkeit ihre selbstsüchtigen Pläne verfolgen, zum Teil ermutigt durch eine gewisse Urteilsschwäche, wie sie der Mangel an gesundem Fühlen notwendigerweise mit sich bringt. Eine weitere Varietät aber zeigt an sich  nur mäßige  Abnormitäten, welche nur  durch ihre besondere Gruppierung  zu einem Handeln führen, welches dem von Geisteskranken gleicht. Wenn ein Mensch, der seine Urteilsfähigkeit weit überschätzt, mit lebhaftem Selbstgefühl begabt, hartnäckig und reizbar ist, vor den Gerichten nicht zu seinem vermeintlichen Recht kommt, so gelangt er leicht zu der Überzeugung, daß die Richter beschränkt oder schlecht sind. Beim Handeln dieser Individuen spielen aber keineswegs in erster Linie  unlogische Schlußfolgerungen  die Hauptrolle, sondern das Treibende sind lebhafte  Gefühle,  stehende, das Denken in  gewisse engbegrenzte Bahnen zwingende Affekte,  welche zwischen einer zornigen, trotzigen Exaltation [Überhöhung - wp] und einer erregten melancholieähnlichen Depression in vielfachen Nuancen hin- und herschwanken. Die Entstehungsweise  dieser krankhaften Gefühle und Stimmungen,  die Ursachen ihres zähen Haftens, ihres Nichtvergehens, sind in erster Linie vom Arzt festzustellen, wenn er den Gesamtzustand richtig beurteilen soll. Dies gelingt aber  niemals auf psychologischem Weg;  sondern der Einfluß körperlicher Momente, der erblichen Anlage, erlittener Verletzungen überstandener Krankheiten ist hier vor allem in Betracht zu ziehen - es ist also die  biologisch-pathologische  Forschungsmethode anzwenden - und diese führt fast stets zu einem befriedigenden Ziel. Unerfahrene Ärzte hingegen, beeinflußt durch den  Gesamteindruck  der Querulanten, suchen häufig in erster Linie nach geistigen Symptomen, welche  ansich  eine Geistesstörung beweisen; sie begnügen sich nicht mit dem durchaus genügenden Nachweis der angeborenen oder erworbenen Belastung und zahlreicher kleinerer  in Summa  potentiell einer Geisteskrankheit durchaus gleichwertiger Abweichungen. Eine  "fixe Idee"  erscheint ihnen beweiskräftiger; sie übersehen aber hierbei, daß ein solcher  bequemer  Ausweg keineswegs immer der richtige ist. -

Zu all dem kommt aber ein unleugbarer  Mangel der Gesetzgebung  die ungenügende Definition dessen, was man unter Willensfreiheit und Freiheit des *Vernunftgebrauchs zu verstehen habe. Da die wissenschaftliche Psychologie diese Begriffe ausgemerzt hat, da jeder Philosoph sie anders definiert - so wird die Entscheidung schließlich dem gesunden,  dem gemeinen Menschenverstand  anheimgegeben - und so kommt dieses  fragwürdige Orakel  gerade  an dem  Punkt der Gesetzgebung zur Geltung, wo man streng wissenschaftlicher Definitionen am  wenigsten  entraten kann, bei der Beurteilung der rechtlichen Folgen krankhafter  Gefühls zustände.

Dies gilt in fast höherem Maß für eine  weitere  zum Teil verwandte Gruppe von Individuen, über deren Geisteszustand vielfach Meinungsverschiedenheiten zwischen Ärzten und Laien, insbesondere den Juristen bestehen, für gewisse  Gewohnheitsverbrecher.  Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier auf all die zahlreichen Einzelfragen einzugehen, welche die  antropologische  Betrachtung des Verbrechertums überhaupt zutage gefördert hat - nur darauf möchte ich mir gestatten, Ihre Aufmerksamkeit zu lenken, ob und inwiefern aus  den körperlichen Befunden insbesondere am Gehirn von Verbrechern  Rückschlüsse auf ihren Geisteszustand gemacht werden können.

Daß zahlreiche Beziehungen zwischen Seelenstörungen und Verbrechen bestehen, wußte man bereits seit geraumer Zeit. Schon der englische Irrenarzt PRICHARD hat vor mehr als 60 Jahren an die Richter die Mahnung gerichtet, bei Menschen, welche ein ganzes Leben von Schlechtigkeit und ethischer Entartung zeigen, stets das Vorhandensein einer geistigen Abnormität in Betracht zu ziehen. PRICHARD ist es, welcher den Begriff der  moral insanity  in die Psychiatrie eingeführt hat. Es gibt, sagt er, Kranke, bei welchen sich ohne wesentliche Störungen des Intellekts in Form von Geistesschwäche oder Wahnideen oder Sinnestäuschungen, "eine krankhafte Verkehrung der Gefühle, Affekte, Neigungen, des Temperaments, der Gewohnheiten und natürlichen Triebe zeigt" - wo also jene ganze Sphäre, welche wir  Charakter  nennen, pathologisch verändert ist. PRICHARD hielt diese Fälle krankhafter Gemütsart (nicht nur ethischer Verderbtheit) nicht eben für häufig; es kam ihm durchaus nicht in den Sinn, etwa den Gewohnheitsverbrecher  schlechthin  darunter zu subsumieren - und die Psychiatrie, welche sich in den Bahnen wissenschaftlich strengen Denkens bewegte, hat sich ihm bis auf heute angeschlossen. Sie hat die Lehre von den krankhaften Gemütszuständen weiter ausgebildet, sie hat speziell die Anomalien des  sittlichen  Fühlens schärfer ins Auge gefaßt und ist insbesondere unter dem Einfluß des französischen Psychiaters MOREL dazu gelangt, hier zu unterscheiden zwischen dem einfachen Mangel der sittlichen Gefühle, dem moralischen Stumpf- oder Blödsinn, der moralischen Idiotie, wenn angeboren - und dem Gefühlswahnsinn, dem Delirium der Gefühle und Handlungen, der Umkehrung, der Perversion insbesondere des sittlichen Empfindens.

Dem auf dem Gebiet der Kriminal-Anthropologie gegenwärtig so viel genannten Psychiater LOMBROSO war es vorbehalten, die durchaus nüchterne psychiatrische Lehre von der  moral insanity  in  unheilvollster Weise  zu verwirren - indem der selbe einerseits behauptete, daß  alle echten Verbrecher  als moralisch Irrsinnige im Sinne der Psychiatrie anzusehen sind, andererseits daß diese moralisch Irrsinnigen nicht wirklich einen pathologische Zustand verkörpern, sondern vielmehr eine besondere Varietät, eine besondere Spielart des  homo sapiens  darstellen. Diesen Typus bezeichnet LOMBROSO als den des geborenen Verbrechers, des  Delinquente nato - und faßt ihn auf als einen Rückfall auf niedere Entwicklungsstufen, als  Atavismus. 

Die Gründe, auf welche LOMBROSO sich hierbei stützt, sind teils gegeben in gewissen geistigen Eigenschaften vieler Gewohnheitsverbrecher, in welchen er Ähnlichkeiten mit dem Geisteszustand  wilder  Völkerschaften findet, teils in körperlichen Eigentümlichkeiten, welche angeblich so charakteristisch sind, daß LOMBROSO darin geradezu eine Art  Rassentypus  erblickt: Besonderheiten in der Bildung des Schädels, des Gesichts, z. B. ungeheure Entwicklung der Kauwerkzeuge, der Ohren, sogenannte Henkelohren, der Behaarung usw. sollen diesen "Tipo criminale" auszeichnen.

Die strenge Wissenschaft hat sich LOMBROSO nicht angeschlossen; er und seine Anhänger stehen  außerhalb  derselben. Die Gewohnheitsverbrecher repräsentieren selbst nicht zu einem Viertel einen ganz besonderen Typus, weder geistig, noch körperlich. Aber es gibt unter ihnen zweifellos eine prozentisch vorläufig nicht genau bestimmbare Anzahl, welche Abweichungen des Hirnbaues zeigen. Ich meine hier nicht jene, bei Verbrecherns  häufig  vorhandenen krankhaften Veränderungen am Schädel und den Gehirnäuten, infolge von allerhand Entzündungen, Infektionskrankheiten, Alkoholismus, Schädelverletzungen, welche die Verbrecherlaufbahn mit sich bringt, sondern wirklich  ursprüngliche angeborene  Bildungsanomalien des Gehirns, Abweichungen in der Form seiner Oberfläche, in der Anordnung seiner Windungen, in den Proportionen seiner Teile. Was haben diese zu bedeuten? Sie kommen, obwohl sie im Einzelnen vielfach variieren und somit keineswegs einen besonderen  Typus  darstellen, doch meist darin überein, daß diejenigen Hirnteile schlecht entwickelt sind, welche ich als  Assoziationsorgane,  als  geistige Zentren,  als  Denkorgane  bezeichnet habe. Daher vielfach die fliehende Stirn des Gewohnheitsverbrechers, welche durch eine ungeheure Entwicklung der lufthaltigen Stirnhöhlen oft scheinbar kompensiert, in der Regel aber noch auffälliger wird.

Zweifellos erklären uns diese Hirnbefunde eine Anzahl psychischer Eigenschaften mancher Gewohnheitsverbrecher, und zwar in erster Linie das häufige Vorkommen  intellektueller Inferiorität,  geistiger Minderwertigkeit. Ich rechne hierher insbesondere den völlig mangelnden Hunger nach Wissen, geistigen Besitz, den Mangel ernster objektiver Interessen, die Unfähigkeit, sich von der Zukunft ein umfassenderes Bild zu machen und so konsequent nach einem vernünftigen Ziel zu streben. Vielleicht beruth auf der geringen Entwicklung der geistigen Zentren auch die (bei wirklichen Idioten noch viel stärker ausgeprägte) Lust und Freude an vielfach kaleidoskopisch wechselnden äußeren Eindrücken: die eigentliche Wurzel des Vagabundencharakters, und die damit häufig verbundene Erschöpfbarkeit des Gehirns, welche schon nach kurzer Konzentration der Aufmerksamkeit ein lebhaftes körperliches Unbehagen erzeugt und solche Individuen arbeitsscheu macht, ja zum Verbrechen zwingt, wenn ihnen die Allgemeinheit nicht freiwillig Subsistenzmittel zur Verfügung stellt.

Schon diese letzteren Charakterzüge lassen sich indessen  nicht ohne einen geistigen Vorbehalt  lediglich aus der  Kleinheit  der geistigen Zentren ableiten; und dies gilt noch in weit höherem Maß vom  Gesamtcharakter  des Gewohnheitsverbrechers.

Zahlreich, einfach beschränkte Individuen mit schlecht entwickelten geistigen Zentren des Gehirns lassen keinerlei verbrecherische Tendenzen erkennen - Gesetzesübertretungen kommen ja infolge mangelnder Urteilsfähigkeit allenthalben vor - aber das gewohnheitsmäßige  aggressive  Vorgehen gegen die Gesellschaft, das rücksichtslose Sichhingeben an verbrecherische Impulse, die absolute Herrschaft rohester sinnlicher Triebe kommen der einfachen Geistesarmut infolge von Gehirnkleinheit nicht irgendwie regelmäßig zu!

Hier ist tatsächlich die Form des Gehirns, die Form, Größe und Verbindung seiner Teile nicht durchaus in erster Linie maßgebend!  Hier tritt auch ein Faktor in Wirksamkeit, welchen wir nach allem, was wir wissen, als einen  chemischen,  nicht als einen anatomische zu betrachten haben.

Die Gemütsstumpfheit, der Mangel an Mitgefühl, Mitleid, wie die Lust am Scheußlichen, die eigentliche Gemütsentartung entwickelt sich häufig unter unseren Augen, und wir können so die maßgebenden Bedingungen genau überblicken.

Daß hier vielfach eine  besondere Keimanlage  mitwirkt, welche von innen heraus die Entwicklung bis zur vollendeten Pubertät entscheidend beeinflußt, ist nicht zu bezweifeln. Jene unglücklichen Wesen, die infolge der Laster ihrer Eltern  schon im ersten Werden  vergiftet werden, sind offenbar vielfach durch die den Keimen zugesetzten Gifte, z. B. Alkoholmoleküle, unmittelbar zur Charakterentartung prädestiniert. Wenn solchen Organismen nicht die Kraft innewohnt, sich in allen Einzelheiten bis zur vollen Entwicklungshöhe auszubilden, so bleibt gelegentlich auch das Gehirn auf einer niederen Entwicklungsstufe stehen; es gesellt sich aber hier zur  Hirnkleinheit  noch die ererbte Reizbarkeit des Alkoholikers. Hier wirkt also ein immanenter Faktor nicht nur hemmend auf die Bildung, sondern auch alterierend auf die Fühlweise des Gehirns; und  derartige Kombinationen  ergeben häufig tief verbrecherisch veranlagte Naturen.

Es können aber auch Schädlichkeiten, welche  das bereits zur Welt gekommene  Wesen treffen, den Grund zu einer Charakterdepravation [Charakterverschlechterung - wp] legen. Hier stoßen wir nun auf das was man gewöhnlich  Milieu  nennt, und zwar das Milieu im weitesten Sinne - nicht nur die geistig-sittliche Beeinflussung durch die Umgebung, das ethische Milieu, sondern vor allem die  physischen,  die  körperlichen  Schicksale und Erlebnisse. Je jünger das Kind, umso verderblicher wirken alle gesundheitswidrigen Einflüsse auch auf den Charakter - noch bis zur Pubertät können physische Schädlichkeiten aus einem ursprünglich gutartigen Charakter eine völlig perverse Persönlichkeit mit der Verkehrung aller Triebe und Gefühle machen. Erst mit Abschluß der Triebentwicklung hört dies auf. Ist dann der Charakter in der Hauptsache fertig, so kann er nur noch quantitativ verändert werden, sofern nicht ausgeprägte Gehirn- und Geistessstörungen ins Spiel kommen, welche schließlich  alles  vernichten können. Die Gewohnheitsverbrecher mit niederem Hirntypus sind nun auf einer niederen Entwicklungsstufe stehengebliebene Individuen; sie befinden sich in Anbetracht der Hirnform in einem Zustand dauernder Kindheit - und  vielleicht  wirken schon deshalb krankmachende Faktoren bei ihnen besonders leicht depravierend auf den Charakter - wie bei wirklichen Kindern.

Betrachtet man die zu einer Charakterentartung führenden  körperlichen Einflüsse  etwas näher, so sind dieselben äußerst zahlreich. Neben schlechter Ernährung, erschöpfenden Exzessen, Infektionskrankheiten, schmerzhaften Leiden, welche im allgemeinen den Körper schädigen, neben umschriebenen schweren Hirnkrankheiten, tritt eine Gruppe von Vergiftungen und Nervenkrankheiten in den Vordergrund,  welche alle in einem Punkt übereinkommen, nämlich darin,  daß sie vorübergehend oder dauernd die  Schmerzgefühle  aufheben.

Das  Schmerzgefühl  ist ein wichtiger, ein  fundamentaler moralischer  Faktor. Ohne eigene Schmerzgefühle vermögen wir weder Mitleid zu empfinden, noch aus der Erfahrung zu lernen; der Schmerz, ansich die gröbste Form aller Unlustgefühle, ist die Basis zahlreicher feinster und edelster Gefühlsnuancen - und diese gehen alle verloren durch die Einflüsse, welche die Schmerzempfindung im allgemeinen aufheben. Alle die  Narkotika,  welche wir anwenden, um Schmerzen zu lindern, schädigen so  gewohnheitsmäßig  genommen die moralischen Gefühle; ich möchte hier nur auf das  Morphium  hinweisen, das schmerzlindernde Mittel  kat exochen  [schlechthin - wp]; gewohnheitsmäßiger Morphiummißbrauch schädigt auf das tiefste das sittliche Empfinden - und dasselbe gilt vom  Alkohol,  wenn er in  konzentrierter  Form genossen wird. - Es gibt aber auch eine Anzahl von Nervenkrankheiten, welche anfallsweise oder dauernd mit Schmerzlosigkeit, Analgesie, einhergehen, die Hysterie, der Hypnotismus, die Epilepsie - und auf ihrem Boden erwachsen schwere allgemeine Charakterveränderungen zum Teil mit einer Perversion der sittlichen Gefühle. Aus gutartigen, sozialgesinnten Wesen entwickeln sich unter ihrem Einfluß Charaktere, welche den Schrecken ihrer Umgebung bilden - mögen nun jene Nervenkrankheiten auf dem Boden einer Vergiftung, einer Gehirnerschütterung oder von Gemütsbewegungen oder sonst welcher Einflüsse erwachsen.

Der Schlüssel zu dieser fundamentalen Tatsache wird ausschließlich geliefert durch die  Gehirnanatomie.  Sie zeigt uns, daß es  gewissermaßen ein Charakterzentrum, ein Hauptorgan des Charakters im Gehirn gibt.  Dasselbe deckt sich mit dem Teil, welchen wir  Körperfühlsphäre der Gehirnrinde  nennen; hier kommt der  Körper  sich selbst zu Bewußtsein mit allen seinen Trieben, seinen Bedürfnissen, seinem Kraftvorrat, seinen Schmerzen etc.

Von der Erregbarkeit  dieses  Gehirnteils hängt es in erster Linie ab, ob die Triebe roh oder zart ins Bewußtsein treten.  Auf dieses Zentrum hat fast ein jeder Körperteil Einfluß;  in ihm summieren sich die von  allen  Körperorganen ausgehenden Nervenreize zur Stimmung, von ihm gehen die Impulse aus, wenn wir die Faust ballen, wenn wir teilnehmend die Hand drücken - die Impulse zu jeder zärtlichen Umarmung.

Der Charakter ist eine Resultierende des Gesamtkörpers; der  Intellekt  ist in der Hauptsache  nur von einzelnen Hirnteilen  abhängig, und zwar von anderen Teilen als der Charakter. Deshalb sind Intellekt und Charakter bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander; deshalb wirken Krankheiten nicht gleichmäßig schädigend auf das Licht des Verstandes und die Fülle des Herzens. Deshalb ist die Fähigkeit,  rein  begrifflich ethische Grundsätze für das Handeln im Gedächtnis aufzubewahren, nicht identisch mit der Aufnahme derselben in Fleisch und Blut. Dieses Fleisch und Blut muß besonders  geartet  sein, um sich ethische Grundsätze wirklich anzueignen; ist es entartet, so bietet es erzieherischen Einflüssen keinerlei Handhabe.

Die Charakterzentren des Gehirms sind es nun, welche durch viele narkotische Substanzen in erster Linie beeinflußt werden -  daher  die schmerzstillende Wirkung des Morphium auch ohne eine Aufhebung des allgemeinen Bewußtseins, daher die "sorgenbrechende" Wirkung des Alkohols!

Diese Gehirnteile sind es aber auch, in welchen die wichtigsten Nervenkrankheiten, die Epilepsie, die Hysterie ihren Hauptsitz, ihren  Haupt-Ausgangspunkt  haben. -  Deshalb  ändert sich der Charakter häufig in so schlimmer Form, wenn das wachsende Individuum von diesen Nervenkrankheiten betroffen wird; deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Alkoholiker und Nervenkranke zu den Verbrechern ein so großes Kontigent stellen. Und dasselbe gilt, wie ich besonders hervorheben möchte, auch von häufig sich wiederholenden  hypnotischen Zuständen - zweifellos wenn sie spontan entstehen! Viele Gewohnheitsverbrecher, insbesondere Schwindler und Hochstapler, sind Hypnotiker; viele der  gefährlichsten  Insassen der Irrenanstalten gehören zu denselben. Wahrscheinlich wirkt aber auch die  künstlich,  z. B. zu  Heilzwecken  erzeugte Hypnose ähnlich! Denn man beobachtet gar nicht selten bei Personen, welche  vor  der Anwendung der Hypnose keine Zeichen einer Charakterentartung darboten, eine solche in ausgeprägter Form nach einer häufigen Wiederholung dieser Prozedur. Es verdient diese  primäre,  von speziellen Suggestionen durchaus unabhängige Charakterschädigung, welche, wie mir scheint, den eigentlichen Schlüssel für gewisse aufsehenerregende Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit darstellt, meines Erachtens die vollste Aufmerksamkeit der Staatsbehörden.

Die Charakter-Entartung braucht also keineswegs angeboren zu sein;  Die Hirnform ist nicht das in erster Linie entscheidende. Und so finden wir dann die Stumpfheit der sittlichen Gefühle auch bei Individuen, welche sich durch eine hohe,  ja eine eminent intellektuelle Begabung auszeichnen,  deren Gehirn  auf das reichste entfaltet  ist. Und hierin liegt ein weiterer Grund, um das Suchen nach einem bestimmten  körperlichen Typus  des Gewohnheitsverbrechers von vornherein für ein  völlig verfehltes Beginnen  zu erklären.

Es gibt Verbrechernaturen von hoher intellektueller Begabung; jene erstgenannten mit niederem Hirntypus sind nur der  eine  Endpunkt der Reihe, die in Rede stehenden stellen den anderen Pol dar.  Hier  verbinden sich die verbrecherischen Instinkte mit gewaltigen Verstandeskräften; und es kommt so zu ungeheuerlichen Unternehmungen, welche auf den ersten Blick mit den Tendenzen des gewöhnlichen gedankenarmen Verbrechertums, Ähnlichkeit überhaupt nicht erkennen lassen. Man bezeichnet häufig - mit Recht? - NAPOLEON I. als Repräsentanten dieser mit ungeheurem Intellekt gepaarten  dämonischen Naturen.  Es ist sehr wahrscheinlich, daß derselbe epileptisch war, wie alle großen Cäsaren; keineswegs aber ist erwiesen, daß er nur vermöge seines  epileptischen  Charakters nicht davor zurückscheute, Millionen dem Verderben preiszugeben - denn bei seinen Landsleuten, den Korsen, galt, wie TAINE hervorhebt, das Menschenleben überhaupt nicht viel, so daß NAPOLEON sehr wohl die Gefühlskälte von den korsischen Vorfahren unmittelbar ererbt haben könnte.

Wo die Epilepsie, wie bei NAPOLEON, in ihren  gewöhnlichen  Erscheinungen nur selten hervortritt, scheint die Krankheit  gelegentlich  die geistige Spannkraft ins Unendliche zu erhöhen; die krankhafte Reizung des Gehirns entlädt sich hier nicht in einzelnen blitzartigen Schlägen - sondern es kommt zu einer dauernden Schwüle im Seelenorgan, welche tropischer Hitze gleich treibend auf die Gedanken-Vegetation wirkt und sich zeitweise zu einer wahrhaft übernatürlichen Glut der Triebe und Gefühle steigert - Zustände, für welche MOHAMMED eines der bekanntesten Beispiele darstellt.

Diese Tatsache hat nun zu einem weiteren Irrtum verführt, welcher wiederum durch LOMBROSO den extremsten Ausdruck gefunden und die Kritik auf das Schroffste herausgefordert hat. LOMBROSO glaubt die Natur des genialen Menschen,  das Wesen des Genies überhaupt  definieren zu können als einen  Degenerationszustand  aus der Gruppe der  epileptischen Störungen  in Form des  moralischen Irreseins.  Ich schätze mich glücklich, durch meine Untersuchungen zu dem Nachweis gelangt zu sein, daß  auch diese ungeheuerliche Lehre  LOMBROSOs sich auf einen  fundamentale  Irrtum gröbster Art gründet - und bitte demgemäß mir zum Schluß noch einige Erörterungen gestatten zu wollen darüber,  inwiefern auch der geniale Mensch als ein Bewohner des Grenzgebietes  geistiger Gesundheit und Krankheit zu betrachten ist.

Es ist keineswegs eine Gepflogenheit der Neuzeit zwischen Genie und Wahnsinn etwas Verwandtes zu finden. Im Gegenteil, wie eine Sage aus der Urheimat der Völker zieht sich durch die Literatur  aller  Kulturnationen diese Überzeugung hindurch. Schon PLATO nennt es einen alten Spruch, daß ohne einen gewissen Wahnsinn kein echter Dichter sein kann, und nach dem Bericht von SENECA hat auch ARISTOTELES den Ausspruch getan, daß  niemals  ein großes Ingenium ohne eine Beimischung von Narrheit gewesen ist - und von HORAZ bis SHAKESPEARE, VOLTAIRE, SCHOPENHAUER huldigen zahlreiche große Geister derselben Meinung.

Spürt man den Gründen nach, welche hierzu geführt haben, so stößt man gewöhnlich auf die Angabe, daß Genies häufiger dem Wahnsinn verfallen als die gewöhnlichen Geister. Indessen sind die  größten  Genies niemals geisteskrank gewesen. Wenn ein Geist wie SHAKESPEARE, der genug Fläche besitzt, um von der  ganzen  Menschheit Jammer angepackt zu werden, gelegentlich etwas schwermütig wird, so ist das lange nicht identisch mit Geistesstörung.

Das Genie macht zweifellos nicht immun gegen alle möglichen Körperkrankheiten:  Exzesse rächen sich bei ihm , wie beim gemeinen Sterblichen; aber bei näherer Besichtigung finden wir tatsächlich wenig Geniale ersten Ranges, bei welchen sich lediglich  aus der angeborenen Konstitution heraus  eine Geistesstörung entwickelt hätte. Es sind mehr Geister zweiten Ranges, diejenigen, welche sich hauptsächlich im Ungezügelten und Grenzenlosen betätigen zu müssen glauben; es sind die  einseitig  veranlagten Naturen, welche in größerer Gefahr schweben. - Auch die mancherlei  Sonderbarkeiten,  welche Genies zeigen, sind nicht beweisend - die intensive Versenkung in geistiges Schauen bringt naturgemäß ein Sichvergessen mit sich, das Suchen nach ewigen Wahrheiten läßt die gemeine reale Welt zeitweise völlig in den Hintergrund treten - und dies gilt auch vom Zustand des  Dichters,  wenn er in ekstatischer Begeisterung dem Weben seines Geistes lauscht.

Um aber zu einem wirklich entscheidenden Urteil zu gelangen, haben wir uns in erster Linie die Frage vorzulegen,  worauf beruth das Genie;  und diese Frage gliedert sich für den  Hirn forscher sofort in die Alternative: beruth es auf einem besonderen  Bau  des Gehirns - oder auf einer besonderen  Reizbarkeit, Anspruchsfähigkeit,  also nach unseren jetzigen Begriffen auf  chemischen  Faktoren?

Mit aller Entschiedenheit können wir die erstere Alternative annehmen. Das Genie ist stets gepaart mit einem besonderen Bau, einer besonderen Organisation des Gehirns.  Erst die neueste Zeit hat die Beweise hierfür erbracht! Bis vor kurzem mußte man sich begnügen, das  Gesamtgewicht des Gehirns  hervorragender und gewöhnlicher Menschen zu vergleichen. Es war da nicht möglich, zu durchaus gesetzmäßigen Zahlen zu gelangen. Wenn auch in der Regel ein größeres Hirngewicht bei den Genialen gefunden wurde, so waren doch Ausnahmen zu verzeichnen. Jetzt wissen wir, daß die verschiedenen Abschnitte auch des Großhirns nicht alle gleichwertig sind; wir können die geistig wichtigeren von den weniger wichtigen scharf abgrenzen und so auch die Frage beantworten, ob die Genialen eine besondere Entwicklungshöhe der  geistigen Organe  zeigen; -  und diese Frage ist mit aller Entschiedenheit zu bejahen! 

In früheren Zeiten war die Meinung weit verbreitet, daß das  Stirnhirn  ganz besonders maßgebend für die geistige Bedeutung ist, daß  hier  der Sitz aller höheren Geistigkeit zu suchen ist, wie auch GALL den philosophischen Scharfsinn, das Induktionsvermögen etc. hier lokalisierte. Nach meinen Untersuchungen ist in der Tat im Stirnhirn ein geistiges Zentrum gelegen; es gibt jedoch daneben noch mehrere Denkorgane, darunter ein besonders umfängliches, unter dem Scheitelhöcker befindliches. Wir finden nun, daß  dieses geistige Zentrum der hinteren Scheitelgegend  sich  bei allen  wahrhaft genialen Männern, deren Hirn bis jetzt untersucht worden ist, durch eine besondere starke Ausbildung auszeichnet. Bei manchen Künstlern, wie BEETHOVEN und vermutlich auch BACH, fällt  ausschließlich  die enorme Entwicklung  dieser Hirngegend  auf, bei großen Gelehrten, wie dem Mathematiker GAUSS und anderen sind die hinteren  und die  vorn im Stirnhirn gelegenen Zentren stark entwickelt.  Das wissenschaftliche Genie zeigt also andere Verhältnisse des Hirnbaus wie das künstlerische.  (1) Da die Untersuchungen über diese Frage aber noch zu jungen Datums sind, als daß  Allgemeingültiges  schon jetzt gegeben werden könnte, muß ich mich bescheiden, die fundamentalen Gesichtspunkte hier nur anzudeuten.

Durch die starke Entwicklung einzelner Hirnteile werden  nun  die  Proportionen  des Gehirns bei Genialen andere als bei gewöhnlichen Menschen; es tritt eine Art Disproportionalität ein - besonders bei großen Künstlern, weniger bei den großen wissenschaftlichen Forschern. Insofern  praeter propter  [ferner oder näher - wp] der Einfluß eines Hirnteils auf das Ganze seinem Volumen parallel gehen dürfte, können wir somit kaum bezweifeln, daß im Gehirn manches (!) genialen Künstlers die hinteren geistigen Organe alle übrigen beherrschen. Nun sind zweifellos gerade an sie die wesentlichsten Faktoren der  Phantasie  gebunden, die Komposition äußerer Eindrücke des Gesichts, Gehörs und Tastsinns, des Rohmaterials  aller  Künste zu neuen geistigen Gebilden, - und so wird es verständlich, wie die Phantasie das eigentlich Formbestimmende für den genialen künstlerischen Geist wird, wie die Phantasie alles andere überwuchert und frei und ungebunden schaltet.

Das geniale Gehirn ist somit nicht in erster Linie oder gar ausschließlich durch den Grad seiner Erregbarkeit von dem des gesunden mittleren Menschen verschieden, nicht die Reizbarkeit ist das allein Entscheidende. Das Gehirn der Genialen ist  reicher gegliedert,  besitzt eine feinere Organisation, stellt einen vollkommeneren Mechanismus dar, der schon an Zahl der geistig wichtigen Elementarteile dem gemeinen Gehirn unendlich überlegen ist. Es arbeitet vermöge seines Reichtums an einzelnen geistigen Kraftzentren lebhafter, auch ohne krankhaft überreizt zu sein.

Tatsächlich besteht aber auch keinerlei Wesensgleichheit zwischen den  genialen  und den  pathologischen Geistesprodukten.  Beim genialen Menschen macht sich das gesteigerte Hirnleben als bildendes, schöpferisches Prinzip geltend, kommt es zur Entstehung in sich einheitlicher wohlgeordneter logisch zusammenhängender geistiger Gebilde - beim geisteskranken  Maniacus  herrscht die Lockerung, die Dissoziation vor. Hier wirbelt eine krankhaft erregte Stimmung große Mengen ungeordneter Vorstellungen empor, die auch nachträglich im Bewußtsein nicht geordnet werden, während der geniale Künstler - wie SCHILLER sagt, das Unbewußte mit dem Besonnenen verbindend - von vornherein geordnet denkt und schaut. Wenn es auch gelegentlich beim Wahnsinn zum Schauen wirklich neuer origineller, auch im Gefühlston einheitlicher Phantasiegebilde kommt, welche eines gewissen künstlerischen Anstrichs nicht entbehren, so reicht doch diese Originalität  nicht aus,  um solchen Geistesprodukten den Rang von  Kunstwerken  zu verleihen - denn sie entbehren der typischen Bedeutung, es ist nichts in ihnen, was geeignet wäre der Kunst Gesetz und Regel zu geben - und die Beobachtung geisteskrank gewordener Künstler zeigt demgemäß, daß mit dem Auftreten des Wahnsinns die Schaffenskraft nicht zu, sondern rapide abnimmt.

Ist  so  auch die Ähnlichkeit zwischen den  geistigen Gebilden  des Wahnsinns und der genialen Produktion eine ganz oberflächliche, so liegt keinerlei Grund vor, die Kräfte, die im Genie zur Entfaltung gelangen, dem Wesen nach zu identifizieren mit jenen, welche im krankhaft zerrütteten Geist herrschen und z. B. die übernatürliche Glut im Gehirn mancher Epileptiker entfachen.

Ebensowenig besteht aber zwischen dem Geisteszustand des  Verbrechers  und dem des Genies eine  allgemeine  Wesensverwandtschaft. Durchaus unerwiesen ist zunächst die Behauptung LOMBROSOs, daß die eminente Entwicklung des Intellekts in  gesetzmäßiger  Weise die sittlichen Gefühle in den Hintergrund drängt, ja sie gänzlich vernichtet. Die sittlichen Defekte großer Männer finden sich in gleicher Weise bei Millionen von Mittelmäßigen, eine Tatsache, welche wiederum nur beweist, daß der Intellekt zumindest teilweise von anderen Faktoren abhängig ist als die sittlichen Gefühle.

Die Anatomie aber lehrt unwiderleglich, daß die Hirnorganisation der genialen Menschen und die  der Verbrecher meist - keineswegs immer, Gegensätze darstellen, zwischen welchen die denkbar breiteste und tiefste  Kluft  gähnt. Der  ab ovo  [vom Ei weg - wp] entartete Gewohnheitsverbrecher nähert sich in seinem Hirnbau vielfach dem  Tier,  er zeigt wieder  pithekoide,  d. h. affenähnlich Züge im Hirnbau - der Hirnbau der Genialen entfernt sich  nach der entgegengesetzten Richtung  hin von der mittleren Norm.

Indem sich der Mensch aus der Tierwelt emporgehoben hat durch die fortschreitende Vergrößerung seiner geistigen Zentren, ist die noch über das Mittel hinausragende Größe der Denkorgane bei Genialen ein Beweis dafür, daß  hier  die Natur den Anlauf nimmt zur  Weiterbildung des Menschengeschlechts  über seine ehemalige Entwicklungshöhe hinaus. Das Genie ist keine Entartung nach abwärts, sondern, wie insbesondere die  Anatomie  klar und deutlich zeigt, der  Fortschritt zu einem höheren Typus,  ganz in der Richtung der aufwärts strebenden Entwicklung in der Reihe der Geschöpfe - und  daher  wohl unsere ahnungsvolle Ehrfucht vor den  wirklichen  Heroen des Geistes.

Hier kommt die exakte Wissenschaft zu einem Resultat, welches sich deckt mit den Forderungen des gesunden Menschenverstandes - der es niemals zugestehen wird, daß die großen führenden Geister der Menschheit, insbesondere auf den Gebieten von Wissenschaft und Kunst, irgendeine Wesensverwandtschaft mit dem Abschaum des Menschengeschlechts, dem Gewohnheitsverbrecher haben.

Wir dürfen uns aber deshalb auch nicht wundern, wenn der wirklich gesunde Menschenverstand in den Ideen eines LOMBROSO nichts weiter erblickt, als einen kläglich gescheiterten Versuch das Glänzende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen - und daß der gemeine Verstand kraft dieser Erkenntnis Bedenken trägt, den Aussprüchen  derartiger  psychiatrischer Autoritäten eine höhere Bedeutung beizumessen!

Nur sollte man nicht soweit gehen, die Psychiatrie  als solche  für die Ausschreitungen einzelner ihrer Vertreter verantwortlich zu machen. Jede Wissenschaft hat Entwicklungskrankheiten zu überwinden, und die Psychiatrie befindet sich mitten im Ringen aus dem Zustand der jugendlichen Unreife herauszukommen, welcher ihr zum guten Teil  infolge rein äußerer Einflüsse  noch anhaftet.

Noch nicht lange ist sie heimisch an den Universitäten, welche in Deutschland  auf wissenschaftlichem Gebiet  noch immer die Hauptstätten des Wettkampfes der Geister darstellen; sie ist die jüngste unter den klinischen Disziplinen und findet erst seit Kurzem einige Beachtung an maßgebenden Stellen. Ist es unter solchen Umständen  gerecht  zu fordern, daß die Psychiatrie  nur  Vollkommenes leistet?

LITERATUR - Paul Flechsig, Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit, Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) RICHARD WAGNER nimmt durch die starke Entwicklung des Stirnhirns BACH und BEETHOVEN gegenüber sichtlich eine Sonderstellung ein.