p-4 Th. MeynertP. FlechsigP. SamtA. KronfeldP. Schilder    
 
WILHELM SPECHT
Über den Wert der pathologischen Methode
in der Psychologie und die Notwendigkeit
der Fundierung der Psychiatrie auf
einer Pathopsychologie

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"Es ist irrelevant, wie die Beziehungen zwischen Gehirn und Seele gedacht werden. Bedeutungsvoll, folgenschwer aber für die von den empirischen Wissenschaften zu leistende Arbeit wird der Satz, daß die Bewußtseinserscheinungen Gehirnfunktionen sind, erst in dem Augenblick, wo er dazu führt, daß das geistige Auge des Psychiaters oder Psychologen blind wird für die Doppelseitigkeit der Erscheinungswelt, wo er nur noch physische Vorgänge als die allein realen gelten läßt, ihnen den Vorrang vor den psychischen einräumt und das Psychische selbst zu einer bloßen Begleiterscheinung degradiert."

"Dem Mediziner treten während seiner ganzen Arbeit keine anderen Gegenstände entgegen als solche, die in der äußeren Wahrnehmung gegeben sind, Dinge, die man in die Hand nehmen, mit den Augen sehen, mit den Ohren hören kann. Die medizinische Wissenschaft ist ausschließlich auf den Körper und seine Organe gerichtet. Kein Wunder, daß es ihm da, wo ihm plötzlich ein Gegenstand entgegentritt, den er sonst nirgends zu sehen bekommen hat, nicht gelingen will, sich von seiner Einstellung das das körperliche Organ zu befreien und in diesem eigenartigen Gegenstand mehr zu sehen als eine bloße Erscheinungsform materiellen Geschehens."


Zur Einführung

Was diese Zeitschrift will, soll durch das Wort Pathopsychologie zum Ausdruck gebracht werden (1). Als psychologische Disziplin macht sie es sich zur Aufgabe, die Pathologie des Seelenlebens für die psychologische Erkenntnis nutzbar zu machen oder, was dasselbe ist, die pathologische Methode in die Psychologie einzuführen und von ihr systematisch Anwendung zu machen. Die Anwendung der pathologischen Methode in der Psychologie - also die Gewinnung irgendwelcher Einsichten von der Pathologie her, die Entscheidung über den Wahrheitsgehalt irgendwelcher in der Psychologie aufgestellter Sätze und Hypothesen durch die Pathologie - setzt aber eine sorgfältige Deskription und Analyse der pathologischen Phänomene selbst voraus. Mit der beharrlichen Verfolgung des Ziels, das sich die Zeitschrift steckt, muß also der Ausbau jener wissenschaftlichen Disziplin einhergehen, die im allgemeinen Teil der Lehrbücher der Psychiatrie unter dem Titel "Die Erscheinungen des Irreseins" abgehandelt zu werden pflegt.

Da ein wirkliches Verständnis der psychischen Krankheiten und ebenso die Psychotherapie nur möglich ist durch Einsicht in den psychischen Mechanismus der Störungen, also fundiert sein muß auf einer Pathopsychologie, so muß die Zeitschrift mit ihren Bestrebungen beiden dienen - den Psychologen und den Pathologen, den Psychiatern.

Mit diesen wenigen Sätzen ist gesagt, was die Zeitschrift will. Aber, so fragen wir, wie steht es mit ihrem Recht auf Dasein? Über dieses Recht ist ja noch nichts ausgemacht mit der subjektiven Überzeugung eines Einzelnen oder Vieler, daß das, was hier angestrebt wird, die Pflege der pathologischen Methode in der Psychologie und die Fundierung der Wissenschaft von den psychischen Krankheiten auf eine Pathopsychologie, notwendig angestrebt werden muß. Sowohl die Überzeugung von der Brauchbarkeit einer Methode wie der allgemeine Beifall ihrer Anwendung können trügerisch sein. Da lehrt die Geschichte aller Wissenschaften, nicht nur der Metaphysik, auch der empirischen Wissenschaften.

Nun ist es zwar gewiß, daß die beste Empfehlung einer Methode ihr tatsächlicher Erfolg ist. Und so mögen dann diejenigen, an die sich diese Zeitschrift wendet, schließlich aus ihr selbst entnehmen, was sie zu leisten vermag. Gleichwohl, soll der Erfolg eines Unternehmens auch nur einigermaßen gesichert sein, so gibt es dafür keinen anderen Weg, als daß man vorher die Grenzen desjenigen absteckt, was überhaupt erreichbar ist, und daß man das Werkzeug prüft, mit dem das gesteckte Ziel erreicht werden soll. Das Recht auf Dasein, wenn es ein solches für diese Zeitschrift gibt, kann nur in den Sachen selbst gründen. Es muß möglich sein, an der pathologischen Methode die Vorzüge aufzuweisen, die sie vor anderen psychologischen Methoden voraus hat. Und es muß in der Natur der Gegenstände, welche die Psychiatrie bearbeitet, und ihrer Aufgabe begründet sein, wenn die Forderung einer Fundierung der Wissenschaft von den psychischen Krankheiten auf einer Pathopsychologie zu Recht bestehen soll.

Derartige Betrachtungen dürften umso mehr am Platz sein, als das, was diese Zeitschrift will, auf Bedenken, wenn nicht gar auf Widerstände stoßen muß zunächst bei jenen Psychologen, die entweder in der Pathologie des Seelenlebens nichts anderes sehen als ein Anwendungsgebiet der Psychologie oder die behaupten, das normale Seelenleben dürfe nicht von der Pathologie her erklärt werden, womit in beiden Fällen die Leistungsfähigkeit der pathologischen Methode in Zweifel gezogen ist - und zu anderen bei all jenen Psychiatern, die es vorziehen, ihre Kranken mit Medikamenten oder anderen auf den Körper wirkenden Mitteln zu behandeln statt durch die Einwirkung auf das Seelenleben selbst.

Schauen wir zunächst auf die Psychologie, so kann es sich in diesem Zusammenhang nicht darum handeln, den Gründen nachzuspüren, weshalb es der Psychologie, trotzdem sie sich unter der Führung WUNDTs zu einer selbständigen, mit exakten Methoden arbeitenden Wissenschaft entwickelt hat, und trotzdem die literarische Produktion auf ihrem Gebiet ins Unübersehbare wächst, nicht gelingen will, Sätze aufzustellen, die lehrbar sind und sich allgemeiner Anerkennung erfreuen. Und ebensowenig kann es an dieser Stelle unsere Aufgabe sein, in diesem Streit Stellung zu nehmen der gerade heute wieder um die Methoden der Psychologie, speziell um die experimentelle Methode geführt wird. Worauf es uns in diesem Zusammenhang ankommt, worauf wir es allein abgesehen haben, ist die Herausstellung der Vorzüge, welche die pathologische Methode der experimentellen voraus hat. Fassen wir unsere Aufgabe so, so liegt darin die Anerkennung der Leistungsfähigkeit der experimentellen Methode. Das darf nun freilich nicht so mißverstanden werden, daß wir uns auf die Seite derjenigen Experimentalpsychologen stellen, gegen die der "LOGOS" (2) in diesen Tagen seine Angriffe gerichtet hat. Auch wir halten dafür, daß alle jene Fragen, die die Erkenntnis des Psychischen, sein Wesen und seine letzten Konstituentien angehen, Fragen etwa, ob Fremdpsychisches nur durch Einfühlung gegeben sein kann, ob dem Psychischen eine Ichbeziehung eigen ist, ob es für diese Ichbeziehung Stufen gibt, ob jedes Urteil auf einem Vorstellen fundiert, ob es Gedanken, Bewußtseinsgrade gibt, ob zwischen Inhalt und Funktion unterschieden werden muß usw., Fragen sind, die durch keine Beobachtung und kein Experiment entschieden werden können. Die Beobachtung setzt den zu beobachtenden Gegenstand bereits voraus. Sie gehören der Theorie der Erkenntnis des Psychischen an und gehen als philosophische Propädeutik der Psychologie oder als Phänomenologie des Psychischen der Psychologie als induktiver Wissenschaft voraus. Aber damit ist im Grunde nichts gesagt gegen den Wert der experimentellen Methode in der Psychologie. Denn diese besteht überall da zu Recht, wo es sich um Aufgaben der Psychologie als induktiver Wissenschaft handelt, um die Auffindung konkreter induktiver Gesetzmäßigkeiten, und zwar in doppelter Gestalt. Einmal in der Form des reinen Experiments, das ohne Zuhilfenahme der Methode der inneren Beobachtung die Gültigkeit des <Weberschen Gesetzes oder Fragen beantworten kann wie die, ob ein Gedicht am schnellsten gelernt wird, wenn es als Ganzes oder in Teilen gelernt wird. Und zweitens in jener Verbindung von Experiment mit innerer Beobachtung, die überall da möglich ist, wo es sich um Fragen handelt, über die die innere Beobachtung entscheiden kann (3).

Die Vorzüge dieser von WUNDT so genannten "experimentell geregelten Selbstbeobachtung" gegenüber der Methode der reinen Selbstbeobachtung sind von ihm selbst eingehend erörtert worden. Das Einzelne darüber können wir an dieser Stelle umgehen. Wir heben nur den einen wesentlichsten Vorzug heraus, daß es durch eine planmäßige Variierung der experimentellen Bedingungen des psychischen Geschehens und durch eine Variierung der Aufgabe, mit der jedesmal eine neue innere Blickrichtung, eine neue "Einstellung" oder eine neue Richtung der geistigen Aufmerksamkeit gesetzt wird, möglich ist, den Zusammenhang der psychischen Funktionen zu analysieren und so die Bedeutung und Wechselbeziehung der einzelnen Funktionen zu ermitteln. Ob nun die Isolierung einzelner Funktionen durch eine Variierung der Aufgabe angestrebt wird, wie z. B. in den Abstraktionsversuchen KÜLPEs, in denen sich die Beobachter abwechselnd auf den Sehinhalt und auf die Bedeutung des Gesehenen einstellen sollten, oder ob sie, wie in gewissen Gedächtnisversuchen, in denen es sich etwa darum handelt, den Anteil der einzelnen Komponenten an der Gedächtnisleistung zu ermitteln, durch eine Variierung der experimentellen Bedingungen selbst herbeigeführt wird - in jedem Fall stellt sich das, was hier angestrebt wird, die Analyse eines komplexen Vorgangs durch die Eleminierung einzelner Funtionen als eine ideale Forderung dar, die bis zu einem gewissen Grad, aber niemals absolut erfüllt werden kann. Von den einzelnen Funktionen kann abgesehen, sie können bis zu einem gewissen Grad oder auch ganz unterdrückt werden, aber eine absolute Ausschaltung dieser Funktionen ist im normalen Seelenleben, unter normalen Bedingungen nicht denkbar. Normaliter ist nun einmal mit der Wahrnehmungsfunktion die Erkennungsfunktion verbunden oder normaliter ist nun einmal das körperliche Gedächtnis im Sinne BERGSONs mit dem vorstellenden oder wiederschauenden Gedächtnis verknüpft. Es wäre kein normales Seelenleben mehr, in dem diese Verbindung derartig gelöst ist, daß von den Funktionen, die zusammen sind, eine absolut ausgeschaltet ist. Gewiß, durch eine entsprechende Richtung meiner geistigen Aufmerksamkeit kann ich von der Wahrnehmungsfunktion abstrahieren und nun auf die im Sehinhalt fundierte Bedeutung eingestellt sein, und umgekehrt kann ich von der Bedeutung abstrahieren und auf den reinen Inhalt eingestellt sein. Eine völlige Ausschaltung einzelner Funktionen aber gibt es im normalen Seelenleben nicht. Sie findet sich nur in der Pathologie. Nur in der Pathologie gibt es ein solches Phänomen, daß jemand, der einen Gegenstand mit der Hand umfaßt, ihn als diesen bestimmten Gegenstand erfaßt, während die Hand anästhetisch ist. Nur unter pathologischen Bedingungen kann die Erkenntnisfunktion wirklich ausgeschaltet sein, während Wahrnehmungs- und Erinnerungsfunktion erhalten sind. Nur in der Pathologie gibt es derartiges, daß die in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Gegenstände ihren Anspruch, da zu sein, aufgeben. Dasselbe, was hier von der Ausschaltung der Funktionen gilt, gilt nun auch da, wo die Funktionen selbst nicht in einem eigentlichen Sinn ausgeschaltet sind, sondern wo das Pathologische darin besteht, daß die normale Bindung einer Funktion an die andere gelöst ist oder daß der Aufbau der Funktionen aufeinander in seiner normalen Struktur pervertiert ist. Normaliter vollzieht sich das Abzeichnen und ebenso auch das Erlernen des Abzeichnens einer an die Tafel geschriebenen Figur so, daß sich die Tendenz zur Schreibbewegung vom Gesichtsbild der Figuer her unmittelbar realisiert (4); zur Realisierung dieser Bewegungsintention bedarf es keiner Bewegungsempfindungen, die durch eine Führung der Hand vermittelt wurden. Nur bei kranken Kindern ist zum Erlernen des Kopierens die Führung der Hand durch den Lehrer nötig. Nur in pathologischen Fällen bedarf es in analoger Weise zum Aussprechen eines einen gesehenen Gegenstand bezeichnenden Wortes der Vermittlung von reproduzierten Sprechbewegungsempfindungen, die bei einer früheren Aussprache des gleichen Wortes erlebt worden sind. Normaliter realisiert sich alles Wollen so, daß die auf die Realisierung eines bestimmten Inhaltes zielende Willensintention alle die zur Realisierung der gewollten nötigen Zwischenakte automatisch ins Spiel treten läßt, ohne daß die einzelnen Bewegungsakte selbst intendiert werden. Es ist eben anormal oder pathologisch, wenn sich zwischen dem Ziel der Willensintention und die zu seiner Realisierung nötigen Bewegungsakte diese Akte als selbstintendierte einschieben. Nur in pathologischen Fällen besteht jene Willenslehre zurecht, daß die Erfüllung einer Willensintention an die Bewegungsvorstellung ursächlich gebunden ist. Normaliter wiederum ist die Struktur des Wahrnehmungsvorganges so, daß die Inhalte auf dem Empfindungsmaterial fundiert, auf den Inhalten die Bedeutungen fundiert sind. So "sieht" der Lotse in der Wolkenbildung den Sturm, was sie ihm bedeutet, ist fundiert auf den Sehinhalten, und diese selbst wiederum im Empfindungsmaterial. Es ist pathologisch, wenn dieser normale Schichtenaufbau dahin pervertiert ist, daß, wie es für die Struktur der Halluzinationen zutrifft, die Bedeutung nicht auf den Inhalten fundiert ist, sondern eine bereit stehende Bedeutungsintention sich gleichsam zwischen Empfindung und Inhalt hineinschiebt.

Wir betonen es nochmals: in beiden Gruppen von Phänomenen, sowohl da, wo Funktionen ausfallen, wie da, wo ihre normale Bindung gelöst oder ihr normaler Aufbau pervertiert ist, handelt es sich um pathologische Phänomene, um Phänomene, die nur im krankhaft veränderten Seelenleben vorkommen, um Phänomene, die im normalen Seelenleben unter Zuhilfenahme der experimentellen Methode in geringerem oder höherem Grad nachgebildet, aber niemals vollkommen adäquat realisiert werden können.

Daraus ergibt sich hinsichtlich der Bedeutung der Pathologie für die psychologische Erkenntnis zweierlei, eine negative und eine positive Bestimmung. Überall da, wo Phänomene gegeben sind, die nur unter pathologischen Bedingungen vorkommen, ist eine unmittelbare Anwendung der Pathologie auf die Psychologie unstatthaft. Damit geben wir denjenigen recht, die behaupten, das normale Seelenleben dürfe nicht von der Pathologie her erklärt werden, und damit legen wir den Finger auf den Irrtum jener, die, ohne daß sie die Frage gestellt haben, ob das, was vorkommt, nur in der Pathologie oder für das Seelenleben schlechthin gilt, psychologische Theorien von der Pathologie her konstruiert haben oder sich rühmen, für ihre falschen Theorien eine Bestätigung in der Pathologie gefunden zu haben. Gewiß - davon wird sogleich zu sprechen sein - irgendwelche in der Psychologie gemachten Annahmen können durch die Pathologie widerlegt oder bestätigt werden. Aber niemals auf dem Weg, daß das, was in der Pathologie gilt, ohne weiteres auf das normale Seelenleben übertragen wird. Halluzinationen sind nun einmal pathologische Erscheinungen, und keine Verbindungsbrücke führt von der Halluzination über die Jllusion zur normalen Wahrnehmung, derartig, daß zwischen Halluzination, Jllusion und normaler Sinneswahrnehmung nur ein Unterschied des Grades besteht. Und ebenso ist es pathologisch, wenn die Willensintention zur Realisierung ihres Inhaltes der Bewegungsvorstellung bedarf, oder wenn dem Kind zum Erlernen des Kopierens die Hand vom Lehrer geführt werden muß, damit es während des Vollzuges der Bewegung Bewegungsempfindungen hat und diese wieder reproduzieren kann. Daß man diesen Unterschied von Geltung "nur in der Pathologie" und "im Seelenleben schlechthin" übersehen hat, daraus sind in der Tat eine ganze Reihe falscher psychologischer Theorien entstanden. Wie man in unkritischer Weise aus dem Phänomen des positiven Nachbildes, das in all seinen Elementen dem Urbild gleichen soll, und aus der Tatsache, daß zwischen dem Gehalt der sinnlichen Wahrnehmung und dem Leib Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, falsche Theorien der Sinneswahrnehmung, ja metaphysische Theorien über die Subjektivität der Wahrnehmungsinhalte abgeleitet hat, so hat man in analoger Weise einfach daraus, daß dies oder jenes im Seelenleben überhaupt vorkommt, Schlüsse gezogen auf seine allgemeine Geltung, ohne vorher die Frage zu stellen, ob das, was gesehen worden ist, nicht nur für das pathologische Seelenleben gelten dürfte. So beruft sich etwa die Assoziationspsychologie zur Bestätigung ihrer Lehren auf die gedankenlosen und hier in der Tat nach den Assoziationsprinzipien verknüpften Wortreimereien der ideenflüchtigen Kranken und Trunkenbolde, oder so beruft man sich gar, um die Seelensubstanzlehre zu widerlegen, auf die Spaltungen des Ich, wie sie bei Hysterischen beschrieben worden sind, und ignoriert hierbei die Tatsache, daß es sich dort um die Reden eines Manischen oder Trunkenboldes, hier um die Ichspaltungen und noch dazu nur scheinbaren Ichspaltungen eines Hysterischen handelt, daß es außerdem, zumindest hier und da, noch denkende und nicht angetrunkene und nicht hysterische Menschen gibt.

Der Psychologe, der sich des hier gerügten methodischen Fehlers versieht, begeht denselben Fehler, den der Physiologe begehen würde, wenn er das, was bei einem kranken Organ, etwa der Niere vorkommt, zu einer Funktion des Organs schlechthin machen wollte. Es ist aber nur die kranke Niere, die Eiweiß ausscheidet, das gesunde Organ tut das nicht.

Und doch - damit kommen wir nunmehr zur positiven Bestimmung - wie die Physiologie die Einsicht in die Funktionen der Organe ganz wesentlich der Pathologie verdankt, ja wie das meiste, was wir z. B. über die Funktionen des Gehirns und des Rückenmarks wissen, der pathologischen Beobachtung, insbesondere dem Ausfall der Funktionen entnommen worden ist, in der gleichen Weise vermag die Pathologie des Seelenlebens der psychologischen Erkenntnis zu dienen. Erst dadurch, daß etwas ausfällt, lerne ich sehen, was überhaupt da ist. Und erst dadurch, daß die normale Bindung der Funktionen aneinander gelöst ist, lerne ich sehen, wie sie aneinander gebunden sind, und welche Bedeutung die einzelne Funktion für das Ganze hat. So macht mich das pathologische Phänomen der Depersonalisierung darauf aufmerksam, daß dem Psychischen eine Ichbeziehung eigen ist. Oder so belehrt mich das pathologische Phänomen der Störung des Realitätsbewußtseins darüber, daß in der Wahrnehmung das Dasein dessen, was wahrgenommen wird, mir normaliter mitgegeben ist, daß das Merkmal der Realität darin enthalten ist, darin vorgefunden wird, wie das Rot als Merkmal an einem Gegenstand vorgefunden wird. Oder so macht mich die Tatsache, daß unter pathologischen Bedingungen die Erkenntnisfunktion ausgeschaltet ist, während Wahrnehmungs- und Erinnerngsfunktion erhalten sind, auf die Eigenart dieser Erkenntnisfunktion aufmerksam. Und in analoger Weise werde ich gerade dadurch, daß unter pathologischen Bedingungen sich zwischen dem Ziel der Willensintention und die zu ihrer Realisierung nötigen Bewegungsakte diese Akte als selbst intendierte einschalten und dadurch die Realisierung des Gewollten erschwert oder unmöglich gemacht wird, sehend gemacht für die Struktur der Willensvorgänge. Oder so wird mein Blick geschärft für die eigenartige Struktur und Gliederung der sinnvollen Rede durch das pathologische Phänomen der Ideenflucht.

Also nicht um eine Übertragung dessen, was in der Pathologie vorkommt, auf das normale Seelenleben handelt es sich hier. Um das Gegenteil davon. Dadurch, daß Funktionen ausfallen, oder daß sich das pathologische Seelenleben in seiner Struktur und seinem Aufbau abhebt vom normalen, werde ich sehend gemacht für das, was ist, und wie das Seiende in seinem Wesen beschaffen ist. Hierin liegt vor allem der Wert der pathologischen Methode, und hierin wird sie von keiner anderen Methode erreicht. Gewiß, es ist möglich, durch besondere experimentelle Versuchsanordnungen oder besondere Aufgaben den pathologischen Tatbestand willkürlich nachzuahmen. So hat man das Phänomen der Ideenflucht willkürlich herzustellen versucht, indem man jemandem ein Wort zurief und ihm die Aufgabe stellte, "drauf loszureden". Aber dabei ergibt sich zunächst, wie ISSERLIN und andere gezeigt haben, daß dieses Phänomen niemals vollkommen hergestellt werden kann - zugleich ein treffliches Beispiel für die Unvollkommenheit der experimentellen gegenüber der pathologischen Methode. Und selbst wenn das möglich wäre, so muß doch die Ideenflucht selbst in Erscheinung getreten sein, bevor sie zu derartigen, ansich übrigens sehr fruchtbaren, Nachahmungsversuchen anregen kann.

Von den getroffenen Bestimmungen aus dürfen wir nun aber auch weiter sagen, daß die Pathologie nicht nur in der bisher gekennzeichneten Weise unsere psychologische Erkenntnis zu fördern vermag, sondern daß sie auch über den Wahrheitsgehalt irgendwelcher in der Psychologie aufgestellten Sätze und Hypothesen entscheiden kann.

Wenn ein hysterisch Kranker, trotzdem seine Hand anästhetisch ist, einen Gegenstand, den er mit dieser Hand umgreift, gleichwohl erkennt, so ist das zunächst nicht pathologisch. Für diesen Kranken liegt derselbe Sachverhalt vor wie bei mir, wenn ich in einer natürlichen Einstellung, ohne auf meine Tastempfindungen zu achten, ein Ding in die Hand nehme, z. B. einen Bleistift, um damit zu schreiben. Unmittelbar gegeben ist mir hier dieser Gegenstand, nicht aber Tastempfindungen. Diese Tastempfindungen kann ich mir aber zur Gegebenheit bringen dadurch, daß ich die natürliche Einstellung aufgebe und in einem eigenen intentionalen Akt auf diese Tastempfindungen bei der Berührung des Gegenstandes mit der Hand hinschaue. Dann sind mir die Tastempfindungen gegeben. Anders beim Kranken. Auch wenn ich ihn auffordere, bei Berührung seiner Hand auf die Tastempfindungen zu achten, so sagt er mir, er spüre nichts. Das ist das Pathologische an ihm, daß er sich seine Tastempfindungen nicht vergegenständlichen kann, daß die Hand nach wie vor anästhetisch bleibt, während dem Hysterischen im Wechsel der Richtung seiner intentionalen Akte wechselnd der Gegenstand selbst und die Tastempfindungen gegeben sein können. Das Phänomen des Erkennens eines Gegenstandes trotz der bestehenden Anästhesie bietet demnach nichts besonderes, nichts besonderes für diejenigen, die in einer phänomenologischen Einstellung sich darüber Rechenschaft geben, was uns denn unmittelbar gegeben ist, und die der Überzeugung sind, daß uns allgemein nicht Empfindungen, sondern Dinge gegeben sind. Das Phänomen tritt ja auch sofort in Beziehung zu den Ergebnissen der schönen Untersuchung von KÜLPE, der von den Tatsachen her, daß bei einer Einstellung auf die Bedeutung von farbigen Silben die Farben überhaupt nicht "gesehen" wurden, die Rehabilitierung der alten Lehre vom inneren Sinn gefordert hat (5). Aber eine sensualistische Psychologie hält dafür, daß bei natürlicher Einstellung mir nicht der von der Hand berührte Gegenstand unmittelbar und selbst gegeben ist, sondern etwas ganz anderes, nämlich Tastempfindungen und daran Assoziiertes. Hier entscheidet nun die Pathologie zu Ungunsten dieser sensualistischen Lehre. Sie läßt deutlich in Erscheinung treten, was im normalen Seelenleben nur im Wechsel der Richtungen eigenartiger Akte erschaubar wird.

Ebenso: normaliter sind mit der Wahrnehmungs- und Erinnerungsfunktion die Funktionen des Erkennens und Wiedererkennens innig verbunden. Es ist pathologisch, wenn bei erhaltener Fähigkeit, Wahrnehmungen zu machen und an das früher Wahrgenommene sich zu erinnern, das Wiedererkennen aufgehoben ist. Aber durch den Ausfall dieser Funktion wird es nun möglich, die Bedeutung von Wahrnehmung und Erinnerung für Erkennen und Wiedererkennen zu würdigen. Nach der üblichen Erklärung (6) kommt das Wiedererkennen dadurch zustande, daß eine Wahrnehmung mit Bildern assoziiert wird, die ein früheres Mal mit ihr verbunden waren, oder daß Wahrnehmung und Erinnerung miteinander verschmelzen. Hier lehrt nun die Pathologie (7), daß die Assoziation einer Wahrnehmung mit einem Erinnerungsbild durchaus nicht genügt, um das Wiedererkennen zu erklären. Sonst müßte das Wiedererkennen stattfinden, solange das Sehgedächtnis, die Erinnerungen an früher gemachte der jetzigen gleiche Wahrnehmungen erhalten sind, und umgekehrt müßte die Aufhebung des Sehgedächtnisses eine totale Seelenblindheit nach sich ziehen. Dagegen steht aber die Pathologie. WILBRAND, Fr. MÜLLER, LISSAUER haben Fälle beschrieben, in denen sich Kranke an früher gemachte Wahrnehmungen mit allen Einzelheiten erinnern; so können sie Straßen und Häuser einer Stadt, in der sie früher lange gelebt haben, aus ihrem Gedächtnis heraus genau beschreiben. Stellt man sie aber in diese selbige Stadt, so erscheint ihnen alles neu, sie erkennen nichts wieder. Umgekehrt hat CHARCOT einen klassischen Fall beschrieben, bei dem trotz vollständigem Geschwundensein des Sehgedächtnisses die Seelenblindheit keine absolute, das Wiedererkennen zum Teil noch erhalten war. Die Pathologie beweist also, daß die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu machen und an frühere, der jetzigen Wahrnehmung ähnliche oder gleiche sich genau zu erinnern, zum Wiedererkennen nicht genügt. Es ist bekannt, daß BERGSON, gestützt auf die Pathologie, den Satz aufstellt, daß nicht jedes Wiedererkennen der Vermittlung früherer Bilder bedarf, daß es ein von unserem Körper gespieltes Erkennen und Wiedererkennen gibt, das wesentlich darin besteht, sich einer Sache zu bedienen wissen. Es ist auch bekant, daß BERGSON im Fortgang seiner scharfsinnigen Analysen in der Pathologie eine Bestätigung seiner Lehre findet: das Vergangene lebt fort in motorischen Mechanismen und unabhängigen Erinnerungen.

Jedoch auf pathopsychologie Analysen selbst ist es hier nicht abgesehen. Worauf es uns ankommt, ist das rein Methodische in der Verwertung der Pathologie. Die aus der Pathologie mitgeteilten Tatsachen sollen nur dartun, in welcher Weise die Pathologie über den Wahrheitsgehalt psychologischer Theorien entscheiden kann. Auch hier ist von irgendeiner Übertragung, wie wir sie früher gerügt haben, nicht die Rede. Was in den normalen Funktionszusammenhängen dunkel bleibt, wird durch den Ausfall von Funktionen deutlich sichtbar, so im Phänomen der Seelenblindheit bei erhaltener Wahrnehmungs- und Erinnerungsfunktion dies, daß diese beiden Funktionen allein das Wiedererkennen noch nicht ermöglichen. Und an dieser Tatsache nun kann, sofern es sich um eine wirkliche Tatsache handelt, der Wert einer Theorie, in diesem Fall der üblichen Theorien des Erkennens und Wiedererkennens gemessen werden.

Wir haben bisher nur von einem Ausfall der Funktionen und der Lösung ihrer normalen Bindung aneinander gesprochen. Darüber hinaus gibt es in der Pathologie in noch größerem Umfang einfache Änderungen einzelner und mehrerer Funktionen in verschiedener Richtung und verschiedener Gradabstufung. Daß das in diesem Sinne veränderte Seelenleben, von dem zum normalen Seelenleben fließende Übergänge hinüberleiten, ebenfalls für die psychologische Erkenntnis verwertet werden kann, ist selbstverständlich. Ganz ähnlich wie eine Karikatur, um das Bild von MÜNSTERBERG zu gebrauchen, den Gesichtsausdruck dadurch deutlicher macht, daß es die wesentlichen Züge übertreibt, so treten in dem durch Krankheit mehr oder weniger verzerrten Seelenleben aus dem funktionellen Zusammenhang des Ganzen die einzelnen Funktionen schärfer heraus, werden in der Bedeutung, die sie für sich und das Ganze haben, durchsichtiger. STÖRRING hat vollkommen recht, wenn er gerade von dem so veränderten Seelenleben sagt, daß hier von der Natur dasselbe verrichtet wird. Wir brauchen darauf nicht näher einzugehen. Wir müßten sonst doch nur wiederholen, was darüber schon von anderer Stelle gesagt worden ist (8). Worauf wir es in unserem ersten methodologischen Teil abgesehen hatten, war dies, den Wert der pathologischen Methode für die Psychologie vor allem am Ausfall der Funktionen zu demonstrieren und Kritik zu üben an dem Satz, daß das normale Seelenleben nicht von der Pathologie her erklärt werden darf.


Wir wenden uns nun zur Psychiatrie und nehmen zu der Frage Stellung, ob die Psychiatrie auf einer Pathopsychologie fundiert werden muß. Da die Pathopsychologie eine psychologische Disziplin ist, da sie als Ergänzung zur normalen Psychologie das pathologische Seelenleben beschreiben und erklären will, so kann die Forderung einer Fundierung der Psychiatrie auf einer Pathopsychologie nur den Sinn haben, die Psychiatrie müsse, sofern sie es mit psychischen Krankheiten zu tun hat, diese psychischen Krankheiten genauso zum Gegenstand psychologischer Beschreibung und Erklärung machen, wie es die Psychologie mit dem normalen Seelenleben macht. In diese Forderung ist also eingeschlossen, daß für psychische Krankheiten psychische Ursachen aufgezeigt werden müssen. In diesem bestimmten Sinn möge unsere Forderung verstanden werden und in diesem Sinn wollen wir von einer psychologischen Methode in der Psychiatrie sprechen.

Daß man das kranke Seelenleben genauso wie das normale zum Gegenstand einer psychologischen Betrachtung machen kann, ist selbstverständlich. Aber etwas ganz anderes ist es, ob die Psychiatrie es tun soll. Die Psychiatrie ist keine psychologische, sondern eine ärztliche Wissenschaft. Wie für jede andere ärztliche Wissenschaft, so besteht für sie die Aufgabe, den Menschen, der an einer psychischen Krankheit leidet, gesund zu machen. Sollte die Psychiatrie diese ihre erste Aufgabe aus dem Auge verlieren oder sollte sie sich selbst für unfähig erklären, diese Aufgabe zu lösen, so würde sie einen rechtmäßigen Anspruch darauf, als ärztliche Wissenschaft zu gelten, nicht mehr haben. Um eine Krankheit heilen zu können, muß diese Krankheit zunächst erkannt sein. Der Psychiater muß wissen, ob der Kranke, den er behandeln soll, an dieser oder jener Krankheit leidet. Die Erkennung, daß diese oder jene Krankheit besteht, genügt aber noch nicht. Um heilen zu können, muß er auch die Ursachen der Krankheit kennen. Nur so wird er das richtige Heilmittel finden. Aus der Einsicht in die Ursachen der Krankheit wird sich ihm also, wenn er nicht ganz unmethodisch verfahren will, sein Heilmittel ergeben als das sind Bäder, Medikamente, Psychotherapie im engeren Sinn usw.

Wenn die Lehre von den psychischen Krankheiten auf einer Pathopsychologie gründen soll, wenn gefordert wird, daß der Psychiater die psychologische Methode anwendet, so muß diese Forderung demnach in der Natur der Aufgaben der Psychiatrie gründen - und diese sind die Erkennung von psychischen Krankheiten und die Heilung von psychischen Krankheiten. Muß also, so dürfen wir jetzt unsere Frage stellen, der Psychiater, um psychische Krankheiten erkennen und heilen zu können, die psychologische Methode in der gekennzeichneten Weise anwenden?

Zwei Wege kann man einschlagen, um diese Frage zu beantworten. Man könnte den Weg logischer Deduktion beschreiten, versuchen, aus der Natur der Gegenstände, welche die Psychiatrie bearbeitet, und aus der Natur ihrer Aufgaben es ersichtlich zu machen, daß sie die psychologische Methode anwenden muß. Diesen Weg wollen wir aber nicht gehen. Nicht deshalb, weil der Weg nicht gangbar wäre, sondern einfach deshalb, weil wir möchten, daß unsere Forderungen bei denjenigen, an die sie gerichtet sind, auch Gehör finden. Diese Forderungen müssen aber bei den Psychiatern ein ganz anderes Gewicht erhalten, wenn wir von der logischen Beweisführung absehen, wenn wir uns in die Psychiatrie selbst begeben, wenn wir sie befragen, wie sie und wie weit sie ihre Aufgabe gelöst hat, und wenn wir aufzeigen könnten, wie ihre eigene Geschichte sie heute vor die Entscheidung stellt, entweder an der Lösbarkeit ihrer Aufgabe zu verzweifeln oder die psychologische Methode anzuwenden.

Nehmen wir die Resultate vorweg, die durch die klinische Forschung in Verbindung mit der historischen bis auf den heutigen Tag erzielt sind, so liegen sie fast alle auf diagnostischem und prognostischem Gebiet. Es ist der Psychiatrie gelungen, die schier unübersehbare Fülle von Krankheitsbildern in eine Reihe wohl umgrenzter klinischer Krankheitsformen aufzuteilen, diese Krankheitsformen oft schon aus dem Zustandsbild zu erkennen und über den Verlauf der einzelnen Krankheitsformen Voraussagen zu machen. Die klinische Erfahrung hat aber auch Klarheit darüber gebracht, daß es Übergänge von verschiedenen Krankheiten, wie man sie früher als häufig annahm, nicht gibt. So ist das Krankheitsbild der Hystero-Epilepsie aus der Systematik der klinischen Einheiten verschwunden und wir wissen auch, daß die Neurasthenie [Nervenschwäche - wp] nicht in Paralyse übergehen kann. Auch in das dunkelste Gebiet der Psychiatrie, die Ätiologie der psychischen Krankheiten, ist hier und da Licht hineingetragen worden. So hat man erkannt, daß Krankheitsformen, die man früher für organischen Ursprungs hielt, psychogener Natur sind wie die traumatische Neurose und die Hysterie. Oder so hat man sich allgemein darüber geeinigt, daß die notwendige Vorbedingung einer paralytischen Erkrankung eine syphilitische Infektion ist, daß Alkoholismus, geistige Überanstrengung oder Kopfverletzung keine Paralyse erzeugen können usw.

Hält man sich vor, daß sich die Psychiatrie bei der Lösung ihrer Aufgaben vor ganz andere Schwierigkeiten gestellt sieht als die gesamten anderen medizinischen Wissenschaften, und daß sie nicht wie diese auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, daß erst an der Schwelle des 19. Jahrhunderts mit der Erkenntnis, daß psychische Krankheiten nicht des Teufels Werk, sondern Krankheiten sind, die Möglichkeit für eine wissenschaftliche Entwicklung der Psychiatrie gegeben war, so wird man anerkennen, daß es sich um eine gewaltige Leistung handelt.

Gleichwohl ist es bekannt, daß seit mehr als einem Jahrzehnt in der Psychiatrie eine gewisse Depression und Mutlosigkeit besteht. Es will, so klagt man, nicht gelingen, weitere Forschritte zu machen, man spricht davon, daß sich die Psychiatrie im Kreis bewegt oder gar rückwärts statt vorwärts geschritten ist, ja man hat die Arbeit des Psychiaters mit einem Dreschen von leerem Stroh verglichen. Man sei des ewigen Streits um diagnostische Fragen müde, man sehnt sich nach neuen Aufgaben, neuen fruchtbaren Problemstellungen.

Der Berechtigung zu einem solchen Pessimismus ist ALZHEIMER (9) entgegengetreten in einer Abhandlung "Die diagnostischen Schwierigkeiten in der Psychiatrie". ALZHEIMER, der sich durch seine histologishen und klinischen Arbeiten um den Fortschritt der Psychiatrie selbst große Verdienste erworben hat, hält in dieser Abhandlung Umschau nach dem, was von der Psychiatrie gerade in den beiden letzten Jahrzehnten geleistet worden ist, und weist nach, daß in dieser Zeit erhebliche Fortschritte gemacht worden sind. In all dem muß man ALZHEIMER unbedingt beipflichten und man muß ihm auch darin recht geben, daß es der klinischen und histologischen Forschung in der Richtung, die er selbst angibt, wohl gelingen dürte, die diagnostischen Aufgaben immer besser zu lösen.

Aber wenn wir das nun zugeben, ist denn damit, eben der fortschreitenden Lösung diagnostischer und prognostischer Aufgaben die eigentliche Aufgabe der Psychiatrie gelöst oder deren Lösung auch nur in Angriff genommen? Die eigentliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Heilung von psychischen Krankheiten. Die Diagnostik muß ihr vorangehen. Man kann nicht gut an die Behandlung einer Neurasthenie herantreten, solange nicht ausgemacht ist, ob es sich um eine Neurasthenie oder das neurasthenische Bild einer Paralyse handelt. Aber wie steht es mit der Lösung jener eigentlichen Aufgabe, um derentwillen die Psychiatrie allein ihren Namen verdient? Darauf erhalten wir von der herrschenden Psychiatrie die Antwort: eine Möglichkeit, in dem Sinne zu heilen, daß durch Einwirkung auf die krank machenden Ursachen die Krankheit geboben wird, besteht für die Psychiatrie nicht; ihre Therapie ist im wesentlichen eine rein symptomatische. Gewiß, mit der Erkennung, daß es gewisse Krankheiten gibt, für deren Entstehung "exogene" Krankheitserreger, z. B. das syphilitische Gift verantwortlich gemacht werden dürfen, sind für diese Psychosen sinnvolle therapeutische Maßnahmen denkbar geworden. Aber gegenüber der großen Zahl der Geisteskrankheiten, sowohl der organischen wie der funktionellen, kennt die Psychiatrie kein anderes Verhalten, als für gute Ernährung des Körpers zu sorgen, alle Reize, die erfahrungsgemäß das Leiden verschlimmern könnten, vom Kranken fernzuhalten, die einzelnen Krankheitserscheinungen nach Möglichkeit zu lindern, im übrigen aber sich abwartend zu verhalten, d. h. den Verlauf der Krankheit sich selbst zu überlassen.

Diese Hilflosigkeiten der Psychiatrie gegenüber ihrer eigentlichen Aufgabe wäre nun nicht so bedenklich, wenn sie in der Unfertigkeit der Diagnostik, die ja die Voraussetzung für die Möglichkeit einer Therapie ist, gründen würde. Aber davon kann nicht die Rede sein. Denn in zahlreichen Fällen kann die Diagnose mit Sicherheit gestellt werden. Sie wäre auch dann nicht bedenklich, wenn sich die Psychiatrie der Hoffnung hingeben würde, daß ihr das, was sie heute noch nicht leisten kann, später einmal gelingen wird. Aber auch das ist nicht der Fall. Die Unmöglichkeit, psychische Krankheiten zu heilen, wird zwar überall lebhaft bedauert, aber man wagt nicht einmal zu hoffen, daß man den Weg finden wird, der auf das eigentliche Ziel hinführt. Mehr sogar, man sucht diesen Weg überhaupt nicht, man hat sich damit als mit einer Selbstverständlichkeit abgefunden, daß es eine Heilung von psychischen Krankheiten nicht gibt, man hat sich daran gewöhnt, gegenüber der Aufgabe der Heilung resigniert zu sein.

So stellt sich die Psychiatrie zu ihrer eigentlichen Aufgabe. Und weshalb? Deshalb, weil der allgemein anerkannte Satz, psychische Krankheiten seien in jedem Fall Hirnkrankheiten, und der der Begriff der funktionellen Krankheit habe nur Berechtigung als Ausdruck der Unfertigkeit gehirnanatomischer Forschung, den Blick auf die physischen Ursachen der Krankheit und ihre physische Beeinflußbarkeit einseitig verengt hat.

Was diesen Satz betriff, so ist er ja zweifellos zunächst ein dogmatischer Satz, dogmatisch deshalb, weil das, was er behauptet, in der Erfahrung nicht gegeben ist. Das versteht sich für Einsichtige von selbst. Für die anderen mag es genügen, darauf hinzuweisen, daß man gerade aus der pathologischen Erfahrung etwas ganz anderes herauslesen kann als jenen Satz. So sieht kein Geringerer als BERGSON gerade in der Pathologie und zwar in den zweifellos organisch bedingten psychischen Störungen eine Bestätigung für seine Lehre, daß das Psychische in keiner Weise, weder in der Weise der materialistischen Hypothese des epiphänomalen Bewußtseins, noch in der Vorstellungsweise des psychophysischen Parallelismus an das Gehirn gebunden ist, daß vielmehr das Gehirn nichts anderes ist als ein Vermittler zwischen sensiblen und motorischen Prozessen, daß zwischen den Funktionen des Gehirns und der reflexiven Wirksamkeit des Rückenmarksystems kein Wesensunterschied, sondern nur ein Unterschied der Komplikation besteht.

Aber darauf kommt es hier nicht an, daß jener Satz ein dogmatischer Satz ist. Solche dogmatischen Sätze finden sich auch in Lehrbüchern der Psychologie. Und wenn der Psychologe den Satz aufstellt, daß das Gehirn als das organische Substrat der Bewußtseinsvorgänge zu denken ist, so darf der Psychiater mit dem gleichen Recht annehmen, daß alle psychischen Krankheiten Hirnkrankheiten sind. Solche Sätze gehören ja überhaupt nicht vor den Richterstuhl von Psychologie und Psychiatrie. In diesem Zusammenhang ist es daher irrelevant, wie die Beziehungen zwischen Gehirn und Seele gedacht werden. Bedeutungsvoll, folgenschwer aber für die von beiden empirischen Wissenschaften zu leistende Arbeit wird der Satz, daß die Bewußtseinserscheinungen Gehirnfunktionen sind, erst in dem Augenblick, wo er dazu führt, daß das geistige Auge des Psychiaters oder Psychologen blind wird für die Doppelseitigkeit der Erscheinungswelt, wo er nur noch physische Vorgänge als die allein realen gelten läßt, ihnen den Vorrang vor den psychischen einräumt und das Psychische selbst zu einem bloßen Epiphänomen [Begleiterscheinung - wp] degradiert.

Von einer solchen folgenschweren Bedeutung ist jener Saatz für die Psychiatrie geworden. Die Geistesstörungen sind "die psychischen Erscheinungsformen mehr oder weniger feiner Veränderungen im Gehirn, insbesondere in der Rinde des Großhirns" (9) - dieser Satz besagt im Geiste der Psychiatrie: alle letzten Ursachen psychischer Erkrankungen liegen im Gehirn, und ein Einfluß auf das Seelenleben der Kranken ist nur möglich durch die Beeinflussung des Gehirns und seine molekularen Zustände. Mit dieser Einstellung tritt der Psychiater seinen Kranken gegenüber, jedem Kranken, er mag an einer Paralyse, Gemütsdepression oder Hysterie leiden. Daß er bei dieser Einstellung auf das Gehirn nicht den Mut findet, auch nur den Versuch einer Heilung seines Kranken zu machen, versteht sich von selbst. Denn daß er sich nicht zutraut, keine Möglichkeit sieht, das Gehirn in Ordnung zu bringen, die Hirnmoleküle umzulagern, daraus wird ihm kein Vernünftiger einen Vorwurf machen. Und aus diesem Grund - aus keinen anderen Grund, wir betonen es nochmals - bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Verlauf der Krankheit abzuwarten, sich selbst zu überlassen, d. h. an der Lösbarkeit seiner eigentlichen Aufgabe zu verzweifeln. Man wende nicht ein, daß diese einseitige Einstellung auf das Gehirn bereits der Geschichte der Psychiatrie angehört. Gewiß haben die Gedankensystem eines MEYNERT oder FLECHSIG, die die Lehre von den psychischen Krankheiten auf reine Gehirnpathologie reduziern wollten, ihren Kredit verloren; auch der Psychiater von heute nimmt denjenigen nicht mehr ernst, der sich über den Psychologen lustig macht, weil er neben dem Gehirn noch eine Seele anerkennt; dazu ist die psychische Wirklichkeit doch zu wuchtig, als daß sie sich ganz beiseite schieben ließe. Gleichwohl, was nützt dem Psychiater die theoretische Anerkennung der psychischen Wirklichkeit, wenn sie in der Praxis seiner Arbeit doch wieder zu einem bloßen Epiphänomen degradiert wird, wenn er sie nur gelten läßt als die Erscheinungsform physischer Wirklichkeit, eines Geschehens im Gehirn, das das schlechthin Reale ist. Man nehme unsere Lehrbücher der Psychiatrie zur Hand, das beste Lehrbuch der Psychiatrie, das wir besitzen. Da wird man finden, daß jene Einstellung auf das Gehirn auch da nicht verlassen wird, wo man im bewußten Gegensatz zur anatomischen Richtung die Eigenart und den Selbstwert des Psychischen gegenüber dem Physischen anerkennt. So geht KRAEPELIN (10), der Vorstellungsweise des psychophysischen Parallelismus folgend von der Grundanschauung aus, daß körperliches und psychisches Geschehen zwei ihrem Wesen nach unvergleichbare Tatsachenreihen bilden; und in der klaren Erkenntnis, daß ein wirkliches Verständnis für psychische Krankheiten niemals aus der Einsicht in die Hirnrindenstörungen gewonnen werden kann, fordert er, daß der Psychiater außer den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die "psychischen Erscheinungsformen" jener letzteren gesondert erforscht und jene Gesetze, die den Ablauf der psychischen Vorgänge beherrschen. Aber wenn das KRAEPELIN in richtiger Erkenntnis der Eigenart und des Selbstwertes des Psychischen fordert und dementsprechend als einer der ersten das psychologische Experiment unter die Methoden der irrenärztlichen Forschung genommen hat, so ist doch auer im letzten Grund davon überzeugt, daß das Physische einen Vorrang vor dem Psychischen hat, daß als die eigentliche letzte Ursache der Krankheit die Veränderungen im Gehirn anzusprechen sind. So ist es doch gemeint, wenn gesagt wird, daß der Träger der psychischen Persönlichkeit das Gewebe des Gehirns oder daß das Psychische eine Erscheinungsform von Hirnrindenvorgängen ist. Und deshalb muß auch für KRAEPELIN die Therapie im eigentlichen Sinn daran scheitern, daß es nicht in unserer Macht steht, die krankhaften Vorgänge in der Hirnrinde, die die eigentliche Ursache der Geistesstörung sind, zu verändern. Diese Überzeugung KRAEPELINs geht durch das ganze Lehrbuch hindurch, klar zutage tritt sie in den besonderen Kapiteln, die der Behandlung des Irreseins gewidmet sind, eindeutig ausgesprochen ist sie in dem Satz:
    "Die körperlichen Ursachen des Irreseins greifen unmittelbar in den körperlichen Bestand unseres Seelenorgans ein, die psychischen erst durch die Vermittlung psychischer Vorgänge, durch Erzeugung von Vorstellungen oder Gemütsbewegungen." (11)
In diesem Satz wird nicht nur behauptet, daß den geistigen Störungen Störungen des Gehirns zugrunde liegen, es wird den psychischen Ursachen die Möglichkeit einer unmittelbaren psychischen Wirkung abgesprochen, wirksam können sie erst dadurch werden, daß sie zunächst auf das Gehirn wirken, und dieses nun wieder auf das Seelenleben zurückwirkt. Davon, daß diese Grundüberzeugung im Widerspruch zur Lehre vom psychophysischen Parallelismus steht, die KRAEPELIN mit WUNDT teilt, mag hier ganz abgesehen werden. Worauf es ankommt ist dies, daß mit einer solchen Überzeugung von der epiphänomenalen Natur des Psychischen die Psychiatrie niemals den Mut finden kann, für psychische Krankheiten nach letzteren psychischen Ursachen zu forschen und in anderer Weise als nur durch Einwirkung auf das Gehirn die therapeutische Aufgabe in Angriff zu nehmen.

Denn diese Möglichkeit ist erst da gegeben, wo jene einseitige Einstellung auf das Gehirn aufgegeben wird, wo dem Psychischen die Realität wieder zurückgegeben wird, die der Psychiater ihm abgesprochen hat, wo das geistige Auge des Forschers wieder sehend gemacht wird für die Doppelseitigkeit der Erscheinungswelt und für die einfache Tatsache, daß eine Einwirkung auf einen anderen Menschen in der zweifachen Weise möglich ist, dadurch, daß ich auf seinen Körper oder auf seine Seele einwirke. Daß jemand, der mich bei meiner Arbeit stört, sich aus meinem Zimmer entfernt, kann ich dadurch erreichen, daß ich auf seinen Körper einwirke, indem ich ihn zur Tür hinaus befördere oder dadurch, daß ich auf seine Seele wirke, indem ich ihn bitte, er möge mich verlassen. Im zweiten Fall wird er vielleicht nicht gehen. Gut, so bleibt mir der erste Weg. Daß aber auch der zweite möglich ist, wird jeder Psychiater anerkennen, und damit anerkennt er, daß es neben einer mittelbaren Einwirkung auf den Körper auch noch eine unmittelbare Einwirkung auf das Seelenleben gibt. Was er hier anerkennt, ist ja auch nichts anderes als das im Prinzip gleiche Verhalten, mit dem er alltäglich seinen Mitmenschen gegenübertritt. Alltäglich tritt ihm im Verkehr mit anderen Menschen das Fremdpsychische unmittelbar gegenüber, alltäglich ist er darauf angewiesen, in unmittelbarer Weise auf das Seelenleben anderer Menschen einzuwirken, und er ist sich darüber klar, daß es so etwas wie Ursache und Wirkung auch in der psychischen Sphäre gibt. Gewiß die Annahme ist begründet, daß den Gehbewegungen auch irgendwelche Vorgänge im Gehirn ursächlich zugrunde liegen. Aber kein vernünftiger Mensch wird auf den Gedanken verfallen, um das zu erreichen, was er will, auf das Gehirn und dessen Vorgänge zu schauen, auf dieses Gehirn zu wirken und so das Sichentfernen des anderen zu erreichen. Wozu denn aber diese einseitige Einstellung auf das Gehirn da, wo ich einen Menschen vor mir habe, der an einer Gemütsdepression leidet? Der Psychiater antwortet darauf, weil das Gehirn erkrankt ist. Und damit will er sagen, er könne die Krankheit nur beeinflussen, wenn es ihm möglich wäre, das kranke Gehirn zu beeinflussen. Indem er dies sagt, widerruft er aber das, was er vorhin zugegeben hat, daß es eine doppelseitige Beeinflussung gibt, und er sieht nicht, daß das, was vom gesunden Seelenleben gilt, notwendig auch vom kranken gelten muß. Denn es handelt sich doch um die Anerkennung eines Prinzips, um die Beeinflußbarkeit des Seelenlebens anderer Menschen schlechthin, nicht um die Beeinflußbarkeit des Seelenlebens von A und B und nicht C. Vor allemk: der Psychiater, für den das kranke Seelenleben eine Erscheinungsform von krankhaften Hirnrindenprozessen ist, wird doch unbedingt in gleicher Weise vom normalen Seelenleben sagen, daß auch dieses eine Erscheinungsform von Hirnvorgängen ist. Gut. Da, wo er einen Kranken vor sich hat, schaut er auf das Gehirn hin, und diese Einstellung auf das Gehirn schneidet ihm von vornherein alle Möglichkeit ab, ein wirkliches Verständnis für die psychische Krankheit zu gewinnen und die Krankheit selbst zu beeinflussen. Weshalb schaut er dann nicht auch beim gesunden Menschen, dessen Seelenleben er kennen und beeinflussen möchte, in erster Linie auf das Gehirn und wartet hier, wie er es bei seinen Kranken tut, ab, bis sich im Gehirn etwas verändert! Und mit welchem Recht erkennen denn die Psychiater von ihrem Standpunkt aus die Möglichkeit einer beschreibenden und erklärenden Psychologie an, wie kommen sie dazu, selbst Psychologie zu treiben? Wenn sie konsequent sein wollen, müßten sie diese verneinen, aus demselben Grund, aus dem sie bei ihrer einseitigen Einstellung auf das Gehirn an der Beeinflussung und Heilung ihrer Kranken verzweifeln, weil sie die Möglichkeit nicht sehen, die Gehirnmoleküle umzulagern.

Aus den bisherigen Darlegungen dürfte wohl deutlich geworden sein, daß die Überzeugung von der epiphänomenalen Natur des psychischen Geschehens, davon, daß in jedem Fall das Gehirn und zwar nur das Gehirn für die psychische Krankheit verantwortlich gemacht werden darf, einen lebendigen und gedeihlichen Fortschritt der Psychiatrie unmöglich macht. Aus den dargelegten Widersprüchen, in die sich der Psychiater verwickelt, dürfte er aber auch den Mut schöpfen, an die Bearbeitung seiner wichtigsten Aufgabe heranzutreten. Denn wenn er anerkennt, daß eine Psychologie möglich ist, die ohne Rekurs auf das Gehirn die psychischen Gegenstände bearbeitet, oder wenn er auch nur zugibt, daß eine unmittelbare Beeinflussung des Seelenlebens anderer möglich ist, so muß er anerkennen, daß es sinnvoll und berechtigt ist, auch bei psychischen Krankheiten nach psychischen Ursachen zu fragen. Im letzten Grund hat er das Recht danach zu fragen ja auch nie bestritten. KRAEPELIN und andere haben stets nachdrücklich betont, daß nur von einer psychologischen Zergliederung des krankhaften Seelenlebens eine wirkliches Verständnis für dieses gewonnen werden kann. Aber was man hier selbst gefordert hat, damit hat man niemals ganz ernst zu machen sich getraut, weil nun einmal die Überzeugung von der epiphänomenalen Natur des Psychischen dem Mediziner viel zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist, als daß er durch eine theoretische Belehrung davon abgebracht werden könnte. Daß ihm so die Hände gebunden sind, das ist wirklich nicht in der Sache der Psychiatrie selbst begründet, sondern in ihrer Geschichte. Die Gegenstände der Psychiatrie weisen als psychische Phänomene unmittelbar auf die psychologische Bearbeitung hin, ihrem Wesen nach sind sie einer psychologischen Beschreibung und Erklärung zugänglich. Nein, in der Geschichte der Psychiatrie gründet es, daß man die Geistesstörungen als reine Erscheinungsformen von Gehirnrindenvorgängen behandelt und nur diese für die Krankheit verantwortlich macht; darin, daß die Psychiatrie als ärztliche Wissenschaft von Medizinern behandelt wurde. Dem Mediziner treten während seiner ganzen Arbeit keine anderen Gegenstände entgegen als solche, die in der äußeren Wahrnehmung gegeben sind, Dinge, die man in die Hand nehmen, mit den Augen sehen, mit den Ohren hören kann. Die medizinische Wissenschaft ist ausschließlich auf den Körper und seine Organe gerichtet. Kein Wunder, daß es ihm da, wo ihm plötzlich ein Gegenstand entgegentritt, den er sonst nirgends zu sehen bekommen hat, nicht gelingen will, sich von seiner Einstellung das das körperliche Organ zu befreien und in diesem eigenartigen Gegenstand mehr zu sehen als eine bloße Erscheinungsform materiellen Geschehens.

So sieht sich die Psychiatrie heute vor die Alternative gestellt, entweder im Geist dieser Medizin zu verharren, bis ihr einmal die Chemie ein Pulver zur Verfügung stellt, das gegen Melancholie so sicher wirkt wie ein anderes gegen Verstopfung, oder aber mit jener einseitigen Einstellung auf das Gehirn zu brechen und den ernsthaften Versuch zu machen, ob ein Fortschritt nicht dadurch möglich sein sollte, daß psychische Krankheiten fortan als psychische Krankheiten behandelt werden, daß dafür nach psychischen Ursachen geforscht und auf einer solchen Erkenntnis von Ursachen die Therapie aufgebaut wird.
LITERATUR - Wilhelm Specht, Über den Wert der pathologischen Methode in der Psychologie und die Notwendigkeit der Fundierung der Psychiatrie auf einer Pathopsychologie, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 1, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) Wenn man das Wort Pathopsychologie deswegen, weil es sich trotz seines guten logischen Sinnes in der bisherigen Literatur nicht eingebürgert hat, umgehen wollte, so müßte pathologische Psychologie oder Psychologie der pathologischen Erscheinungen gesagt werden, was beides nicht gut möglich ist. Im übrigen vgl. zum Unterschied der Pathopsychologie von der anders gerichteten Psychopathologie: MÜNSTERBERG, Aufgaben und Methoden der Psychologie, Leipzig 1891, Seite 149 und 186, sowie "Psychologie und Pathologie" diese Zeitschrift Seite 51.
    2) HUSSERL, Philosophie als strenge Wissenschaft, LOGOS, Bd. I, Heft 3, 1910/11.
    3) Über objektive und subjektive Beobachtung in der Psychologie vgl. GEORG ELIAS MÜLLER, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes, I. Teil, Seite 61-64, Leipzig 1911.
    4) vgl. hierzu auch BERGSON, Materie und Gedächtnis, II. Kapitel
    5) OSWALD KÜLPE, Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen, 1904, Seite 56f.
    6) vgl. LEHMANN, Über Wiedererkennen (Philosophische Studien von WUNDT, Bd. V)
    7) BERGSON, a. a. O., Seite 84f.
    8) vgl. MÜNSTERBERG, a. a. O., Seite 187f und STÖRRING, Vorlesungen über Psychopathologie, Seite 11
    9) ALOIS ALZHEIMER, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 1, Berlin und Leipzig 1910
    10) KRAEPELIN, a. a. O., Seite 6f
    11) KRAEPELIN, a. a. O., Seite 15