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HELMUT VIEBROCK
Schöpferischer Identitätsverlust

Ein Kunstwerk ist ein Asyl.


Die Begriffe "identity" und "loss of identity" in der Poetik von John Keats

In der zweimal begonnenen, zwischen 1818 und 1819 entstandenen, beide Male unvollendet gebliebenen Dichtung  Hyperion  von JOHN KEATS findet der Leser im I. Buche den entthronten alten Titanen-Gott Saturn in einem seiner Stimmung angemessenen düsteren Tal neben einem trägen, geräuschlosen Flusse wie versteinert sitzen und also klagen:
Ich bin fortgegangen
Von meinem eigenen Busen: ich habe
Meine starke Identität, mein wirkliches Selbst,
Verlassen, irgendwo zwischen dem Thron und wo ich sitze
Hier auf diesem Erden-Fleck.
Der alte Titanen-Gott konnte nicht sicher sein, ob die mitfühlenden Leser einer späteren Zeit das Wort "identity" = "Identität" auch richtig verstehen würden, da es sich im Englischen ja um ein sogenanntes "schwieriges" Wort, "a hard word", handelt. So fügt er denn erklärend zu "my strong identity" als synonyme Variante "my real self" hinzu: "meine starke Identität, mein wirkliches (oder wahres) Selbst".

KEATS mutet seiner Göttergestalt den Gebrauch eines Begriffs zu, der für ihn selbst zu einem Schlüsselbegriff geworden war. Durch die Apposition "my real self" wird nun zwar das Wort "identity" bedeutungsmäßig eingegrenzt, bestimmbar, aber eben doch nurmehr erst bestimmbar, noch keineswegs bestimmt. Mit der Gepflogenheit, ein schwieriges Wort alsbald durch eine erklärende Umschreibung verständlich zu machen, folgt KEATS seinem Leitbild SHAKESPEARE, denn auch SHAKESPEARE pflegt einen ungewöhnlichen oder schwierigen Begriff durch eine Variante zu erläutern, läßt beispielsweise in  Anthony and Cleopatra  den Wahrsager dem Antonius den Begriff" thy demon", also "dein Dämon" oder dein Daimon", erläutern mit "thy spirit that keeps thee", also "dein Geist, der dich beschützt", wie TIECK übersetzt.

Nun macht es einem der schwer bedrückte, weil entmachtete, Saturn leicht, aus dem semantischen Kontext seiner existentiellen Situation die Bedeutung von "identity" hier näher zu erkennen und zu erklären; denn seine Lage ist eindeutig: Saturn erkennt, daß er mit der Macht sein eigentliches Selbst, eben seine "Identität", verloren hat, die er besaß, solange er mit der Machtbefugnis des höchsten Gottes ausgestattet war, solange sozusagen private Person und öffentliche Rolle identisch waren.

Das Wort "identity", dessen deutsches Scheinäquivalent "Identität" heute ja Triumphe des Mißbrauchs feiert, nimmt sich, wie ich meine, in dem sonst lyrischheroischen Text, dessen Tonart von der Muse MILTONs und DANTEs bestimmt wird, doch etwas befremdlich aus, etwas zu gelehrt-wissenschaftlich. Es ist stilistisch nicht ganz angemessen, vielleicht, weil es ein Modewort war, für dessen Verbreitung sicher der englische Literatur- und Kunsttheoretiker WILLIAM HAZLITT in seinen öffentlichen Vorlesungen sorgte, die KEATS regelmäßig besuchte.

In KEATS' anderer, früherer, lyrisch-erotischer Dichtung  Endymion  (1817), in der der Schäferfürst Endymion die Mondgöttin Cynthia (das Ideal) liebt, bis ihn die Liebe zu einem irdischen, indischen Mädchen (die Realität) in einen tiefen Seelenzwiespalt bringt, der aber dadurch geheilt wird, daß sich die Züge des Mädchens und die der Göttin am Ende vermischen -, in dieser Dichtung, sage ich, erscheint wiederum, aber auch nur einmal, das auffällige Wort "identity", auch hier im Sinne seines Ermangelns, seines Verlustes. Der in den Zwiespalt zwischen himmlischer und irdischer Liebe oder, entmythologisiert, zwischen Ideal und Realität geratene Jüngling alias Dichter fragt gegen Schluß sinnend:
Was ist denn diese Seele? Woher
Kam sie? Sie scheint nicht mein Eigen, und ich
Habe keine Selbst-Liebe oder Identität.
(End. IV, 475 ff.)
Hier ist einmal das erklärende Wort vorangestellt: "self-passion", eine intensivierende Analogiebildung zu "self-love" = "Selbst-Liebe". Mit "leidenschaftlicher Selbstliebe" wird also hier "identity" gleichgesetzt. "Self-love" übrigens ist wieder ein damals aktueller Begriff, der in der gegen den Pessimismus des THOMAS HOBBES gerichteten Polemik WILLIAM HAZLITTs die natürliche Voraussetzung für die Nächstenliebe, den Altruismus, bildete.

Auch hier im  Endymion  erweist sich das Wort "identity" dank seiner etymologischen Herkunft aus  idem  bzw.  identi - + Suffix tatem und kraft seiner semantischen Dialektik von möglicher Nicht-Übereinstimmung bei betonter Übereinstimmung als vortrefflich geeignet für die Feststellung verlorener Übereinstimmung mit "sich selbst". Die Seele, so reflektiert Endymion, scheint dem Menschen nicht zu gehören, nicht zugehörig, nicht willfährig zu sein, sondern fremder Gesetzlichkeit zu gehorchen, so, wie den Titanen die Macht nicht gehörte, sondern nur verliehen war und entzogen wurde: Heteronomie, nicht Autonomie des Gottes wie des Menschen, gegen die der eine wie der andere rebelliert.

Wendet man sich aber nun den Briefen zu, die KEATS in den wenigen Jahren seines dichterischen Schaffens von 1814 bis 1821 geschrieben hat, so ist das Wort dort ein häufig und in stets ähnlichen sprachlichen Wendungen anzutreffender Schlüsselbegriff, dessen Häufigkeit und Einmündung in gedanklich und sprachlich selbstentwickelte Axiome" darauf hinweisen, daß hier eine erregende Grunderfahrung, eine durch Selbstbeobachtung gewonnene Selbsterkenntnis des Dichters als Dichter vorliegt und zum Eckstein einer spontan, aber vielfach variiert entwickelten Poetik und Ästhefik in Briefform geworden ist.

Den besten Einstieg in das System der miteinander kommunizierenden "identity"-Passagen der Briefe gewährt der an seinen Freund JOHN BAILEY in Oxford vom 22. November 1817. Er ist, wie alle Briefe, voll jener Impulsivität, die Bilder generiert, und der Spontaneität, die oft genug die orthographischen Regeln ignoriert, aber immer auf prägnante, in sich stimmige Form. Es heißt:
"Beiläufig muß ich übrigens von etwas reden, das in der letzten Zeit auf mir gelastet (wörtlich: "auf mich eingedrückt") hat ("has pressed upon me") und meine Bescheidenheit und Gefügigkeit verstärkt hat, und das ist diese Einsicht - Genie-Menschen ("Men of Genius") sind groß (oder mächtig) wie bestimmte ätherische Stoffe ("ethereal Chemicals" die auf die Masse neutralen Intellekts einwirken - sie haben jedoch keine Individualität, keinen bestimmten Charakter. Ich würde die oberste Schicht derer, die ihn (d. h. solchen bestimmten Charakter) haben, Macht-Menschen ("Men of Power") nennen."
KEATS meint mit "Men of Genius" hier offensichtlich bedeutende Menschen als geistes- oder kulturgeschichtliche Katalysatoren, während "Men of Power" nicht so sehr Machtmenschen" im heutigen Sinne des Wortes sind, also nicht nach politischer Macht Strebende und sie mehr oder weniger rücksichtslos Durchsetzende, als vielmehr solche, die Macht im Sinne von Festigkeit und Unveränderlichkeit des Charakters, der Persönlichkeit besitzen, vor allem ein unverwechselbares Attribut haben, vielleicht das, was PAUL TILLICH "Seinsmächtigkeit" nennt.

Das, was dem Genie-Menschen, als den man wohl den Dichter und damit den Dichter KEATS verstehen darf, fehlt, das besitzt der Macht-Mensch nach dieser privaten gestaltpsychologischen Typologie in hohem Maße: eine eindrucksvolle, faszinierende, berückende, ja bedrückende Wirkung, und zwar kraft eben jener Mit-sich-selbst -Übereinstimmung, wie sie auf einer ganzen Skala der Auswirkungen, von Festigkeit und Unverwechselbarkeit über Undurchlässigkeit und Ungerührtheit bis zum Mangel an Mitgefühl und Einfühlung in andere, angenommen werden kann.

Die Wirkung des Machtmenschen, der Identität im KEATSschen Sinne besitzt, auf den Genie-Menschen, der ihrer ermangelt, worin wiederum dessen Vorzug zu liegen scheint, ist mit dem Wort "bedrückend", genauer auf jemanden "eindrückend", bezeichnet worden. Das englische Wort ist "to press upon"; es ist in dieser präpositionalen Form seit dem frühen 17. Jahrhundert belegt, erscheint aber bei KEATS in stereotyper Nachdrücklichkeit für einen bestimmten Sachverhalt, die intensive, aber bedrückende sinnliche Wahrnehmung eines mächtigen Gegenübers, sei es Mensch, Tier oder Ding.

Beiläufig sei hier angemerkt, daß das die Präposition ausgliedernde und nachstellende englische Verb, wie "to press upon" oder auch "to see into", gegenüber den synthetisch die Präposition eingliedernden, präfigierenden deutschen Verben "bedrücken" oder "einsehen" den Vorzug der analytischen, prozessualen und daher zum dynamischen Nachvollzug anregenden Wortbildung hat.

Der Ausdruck "to press upon" im Sinne von "bedrücken", "belasten" ist nun auf eigentümliche, und zwar eigentümlich beständige Weise, mit dem Begriff "identity" in mehreren Fällen idiolekthaft verbunden. In einem Brief an den Freund WOODHOUSE vom 27. Oktober 1818 steht eine geradezu paradigmatische Formulierung dieser zum "Axiom" erhobenen Erfahrung, die für KEATS, wie alle Erkenntnis, nur dann Wahrheitscharakter hatte, wenn sie am eigenen Leibe erfahren, oder, wie er sagte, an den Pulsen" gefühlt wurde. Es heißt da folgendermaßen:
"Was den poetischen Charakter selbst anlangt ("Charakter" hat hier im alten theophrastischen Sinne die Bedeutung "Charaktertypus") (ich meine die Art, von der ich selber, wenn überhaupt etwas, ein Glied bin; jene Art, die sich vom wordsworthschen oder egotistischen Erhabenen unterscheidet, das eine Sonderart ist und für sich steht), so ist er nicht er selbst - er hat kein Selbst - er ist alles und nichts - Er hat keinen Charakter [jetzt ist die unverwechseIbare Persönlichkeit gemeint] - er freut sich an Licht und Schatten; er lebt mit gusto [dies ist wieder ein HAZLITTscher Begriff), sei es häßlich oder schön, hoch oder niedrig, reich oder arm, mittelmäßig oder erhaben.

Er hat genau so viel Freude daran, einen Jago zu erfinden wie eine Imogen. Was den tugendhaften Philosophen ("virtuous philosopher" ist wohl eher moralisierender Philosoph als Moralphilosoph) schockiert, entzückt den chamäleonhaften Dichter ... Ein Dichter ist das unpoetischste aller Geschöpfe; weil er keine Identität hat - er ist ständig auf der Suche nach - und füllt irgendeinen anderen Körper aus - Die Sonne, der Mond, das Meer und Männer und Frauen, die triebhafte Geschöpfe sind, sind poetisch und haben an sich ein unveränderliches Attribut - der Dichter hat keins, keine Identität - er ist gewißlich das unpoetischste aller Geschöpfe Gottes" (Letters 1, 386 f.)
Und KEATS argumentiert und spekuliert nun weiter all so:
"Wenn er, der Dichter, kein Selbst hat und wenn ich ein Dichter bin, was Wunder, wenn ich sagen würde, ich würde nicht mehr schreiben. Könnte ich nicht in jenem Augenblick gerade über die Charaktere von Saturn und Ops nachdenken?"
Dies ist eine Anspielung auf den  Hyperion , mit dem KEATS gerade beschäftigt ist. Dann heißt es weiter:
"Kein Wort, das ich sage, kann für voll genommen werden als Ausfluß meiner identischen Natur - wie kann es das, wenn ich keine Natur habe? Wenn ich in einem Raum mit anderen Leuten zusammen bin, wenn ich dann überhaupt frei bin vom Nachdenken über die Geschöpfe meines eigenen Gehirns, dann geht nicht mein Selbst nach Haus zu mir: sondern die Identität eines jeden im Raum fängt an, auf mich einzudrücken, so daß ich in kurzer Zeit vernichtet bin . . ." (Letters 1, 387).
Hier schließt sich ein Kreis in den Selbstbeobachtungen und Selbstbetrachtungen: Normale Menschen und Dinge haben ihre Identität, ihren konstanten Charakter, ihre bleibende Eigenheit. (Das englische Wort für das charakteristische Attribut ist "property" = "Eigenheit" im Unterschied zur veränderlichen "Eigenschaft" ="quality".) Durch dieses ihr Attribut wirken sie. Nur der Dichter hat keine Identität, keine bleibende Eigenheit; deshalb und um so mehr ist er empfänglich, mehr als das: verletzlich, für die Wirkungen jener mit sich selbst identischen Wesen und Dinge.

Das ist der KEATSsche Befund, das ist der wahrnehmungspsychologische Sachverhalt, dessen Gültigkeit zu prüfen ist. Er kann durch viele weitere Beispiele belegt werden: Im Brief vom 14. Oktober 1818 an Bruder und Schwägerin in Amerika heißt es von KEATS' jüngerer Schwester Fanny im Vergleich mit der Frau seines Bruders: "Ihr Charakter ist nicht geformt, ihre Identität drückt nicht auf mich ein wie Deine (,her identity does not press upon me as yours does")" (Letters 1, 392). Und vom jüngsten Bruder Tom wird im Brief vom 21. September 1818 an den Freund DILKE gesagt, als er, der Bruder, schwer krank daniederliegt:
"Seine Identität drückt den ganzen Tag so auf mich ein, daß ich gezwungen bin auszugehen - und obwohl ich die Absicht hatte, einige Zeit dem Studium zu widmen, bin ich gezwungen zu schreiben und in abstrakte (das heißt losgelöste, vorgestellte, imaginierte, poetische) Bilder einzutauchen, um mich von seinem Gesichtsausdruck, seiner Stimme, seiner Schwäche zu erholen" (Letters 1, 369).
Hier nun stehe ich an einem Scheideweg: Drei Wege tun sich vor mir auf; jeder von ihnen scheint zu einem bedeutenden Aussichtspunkt in der wissenschaftlichen Landschaft zu führen. Der erste ist die geistes- und ideengeschichtliche Frage nach der Herkunft und dein Werdegang des Begriffs "identity" und somit auch nach seinem Stellenwert in der psychologisch-philosophischen Diskussion der KEATS-Zeit, die die Zeit der rationalistischen Assoziationspsychologie DAVID HARTLEYs war die Frage also nach Geschichte und Überlieferung des Begriffs und Problems der "Identität" vor und bis zu KEATS.

Der zweite Weg führt diesen Gedankengang von KEATS aus weiter in die Zukunft und entwickelt sich zur psychologisch-psychoanalytischen Frage der "ldentifikation" und ihrer ästhetischen Bedeutung im späteren 19. und 20. Jahrhundert. Der dritte Weg, die dritte Frage, konzentriert sich auf die KEATSsche Gegenwart; sie behandelt den Sachverhalt, die subjektive, existentielle Aussage, auf philologisch-interpretative Weise und sucht die für den Dichter KEATS daseinsmäßig und künstlerisch lebenswichtige Bedeutung der mit dem Begriff "identity" erfaßbaren Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Schaffensbedingungen im eigenen Ich zu ermitteln und die Frage zu beantworten, was denn das Phänomen des Identitätsverlustes letztlich und eigentlich mit der Dichtung von KEATS zu tun habe.

Ich entscheide mich, mit Rückgriffen auf den ersten und zweiten Weg, für den letzteren und frage: Was ist eigentlich vorgegangen, wenn KEATS von "loss of identity" als einer an sich selbst gemachten, bestürzenden Erfahrung spricht? Ist "Identitätsverlust" das richtige Wort für diesen ihn so beunruhigenden Vorgang? Und wenn dabei wirklich ein "Verlust" zu beklagen ist, gibt es dann nicht auch einen kompensatorischen "Gewinn" zu verzeichnen, den des Interpreten "sinnendes Haupt wohlzufrieden zu Haus" erwägen kann?

Zunächst ist doch zu sagen, daß ein Verlust, der sich des öfteren ereignet, kein endgültiger, also kein wirklicher Verlust sein kann. Er ist nach der Beschreibung der näheren Umstände ja ein vorübergehendes Aussetzen des in seiner ichbezogenen Beobachtung unterbrochenen reflektierenden Bewußtseins. Aber doch des reflektierenden Bewußtseins in einem besonderen Sinne, im Sinne nämlich der stark dominierenden Sinneswahrnehmungen, "sensations"; denn der Angelpunkt des Wahrnehmungsvorgangs ist der Eindruck eines wirkungsmächtigen Gegenübers, der über die Augen den sensitiven und motorischen Organen zugeleitet wird, die das aufgenommene Bild gleichsam nachbauen und damit der fremden Wirkung und nicht dem eigenen Willen gehorchen, diesen vielmehr vorübergehend mattsetzen, ausschalten, "annihilieren", wie KEATS sagt.

Ein Beispiel möge dafür noch unmittelbares Anschauungsmaterial liefern: KEATS schreibt einmal an BAILEY:
"Nichts erstaunt mich über den gegenwärtigen Augenblick hinaus ... ; wenn ein Sperling vor mein Fenster kommt, so nehme ich an seinem Dasein teil und picke auf dem Kies herum" (Letters 1, 186).
Betrachten wir diese Aussage. Auffällig ist hier doch einmal die Betonung des unbedingt Gegenwärtigen, des "Nun", des kleinen Erlebnisses, zum andern die des ebenso eindeutig Unwillkürlichen Spontan-Reflexhaften, man möchte sagen Zwanghaften, obwohl das Zwanghafte hier nicht so bedrückend in Erscheinung tritt wie in den anderen Fällen. Beides, die Einengung des Bewußtseins, das weder zurück-, noch vorausgreift auf das "Nun" der absoluten Gegenwart, und die totale Beschlagnahme der Sinnesempfindungen, durch das faszinierende Gegenüber erhält sein Relief auf dem Hintergrund des extremen Sensualismus dieses Dichters, der allerdings in kurzer Zeit den Weg von der Hingabe an die Empfindungen, die "sensation" zum Verlangen nach Wissen und Erkenntnis, nach "knowledge" und "thought", ging, wobei ihn der Gedanke an die größere humanitäre Leistung des Wohltäters der Menschheit, des Arztes, der er ja selber gewesen war, gegenüber der des Dichters zu beunruhigen nie nachließ.

Ich zögere hier, das kleine Sperling-Beispiel als einen Fall der sogenannten "Einfühlung" zu bezeichnen; ich zögere wegen der deutlich reflexhaften Einwirkung der dynamisch-kinetischen Erscheinung des wahrgenommenen Gegenübers. Vielmehr drängt sich mir der Gedanke an ein altes psychologisches Gesetz auf, das ideomotorische Gesetz, "Carpenter-Effekt" genannt, das 1873 von dem britischen Physiologen W. B. CARPENTER folgendermaßen formuliert worden war:
"Die Wahrnehmung oder Vorstellung einer Bewegung erregt im Wahrnehmenden oder Vorstellenden den Antrieb zur Ausführung der gleichen Bewegung. Hierzu gehören die unbewußte Nachahmung von Gebärden, Gesten, Gang, Tanz, Rhythmus u. a."
Wohingegen statt des vom Objekt im Subjekt erregten, vielmehr erzwungenen Ablaufs eine vom Subjekt intendierte Teilnahme sensitiv-emotionaler Art am Gegenüber vorliegt, spricht man von "Einfühlung", die das flühlende Sichhineinversetzen in eine andere Person, ein anderes Wesen oder einen anderen Gegenstand meint. Das Wort Einfühlung", das sich zuerst bei NOVALIS findet und charakteristisch für die romantische Welterfassung ist, war um 1908 zu einem Grundbegriff der psychologischen Ästhetik geworden.

Der Kunsthistoriker WILHELM WORRINGER bekannte in seinem berühmten kleinen Buch  Abstraktion und Einfühlung  seine Dankesschuld gegenüber dem ästhetischen Subjektivismus ein, wie ihn THEODOR LIPPS zum System entwickelt hatte. "Die moderne Ästhetik", schreibt WORRINGER, ... gipfelt in einer Theorie, die man mit einem allgemeinen und weiten Namen als Einfühlungslehre bezeichnen kann. Eine klare und umfassende Formulierung hat diese Theorie durch THEODOR LIPPS gefunden".

LIPPS selber hatte eine thesenhafte Zusammenfassung seiner Lehre im Januar 1906 in der Wochenschrift  Zukunft  gegeben,- auf die WORRINGER sich zum Teil wörtlich bezieht. Das Ausschlaggebende an der modernen Ästhetik sei das Gefühl selbst, die innere Bewegung, das innere Leben, die innere Selbstbetätigung", so zitiert WORRINGER LIPPS. Voraussetzung des Einfühlungsaktes sei die allgemeine apperzeptive Tätigkeit. "Jedes sinnliche Objekt", so heißt es bei LIPPS "soweit es für mich existiert, ist ja immer nur die Resultante aus den beiden Komponenten, dem sinnlich Gegebenen und meiner apperzeptiven Tätigkeit".

Gegenüber der Zumutung, die eine solche Apperzeption bedeutet, könne das Bewußtsein "ja" oder "nein" sagen, nämlich entweder mit dem Gefühl der Freiheit in freier Selbstbetätigung (nach LIPPS ist dies "positive Einfühlung"); oder aber es entstehe ein Konflikt zwischen dem natürlichen Bestreben der Selbstbetätigung und der zugemuteten Apperzeption (nach LIPPS wäre dies "negative Einfühlung").

Dies sind denn auch die beiden feststellbaren Varianten oder Kontrastmomente der "Einfühlung" bei KEATS. Für WORRINGER ist, dies sei nur noch angemerkt, die "Einfühlung" nur der eine Pol ästhetischer Wahrnehmung; der andere, dialektisch stets mit ihm verknüpfte, ist die "Abstraktion". Der Amerikaner E. B. TITCHENER übersetzte 1922 das Wort "Einfühlung" mit "empathy", und dieses Wort "empathy" kehrte als das Fremdwort "Empathie" mit neuer Dignität und Vitalität geladen und mit starken psychoanalytischen Konnotationen und Assoziationen ausgestattet zu uns zurück.

In der Sprache der Psychoanalyse ist der Begriff "Empathie" heute das Herzstück ("the very core") des Bemühens des Psychiaters, seinen Patienten zu verstehen. Beim Künstler wird die, wie man meint, relativ einfachere Art des Sicheinfühlens in einen künstlerischen Gegenstand oft als "Projektion" bezeichnet und so von der "Empathie" des Psychoanalytikers abgehoben. Bei ästhetischen Vorgängen wie dem des imaginativen Eindringens in eine kunsthaft zu gestaltende Naturerscheinung wird der Begriff "Einfühlung" oder "Empathie" heute oft gern auch durch den Ausdruck "ästhetische Beseelung" ("aesthetic animation") ersetzt.

Dabei wird von psychologischer Seite das "Irrtümliche" einer solchen Beseelung eines Kunstobjekts betont. Die Literaturkritik hat sich angewöhnt, diese vom rationalistischen Standpunkt aus "trügerische" Besserung mit JOHN RUSKINs Terminus "pathetic fallacy", also "Trug des scheinbar leidenden Bewußtseins", zu bezeichnen; Beispiel: "Der ächzende Baum im Sturm". Dieser kritische Begriff trifft im ursprünglich abwertenden, aufklärerischen Sinne natürlich die gesamte ursprachliche Metaphorik, wird aber heute wertneutral gebraucht.

Wendet man die Unterscheidung "positiver" und "negativer" Einfühlung auf KEATS' Selbstbeobachtungen an, so bringt der Begriff negative Einfühlung" in allen Fällen zwanghafter Identifikation des Subjekts mit dem Objekt die psychopathologische Komponente dieses erzwungenen Einfühlens hervor. Hier sind offensichtlich Mechanismen am Werk, die den Gedanken rechtfertigen, daß die Sensibilität, das heißt die stark verfeinerte Empfänglichkeit für sinnliche Erfahrung, beim Künstler einen Grad von Überempfindlichkeit und Reizbarkeit erreichen kann, der ans Krankhafte grenzt.

In diesem Sinne hätte der Befund "Identitätsverlust" bei KEATS in der Tat die Bedeutung des zwanghaften Erleidens, des schmerzhaft oder doch mit Bestürzung empfundenen und registrierten Verlustes. Ich habe an anderer Stelle für diesen psychologischen, bereits ins Psychopathologische hinüberspielenden Aspekt der Wahrnehmung, als welchen KEATS diese fast immer erfährt und darstellt, einmal den Begriff "Veranderung" benutzt, den der Kunsthistoriker WILHELM FRAENGER in seinem Buch "Die Radierungen des Hercules Seghers" geprägt und folgendermaßen erläutert hat:
"Veränderung ist ein Sichversenken in das Gegenüber, wobei die Hingabe des Schauenden ihn aller Ichvereinzelung so tief vergessen läßt, daß er zu einem zwiespaltlosen Leben aus seinem Gegenstand heraus hinabtaucht".
FRAENGER, der hier einen mystischen Zug in den Vorgang legt, führt Beispiele der "Veränderung" (oder Einfühlung bzw. Empathie) aus STRINDBERG, BALZAC, TURGENJEFF und FLAUBERT an. Von STRINDBERG wird berichtet, daß er, der sich von der Umwelt immer äußerst gereizt, gehemmt und bedroht gefühlt habe, jene Intensitätsverstärkung des Empfindens als den Drang verspürt habe, sich quälend in die Umweltformen einzufühlen; er mitempfinde die Sisyphusarbeit Kerner eines Schaufelrades und leide mit den Fichtenstämmen, die auf der Marterbank des Sägewerkes bluten. Von BALZAC heißt es, er habe mit Erstaunen in sich das Vermögen entdeckt, "wie der Derwisch in Tausend und einer Nacht, Körper und Seele der Person anzunehmen, die er darstellen wollte".

TURGENJEFF erzählte Freunden, er lebe so in der Rolle seiner Helden, daß er eine Zeit hindurch denke, spreche, gehe wie sie; so habe er, als er  Väter und Söhne  schrieb, lange wie Basarov gesprochen. FLAUBERT erzählt, die Gestalten seiner Einbildungskraft aflizierten oder verfolgten ihn, oder vielmehr sei er es, der in ihnen lebe. "Als ich beschrieb, wie Emma Bovary vergiftet wird (sic), hatte ich einen ... deutlichen Arsenikgeschmack auf der Zunge".

KEATS, so sieht man, ist ein früher Zeuge in der Schar jener Künstler, deren äußerst reizbares Empfindungsvermögen sich sowohl rezipierend wie projizierend äußerte. In diesem Zustande außerordentlich gesteigerter Reizbarkeit macht das Gegenüber, sei es Mensch, Tier oder Ding, seine "Identität", seinen "Charakter" seine starke "Ausstrahlung", wie man heute sagt, geltend. Dies zeigt sich überall dort, wo in der Subjekt-Objekt -Beziehung, deren voluntatives Gefälle ja sprachlich durch eben diese Kategorien Subjekt und Objekt sanktioniert ist, das Objekt, das "Ding" sogar, dem Subjekt seinen "Willen", das heißt seine Mächtigkeit, aufzwingt oder wo, umgekehrt, das erfahrende menschliche Subjekt seinen Willen nicht geltend machen kann, weil die "Dinge" sich ihm nicht beugen wollen.

Was oben "Vernichtung" ("annihilation") und "Identitätsverlust" ("loss of identity") hieß, erweist sich jetzt als Mattsetzung des Willens des Subjekts durch die übermächtige "Identität" des Objekts, der "Dinge". In der Beziehung von Subjekt und Objekt, Mensch und Ding, sind die Rollen vertauscht: das Objekt, das Ding als Objekt (natürlich erst recht der Mensch als Gegenüber oder das Tier), ist zum aktiven Herausforderer, zum Stimulanten und Reizträger geworden, das Subjekt dagegen zu dem auf diese Herausforderung, diesen Stimulus, diesen Reiz reagierenden, oft leidend reagierenden eigentlichen "Objekt". In einer Versepistel an J. H. REYNOLDS steht bei KEATS dieser Satz:
Die Dinge können nicht nach dem Willen
Geregelt werden, sondern locken uns aus dem Denken,
Wie es die Ewigkeit tut.
(Epistle to J. H. REYNOLDS, 76 ff.)
Dasselbe wird übrigens auch von der griechischen Urne, jenem imaginären, sprachlich beschworenen Marmorgebilde, dem KEATSschen Urbild eines Kunstwerks, gesagt:
Du, stille Gestalt, lockst uns aus dem Denken,
Wie es die Ewigkeit tut.
(Ode on a Grecian Urn, 44 f.)
Die Dinge, aber auch das Kunstwerk par excellence, locken die Einbildungskraft aus dem sichernden Bereich des Denkens; denn anders als die Phantasie sichert das Denken ab, während der Gedanke der Ewigkeit es aus seinen schützenden Grenzen reißt.

Nun ist aber von der Phase der Wahrnehmung von Wirklichkeit, der sinnlichen Wahrnehmung realer Menschen, Tiere und Dinge, die "Rezeption" genannt werden kann, die andere Phase der Einfühlung in bereits geschaffene Kunstgebilde, insbesondere in die poetischen Gestalten anderer Dichter, zu trennen; diese Phase möge "Projektion" genannt werden. Hier wird nicht aufnehmend eingebildet, sondern nachbildend. Diese Unterscheidung macht es nun möglich, die Frage zu stellen, wo denn, wenn überhaupt, bei solchem "Verlust" der Identität des Dichters der mögliche "Gewinn" zu suchen sei. Ein langer Tagebuchbrief an die KEATS in Amerika vom 24. Oktober 1818 entwickelt diesen Gedanken der "Projektion", für den sich viele weitere Beispiele finden ließen. Es heißt dort:
"Die mächtige abstrakte Vorstellung ("Idea"), die ich von der Schönheit in allen Dingen habe, erstickt das geteiltere und kleine häusliche Glück - eine liebenswerte Frau und reizende Kinder betrachte ich als Teil dieser Schönheit. Aber ich brauche tausend solcher schönen Teilchen, um mein Herz auszufüllen. Ich fühle es täglich mehr in dem Maße, wie meine Einbildungskraft stärker wird, daß ich nicht in dieser Welt allein lebe, sondern in tausend Welten, - kaum bin ich allein, so umstehen mich Gestalten von epischer Größe ... Je nach meiner Gestimmtheit bin ich bei ACHILL und schreie (mit ihm) in den Kampfgräben oder ich bin bei THEOKRIT in den Tälern Siziliens. Oder ich werfe mein ganzes Wesen in den TROILUS. . ." (Letters 1, 403 f.).
War in Augenblicken der bis zur scheinbaren Selbstauflösung gehenden Beeindruckung des Wahrnehmungsvermögens durch reale Personen, Wesen und Dinge das sinnlich gereizte Bewußtsein durch den Zwang des Rezipierens völlig in Anspruch genommen, besetzt, blockiert, absorbiert, so wechselt diese als negativ bezeichnete und empfundene Art der befruchtenden Aufnahme von Weltstoff, in der Wille und Vorstellung gänzlich von der Mächtigkeit der einwirkenden Erscheinungen überlagert sind, hinüber zu einer positiv erfahrenen Art des fruchtbaren Aufnehmens und Nachvollziehens bereits vorfindlicher poetischer Gestalten, wobei nun Wille und Vorstellung sich als Kräfte der reproduktiven Einbildung betätigen.

Die in der ursprünglichen Rezeption völlig beanspruchten Kräfte der "negativen" Einbildungskraft machen sich in der einfühlenden Projektion in vorgegebene portische Gebilde als positive Kräfte bemerkbar und stellen so die Tätigkeit der wahren dichterischen Identität dar, auch wenn der Dichter sie nicht als solche erkennt oder bezeichnet. Ja, es ist sehr aufschlußreich, daß die Flucht vor der Bedrückung durch reale Identitäten wie den kranken Bruder den Dichter nötigt, sich in die Identität anderer poetischer Gebilde zu stürzen. In diesem Sinne ist ein Kunstwerk ein Asyl. Das haben in unserer Zeit Dichter so unterschiedlichen Temperaments wie RILKE und BENN gewußt und gesagt.

Kurzum: Was als Verlust aussah, war notwendige Stufe im kreativen Prozeß, eine Stufe, auf der die schöpferischen Organe und Kräfte sich für die zunächst nachschöpferische, später eigenschöpferische Tätigkeit einübten.

SERRY meint, wenn man die KEATSsche Dichtung entweder als eine Flucht vor den engen Grenzen der Identität oder aber als den Entschluß zu deren Überschreitung betrachte, dann sei es um so notwendiger, sie als Entdeckung oder Schöpfung von Identität auf einer anderen, tieferen Ebene zu verstehen. Hier also bekundet sich die Vermutung, daß der scheinbare Verlust der Identität in der Phase der Rezeption, möglicherweise auch noch der Projektion, mit dem wahrscheinlichen Gewinn an anderer Stelle im dichterischen Haushalt, nämlich der dichterischen Gestaltung, sich ausgleiche.

Es fände demnach ein zeitlich verzögerter Austausch zwischen der mit Intensität wahrgenommenen und zunächst bedrückenden Identität realer Gestalten und der mit Intensität konzipierten und poetisch realisierten imaginären Gestalten der eigenen Schöpfung statt.

Wie dem im einzelnen auch sei, als sicher kann gelten, daß die Einbildungskraft, die vielberühmte Imagination, bei der ursprünglichen Erfahrung erlebter realer Wirklichkeit und der nachschaffenden Erfahrung erlebter imaginativer Wirklichkeit im Bewußtsein eines scheinbaren Identitätsverlustes, sozusagen durch "künstliche Ernährung", mit potentiell ausdrucksflähigen Stoffen und Gestalten befrachtet und befruchtet wird, daß diese Stoffe und Gestalten, wie PAUL CLAUDEL gesagt haben würde, "auf der Flamme des Herzens" in Wallung gebracht und mit dem Aroma persönlicher Sensibilität versetzt, aus dem bereitliegenden Schatz der sprachlichen und poetischen Mittel jeweils die ihr angemessenen mit sicherem Instinkt heranziehen, um nach der Verschmelzung von Gehalten und Formen noch im abgekühlten Guß die hochgradige Erregtheit des verschmelzenden Gefühls erkennen zu lassen - oder kurz und unbildlich gesprochen: daß bestimmte fruchtbare Themen und angemessene Darstellungsmittel sich unter dem Einfluß intensiver Gefühle miteinander verbinden und zur poetischen Gestaltung führen.
LITERATUR - Helmut Viebrock, Schöpferischer Identitätsverlust, Stuttgart 1984