p-4L. BinswangerA. KronfeldTh. MeynertW. SpechtP. Flechsig    
 
PAUL SAMT
Die naturwissenschaftliche Methode
in der Psychiatrie


"Dem Philosophen sind seine Irrtümer zu verzeihen. Er kennt vielleicht nicht alle Erfahrungstatsachen, und wenn er sie auch kennt, so drängen sie doch nicht immer in den Vordergrund, weil das spekulierende Ich gemeinhin den Tatsachen nicht genügenden Respekt zu erweisen versteht. Schwerer freizusprechen sind Naturforscher, welche den Boden der Tatsachen verlassen, um sich in märchenhafte Abenteuerlichkeiten zu stürzen."

"Schwer ist zu entscheiden, was dem Menschen in der Wissenschaft mehr gefällt, ob der gestillte Kausalitätstrieb, der doch nie ganz gestillt werden kann, es bleibt immer noch ein Warum oder die in Selbsttäuschung schwelgende Eitelkeit, welche dem quälenden Zweifel Ist das so? ein keckes Ja, so ist es renommierend entgegenwirft."

"Daß scheinbar bewußte Handlungen nur mit Bewußtsein erfolgen können, nenne ich ein Vorurteil, welches zwar durch Jahrtausende bestanden hat und auch gegenwärtig noch ziemlich allgemein verbreitet ist, welches aber ein gänzlich unbegründetes, rein willkürliches ist." "Unbewußte Empfindungen, unbewußte Vorstellungen sind ein Nonsens. Eine Empfindung kann intensiv, kann schwach sein, eine Vorstellung klar oder dunkel. Eine Empfindung aber, von der ich nichts weiß, existiert eben nicht. Wer soll sie empfinden? Ebenso ist die unbewußte Vorstellung ein Unding. Wer soll sie vorstellen? Zum Empfinden und Vorstellen gehört eben ein Ich, welches empfindet, welches vorstellt."


Meine Herren!

Der Psychiater studiert physiologisch die Seelenerscheinungen, er studiert anatomisch das Hirn. So gewinnt er ein Urteil über die Beziehung zwischen Hirn und Seele. Diese Beziehung wird gegenwärtig noch verschieden gedeutet, und es begreift sich die Verschiedenheit der Ansichten leicht aus der Verschiedenheit ihrer Prämissen. Einigkeit ist in der Tat schwer oder gar nicht zu erreichen, wenn der eine von einem religiösen Standpunkt aus räsonniert [argumentiert - wp], ein zweiter von einem spekulativen, der dritte von einem empirischen. In einem solchen Fall ist die Diskussion selbst müßig. Soll eine Übereinstimmung erzielt werden in dieser Frage, wie in allen Streitfragen, so müssen zunächst die möglichst unbestrittensten Prämissen statuiert werden. Solche möglichst unbestrittenen Prämissen liefern nur Erfahrungstatsachen. Die aus ihnen abgeleiteten Schlüsse bieten die möglichst große Wahrscheinlichkeit.

Es erhebt sich also die Frage, wie weit berechtigt die Erfahrung zu Schlüssen über die Beziehung zwischen Hirn und Seele. Ich sage Hirn und Seele, nicht Leib und Seele. Die Erörterung der Frage in letzter Form halte ich für einen überwundenen Standpunkt. Doch muß erst eingeschaltet werden, was wir Seele nennen.

Das Wort "Seele" wirkt vielfach verderblich. Viele gehören in dem Augenblick, wo das Wort über ihre Lippen fließt, nicht mehr ganz der Erde an, sie wähnen sich schon halb auf dem Weg zum Himmel. Von dieser himmelfahrenden Eigenschaft der Seele wissen wir jedoch nichts Positives, wir müssen sie ignorieren wie irgendeine andere willkürlich angenommene, empirisch nicht zu beobachtende Seeleneigenschaft. Für uns ist Seele ein Sammelname, der in Empfinden, Vorstellen, Wollen zerfällt. Wir untersuchen hier nicht weiter, welche der drei Tätigkeiten die kardinalste, ob und wieviel jede, einzeln erregt, die andern miterregt. Andere Eigenschaften der Seele kennen wir nicht und "Seele" existiert für uns nicht, wenn keine der drei Tätigkeiten zu erweisen ist. Für uns ist ferner die Seele keine metaphysische Konstante, sie ist eine physische quantitativ und qualitativ differente Variable. Beweis ist das Genie und die Dummheit, der Melancholische und der Maniacus.

Ich sagte eben, wir diskutieren nicht mehr Leib und Seele, sondern Hirn und Seele. Aber auch dieser Ausdruck ist für das fragliche Verhältnis nicht ganz zutreffend. Denn einmal stehen nicht alle Hirnteile in einer Beziehung zu psychischen Tätigkeiten, andererseits sehen wir im Tierreich auch da, wo sich das Nervensystem noch nicht zu einem Hirn entwickelt hat, unzweifelhafte psychische Äußerungen. Es hieße demnach korrekter, und hier muß ich einen Terminus antizipieren [vorausahnen - wp], für den der Beweis erst später erbracht wird, es hieße richtiger, das Verhältnis zwischen psychischem Nervensystem und Seele. Selbstverständlich wird hierfür vorausgesetzt, daß das psychische Nervensystem sich in einem natürlichen Stoffwechsel befindet. Da jedoch das psychische Nervensystem der hirnlosen Tiere als gleichwertig mit den psychischen Hirnbezirken zu betrachten ist, da ferner die bindendsten Beweise für diese Frage dem menschlichen Hirn entnommen sind, so werde ich - a potiori [von der Hauptsache her - wp] - den früheren Ausdruck Hirn und Seele weiter gebrauchen.

Die Präliminarien [Voraussetzungen - wp] schienen mir für die Verständigung erforderlich. Jetzt greifen wir die Frage an.

Die Beweise für eine Beziehung zwischen Hirn und Seele müssen in zwei Kategorien gesondert werden. Es ist erstens der entwicklungsgeschichtliche und vergleichend anatomische, zweitens der pathologische und experimentelle.

Der erste Beweis konstatiert schlechthin eine Relation, und auch diese nur in vager Weise. Der zweite ist der viel schärfere, stringente, besonders sein pathologischer Teil. Er muß ein kausales Verhältnis zwischen Hirn und Seele behaupten, in dem das Hirn die Ursache, die Seele die Wirkung ist. Wir, die wir den zweiten Beweis kennen, vindizieren [zuordnen - wp] meist auch dem ersten eine kausale Bedeutung. Doch das ist falsch. Der erste Beweis ansich kann keine Kausalität behaupten.

Der entwicklungsgeschichtliche ist der schwächste. Diejenigen, welche die zweite Beweiskategorie kennen, behaupten, daß sich der Geist mit progressiver Ausbildung des Hirns progressiv bildet. Dort lehrt die Entwicklungsgeschichte selbst gegenwärtig hierüber nichts Detailliertes. Wir wissen nichts Positives von Entwicklungsstadien der Seele, entsprechend gewissen Entwicklungsstadien des Hirns. Der Beweis erhält erst einige Bedeutung durch die Pathologie, welche zeigt, daß eine Hemmung der Hirnentwicklung auch eine Hemmung der Seelenentwicklung zur Folge hat.

Der vergleichend anatomische ist besser, aber seine Beweiskraft ist keine absolute.

Das Nervensystem der Wirbellosen ist schwer mit dem Hirn der Vertebraten [Wirbeltiere - wp] zu vergleichen, und die Hirne der Vertebraten können auch nicht in allen Stücken absolut verglichen werden. Endlich wissen wir von einer vergleichenden Hirnphysiologie ungeheuer wenig, wir kennen die Tierseelen zuwenig. Der Beweis wäre aber erst dann ein exakter, wenn empirisch beobachtet wäre, daß aufsteigend im Tierreich von den nervenbegabten Coelenteraten [wirbellose Tiere - wp] bis zum Menschen Hirn- und Seelenentwicklung ein proportionales Verhältnis zeigen. So weit vorgedrungen ist die Empirie noch nicht. Wer allerdings den zweiten Beweis schon kennt, wird den Satz in dieser Form wohl akzeptieren. Aber die Empirie liefert den Beweis noch nicht. Am ehesten kann noch für die Säugetiere im Allgemeinen eine Proportionalität angenommen werden. Für sie wird im Allgemeinen behauptet, daß, je mehr die graue Großhirnrinde entwickelt ist, umso mehr sind die Seelentätigkeiten entwickelt. Der Mensch besitzt die entwickeltste Großhirnrinde.

Aber selbst vorausgesetzt, es gelänge der Forschung Seelen- und Rindenentwicklung als absolut proportional zweifellos zu erweisen, so wäre immerhin nur eine Beziehung zwischen Hirn und Seele erwiesen, die Seele könnte dann immer noch als extrazerebrale gedeutet werden, das Hirn nur als Mittel der Seelenäußerung. Auch so wäre das gleiche Wachsen von Hirn und Seele dem nicht naturwissenschaftlichen Verstand vorstellbar.

Diese Vorstellung wird nunmehr der zweite Beweis als irrige darlegen.

Ich will den pathologischen und experimentellen Beweis zu einem kombinieren, denn die pathologische Einzelerfahrung kann uns gleichsam als Experiment gelten, das Experiment als pathologische Erfahrung. Überdies bilden die experimentell gewonnenen Erfahrungen nur eine kleine Quote im reichen Schatz pathologischer Erfahrungen, so daß sich schon der Dignität nach eine mehr anhangsweise Behandlung des experimentellen empfiehlt. Wir sprechen also hauptsächlich vom pathologischen.

Als Prämisse setzen wir eine Tatsache. Die Tatsache lautet:

In einer unermeßlich großen Zahl von Fällen ergibt die klinische Beobachtung wie das physiologische Experiment auf das Unzweifelhafteste, daß primäre, den Sinnen demonstrierbare Hirnveränderungen Seelenveränderungen zur Folge haben.

Von umgekehrt durch Seelenveränderungen produzierten Hirnveränderungen wissen wir nichts.

Von Seelenveränderungen, entstanden durch Veränderungen irgendwelcher anderen Organe, wissen wir gleichfalls nicht.

Gleich unbekannt endlich sind uns etwa essentielle zu nennende Seelenveränderungen.

Nun lehrt die Erfahrung weiterhin Fälle veränderter Seelentätigkeiten, für die gegenwärtig den Sinnen demonstrierbare Hirnveränderungen noch nicht erwiesen sind, beispielsweise Fieberdelirien, die meisten Psychosen. Für diese Fälle ziehen wir den bestmöglichen Wahrscheinlichkeitsschluß, daß auch sie die Folge primärer Hirnveränderungen sind.

Diese Beweisführung ist nur durch zwei Gegenbeweise zu werfen. Erstens, daß in den Fällen der zweiten Kategorie Hirnveränderungen in Zukunft nie gefunden werden können. Zweitens, daß grobe, den Sinnen demonstrierbare, ausgedehnte Hirnoberflächenveränderungen der ersten Kategorie, wie wie sie etwa als diffuse Rindenläsion [-verletzung - wp] in manchen Fällen alter Paralyse finden, als Exsudate [eiweißhaltige Flüssigkeit, die bei Entzündungen aus den Gefäßen austritt - wp] bei Menengitis [Gehirnhautentzündung - wp], als pachymenegitische Blutkappen, welche beide Konvexitäten [Krümmungen nach außen - wp] decken, daß solche Hirnveränderungen, sage ich, Seelenveränderungen gar nicht erzeugen.

Diese zwei Gegenbeweise sind zu liefern.

Die aprioristische Spekulation könnte wohl gegen einen Teil der pathologischen wie physiologisch experimentellen Erfahrungen den gleichen Einwand erheben wie gegen den vergleichend anatomischen Beweis. Überall da, wo nach unserer Auffassung Seelendefekte durch Hirndefekte erzeugt sind, könnte sie die Seelendefekte einfach negieren. Die Seele, räsonnierte sie etwa, bleibe ganz intakt, nur könne sie sich nicht intakt äußern, weil durch den Hirndefekt eben ein Teil ihres Äußerungsorgans funktionsunfähig geworden ist. Dagegen gebietet der andere Teil der empirisch beobachteten Seelenveränderungen der Spekulation ein souveränes !Halt. Schon vor der trivialen Tatsache des Rausches muß sie verstummen. Und so lange sie uns die Antwort schuldet, wo und wie der mit dem Blut zirkulierende Alkohol ihrer hirnlosen Seele beikommt, um sie zu berauschen, solange werden wir ihre hirnlosen Seelen, seien sie Menschen-, Pflanzen- oder Weltseelen, heißen sie Prinzip der Vernunft oder Prinzip des Unbewußten, abgeschmackte Abenteuerlichkeiten nennen.

Dem Philosophen sind seine Irrtümer jedoch zu verzeihen. Er kennt vielleicht nicht alle Erfahrungstatsachen, und wenn er sie auch kennt, so drängen sie doch nicht immer in den Vordergrund, weil das spekulierende Ich gemeinhin den Tatsachen nicht genügenden Respekt zu erweisen versteht.

Schwerer freizusprechen sind Naturforscher, welche den Boden der Tatsachen verlassen, um sich in märchenhafte Abenteuerlichkeiten zu stürzen.

Solche Luftsprünge sind in neuerer Zeit von WALLACE und HERING ausgeführt. WALLACE meint, daß alle Kraft im Universum Willenskraft ist, HERING spricht von einem Gedächtnis organischer Materie. Noch in allerneuester Zeit hatten wir das Schauspiel, einen scharf denkenden Naturforscher sich in den Netzen der Spekulation verfangen zu sehen.

ZÖLLNER begriff, daß die Tatsache der Empfindung aus räumlichen und zeitlichen Beziehungen nicht deduziert werden kann. Nach HELMHOLTZ soll aber die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu begreifen, von der Voraussetzung ihrer Begrifflichkeit ausgehen. Warum, fragt ZÖLLNER, soll ich dann auf die Begrifflichkeit der Empfindungsphänomene verzichten? Lieber vermehre ich die allgemeinen Eigenschaften der Materie umd eine hypothetische, welche die elementarsten Vorgänge der Natur unter einen gesetzmäßig damit verbundenen Empfindungsprozeß stellt. ZÖLLNER spricht so von Lust und Unlust der Gasmoleküle, von Empfindungen eines erschütterten Kristalls.

Solche Sätze spotten aller Empirie. Und ehe ZÖLLNER uns nicht Lust und Unlust von Gasmolekülen ad oculos [vor Augen - wp] demonstriert hat, werden wir das hirnlos empfindende Gasmolekül zum gleichen Nonsens erklären müssen, wie die hirnlosen Seelen der Theologie oder Philosophie.

So rächt sich die Empirie an den Naturforschern, welche den mühsamen, aber sicheren Weg der Induktion geringschätzend die wenngleich geistvollere, so doch trügere Spekulation in die Naturwissenschaft wieder einzuführen möchten.

Sie werden fragen, wie verhält es sich denn mit der Prämisse, aus der ZÖLLNER eine solche Konsequenz zog, mit der Prämisse, daß die Wissenschaft von der Voraussetzung der Begreiflichkeit der Naturerscheinungen ausgehen muß? - Sicher ist, daß dieser Satz etwas Subjektives involviert, und daß die einzige Voraussetzung einer absolut objektiven Naturbetrachtung nur die absoluteste Voraussetzungslosigkeit sein darf.

Ehe ich die Erörterung über das Verhältnis von Hirn und Seele schließe, muß ich an eine Lizenz der Ausdrucksweise erinnern, welche sich die neuere pathologische Anatomie vielfach erlaubt. Sie läßt beispielsweise die Zellindividuen ihrer Ernährungsmaterial wählen, ja sie spricht geradezu von einer Willkür der Elementarorganismen. Solche Ausdrücke können selbstverständlich nur bildlich sein, denn alle Bewegungen der Zellen sind mechanische.

Es gibt keine Seelentätigkeit ohne Hirn.

Hier will ich für einen Augenblick unser Thema unterbrechen, um von einem allgemeinen Prinzip zu handeln, welches uns in der Diskussion der Frage über Hirn und Seele geleitet hat. Dieses Prinzip wird sich auch nach anderen Richtungen als fruchtbringend erweisen, ja Sie werden sehen, daß in der Naturwissenschaft selbst dagegen noch gesündigt wird.

Das Prinzip will ich mit einem Namen belegen, der in der Naturwissenschaft bereits existiert. Ich weiß keinen besseren. Doch ist die Bedeutung, welche ich dem Namen gebe, eine andere. Damit nun keine Verwirrung entsteht, muß ich dem alten Namen einen Zusatz geben, der gerade den differenten Standpunkt kennzeichnet. Ich rede vom früheren Prinzip des Aktualismus, das ich in das Prinzip des empirischen Aktualismus umwandle.

Das Prinzip des Aktualismus finde ich zuerst in der von DUBOIS-REYMOND in der hiesigen Akademie der Wissenschaften auf JOHANNES MÜLLER gehaltenen Gedächtnisrede erwähnt. In einer Anmerkung erklärt DUBOIS-REYMOND, daß er diesen Ausdruck, der den von Sir CHARLES LYELL in die Wissenschaft eingeführten Grundgedanken bündig wiedergibt, seinem Freund, Herrn Dr. JUSTUS ROTH, verdankt. Dann finde ich das Prinzip noch ein zweites Mal genannt und diesmal wiederum von DUBOIS-REYMOND in seinem glänzenden, inhaltlich wie formelle so vollendeten Vortrag, welchen er in der vorjährigen Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig gehalten hat. Es heißt da an der Stelle, wo vom ersten Erscheinen lebender Wesen auf Erden gesprochen wird:
    "Könnten wir die Bedingungen herstellen, unter denen organische Wesen einst entstanden sind, so würden nach dem Prinzip des Aktualismus wie damals auch heute noch organische Wesen entstehen."
Gerade dieser Satz zeigt die Differenz beider Standpunkte auf das allerschärste. Es ist daher geraten, an dieser Frage, welche keine andere ist, als die alte, viel diskutierte Frage der generatio aequivoca [Urzeugung - wp], unser Prinzip des empirischen Aktualismus zu erörtern.

Das Prinzip verlangt, daß immer die aktuelle Empirie Prämisse ist und daß, was aktuell, als Tatsache auch für Vergangenheit und Zukunft vorausgesetzt wird, solange bis das Gegenteil bewiesen ist. Wenden wir das Prinzip auf die generation aequivoca an.

Die Frage der generatio aequivoca ist vom religiösen Standpunkt leicht gelöst. Gott bläst der formlosen Materie den Odem [Lebenshauch - wp] ein, es entsteht Leben. Dieses Odemeinblasen kennen wir aber in der Gegenwart nicht, also besteht es für uns nur als virtuelle Vorstellung, solange bis es tatsächlich bewiesen ist.

Die Spekulation ist über die Frage nicht einig. Sie sagt entweder, es muß einen Anfang gegeben haben oder ich kann mir einen Anfang gar nicht denken.

Die Empirie sagt, ich muß einen Anfang annehmen. Denn die Geschichte der Physik der Erde lehrt, daß die Erdtemperatur einst ein so hohe war, daß lebende Wesen damals nicht existieren konnten. Also müssen sie später entstanden sein. Die Bedingungen des Entstehens sind aber gleich rätselhaft wie das Odemeinblasen. Wir haben vom ersten Entstehen daher keine tatsächliche Vorstellung.

Der DUBOIS-REYMOND'sche Satz: "Könnten wir die Bedingungen herstellen, unter denen organische Wesen einst entstanden sind, so würden wie damals auch heute noch organische Wesen entstehen" ist als Schluß klar und unzweifelhaft richtig, nur ist die Prämisse eine virtuelle Vorstellung.

Ich verlange, daß die Prämisse die aktuelle Empirie ist. Ich sage, weder das Experiment, noch die pathologische Beobachtung hat eine generatio aequivoca erwiesen. Noch sind PASTEURs Experimente beweiskräftig, noch hat VIRCHOW den Satz "omnis cellula e cellula" [Eine Zelle kann immer nur aus einer Zelle hervorgehen. - wp] siegreich behauptet. Für unsere tatsächlichen Vorstellungen existiert daher eine generatio aequivoca nicht, nicht für die Gegenwart, nicht für die Vergangenheit, nicht für die Zukunft.

Unsere einzige Voraussetzung ist aber die absoluteste Voraussetzungslosigkeit [kriton/spranger]. Und wird morgen eine generatio aequivoca experimentell oder pathologisch zweifelsfrei erwiesen, so sagen wir, eine generatio aequivoca findet statt, sie hat immer stattfinden können und sie wird immer stattfinden können. Diese Behauptung halten wir dan solange aufrecht, bis für die Vergangenheit oder Zukunft das Gegenteil bewiesen wird.

Nach dem Prinzip des empirischen Aktualismus wird die Frage der generatio aequivoca als negativ entschieden.

Neuerdings haben hohe naturwissenschaftliche Autoritäten die Frage im Prinzip positiv beantwortet. Was konnte sie bestimmen, den Boden der Tatsachen zu verlassen? - Ein spekulativer Zwang.

Die moderne hypothetische generatio aequivoca ist eine spekulative Konsequenz von DARWINs Hypothese. Um mit DARWINs Hypothese die Schöpfung zu begreifen, bedarf die Spekulation der Hypothese einer generatio aequivoca. Macht sie aber die Hypothese der g. a., so kann sie der Hypothese DARWINs wiederum ganz entbehren. Denn es ist gleich, ob wir uns den Akt der g. a. virtuell ein einziges Mal oder eine Million Mal vorstellen. Die Spekulation, wie Sie sehen, dreht sich hier in einem circulus vitiosus [Teufelskreis - wp].

Die Naturwissenschaft aber, wie sie sich glücklich vom religiösen Zwang emanzipiert hat, muß sich auch spekulativer Bedenken entledigen. Wenn sie nur exakt nennen will, was sie exakt nennen kann, würde ihr Ansehen ein unbegrenztes sein, dann würden ihre Sätze auch in der nicht naturwissenschaftlichen Welt allgemeine Gültigkeit haben.

Die Wichtigkeit des Prinzips des empirischen Aktualismus will ich noch an weiteren Beispielen erläutern. Ich wähle das Thema der Offenbarungen.

Offenbarungen sind die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] der positiven Religionen. Sie geben die Kommunikation zwischen Mensch und Gott. Unser Prinzip fragt nach der aktuellen Empirie der der Offenbarungen? Gibt es heute Offenbarungen? Und was sind Offenbarungen? Die Antwortet lautet: Es gibt heute Offenbarungen oder korrekter: es gibt Individuen, denen religiöse Edikte [Bekanntmachungen - wp] durch eine Stimme mitgeteilt werden, denen göttliche Erscheinungen vor Augen treten. Die göttliche Stimme, die göttliche Erschinung wird jedoch in Wirklichkeit nicht dem Individuum offenbart, das Individuum ist es vielmehr selbst, welches sich die Stimme, die Erscheinung offenbart. Mit einem psychiatrischen Wort: das Individuum halluziniert die Stimme, halluziniert die Erscheinung.

Offenbarungen sind heute also Halluzinationen. Nach dem Prinzip des empirischen Aktualismus schließe ich, daß Offenbarungen immer Halluzinationen waren und immer Halluzinationen bleiben werden, bis mir das Gegenteil bewiesen wird.

Ein anderer Fall, gleichfalls dem naturwissenschaftlichen und religiösen Gebiet angehörig, die unbefleckte Empfängnis. Die aktuelle Empirie sagt, die Empfängnis ist gegenwärtig eine befleckte, also war sie immer befleckt und wird immer befleckt bleiben, bis das Gegenteil bewiesen wird.

Was aber wollten die naturwissenschaftlichen Anhänger der generatio aequivoca erwidern, wenn ihnen Theologie oder Spekulation so begegneten? Ihr leugnet heute eine generatio aequivoca, ihr behauptet, daß sie früher stattgefunden, aber heute nicht mehr stattfindet, weil die Bedingungen andere geworden sind. Wir sagen: heute findet unbefleckte Empfängnis allerdings nicht statt, aber sie hat früher stattgefunden, gegenwärtig sind nur die Bedingungen geändert, oder heute sind Offenbarungen Halluzinationen, aber früher waren sie es nicht, die Bedingungen waren eben andere. Unser nicht naturwissenschaftlicher, rein spekulativer Verstand kennt keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem euch rätselhaften Impuls, der die Ei-Entwicklung ohne Sperma eingeleitet und eurem uns gleich rätselhaften Impuls, der leblosen Materie in lebendige Organismen umgewandelt hat.

Gegen das Prinzip des empirischen Aktualismus sind spekulative Einwände nicht möglich. Das gerade ist seine Force [Kraft - wp].

Doch genug jetzt von diesem Prinzip, kehren wir zu unserem Thema zurück.

Wir betrachteten Seelentätigkeiten als Folge von Hirntätigkeiten. Wir wollen mit CARL VOGT von Seelentätigkeiten als Hirnfunktionen reden und sagen: veränderte Hirnmaterie erzeugt veränderte Hirnfunktionen, veränderte Hirnfunktionen deuten auf eine veränderte Hirnmaterie hin. Zu diesen Schlüssen sind wir durch die aktuelle Empirie vollkommen berechtigt. Also ist es so.

Die nächste Frage, wie ist es, führt an die von DUBOIS-REYMOND neuerdings gezogenen zwei Grenzen des Naturerkennens. Für den speziellen Fall bildete das Verhältnis der Hirnmaterie zur Hirnkraft das eine unerforschliche Rätsel, das Verhältnis der Hirnmaterie zur bewußten Seelentätigkeit wäre die zweite Grenze des menschlichen Witzes.

Nun hoffe ich zu erweisen, daß zentrale Vorgänge, welche alle Welt ohne Bedenken als bewußte Seelenvorgänge anspricht, doch nicht immer bewußte zu sein brauchen, wenn sie auch ganz das Gepräge bewußter Handlungen tragen.

Dann wäre der Markstein der zweiten Grenze weiter hinauszurücken. Freilich gewinnen wir dabei an Erkenntnis im Grunde nichts. Denn was wir dem zweiten Rätsel abringen, verhüllt uns noch das erste als ewig Unbegreifliches. Es verhält sich zwar die Mehrzahl der Menschen der ersten Grenze gegenüber, sozusagen indifferenter wie gegen die zweite. Die negative Elektizität einer mit Katzenfell geriebenen Glasstande scheint den Meisten um vieles verständlicher, als das Delirium eines Verrückten. Und doch ist sie es nicht. Ja, hier muß sogar erst der Kraft die Materie hypothetisch unterlegt werden. Was sind aber die hypothetischen Materien des immateriellen Äthers, der imponderablen [unwägbaren - wp] elektrischen Flüssigkeiten anders als naturwissenschaftliche Glaubensartikel, Glaubensartikel, welche wohl von glaubensstarken Anhängern schließlich für Wahrheit gehalten werden, weil Gegenvorstellungen in ihnen gar nicht mehr auftauchen, welche aber nicht mehr Anrecht auf Wahrheit haben, als irgendwelche anderen Dogmen, wenn diese nicht geradezu durch die Empirie widerlegt werden?

Schwer ist zu entscheiden, was dem Menschen in der Wissenschaft mehr gefällt, ob der gestillte Kausalitätstrieb, der doch nie ganz gestillt werden kann, es bleibt immer noch ein Warum oder die in Selbsttäuschung schwelgende Eitelkeit, welche dem quälenden Zweifel "Ist das so?" ein keckes "Ja, so ist es" renommierend entgegenwirft.

Die Erörterung der eben angedeuteten zentralen Vorgänge, die ich absichtlich mit diesem vagen Namen solange belege, bis eine genauere Kenntnis derselben uns eine präzisere Bezeichnung gestattet, will ich an einem Beispiel versuchen. Wir betreten hier ein Gebiet, das vor Schwierigkeiten nur so strotzt.

Das Beispiel ist folgendes:

Versetzen Sie sich in Kriegszeiten. Denken Sie sich einen Feldherrn an der Spitze seiner Armeen im Feindesland. Mit drei getrennten Armeen hat er den Feldzug begonnen. Er hat den Feind, der ihn mit zwei Armeen an der Grenze erwartete, in mehreren Schlachten siegreich geschlagen. Die eine feindliche Armee hat er in einen festen Platz geworfen und hält sie dort mit einer seiner Armeen zerniert [überwacht - wp]. Die andere feindliche Armee hat sich in wilder Deroute [Flucht - wp] aufgelöst. Der Feldherr verliert ihre Spur. Nun dirigiert er seine beiden disponiblen [zur Verfügung stehenden - wp] Heere gegen die Hauptstadt des Feindes. Da plötzlich erhält er Meldung, daß der Feind an einem fernen Waffenplatz eine neue Armee formiert. Die Trümmer der geschlagenen Armee haben sich gesammelt und sind mit inzwischen neu formierten Corps [militärischer Verband - wp] zu einer bedeutenden Streitmacht verbunden. Auf diese Nachricht sistiert [unterbricht - wp] er den Vormarsch seines Heeres. Erst will er die Absichten des Gegners kennen. Wird der Feind die Hauptstadt decken wollen oder wird er zur Befreiung des in Schach gehaltenen Freunde eilen? Und welche Routen wird er in jedem Fall wählen? Jetzt verliert unser Feldherr zum zweiten Mal die Spur des Feindes. Tage vergehen, der Feind hat vermutlich den Marsch schon angetreten, es kommt keine neue Meldung. Wohl hat ein Journal des neutralen Nachbarlandes mehrere feindliche Corps an bestimmten Orten annonciert [angezeigt - wp]. Aber ist dieser Nachricht zu trauen? Ist sie nicht vom Feind bestellt, den Gegner irre zu führen? Eines Abends sitzt unser Feldherr an der Karte, diese und jene Eventualität erwägend. Mit Spannung wartet er auf eine glaubwürdige Meldung. Sie kommt. Ein Gewährsmann berichtet, der Feind sei entdeckt, doch könne er die Stärke noch nicht genau taxieren, auch die Marschlinie sei ihm noch unbekannt, er hoffe jedoch über beide Punkte bald sichere Auskunft zu liefern. Seine Ortsangabe stimmt ganz mit den Angaben des Journals. Jetzt fängt unser Feldherr zu kombinieren an. Stunden verweilt er in tiefem Denken am Kartentisch. Schließlich übermannt ihn der Schlaf, er geht zu Bett. Von diesem Augenblick an wird er unser Studienobjekt.

Unser Feldherr, beiläufig ein strategisches Genie, hat, wie so manches Genie, seine Eigentümlichkeiten. So scharf er in Gedanken ist, so karg ist er an Worten. Selbst seinen Adjutanten gegenüber ist er meist stumm, schriftlich übergibt er ihnen Ordres. Noch eine Sonderbarkeit müssen wir ihm geben, um seine späteren uns interessierenden Handlungen zu verstehen. Er duldet nicht, daß Nachts irgendwer sein Schlafgemach betritt. Nachts duldet er keine Störung. Erwartet er in einer Nach Depeschen von Wichtigkeit, so pflegt er regelmäßig zu erwachen. Dann steht er auf und geht ins Arbeitszimmer. Hier findet er dann auf dem Kartentisch die neuen Meldungen.

Unser Stratege fällt sogleich in Schlaf. Nach wenigen Stunden kommt die versprochene Meldung. Stärke und Marschrouten des Feindes werden genau berichtet. Große Sensation im Hauptquartier! Was wird der Feldherr beschließen? - Schon werden die Adjutanten ungeduldig, da öffnet sich die Tür des Schlafgemachs, der Feldherr erscheint. Er trägt Helm und Schärpe. Die Adjutanten salutieren. Er geht stumm an den Arbeitstisch, findet die Depesche, liest sie und setzt sich vor die Karte. Hier sind seine Corps in ihren Marschquartieren markiert. Er markiert jetzt die feindlichen Corps und nach einiger Zeit stillen Brütens gibt er schriftlich ausführliche Befehle. Jetzt erhebt sich unser Feldherr, legt Helm und Schärpe ab und kehrt in sein Schlafgemach zurück. - Die ganze Armee wird alarmiert und tritt sofort den Marsch an. - Früh erwacht der Feldherr zur gewohnten Stunde mit einem dumpfen Druck im Scheitel. Hastig kleidet er sich an und stürzt ins Arbeitszimmer. Ein Adjutant tritt ihm entgegen und meldet, die Armee hat den Marsch begonnen. Unser Feldherr staunt, Marsch begonnen? Auf wessen Befehl? Er blickt um sich, das Zimmer ist fast geräumt. Warum geräumt? Das Hauptquartier ist vor einer Stunde aufgebrochen, meldet der Adjutant. Aufgebrochen? Wohin? Der Adjutant meldet den befohlenen Ort. Immer größer wird das Staunen des Fehldherrn. Wo sind die Befehle? Der Adjutant präsentiert die Befehle. Unser Feldherr wird ganz wirr, er sieht seine Handschrift. Ist denn in der Nach die wichtige Depesche eingetroffen? Nunmehr fängt der Adjutant zu staunen an. Er überreicht die Depesche. So märchenhaft unserem Feldherrn die Begebenheiten scheinen, die Depesche hat er in der Hand, Befehle sind gegeben, er muß mit Tatsachen rechnen. Kann er die Befehle billigen? Er eilt an die Karte. Die feindlichen Corps sieht er erstaunt mit eigener Hand markiert. Immer wirrer wird ihm das Rätsel. Lange sitzt er sinnend an der Karte. Endlich springt er frohlockend auf, der Befehl war meisterhaft, ja genial in jedem Punkt. Jetzt entdeckt er Helm und Schärpe auf dem Arbeitstisch. Wie kommen sie dahin? Er weiß bestimmt, daß er sie beim Schlafengehen gestern noch im Schlafgemach gesehen hat. War ich denn Nachts in diesem Zimmer? fragt er fast verzweifelnd. In diesem Augenblick wird der Leibarzt angemeldet. Retten Sie mich, ruft ihm der Feldherr entgegen: ich glaube, ich werden verrückt.

Der Leibarzt, den Sie sich mit psychiatrischen Kenntnissen ausgestattet denken müssen, erhebt nun folgende Anamnese [Krankheitsgeschichte - wp]:

Der Feldherr weiß, daß er gestern Abend gearbeitet hat, daß ihn Schlaf befiel und daß er zu Bett ging. Er weiß, daß er früh erwachte mit jenem unangenehmen dumpfen Scheiteldruck, den er vor längerer Zeit einmal in gleicher Weise beim Aufstehen empfand. Er weiß, daß ihm bald der Gedanke kam: ist die wichtige Depesche eingetroffen? Dabei wunderte er sich, daß er nicht Nachts erwacht sei wie sonst regelmäßig in Erwartung wichtiger Meldungen. Er weiß dann, daß er sich schnell ankleidete, ins Arbeitszimmer ging und daß er dort das ihm unbegreifliche Rätsel erfuhr, welches Sie zu seinem Entsetzen so eben haben sich abspielen sehen. Was zwischen Schlafengehen und Aufstehen mit ihm und der Welt geschehen ist, davon weiß unser Feldherr nichts. Er hat keine Spur von Ahnung, daß er Nachts aufgestanden ist und sich angekleidet hat. Er begreift nicht, wie Helm und Schärpe ins Arbeitszimmer kamen, die er doch Abends noch sicher im Schlafzimmer gesehen hat. Ganz wirr wird er, wenn er die von eigener Hand geschriebenen Befehle liest, Befehle, die ihm viel genialer erscheinen, als seine gewöhnlichen Leistungen, Befehle, die er doch nur erteilt haben könnte, wenn er die Depesche gelesen hätte. Aber von allem keine Spur von Ahnung.

Der Leibarzt konstatiert die Fakten und stellt den Fall vielleicht in die Kategorie "transitorische Zustände von unbewußten, scheinbar bewußten Handlungen". Er legt sich sofort eine Frage vor, die uns aber für unsere Zwecke hier nicht weiter interessiert, die Frage: Ist unser Feldherr epileptisch oder Somnambulist?

Ich will jetzt die Erscheinungen zu analysieren versuchen. Ist setze natürlich voraus, daß die Möglichkeit des Beispiels nicht angezweifelt wird. Aprioristische Einwände achte ich nicht. Die Psychiater werden die Möglichkeit zugeben, denn die Erfahrung lehrt, wenn auch selten, ähnliche Fälle.

Der Ausdruck "unbewußt", den ich soeben gebraucht habe, ist ein rein objektiver. Er besagt nur, daß der Feldher von diesen Handlungen nichts weiß. Von diesen Handlungen hoffe ich zu erweisen, daß sie begreiflich sind bis auf das erste DUBOIS-REYMONDsche Unbegreifliche, bis auf das unbegreifliche Wesen von Materie und Kraft. Aber sie sind mechanisch begreifbar nur unter einer Annahme, nämlich der, daß sie auch wirklich ohne Bewußtsein erfolgt sind. Die entgegengesetzte Voraussetzung, daß scheinbar bewußte Handlungen nur mit Bewußtsein erfolgen können, nenne ich ein Vorurteil, welches zwar durch Jahrtausende bestanden hat und auch gegenwärtig noch ziemlich allgemein verbreitet ist, welches aber ein gänzlich unbegründetes, rein willkürliches ist.

Wir beobachten an einem Individuum Handlungen, die allerdings den Eindruck von bewußten machen. Wir fragen das Individuum, es weiß nichts von diesen Handlungen, es weiß nichts von Empfindungen, Vorstellungen, Willensimpulsen für diese Handlungen. Wir Empiriker behaupten nichts, das wir nicht wissen. Und wir wissen nichts von einem Bewußtsein dieser Handlungen. Nun sind die Handlungen ohne Bewußtsein mechanisch begreiflich. Also werden wir annehmen, daß sie ohne Bewußtsein erfolgt sind und diese Annahme solange als die wahrscheinlichste behaupten, bis uns der Gegenbeweis erbracht ist, daß sie mit Bewußtsein erfolgt sind und so mit DUBOIS-REYMOND uns doppelt unbegreiflich werden.

Beginnen wir jetzt die Analyse.

Wie lange unser Feldherr im natürlichen Schlaf gelegen, das weiß er nicht, das wissen wir nicht. Das ist für unsere Frage auch gleichgültig. Daß er dann aufgestanden, sich angekleidet, ins Arbeitszimmer gegangen, das weiß er nicht, das weiß er nicht, das wissen wir. Analysieren wir zunächst diese von uns beobachteten motorischen Akte.

Aufstehen, Ankleiden, Gehen sind koordinierte Bewegungen. Nehmen wir einen konkreten Fall, "der Feldherr richtet sich im Bett auf" und lassen wir ihn diese Bewegung zunächst bewußt ausführen. Was hat er zu tun? Er hat einen Komplex von Muskeln koordiniert zu innervieren [mit Nervenimpulsen versehen - wp] und er innerviert ihn prompt. Die Bewegung erfolgt zweckmäßig. Denken Sie sich nun den Feldherrn auf der Höhe der heutigen Physiologie und fragen Sie ihn, wie er denn die Innervation unternommen hat. Er wird Ihnen die Antwort schuldig bleiben, er weiß nichts davon. Er weiß nicht, wie viele Muskeln er zu erregen hatte, in welcher Zeitfolge, mit welcher Stärke den einzelnen. Denken Sie sich den Feldherrn jetzt als phyiologischen Barbaren, der gar nicht weiß, was ein Muskel, was ein Nerv ist, er vollzieht die Bewegung gleich prompt. Er verdankt also den Erfolg seinem ohne sein Bewußtsein exakt arbeitenden Nervenmechanismus, den er nur bewußt angesprochen hat. Seine koordinierten Bewegungen sind der Ausdruck koordinierter Erregungen seiner Nervenapparate. Die Bewegungen sind gleichsam nur Ausführungen der in den Nervenapparaten enthaltenen Pläne. Letztere wollen wir uns weiterhin als in den Apparaten gekennzeichnete Schemen vorstellen.

Wie die Schemen entstanden sind und wie sie zur Ausführung kommen, das sind wiederum Fragen, die in letzter Instanz auf die Frage vom Wesen von Materie und Kraft zurückführen. Das Einzelindividuum kann eine Bewegung, die es zum ersten Mal ausführt, unmöglich empirisch erlernt haben. Wohl kann es das Schema für die Bewegung ererbt haben, und die Bewegung spielte sich dann etwa auf bestimmte Sinneseindrücke hin ab. Aber das ererbte Schema, wie ist dieses geschaffen worden?

Wir sind eben an der Grenze. Die Nervenmaterie trägt die Schemen und die Schemen funktionieren ausgezeichnet. Vielleicht wird die Zukunft die Schemen lesen können.

Es wird von Vorteil sein, an dieser Stelle die Besprechung gewisser Erfahrungstatsachen mehr elementarer Art einzuflechten. Ich wähle ein von GOLTZ bekanntes Froschexperiment. Die Tatsache lautet:

Ein der Großhirnlappen beraubter Frosch ergreift die Flucht auf gewisse Reize. Wird er zum Beispiel wiederholt mit einer Nadel ins Bein gestochen, so macht er Sätze. Bei diesen Fluchtversuchen vermeidet er exakt vor ihn gestellte Hindernisse. Variiert die Lage der Hindernisse, so variiert die Richtung der Sätze.

Dieses Faktum wollen wir analysieren.

Der nicht naturwissenschaftliche Beobachter wird beide Reaktionen ohne weiteres bewußte nennen. Er weiß aus Erfahrung, daß ihm Nadelstiche, Anstoßen an Hindernissen unangenehme Empfindungen sind, die er, wenn er kann, gern vermeidet. Er wird den Analogieschluß machen, dem Frosch bringen dieselben Reize dieselben unangenehmen Empfindungen, der Frosch handelt wie ich, wenn er sie zu vermeiden sucht.

Ein Teil der heutigen Physiologen, PFLÜGER an der Spitze, behauptet denselben Standpunkt. Sobald Abwehrbewegungen wie willkürliche Aussehen, sagen sie, es sind willkürliche gewesen. Sie schreiben daher auch dem Rückenmark, welches auch allein Bewegungen erzeugt, die ganz wie willkürliche aussehen, Seelenfunktionen zu. Von dieser Annahme kann man sagen, daß sie nicht nur nichts erklärt, sondern geradezu die Unerklärbarkeit ausspricht. Denn weit entfernt, ein Rätsel zu lösen, welches vielleicht zu entziffern ist, fügt sie vielmehr zu diesem einen Rätsel ein zweites unlösbares.

Wir werden daher unbedingt jeder anderen Annahme den Vorzug geben, welche das Rätsel irgendwie zu lösen vermag. Was haben wir an diesem Versuchsfrosch gesehen? Auf den ersten Sinneseindruck erfolgt eine koordinierte motorische Reaktion. Diese Reaktion variierte weiterhin entsprechend neuen variablen Sinneseindrücken. Nehmen wir jetzt für einen Augenblick wiederum an, der Frosch hätte bewußt reagiert, das heißt, er hätte die Nadelstiche gefühlt, die Hindernisse gesehen und er hätte den Willen gehabt, sich den Nadelstichen zu entziehen, die Hindernisse zu vermeiden und fragen wir, was hatte der Frosch nach einem gefaßten Entschluß zu tun, um seinen Willen durchzusetzen, um die zweckmäßige Bewegung zu erzielen? - Er hatte einen Muskelkomplex koordiniert zu innervieren und verschieden zu innervieren nach den verschiedenen Signalen, die er erhielt. Sein Koordinationsmechanismus arbeitete treffend. Die Arbeit aber geschah ohne sein Bewußtsein; denn niemand wird behaupten, daß der Frosch eine vollkommenere physiologische Kenntnis besitzt als wir. Was in aller Welt hindert uns aber anzunehmen, daß der vollkommene zentrale Mechanismus rein mechanisch verschieden reagiert auf verschiedene Signale, daß in unserem Fall die Froschaugen differente Signale der Hindernisse je nach ihrer Größe, Lage, Entfernung, Helligkeit usw. zentralwärts schickten und daß einzig durch die Differenz der Signale ohne dazwischentretendes Bewußtsein die motorische Reaktion different erfolgte und daß sie zweckmäßig erfolgte, weil die zentralen Schemen zweckmäßig gezeichnet sind? Die gleiche Voraussetzung müssen auch die Physiologen machen, welche überall Seelenfunktionen statuieren, sobald Bewegungen ihnen wie willkürliche erscheinen. Denn die Zweckmäßigkeit der ausgeführten Bewegung verdankt auch das Bewußtsein einzig und allein dem zweckmäßig arbeitenden Apparat. Kommen wir nun mit einer Annahme aus, müssen die andern dieselbe Annahme neben einer zweiten machen, so erscheint ihre zweite überflüssig. Können wir gar mit unserer einen Annahme gewisse Fälle bis zu einem gewissen Punkt begreifen, welche den andern mit ihren beiden Annahmen unbegreiflich bleiben, so erscheint für diese Fälle ihre zweite Annahme vollends verwerflich.

Die Erscheinungen des GOLTZschen Experiments wären somit mechanisch zu erklären. Diese mechanische Erklärung werden wir darum als die wahrscheinlichste solange verteidigen, bis der Gegenbeweis geführt ist, daß der Frosch bei Bewußtsein war.

Verlangen die Gegner von uns einen positiven Beweis, so können wir den für den Frosch nicht liefern. Wir können positiv nicht beweisen, daß der Frosch nicht bei Bewußtsein war. Der Frosch sagt es uns nicht. Aber die menschliche Pathologie lehrt Tatsachen, welche zeigen, daß zweckmäßige Bewegungen, die von willkürlichen sich absolut nicht unterscheiden, in der Tat auch ohne Bewußtsein erfolgen. Die Psychiater kennen alle sehr komplizierte Handlungen Epileptischer, die wie bewußte aussehen, aber bewußtlos ausgeführt werden. Von diesen für die Analyse der Hirnmechanik ungeheuer wichtigen Handlungen bewußtloser Epileptischer will ich hier jedoch nicht reden. Der spekulative Gegner erhöbe gegen sie vielleicht einen Einwand. Er würde vielleicht erwidern, daß die Epileptiker im epileptischen Anfall gar nicht bewußtlos sind, daß ihnen nur nach dem Anfall für die medizinisch bewußtlos genannte Zeit die Erinnerung fehlt, daß es sich also gar nicht um Bewußtlosigkeit handelt, sondern um einen Defekt in der Erinnerung. Den gleichen Einwand könnte er gegen das Beispiel des Feldherrn erheben. Der Einwand wäre sehr spitzfindig, aber absurd. Er müßte dann folgerichtig Bewußtlosigkeit überhaupt negieren, er müßte Abstand nehmen, einen Epileptiker, der reaktionslos mit Schaum und Blut vor dem Mund stertorös [röchelnd - wp] daliegt, bewußtlos zu nennen. Aber der Einwand könnte erhoben werden. Darum nehme ich hier lieber eine andere pathologische Tatsache, welche auch spekulativ einwandfrei ist. Sie liefert allerdings keine absolut bindenden Beweis. Aber sie zeigt doch auf das Unzweifelhafteste, daß gewisse Bewegungen, die wie bewußte aussehen, zum Teil zumindest sicher keine bewußten sind.

Die Tatsache, die ich meine, wird Klinikern, speziell Nervenklinikers wohl allgemein bekannt sein. Sie lautet:

Gewisse hysterische Frauen mit komplett defektem Gefühlssinn, bei denen alle Gefühlsqualitäten vollständig erloschen sind, Frauen, die also vom Scheitel bis zur Sohle gegen die stärksten Reize total unempfindlich sind, die keine Spur Bewußtsein von der Stellung, der passiven Bewegung ihrer Extremitäten haben, die diese Hysterischen gehen, steigen Treppen in ganz koordinierter Weise, sie schwanken nicht beim Stehen mit geschlossenen Augen, sie können mit geschlossenen Augen ebenso gehen wie ganz Normale. Ich behaupte nicht, daß sie es alle tun. Aber es gibt komplett anästhetische Hysterische, welche es tun. Und das genügt. Wie sind diese Bewegungen zu analysieren? Beim gegenwärtigen Stand des Wissens nur in folgender Weise, glaube ich. Der Koordinationsapparat für diese Bewegungen funktioniert ausgezeichnet. Das ist Tatsache. Gleichgültig ist hierbei, in wievielen Staffeln wir den Apparat uns aufgebaut denken und wo wir die einzelnen Staffeln lokalisieren. Der Apparat kann vom Bewußtsein nicht reguliert werden. Auch das ist eine Tatsache. Denn das Bewußtsein, wie wir sahen, erhält keine Kunde von peripheren Signalen. Der Apparat selbst muß daher die Regulation besorgen. Ein Schema wird das Spiel des Mechanismus verständlich machen. Denken wir uns den Apparat mit vier Leitungen verbunden, zwei zentralen, zwei peripheren. Eine zentripetale periphere Leitung führt von der Peripherie zum Apparat, eine zweite zentripetale zentrale vom Apparat zum Bewußtsein. Dann geht eine zentrale zentrifugale vom Bewußtsein zum Apparat, eine periphere zentrifugale vom Apparat zur Peripherie. Bei unseren Hysterischen ist die zentripetale Leitung unterbrochen. Da der Apparat regulär fungiert, da er nur durch periphere Signale reguliert werden kann, müssen wir die Unterbrechung zentralwärts vom Apparat annehmen und die Regulation im Apparat einzig durch Signale der peripheren zentripetalen Leitung geschehen lassen. Der vom Bewußtsein zum Apparat erhaltene zentrale zentrifugale Weg kann den Apparat wohl bewegen, so wie er eingestellt ist, er kann ihn aber selbst nicht einstellen. Die zweckmäßigen Bewegungen unserer Hysterischen können somit rein mechanisch erfolgen im ersten peripherischen Bogen. Signale von der Peripherie bestimmen die Regulation im Apparat, auf der peripheren zentrifugalen Bahn erfolgt die koordinierte Reaktion. Vollführen unsere Hysterischen eine zweckmäßige Bewegung bewußt, so verdanken sie die Zweckmäßigkeit gleichfalles dem ersten peripherischen Bogen, der hier unzweifelhaft selbständig ohne Bewußtsein die Regulation besorgt.

Kehren wir jetzt wiederum zu unserem Feldherrn zurck, so wären die bisher betrachteten motorischen Akte, Aufstehen, Ankleiden, Helmaufsetzen, Gehen, Türöffnen, Ergreifen der Depesche, mechanisch verständlich. Geben wir seinem Leibarzt ein Stück des LAPLACEschen Geistes, so zeichnete er die zentralen Bewegungsschemen des Feldherrn im Augenblick des Erwachens und zeigte ihr harmonisches, durch variable Signale variiertes Spiel.

Jetzt sind uns auch Erfahrungstatsachen verständlich, die uns die Selbstbeobachtung lehrt. MAUDESLEY in seiner "Physiologie der Seele" sagt vortrefflich:
    "Wer sich die Mühe machen wollte, die Bewegungen zu durchmustern, welche er während eines Tages ausführt, der würde staunen, wie wenige er davon mit bewußtem Willen vollbrachte."
Unser Feldherr liest sodann, markiert die feindliche Corps und schreibt schließlich Befehle. Auch diese Handlungen sind mechanisch begreiflich. Ihre Schemen sind ungeheuer verwickelter als die Schemen der früheren motorischen Akte, das Schemenspiel ein unendlich kompliziertes, aber die Handlungen enthalten nichts neues Unbegreifliches. Sie erscheinen in unvergleichlich höherem Grad psychisch als das exakte Ausweichen des großhirnlosen Frosches vor entgegengestellten Hindernissen. Aber wie wir beim Frosch anstelle des scheinbar Psychischen das exakt Mechanische setzten, anstelle der scheinbar bewußten Schlüsse die mechanische, durch periphere Signale exakte Regulierung seiner Apparate, so können wir anstelle des tausend- und millionenfach höher scheinenden Psychischen der jetzigen Handlungen eine tausend- und millionenfach feinere Mechanik setzen.

Es wird wiederum von Vorteil sein, die Besprechung gewisser gleichwertiger, mehr elementarer Vorgänge hier einzureihen.

Ich wähle ein motorisches Gebiet, welches ich absichtlich den Feldherrn nicht habe betreten lassen, um das Beispiel nicht zu kompliziert zu machen. Unser Feldherr handelt stumm, er äußert sich nur schriftlich. Betrachten wir jetzt das kapitalste Gebiet menschlicher Äußerung, die Sprache.

Ein Bekannter will auf die Promenade. Er fragt mich: Kommen Sie mit? Ich antworte: Wollen Sie einige Augenblicke warten, dann gehe ich mit. Wie habe ich es angefangen, die sachgemäße Antwort zu treffen? Ich weiß nicht, wie ich meinen Sprachapparat anregen mußte, um das Wort Wollen zustande zu bringen, wieviele und welche Muskeln ich zu innervieren hatte, in welcher Zeitfolge, mit welcher Stärke den einzelnen, um das Wort Augenblick zu artikulieren. Wie fand ich überhaupt die sachgemäßen Worte und wie gelang es mir, sie zu einem Satz zu verbinden? Die prompte Reaktion verdanke ich auch hier meinem prompt arbeitenden Apparat, ich habe nur bewußt den Apparat angesprochen.

Warum soll nun der wunderbar exakt gearbeitete Apparat nicht in gleich exakter Weise reagieren können, wenn er die vom Acusticus [Kanal der Hörnerven - wp] gebrachten Signale nicht erst auf dem Umweg des Bewußtseins erhält, sondern direkt?

Ich begegne einer Kranken auf dem Korridor der Anstalt. Sie steht am Fenster. Ihr Körper in beständiger Bewegung schwankt nach rechts, nach links. Sie hebt bald den rechten Fuß, bald den linken. Ich habe sie bisher in einem solchen Zustand nicht beobachtet. Ich gehe zu ihr, frage nach Angst, Sensationen, ob sie halluziniert, was für Gedanken ihr kommen. Sie spricht träge. Aber die Antworten sind sachgemäß. Ich prüfe Sensibilität, die Kranke ist am größten Teil der Körperoberfläche gegen Nadelstiche anästhetisch. Ich bleibe bei ihr, um zu sehen, wie sich der Anfall weiterentwickelt. Zur Kontrolle ihrer Psyche lasse ich einzelne Anamnestica berichten. Sie erzählt ziemlich, aber träge, muß durch Zwischenfragen immer neu ermuntert werden. Der Status ändert sich nicht. Die Visite drängt. Ich muß weitergehen. Nach einer halben Stunde etwa passiere ich denselben Korridor. Die Kranke ist noch am selben Fleck. Aber sie ist unruhiger. Sie tritt häufiger und stärker mit den Füßen. Der Körper schwankt intensiver. Die Hände hält sie erhoben und greift ziemlich rhythmisch mit der rechen und linken alternierend [abwechselnd - wp] an den Scheitel. Das Auge ist unbeschreiblich starr. Von der Conjunctiva [Bindehaut - wp] und vom septum narium [Nasenscheidewand - wp] kommen Reflexe, sonst folgt auf Nadelstiche keine Reaktion. Sie antwortet jetzt noch viel träger. Die Fragen müssen immer mehrmals wiederholt werden, um sie zu einer sprachlichen Reaktion zu bringen. Es gelingt indessen, die begonnenen Anamnestica fortzuführen. In diesem Zustand verlasse ich die Kranke. Am anderen Morgen meldet die Wärterin, daß sie die Kranke etwa eine Stunde nach der Visite zu Bett gebracht hat. Vorher gereichtes Essen hat sie zurückgestoßen. Beim Zubettgehen ist sie stumm gewesen, hat keine Frage beantwortet. Im Bett blieb sie ruhig. Ich examiniere jetzt die Kranke. Sie berichtet Folgendes:

Sie hätte, in der Küche beschäftigt, plötzlich eine präkordiale [die vor dem Herzen liegende Brustwand betreffend - wp] Beklemmung gespürt. Unmittelbar darauf empfand sie Angst in der Stirn und wurde unruhig. Nun kamen ihr gräßliche Gedanken, die sie jedoch nicht näher explizieren will. Sie erinnert sich, daß sie auf dem Korridor am Fenster mit mir gesprochen hat, weiß, was sie mir erzählt hat, daß ich dann weggegangen bin. Bald danach hatte sie eine ängstliche Halluzination. Sie sah, wie eine übermenschlich große, abscheuliche, schwarze Gestalt aus einer Ecke trat, auf sie losging, sich ihr schließlich näherte und sie am Scheitel berührte. Was hernach passierte, weiß sie nicht. Sie weiß nicht, daß ich sie ein zweites Mal gesprochen habe, was sie geantwortet hat, daß sie das Essen zurückstieß, daß sie ins Bett gebracht wurde, daß die Wärterin mit ihr gesprochen hat. Erst vom Augenblick des Erwachsens ist sie wieder orientiert.

Warum soll ich annehmen, daß sie in der medizinisch bewußtlos genannten Zeit doch bewußt gehandelt und gesprochen hat? Sie weiß nichts von diesem Bewußtsein, und wir wissen nichts von ihm. Zu dieser Annahme müßten wir notwendig die fernere Annahme einer exakten Hirnmechanik machen, um uns den Erfolg vorzustellen. Mit beiden Annahme wären die Handlungen aber unbegreiflich. Reicht die zweite Annahme für sich aus, uns gewisse Fälle gleichgut vorzustellen, können wir mit dieser Annahme allein diese Fälle mechanisch begreifen, so muß sie uns allein genügen.

Ich erinnere weiter an Erfahrungen der Selbstbeobachtung. Wer unter uns hat nicht zum wiederholten Mal sein Bewußtsein durch unbewußte psychische Äußerungen geärgert? Wie oft entschlüpfen uns unbewußt Ausdrücke, die, kaum ausgesprochen, vom Bewußtsein ärgerlich korrigiert werden? Wie oft umgekehrt in lebhafter Diskussion äußern wir Worte, die, kaum gefallen, von unserem Bewußtsein freud angestaunt werden, weil es sie zutreffend findet? Ja, ereignet es sich nicht, daß wir ein Thema oft lange Zeit vergeblich bewußt durchdenken, daß wir schließlich verdrießlich zu überlegen aufhören, weil wir das Resultat nicht finden. Später plötzlich, wir denken etwas ganz Heterogenes, tritt das Resultat klar ins Bewußtsein. Was dem mühsam sich abquälenden Bewußtsein unerreichbar war, steht plötzlich wie heraufgezaubert da. Den Zauberschlag verdanken wir unserer Mechanik. Nahm er, statt zentral zu laufen und das Bewußtsein zu erregen, eine periphere Wendung und traf die Bahn in den Sprachapparat, so war des Resultat mechanisch begreiflich.

Der Leibarzt, im Besitz eines Stückchens vom LAPLACEschen Dämon, wüßte den den Schemenvorrat und das Schemenspiel des Hirnes unseres Feldherrn, erführe er, welche Signale die Schemen treffen, so könnte er ihre Reaktion berechnen. Wäre also dem Leibarzt die Depesche gebracht, welche Stellung und Stärke des Feindes verrät, wüßte er die Stärke und Stellung des eigenen Heeres, so könnte er aus der bekannt vorausgesetzten Mechanik des Feldherrn die Reaktion berechnen. Sein Resultat wäre der vom Feldherrn erlassene Befehl.

Nicht hier stände der menschliche Verstand vor dem zweiten Unbegreiflichen. Geistige Vorgänge sind verständlich, solange sie unbewußte motorische sind. Nicht alle Handlungen, welche wie Willensäußerungen aussehen, sind bewußte Willensäußerungen. Was der bewußte Wille vermag, kann die psychische Hirnmechanik auch ohne Willen schaffen. Diejenigen motorischen Akte nun, welche wie Willensäußerungen aussehen, aber keine sind, die ich psychisch unbewußte nennen will, alle diese sind mechanisch verständlich. Mag der geniale Feldherr einen von aller Welt angestaunten Plan entwerfen, welcher seine Truppen so dirigiert, daß die ganze Macht des Feindes, fest umschlossen, kapitulieren muß, oder mag der bemitleidenswerte Blödsinnige das sinnloseste Zeug schwatzen, mag Othello die Orkane blasen heißen, bis den Tod sie wecken, das Schiff den Wellenberg erklettern lassen hoch wie Olymp und dann in den Grund der Hölle tauchen, oder mag ein Stephansfelder Verrückter die Reichtümer seiner Geburtsinsel Correspondini schildern, welche so unermeßlich sind, daß ganz Europa mit Gold belegt werden könnte so hoch wie die Spitze des Straßburger Münsters, mag die Nonne in rührender Einfalt einsam in der Zelle Rosenkränze betren oder mag das maniakalische Weib vor dem Arzt die Röcke heben, um ihm ein mit Menstrualblut beflechtes Hemd zu zeigen - alle diese Handlungen und Reden sind mechanisch begreifbar, soweit sie unbewußt erfolgen.

Vor dem zweiten Unbegreiflichen steht erst der Leibarzt, wenn ihm der Feldherr über einen dumpfen Druck im Scheitel klagt. Wohl weiß sein Geist die Formel für diese Empfindung. Die Formel sagt, daß ist eine Empfindung von solcher Qualität, von solcher Intensität, an einem solchen Ort. Wie der Feldherr aber die Formel empfindet, das ist das Unbegreifliche.

Wir können aber nur von unbewußten psycho-motorischen Vorgängen reden. Unbewußte Empfindungen, unbewußte Vorstellungen sind ein Nonsens.

Eine Empfindung kann intensiv, kann schwach sein, eine Vorstellung klar oder dunkel. Eine Empfindung aber, von der ich nichts weiß, existiert eben nicht. Wer soll sie empfinden? Ebenso ist die unbewußte Vorstellung ein Unding. Wer soll sie vorstellen? Zum Empfinden und Vorstellen gehört eben ein Ich, welches empfindet, welches vorstellt.

Empfindungen und Vorstellungen werden auch nicht vom Bewußtsein geschaffen, das Bewußtsein empfängt sie. Die produzierende Region will ich die Region des psychisch Unbewußten nennen. Wir denken und fühlen, nicht wie unser Bewußtsein will, sondern wie die Hirnmaterie uns denken und fühlen läßt. Die Art der Mechanik in jener Region bedingt die geistige Individualität.

Denken wir uns eine Versammlung aufmerksam einem Vortrag folgen und nehmen wir an, der Vortragende äußert Gedanken, welche der Versammlung bisher wenig oder gar nicht bekannt waren. Wie wird die Versammlung auf die neuen Gedanken reagieren? Verschieden nach der individuell verschiedenen Hirnmechanik. Alle erhalten die gleichen Signale. Im Hirn des einen werden die Signale kaum Abdrücke zeichnen. Sie fallen gleichsam als Ballast in einen bodenlosen Abgrund. Ein zweites Hirn wird die Signale schon fassen. Sie steigen dort auch von Zeit zu Zeit als Reminiszenzen [Erinnerungen - wp] ins Bewußtsein, verinken aber wieder wie tote Körper. Die alte Mechanik geht wie früher weiter. Dann kommen Hirne, welche auf die Signale reagieren. Dieses, oppositionell gestimmt, verwirft sofort das Neue. Auch für dieses Hirn, nachdem sich das Manöver in gleicher Weise mehrmals abspielt, sind die Signale verloren. Jenes prüft, behält das Richtige, stößt das Unwahrscheinliche zurück. Weiter treffen die Signale ein Hirn, welches ähnlich gestimmt wie das des Vortragenden die Gedanken billigt und sie nunmehr wie eigenes Material verwertet. Schließlich kommen sie in ein Hirn mit vollendeter, feiner Mechanik. Hier ensteht rege Arbeit. Sofort knüpfen sie neue Verbindungen und bald tragen sie umgearbeitet ein feineres Gepräge als sie ursprünglich hatten. Was das letzte Hirn leistet, verdankt es seiner feinen Mechanik. Das erste mag immerhin Ähnliches erreichen wollen, es wird nichts Ähnliches schaffen. Seine Mechanik erlaubt es ihm nicht.

Evident erweist jedoch erst die Pathologie die absolute Macht des psychisch Unbewußten. Der Psychiater erfährt täglich, daß Vorstellungen, Empfindungen und Handlungen dem Bewußtsein aufgezwungen werden.

Wie die individuelle Hirnmechanik Vorstellungen, Empfindungen und Handlungen produziert, so denkt, fühlt und handelt der Mensch.

Wenige elementare Beispiele werden Satz erläutern.

Eine Melancholische klagt: Beständig kommen ihr Gedanken, sie sei die schlechteste Person, sie habe alle Fehler. Die Gedanken, weiß sie selbst, sind krankhafte. Motive kennt sie nicht. Die Gedanken kamen mit der Melancholie. Vor Beginn der Melancholie hatte sie nicht die Gedanken. Sie hat früher einen gleichen Anfall von Melancholie gehabt. Sie weiß, daß mit dem Schluß der ersten Melancholie die Gedanken aufhörten. Die Gedanken sind ihr furchtbar peinlich. Ihr Bewußtsein will sie nicht. Aber sie mag anfangen, was sie will, das melancholische Hirn liefert ihr unaufhörlich diese Zwangsvorstellungen. Ihr Bewußtsein muß sie nehmen und so lange tragen, bis die Produktion erlischt.

Ich treffe einen jungen Maniacus, der eben in die Anstalt eingeliefert wurde. Ich lasse ihn seine Krankengeschichte erzählen. Er berichtet, daß er bereits zwei Mal in der Anstalt war, daß der jetzige Anfall vor etwa vierzehn Tagen begann. Über die Entwicklung gibt er sehr exakte Auskunft. Seine Vergangenheit erzählt er klar und bündig. Mit einem Mal, nachdem er zirka zehn Minuten ganz vernünftig gesprochen hat, sagt er: "Ich bin Rocheforts Bruder". Ich denke, Sie sind Herr X, erwidere ich. Es war ja Unsinn, sagt er ärgerlich, ich heiße X, es fiel mir nur eben gerade ein. In der folgenden Nacht muß er wegen heftigen Tobens isoliert werden. In der Zelle pakt er den Strohsack aus, zerreißt die Kleider und schmiert überall mit Kot. Den anderen Morgen ist er bereits heiser geschrien, schwatzt aber kontinuierlich und reagiert auf fast keine Frage sachgemäß.

Ich prüfe eine junge rekonvalesnzente [wiedergenesende - wp] Maniaka. Sie spricht sich sehr häufig vernünftig aus. Die prämorbide Vergangenheit erzählt sie exakt, die Entwicklung der Krankheit fast ebenso. Sie sei wahnsinnig gewesen, sagt sie selbst. Sie freut sich sehr, daß die Krankheit vorüber ist. Ich breche die Unterhaltung ab und gehe weiter. Da ruft sie mir nach: "Onkel Schultze wird die Pastoren erlösen." Sofort nach den Motiven des Ausdrucks gefragt, antwortet sie noch alberner. Bei der nächsten Visite ist es ihr unangenehm, an die Worte erinnert zu werden. Sie gibt zu, zeitweise noch verwirrt zu sein, dann kommen ihr noch solche unsinnigen Gedanken.

"Ich bin Rocheforts Bruder" "Onkel Schultze wird die Pastoren erlösen" - waren nicht bewußte Reden der Maniaci, das Bewußtsein korrigierte im Gegenteil sofort ärgerlich die Ausdrücke. Die maniakalische Hirnmechanik hat dem Bewußtsein diese Vorstellungen aufgezwungen.

Ein Epileptiker tritt mir entgegen: "Es ist zum Verrücktwerden. Ich verspüre vom Magen aus etwas allgemach ins Gehirn ziehen, dann bekomme ich wie gezwungene Gedanken und ich kann mich nicht dagegen verteidigen". Das waren seine Worte. Ich frage ihn, ob ihm nicht bestimmte religiöse Vorstellungen kommen, ich nenne ihm konkrete Vorstellungen. Sie haben mich wohl behexte, antwortet er halb scherzend, Sie wissen ja, was ich denke. Allerdings kommen mir auch solche religiösen Ideen. - Ich habe ihn nicht behext. Ich habe bei Epileptikern in ähnlichen Zuständen gewisse typische religiöse Vorstellungen beobachtet. Diese Vorstellungen vermute ich auch bei ihm. Er bestätigt die Vermutung.

Gleich Zwangsvorstellungen gibt es Zwangsempfindungen, Zwangshandlungen.

Ein Paradigma der Zwangsempfindungen ist das kardinale Symptom der präkordialen Angst.

Eine Zwangshandlung zeigt folgender Fall: Bei einer Visite in Stephansfeld meldet die Schwester, daß eine Kranke bis dahin ruhig den Nachmittag in größter Aufregung gewesen ist. Es war eine halluzinatorisch Verrückte, mit der ich mich eingehend beschäftigt hatte. Sie war zirka drei Monate in der Anstalt, hatte sich durchweg ruhig und bescheiden verhalten. Ich fragte nach den Motiven ihrer Erregung. Die Kranke erzälte Folgendes: Dreimal hätte sie schon solche Zornanfälle gehabt. Eine Jast [schäumender Speichel - wp] kommt plötzlich in das Abdomen [Bauch - wp] in der regio pubis [auf Höhe der Schambehaarung - wp]. Nachdem sie dort eine Weile gesessen hat, steigt sie in den Kopf und sofort in alle Glieder. Dann muß sie fluchen. Sie schließt den Mund, um das Fluchen zu unterdrücken, der Mund wird ihr förmlich aufgerissen. Gelingt es ihr auch für einige Augenblicke die Zähne zu klemmen, so steigt es wie ein Feuer in den Kopf, sie öffnet lieber den Mund und läßt es weiter fluchen. Ein solcher Anfall dauert zirka eine Viertelstunde. Sie ist unglücklich, daß sie gegen ihren Willen so etwas tun muß, daß sie Worte aussprechen muß, die nie über ihre Lippen gekommen sind, daß sie wie ein gemeines Weib gemeine Schimpfreden führen muß. - Der Anfall wird nicht durch Halluzinationen eingeleitet. - Später machte sie in einem solchen Anfall einen Strangulationsversuch. Sie konnte nur angeben, daß sie das Tuch zuziehen mußte. Jetzt begreift sie es nicht, aber sie mußte (1).

Selbstmordversuche sind nicht selten reine Zwangshandlungen. Nicht bewußte Überlegung, kein Delirium, keine Halluzination ist das Motiv. Die Kranken wissen weiter nichts zu sagen, als daß sie mußten, sie waren gezwungen. Oft können sie auch das nicht sagen. Sie wissen, daß sie es getan haben, aber sie wissen nicht wie. Endlich gibt es Kranke, welche angeben, gar nicht zu wissen, daß sie den Versuch machten.

Ich will mit Beispielen nicht weiter fortfahren. Die Erscheinungen sind allen Psychiatern bekannt.

Im physiologischen Seelenleben spricht man gewöhnlich nicht von Zwangsvorstellungen, Zwangsempfindungen, Zwangshandlungen. Aber sie existieren nicht nur, es muß vielmehr behauptet werden, daß gerade gewissen physiologischen Zwangsvorstellungen, Zwangsempfindungen, Zwangshandlungen die Gesellschaft ihre Existenz verdankt. Ohne die fixe Idee von gut und böse, ohne fixe sexuelle Empfindung wäre ein sozialer Verkehr unmöglich.

Als Substrat der Vorstellungen muß eine Vorstellungssubstanz angenommen werden. Es ist zwar eine geläufige Redeweise, daß Begriffe aus kombinierten Sinnesempfindungen abstrahiert werden. Die häufige Anwendung einer wenn auch alten Phrase beweist jedoch noch nichts für die Richtigkeit ihres Inhalts. Es ist unverständlich, wie das Empfinden von Warm und Kalt, von Rot und Violett, wie Asa foetida [getrocknetes Gummiharz - wp] und Rosenduft, wie das Hören eines Adagio von BEETHOVEN und eines Cancans von OFFENBACH, das Sehen eines modernen Arbeiterhauses und eines antiken Tempels den Begriff von gut und böse schaffen sollte. Ja, wir sehen den gleichen Begriff bei den verschiedensten Sinnesdefekten entwickelt.

Die hypothetische Sinnsubstanz JOHANNES MÜLLERs ist demnach durch eine hypothetische Vorstellsubstanz zu ergänzen.

Bis jetzt haben wir zwei Bahnen kennengelernt, in welchen sich das psychisch Unbewußte projizierte. Eine Projektion ging zentral ins Bewußtsein, die andere direkt in die motorische Bahn. Es gibt noch eine dritte Projektion des psychisch Unbewußten, eine fast ausschließlich pathologische, physiologisch nur der sachverständigen Selbstbeobachtung erschlossen und auch dieser nur zu einem kleinen Teil. Ich meine die exzentrische Projektion in die Sinnesbahn, die Halluzination.

Ich gebrauche hier das Wort Bahn selbstverständlich nicht in einem anatomischen Sinn. Wir kennen nicht die anatomische Region des Unbewußten. Wir wissen nicht von einer anatomischen Bahn ins Bewußtsein. Ebensowenig kennen wir bis jetzt die anatomische Bahn der Halluzination, und selbst von der motorischen Bahn ist nur ein Teil des Weges anatomisch bekannt.

Zur Erläuterung wähle ich die Gehörshalluzination, welche allein das Verhältnis treffend darzulegen vermag. Herr Professor WESTPHAL erzählt in seinem Aufsatz über Agoraphobie [Platzangst - wp], daß einer seiner Agoraphoben in eigentümlichen Zuständen einer Art Katalepsie [Erstarrung - wp], Reden, die er vorher am Tag gehört hatte, von einer Stentorstimme [laut und dröhnend - wp] deutlich und laut wieder zugerufen bekam, so daß ihm die Ohren gellten. Das heißt, Gehörsignale hatten im Hirn Schemen gezeichnet, welche während der Anfälle aus der Region oder dem Stadium des Unbewußten als deutliche Gehörshalluzinationen in Bewußtsein traten. Das Bewußtsein hörte faktisch die Arbeit der Mechanik.

Das "Journal of Mental science" enthält die Notiz - ich zitiere aus der Erinnerung - daß ein bekannter englischer Belletrist Dialoge seiner Romanhelden oft laut und deutlich im Kopf hörte, noch ehe er sie hingeschrieben hatte. Hier hatte die psychische Hirnmechanik, welche gewöhnlich nur bei direkt auf sie gerichteter aufmerksamer Beobachtung, wie GRIESINGER sagte, ein leises Mithalluzinieren in einem zentralen Sinnesorgan bewerkstelligt, ausnahmsweis laut dem Bewußtsein seine Arbeit gemeldet. Der Vorgang war derselbe wie der im Hirn jenes Irren, welcher zu Esquirol sagte: Sie denken leise, und ich, ich denke laut.

An mir selbst habe ich Folgendes beobachtet. Während meines Aufenthaltes im Elsaß passierte es mir einige Male nach dem Genuß anständiger, aber für mich, der ich gegen Alkohol ziemlich resistent bin, nicht übermäßiger Quantitäten etwas starker elsässischer Weißwein, daß ich kurz vor dem Einschlafen einzelne abrupte Sätze leise in meinem Kopf hörte. Der Inhalt war harmlos oder leicht unangenehm, die Worte oft in sonderbarer, unsinniger Weise kombiniert. Einmal hörte ich eine harmlose Bemerkung aus nur wenigen Worten bestehen leise im Praecordium [Brustwand vor dem Herzen - wp].

Die frappanteste Sinnesprojektion des Unbewußten sind aber die Stimmen der Irren. Sie verraten laut den pathologischen Gang der psychischen Mechanik. Der einen wird ein eben geschriebenes Billet beim Überlesen von einer bekannten Stimme vorgelesen. Die andere hört unter dem Fenster den vis-á-vis wohnenden Apotheker hersagen, was sie den Tag über getan, was sie gekocht hat; Fragen, die sie sich innerlich vorlegt, hört sie laut beantwortet. Der muß also ihre Gedanken kennen. Einem andern wieder werden gleichgültige Dinge, welche er gesagt hat, stundenlang nachher von einer weiblichen Stimme, die er nicht kennt, in einem neckischen Ton laut repetiert [wiederholt - wp]. Ein anderer wieder hört beständig zwei Mädchenstimmen, Schulfreundinnen, räsonnieren [argumentieren - wp], er hätte se mit kleinen Kindern gehabt, mit dem Geißbock, mit allen wüsten Weibsleuten. Dazu kommen ihm jetzt Gedanken, die er in gesunder Zeit nicht kannte. Die machen ihm natürlich auch die infamen Mädels. Ja, sie geben ihm Gedanken und gleich den Geruch dazu. Davon hat er sein Lebtag nichts gewußt. Jetzt sind sie sogar so frech, ihm zu sagen, das sei seine Krankheit. Allerdings ist es Krankheit, peroriert [laut und mit Nachdruck sprechen - wp] er, aber eine forcierte [erzwungene - wp] Krankheit, eine Hexerei, ich kann es nicht anders nennen - usw. usf. Er ist der Sklave seines Hirnes wie wir die Sklaven der unseren.

Hiermit soll nun der allgemeine Teil abgeschlossen sein. Er enthält nur Skizzen. Seelenerscheinungen sind Hirnfunktionen. Das lehrte das Prinzip des empirischen Aktualismus. Geistige Vorgänge sind in bewußte und unbewußte zu scheiden. Die unbewußten motorischen sind mechanisch begreifbar. Die bewußten, mechanisch unbegreiflich, sind aber gleichwoh Funktionen der Materie. Endlich gestattete die Halluzination einen sehr flüchtigen Einblick in den Gang der psychischen Mechanik.

Niemand, denke ich, wird das psychisch Unbewußte mit dem Unbewußten HARTMANNs verwechseln. Das psychisch Unbewußte ist eine Gehirnfunktion. Das Unbewußte der neueren Philosophie ein rein metaphysisches Prinzip ohne Nervensubstrat.
LITERATUR Paul Samt, Die naturwissenschaftliche Methode in der Psychiatrie, Berlin 1874
    Anmerkungen
    1) Ich habe leider nie einen Anfall beobachtet.