ra-2Tyrannei der SozialdemokratieEnde des wissenschaftlichen Sozialismus     
 
EDUARD von HARTMANN
Sozialdemokratie und Anarchismus

"Der Eintritt in die Parteiorganisation ist zu einer politischen Karriere geworden, so gut wie es der in das staatliche Beamtentum oder der in die katholische Kirche ist. Die sozialdemokratische Partei bildet, wie die katholische Kirche, einen Staat im Staate mit eigener Besteuerung, Beamtenhierarchie und Presse und geht darauf aus, den Staat, den sie über sich hat aufzusaugen und sich und ihre Leute an die immer noch nahrhafteren größeren Krippen eines größeren Staates zu bringen. Von idealistischem Enthusiasmus ist dabei ebensowenig mehr die Rede, wie etwa in einem Ministerialbüro oder dem Redaktionsbüro einer liberalen Zeitung."

"Das sozialdemokratische Ideal der kollektivistischen Zwangsgesellschaft deckt sich ganz genau mit derjenigen Organisation, die nach der Konsequenz der liberalen Anschauungen das Gefängnis der Zukunft haben müßte. Es geht darin nicht nur jede Spur von Freiheit und Selbstbestimmung verloren, sondern die dafür verheißene Glückseligkeit ist selbst bloß noch eine des Magens, wie das Vieh auf der Weide sie auch hat. Wenn schon die konsequente Durchführung des demokratischen Prinzips jede Aristokratie vernichtet, alles Hervorragende auf die Kulturstufe des Proletariats herunterzieht und diese dadurch beständig erniedrigen muß bis zu Wiedervertierung, so vollzieht sich dieser Niedergang doppelt schnell nach dem sozialdemokratischen Prinzip, weil hier zugleich jedes Motiv seines Strebens nach hervorragenden Leistungen durch die Gleichmäßigkeit der Genußgüterverteilung abgeschnitten wird."

"Nur der Starke und Herrschsüchtige hat ein Interesse an der Auflösung aller Ordnung und an der Herstellung des Krieges aller gegen alle; aber selbst von den Starken hat es wieder nur der Stärkste, und die anderen täuschen sich, wenn sie, ein jeder sich selbst, für den Stärksten halten."

1. Die Sozialdemokratie

Der Liberalismus ging von der Ansicht aus, daß durch das freieste Spiel der Kräfte die Wohlfahrt aller am besten gefördert werde. Daß die Glückseligkeit schon hier auf Erden für alle erreichbar sei, sobald nur erst die unvernünftigen Schranken der Bewegungsfreiheit beseitigt wären, galt ihm als selbstverständlich. Das  laisser aller  [Gewährenlassen - wp im Innern fordert schwache Regierungen, die sich jeder Einmischung in die Volkswirtschaft und den Kulturprozess enthielten und lediglich auf den Schutz der gleichen Rechtssphären aller beschränkten, nach außen die Verkehrs- und Handelsfreiheit. Der Staat schrumpfte zur Idee des rein formellen Rechtsstaates zusammen, welche LASSALLE eine "Nachtwächteridee" vom Staat genannt hat; die Rechtsgleichheit der Untertanen konnte ebenfalls nur ganz formell verstanden werden. Der Liberalismus nannte sich zwar nach der Freiheit, aber diese war ihm doch eigentlich nur Mittel zur Wohlfahrt und zwar zur irdischen Glückseligkeit des Einzelnen und der Gesamtheit, zwischen Individual- und Sozialeudämonismus, eintreten könne, schien ihm ausgeschlossen.

Da die Glückseligkeit schon auf Erden für erreichbar galt, fiel jedes Motiv für die Projektion des Glückseligkeitsideals ins Jenseits weg; d. h. der Liberalismus ist ein rein irdischer Eudämonismus, der als eudämonistischer Optimismus auch kein Erlösungsbedürfnis kennt. Mit der transzendenten Projektion des Glückseligkeitsideals ins künftige Leben und mit dem Erlösungsbedürfnis sind aber die Wurzeln der Religion durchschnitten; der Liberalismus hebt in seiner selbstzufriedenen Weltlichkeit jede innere Beziehung zur Religion auf und läßt nur den Schein der Religiosität aufgrund alter Gewohnheit und konventioneller Respektabilität bestehen. Als Ersatz der transzendenten Ideale gilt ihm das der Humanität, d. h. der allseitigen Entfaltung der in der Menschheit enthaltenen Anlagen, welches als ein Nebenprodukt der Freiheit durch das volle sich Ausleben aller individuellen Anlagen mit automatischer gegenseitiger Harmonisierung erreicht werden soll. Im Einklang mit diesem Humanitätsideal wird auch das Glückseligkeitsideal wesentlich in einem geistigen Sinn aufgefaßt, ohne darum die Grundlage des sinnlichen Behagens zu vernachlässigen, die bei FEUERBACH vielmehr wieder in den Vordergrund tritt.

Diese Weltanschauung mußte in die Brüche gehen, sobald die Voraussetzung, auf der sie ruhte, ins Wanken geriet, nämlich der Glaube, daß durch die Herstellung der formellen Freiheit Aller die irdische Glückseligkeit Aller ganz von selbst zur Entfaltung kommen müsse. Da alle Menschen kurzsichtig sind, so verstehen sie nicht, zur rechten Zeit auf einen augenblicklichen Vorteil um eines dauernden Gewinns willen zu verzichten. Infolgedessen wird die Maximierung des Gesamtwohls durch ein unkluges Hervordrängen von Sonderinteressen behindert. Die Verleitung dazu scheint am nächsten zu liegen, wo sich eine starke Ungleichheit des Besitzes und ein Interessengegensatz der besitzenden und besitzlosen Klassen herausgebildet hat; der Einklang der Klassenwohlfahrt und der Gesamtwohlfahrt erscheint dann getrübt, und die formelle Rechtsgleichheit erweist sich als unfähig, um die unverhältnismäßige Ungleichheit des Besitzes und der in ihm ruhenden Macht auszugleichen. Insofern der Glaube an die Erreichbarkeit der Glückseligkeit auf Erden und an die Harmonie des wohlverstandenen Individual-Eudämonismus mit dem Sozial-Eudämonismus bestehen bleibt, erscheint nun gerade die individuelle wirtschaftliche Freiheit als das eigentliche Hindernis, das  laisser aller  als der Krebsschaden, der überwunden werden muß. Die Freiheit, die nicht mehr als das geeignete Mittel zum Ziel der Wohlfahrt angesehen werden kann, muß weggeworfen werden und derjenigen sozialen Gebundenheit weichen, die eine Maximierung des Gesamtwohls zu verbürgen scheint. Die liberale Forderung der formellen Rechtsgleichheit spottet ihrer selbst, wenn sie nicht auf Gleichheit des materiellen Besitzrechtes ausgedehnt wird; denn die höchstmögliche Glückseligkeit der größtmöglichen Zahl verlangt einer nur durch die Genußfähigkeit modifizierte Gleichheit der Güterverteilung.

Der Rechtsschutz des Staates wird zum Unrechtsschutz der Ausbeuter, dier ihre formelle Freiheit materielle mißbraucht haben zur Unterdrückung der Besitzlosen. Die Regierungen werden nun nicht mehr bloß bekämpft, sofern sie mit ihrer Tätigkeit der Rechtsschutz übergreifen, sondern als kristallisierter Niederschlag des Unrechts der bisherigen Gesellschaftsordnung, als die Träger der organisierten  Macht  der ausbeutenden Klassen. Der Staat büßt damit die letzte Funktion ein, die ihm der Liberalismus noch gelassen hatte. Mit der Herstellung der sozialistischen Zwangsgesellschaft, welche die eudämonistische Maximierungsaufgabe löst, erlischt der Staat von selbst. Denn die Harmonie des Gesamtwohls und Einzelwohls wird dann nicht bloß vollkommen verwirklicht, sondern auch allen einleuchtend sein, so daß jedes Motiv zur Auflehung von Sonderinteressen und damit die Strafrechtspflege wegfällt. Die bürgerliche Rechtspflege wir dadurch gegenstandslos, daß die Organe der Zwangsgesellschaft jedem das Seine zuteilen, also kein Streit um Mein und Dein mehr entstehen kann. Der Schutz des Staates nach Außen wird überflüssig, weil die verschiedenen nationalen Zwangsgesellschaften in vollkommener Interessenharmonie miteinander leben, und die bisherigen Kriegsanlässe, die aus dem Interessengegensatz der ausbeutenden Klassen herrührten, verschwinden. Die pietätsvolle Scheu vor überkommener Sitte und konventioneller Respektabilität, die im Liberalismus noch eine gewisse Scheinreligiosität aufrechterhalten hatte, verliert ihre Bedeutung mit der Verwirklichung des demokratischen Ideals, mit dem der Liberalismus bloß gespielt hatte, d. h. mit der Herrschaft der größten Zahl, die nichts anderes als die "Diktatur des Proletariats" sein kann. Die Kirche und ihre Lehre wird nun als ein Mittel der Volksverdummung und -Beschwichtigung, als ein Werkzeug der Ausbeuterklasse zur Befestigung ihrer Macht bekämpft; in Bezug auf den mystischen Inhalt der Religion wird offen die Konsequenz des rein weltlichen und diesseitigen Glückseligkeitsideals gezogen.

So ergibt sich, daß die Sozialdemokratie fast in jeder Hinsicht der Erbe des Liberalismus ist. Die Wohlfahrt als letztes Ziel, der Glaube an die völlige Harmonie des Einzelwohles mit dem Gesamtwohl unter richtig geordneten Verhältnissen, die optimistische Überzeugung von der Erreichbarkeit der Glückseligkeit auf Erden, bleibt bestehen; die für freiheitlich geltende Opposition gegen die Staatsregierung wird verschärft, das Streben nach der Verwirklichung des demokratischen Ideals gesteigert, die Forderung der Gleichheit vom formellen Recht auf die soziale Lage ausgedehnt, die Überflüssigkeit des Staates, des Rechts und der Religion und die Notwendigkeit einer annähernd gleichen Genußgüterverteilung an alle werden als folgerichtige Konsequenzen aus den Voraussetzungen des Liberalismus entwickelt.

Nur in einem Punkt steht die Sozialdemokratie in einem grundsätzlichen Gegensatz zum Liberalismus. Sie begreift, daß die schrankenlose Freiheit nicht das Mittel zum höchstmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl sein kann, sondern nur die organisierte Zwangsgsellschaft, d. h. die Vernichtung jeder Bewegungsfreiheit auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie weiß, daß die wachsende Freiheit des Menschen von der Natur und seine zunehmende Herrschaft über dieselbe bezahlt werden muß mit wachsender sozialer Unfreiheit. (1) In dieser Einsicht ist sie dem Liberalismus theoretisch überlegen und setzt eine Wahrheit anstelle eines Irrtums. In den Irrtümern aber, die sie ungeprüft vom Liberalismus übernommen und beibehalten hat, ist sie wenigstens konsequenter als dieser, und hat das Verdienst, offen aufzudecken, wohin das folgerichtige Zuendedenken der einmal angenommenen Voraussetzungen führt. (2) An die Stelle des Humanitätsideals, als Nebenproduktes der Freiheit, tritt bei ihr der Begriff des "menschenwürdigen Daseins", das, in der bisherigen Gesellschaftsordnung für die Mehrzahl unerreichbar, erst in der neuen Zwangsgesellschaft verwirklicht werden soll. Wie sich im Liberalismus das Humanitätsideal mit dem Ideal einer vergeistigten Glückseligkeit decken sollte, so in der Sozialdemokratie das menschenwürdige Dasein mit derjenigen Glückseligkeit, welche für das Proletariat allein in Betracht kommen kann, dem sinnlichen Behagen.

Die Kindlichkeit der Jllusionen, aus denen die Euthanasie des Staates gefolgert wird, ist so evident, daß niemand zweifeln kann, die staatlichen Funktionen werden auch nach der Einrichtung einer Zwangsgesellschaft fortbestehen, nur daß sie dann von dieser ausgeübt werden. Die Kritik dieser  Jllusionen,  die man früher in der "Bourgeois-Literatur" suchen mußte, kann man jetzt auch in der sozialdemokratischen finden. (3) Die Diktatur des Proletariats stellt sich keiner der sozialdemokratischen Führer jetzt wohl mehr anders vor, als daß die Abgeordneten, Redakteure und Vereinsvorsitzenden der Partei sich künftig auf die Plätze der staatlichen Verwaltungsmaschinerie setzen wollen, auf denen die Vertreter der herrschenden Klassen bisher gesessen haben. Im Übrigen würde der ganze staatliche Geschäftsgang unverändert bleiben, nur daß ein Wechsel der herrschenden politischen Partei stattgefunden hätte, und die ans Ruder gelangte nun mit der Gesetzgebung ihre gewagten Experimente anstellen würde. Daß die materielle Gleichheit und gleichmäßige Beglückung aller ein Hirngespinst ist, gerade gut genug, um es für die ungebildete, aber illusionsfähige Masse als Aushängeschild zu benutzen, wissen die Parteiauguren sehr wohl und hüten sich darum sorgfältig, den Schleier vom Ideal zu lüften. Der Enthusiasmus, den diese Fata Morgana vor einem Menschenalter bei unkritischen, abstrakten Idealisten erweckte, ist längst verraucht. Die begeisterten, dilettantischen Autodidakten, welche damals die Partei leiteten, werden sichtlich durch akademisch geschulte Kräfte ersetzt und in den Hintergrund gedrängt, die lediglich noch als Geschäftspolitiker gewürdigt werden müssen. Der Eintritt in die Parteiorganisation ist zu einer politischen Karriere geworden, so gut wie es der in das staatliche Beamtentum oder der in die katholische Kirche ist. Die sozialdemokratische Partei bildet, wie die katholische Kirche, einen Staat im Staate mit eigener Besteuerung, Beamtenhierarchie und Presse und geht darauf aus, den Staat, den si über sich hat aufzusaugen und sich und ihre Leute an die immer noch nahrhafteren größeren Krippen eines größeren Staates zu bringen. Von idealistischem Enthusiasmus ist dabei ebensowenig mehr die Rede, wie etwa in einem Ministerialbüro oder dem Redaktionsbüro einer liberalen Zeitung.

Wie in der Kirche ist auch in dieser Partei eine orthodoxe Dogmatik aufgestellt, die auf alle Fragen fertige Antworten hat und in den Redeschulen der Partei ihren subalternen Agitatoren gedächtnismäßig eingetrichtert wird. Das Ideal ist dabei immer nebelhafter und unfaßbarer geworden, je ferner sich seine Verwirklichung hinausgeschoben hat, die, ganz wie das christliche Himmelreich, Anfangs der lebenden Generation als nahes Ziel gezeigt wurde, jetzt aber völlig ins Unbestimmte gerückt ist.

Kein Wunder, daß sich da immer einseitiger der brutale Klassenegoismus des Proletariats hervordrängt, das Ideal aber die werbende Kraft auf die gebildete idealistische Jugend sichtlich immer mehr verliert, die es in den verflossenen Jahrzehnten ohne Zweifel besessen hat. Bisher haben sich alle herrschenden Klassen in der Zeit des staatlichen Aufschwungs tatsächlich bemüht, die Gesetzgebung im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit und allgemeiner Wohlfahrt zu leiten, und nur die menschliche Schwachheit hat sie dazu geführt, daß sie dabei doch das Interesse der eigenen Klasse unwillkürlich mehr als das der übrigen berücksichtigten. Erst in Zeiten der Erschütterung und des Niedergangs pflegt der Klassenegoismus in ungenierter Nacktheit hervorzutreten und die Gesetzgebung für einseitige Sonderinteressen ausbeuten zu wollen. Die sozialdemokratische Geschichtsschreibung aber behauptet, daß zu allen Zeiten die herrschende Klasse die Gesetzgebung und Staatsmacht in bewußter Absicht und aller Gerechtigkeit zum Hohn zu ihren Gunsten und zum Nachteil der Unterdrückten ausgenutzt habe, und sie sucht durch diese Geschichtsfälschung sich selbst gleichsam die entschuldigenden Präzedenzfälle herbeizuschaffen, um den ungerechten Mißbrauch der künftigen Gesetzgebung zum einseitigen Nutzen des Proletariats zu beschönigen, auf den ihre Absicht in schamloser Offenheit hinausläuft.

Das sozialdemokratische Ideal der kollektivistischen Zwangsgesellschaft deckt sich, wie ich dies schon vor 22 Jahren dargetan habe, ganz genau mit derjenigen Organisation, die nach der Konsequenz der liberalen Anschauungen das Gefängnis der Zukunft haben müßte. (4) Es geht darin nicht nur jede Spur von Freiheit und Selbstbestimmung verloren, sondern die dafür verheißene Glückseligkeit ist selbst bloß noch eine des Magens, wie das Vieh auf der Weide sie auch hat. Wenn schon die konsequente Durchführung des demokratischen Prinzips jede Aristokratie vernichtet, alles Hervorragende auf die Kulturstufe des Proletariats herunterzieht und diese dadurch beständig erniedrigen muß bis zu Wiedervertierung, so vollzieht sich dieser Niedergang doppelt schnell nach dem sozialdemokratischen Prinzip, weil hier zugleich jedes Motiv seines Strebens nach hervorragenden Leistungen durch die Gleichmäßigkeit der Genußgüterverteilung abgeschnitten wird. (5) Ein solches Ideal, das in allgemeiner Barbarei und Bestialität endet, kann nicht nach dem Geschmack idealistisch gesinnter Gemüter sein; der wirkliche Tog würde einem solchen Tod bei lebendigem Leib vorzuziehen sein. Selbst der roheste Arbeiter merkt an seinem Leib, wie der Terrorismus jener Zwangsgesellschaft beschaffen sein würde; denn er bekommt einen Vorgeschmack davon, wenn er mit einer Mehrheit "zielbewußter Genossen" in einer Fabrik zusammen arbeitet und es wagt, eine abweichende Ansicht zu haben oder gar seine Beitragszahlungen zur Parteikasse zu verweigern.

Das Ideal ist aber nicht nur seinem Inhalt nach abschreckend, sondern es ist auch tatsächlich unrealisierbar und schon in diesem Sinne utopistisch. Daß eine Minoritätsrevolution entweder mißlingt oder nach einem kurzen Erfolg durch die nachfolgende Reaktion der Mehrheit in einem Meer von Blut ersäuft wird, wissen die sozialdemokratischen Führer sehr wohl. Die Diktatur des Proletariats kann nur dann erreicht werden, wenn die sozialdemokratische Partei die Mehrheit des Volkes auf ihre Seite herübergezogen und sie zum letzten Entscheidungskampf hinreichend organisiert und mit genügend Machtmittel ausgerüstet hat. Nun ist aber die Partei jetzt ungefähr auf dem Punkt angelangt, daß sie nicht mehr viel neue Wahlstimmen und Reichstagssitze aus den Kreisen der industriellen Arbeiterschaft erobern kann. Selbst wenn sie durch eine Gewinnung des ländlichen Arbeiterproletariats ihre Zahl verdoppelte, so würde sie doch immer erst einen kleinen Bruchteil der Nation ausmachen. Aber schon von ihren jetzigen Wählern würden neun Zehntel die Gefolgschaft bei einer Revolution verweigern, weil sie nur versuchsweise den sozialdemokratischen Kandidaten ihre Stimme geben kann. Diese  versprechen  ihnen wenigstens zu helfen, während sie von den anderen Parteien eine nachdrückliche Wahrnehmung ihrer Interessen nicht erwarten.

Aber auch die Geduld der Arbeiter hat eine Grenze. Nachdem sich ein Menschenalter hindurch von diesen Verheißungen nichts erfüllt und die Partei nichts für sie geleistet hat, müssen sie doch endlich einmal mißtrauisch werden. Die Arbeiter müssen früher oder später dessen müde werden, mit ihren abgedarbten Groschen einen Stab von Geschäftspolitikern zu alimentieren, die grundsätzlich für ihr Wohl nichts tun wollen, sondern sie als gleichgültiges Menschenmaterial im Klassenkampf zum Besten einer unabsehbaren Zukunft verbrauchen. Die orthodoxe sozialdemokratische Doktrin fürchtet nichts mehr als eine Verbesserung der Lage der Arbeiter, weil sie nur von einer Verschlechterung derselben bis zur Unerträglichkeit die nötige revolutionäre Spannung erhofft. Mit süß-saurer Miene haben die Führer dem Drängen ihrer Auftraggeben so weit Rechnung getragen, daß sie gewisse Verbesserungen der Arbeiterfrage als zulässig erachten, nicht um der Arbeiter selbst willen, sondern um deren Kraft im Klassenkampf zu stärken. Aber sie wachen mit Argusaugen darüber, daß diese Verbesserungen ja nicht etwa so weit gehen, um die revolutionäre Spannung zu beseitigen und dem Klassenkampf zu einem zeitweiligen Waffenstillstand kommen zu lassen. Wenn diese Sachlage erst einmal von den Wählern durchschaut wird, so muß ein massenhafter Rückgang der Wahlstimmen erfolgen, und dieser Augenblick wird vielleicht früher eintreten, als die Sozialdemokratie im ländlichen Proletariat Anhänger gewinnt. Die älteren Arbeiter sind schon längst stutzig geworden und werden nur noch durch den Terrorismus der Jugend bei der Fahne gehalten, die bei ihrer Unerfahrenheit und Unreife illusionsfähiger und leichtgläubiger ist. Auch die älteren Landarbeiter lachen verächtlich über die Versprechungen in den ihnen in die Hände gesteckten sozialdemokratischen Flugschriften, wenn sie sich erinnern, die nämlichen unerfüllt gebliebenen Verheißungen schon vor fünfundzwanzig Jahren in solchen Blättern gelesen zu haben.

Aus all diesen Gründen regt sich die Unzufriedenheit mit den Führern mächtig in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und greift der Zweifel an der Richtigkeit des Zieles und der bisher befolgten Taktik immer weiter um sich. Diese Sachlage spiegelt sich in der Gliederung der Partei in einen rechten Flügen, ein Zentrum und einen linken Flügel. Die Abspaltung und Ausstoßung des letzteren ist von Seiten der Partei bereits damals vollzogen worden, als sie die "Jungen" von sich ausschloß und den Anarchisten die Teilnahme an den sozialistischen Kongressen versagte. Die des rechten Flügels war auf dem drittletzten Parteitag in Gotha nahe dran, sich zu vollziehen, ist aber vorläufig vertagt worden zugunsten der äußeren Machtstellung der Partei. Bis jetzt haben die subalternen, auf die orthodoxe MARX-ENGELS'sche Doktrin eingedrillten und eingeschworenen Geister die Mehrheit auf den deutschen Parteitagen behauptet. Sollte aber ein stärkerer Rückgang der mit dieser Mehrheit unzufriedenen Wähler eintreten, so kann sich das Blatt wenden und dem rechten Flügel die Führung der Partei zufallen, den man etwa den "possibilistischen" [nur praktisch erreichbare Ziele - wp] nennen könnte.

Derselbe Umschwung kann auch unabhängig von einem Rückgang der Wahlstimmen durch die Emanzipation der Gewerkschaften von der Vormundschaft der Partei und von ihrem Mißbrauch zu politischen Parteizwecken herbeigeführt werden. Ein charakteristisches Symptom für diesen Gesinnungswandel bildet die Beseitigung des sozialdemokratischen Redaktionskomittees aus dem Verbandorgan der Buchdruckergewerkschaft, die durch Alter, finanzielle Fundierung und Intelligenz immer an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung gestanden und einen vorbildlichen Einfluß gehabt hat. Die jüngeren gewandten Geschäftspolitiker der Partei wären sicher die ersten, eine solche Drehung des Windes mitzumachen; die subalternen Agitatoren freilich, die nur die auswendig gelernten orthodoxen Phrasen und Schlagworte herunterdonnern, würden meistens unfähig sien, umzulernen und müßten wieder einfache Arbeiter werden. Für die idealistischen, alten Säulen der Partei hat die Stunde ohnehin längst geschlagen; sie werden sowieso mit oder ohne Gnadenbrot beiseite geschoben, denn es gibt nichts Undankbareres als die Masse.

Ob nun nach ihrer Scheidung vom Anarchismus die ganze sozialdemokratische Partei sich in eine possibilistische Arbeiterpartei umwandelt, oder ob sich eine solche von ihr abspaltet und der Rest kümmerlich noch eine Weile fortvegetiert, jedenfalls geht sie als das, was sie ihrem Programm nach heute ist, in nicht allzu langer Frist zugrunde. An ihre Stelle aber tritt der Anarchismus und der Possibilismus, d. h. eine völlig radikale, auf einem festen Prinzip fußende, aber abstrakt idealistische, und eine opportunistische, prinziplos sich mit Kompromissen begnügende, aber realpolitische Partei.


2. Der Anarchismus

Wenn die sozialdemokratische Doktrin mit dem Glückseligkeitsziel des Liberalismus Ernst zu machen versucht und darüber die Freiheit in unerträglicher Weise zerstört hatte, so versucht der Anarchismus dasjenige zum Selbstzweck zu erheben, was im Liberalismus nur Mittel gewesen war, die Freiheit. Freiheit und Anarchie sind gleichmäßig negative Begriffe, die ganz dasselbe bedeuten, nämlich die Ledigkeit von jedem Herrschaftszwang, sei es anderer Menschen, sei es übermenschlicher Mächte, sei es eines allgemeingültigen und verbindlichen Gesetzes. Die positive Seite, die der negativen anarchistischen Freiheit entspricht, ist lediglich die grundlose Willkür, das launenhafte Belieben, die absolute Zufälligkeit des Wollens oder Nichtwollens und des eventuell Gewollten, die unbeschränkte Selbstherrlichkeit des Ich, oder die Souveränität des Individuums. Jedes Gesetz, das sich dem Individualwillen aufzuerlegen versucht, gilt nun als abzuwehrende Freiheitsbeschränkung; jedes Ideal, das sich über die subjektive Laune zu stellen und als zu realisierende Norm aufdrängen will, wird als idealogisches Hirngespinst, als äffendes Trugbild verworfen. Das Allgemeine ist nun berechtigungslos gegenüber dem Einzelnen, die Menschheit oder das Volk gegenüber dem Menschen, der sich als Ich, d. h. als ein Ganzes in sich selbst fühlt; jede Rechtsordnung erscheint nun als anmaßende Vergewaltigung des Einzelnen durch die überlegene Macht der Vielen.

Eine Selbstbestimmung nach vernünftigen, selbstgegebenen Gesetzen ist ebenso unmöglich wie die Unterwerfung unter ein heteronomes Gebot; denn die freie Willkür läßt sich ebensowenig durch sich selbst wie durch etwas anderes im Voraus binden. Der Wille jedes Augenblicks ist souverän und darf keine Schranken anerkennen, die er sich selbst in einem vergangenen Augenblick gezogen hat, wenn er nicht gegen das Prinzip der Freiheit verstoßen soll. Alle aus der individuellen Anlage stammenden Tendenzen, die den Willen an Regeln binden und in feste Bahnen lenken möchten, widersprechen dem Freiheitsprinzip und müssen von diesem aus bekämpft und unterdrückt werden. Insbesondere gilt das für solche Tendenzen, die den Eigenwillen in den Dienst fremder Zweck oder gar des Allgemeinen spannen möchten, z. B. für die sozialen Instinkte und durch die Vorfahren erworbenen moralischen Gefühle, für den sittlichen Takt und Geschmack, vor allem aber für den Vernunfttrieb, der sich als Sinn für Wahrheit, Ordnung, Gerechtigkeit, Billigkeit und Zweckmäßigkeit äußert.

Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß der Individualwille kraft seiner Freiheit zufällig einmal auch das Gemeinwohl, oder die Humanität, oder die Religiosität oder Sittlichkeit zum Inhalt wählt; aber wenn er solchen Idealen dauernd dient, sie irgendeine Macht über sie gewinnen läßt, dann ist es mit seiner Freiheit vorbei, und er ist zum Sklaven jener Ideen geworden. Jedenfalls kann er ebenso gut das allgemeine Verderben, die Menschenquälerei, die Gottesverachtung, den Teufelskultus und die Bosheit zum Inhalt seines Willens machen, denn es gibt kein Merkmal mehr, durch das ein Vorzug des einen Inhalts vor dem anderen festzustellen wäre. Nichts hat mehr einen Wert oder eine Berechtigung in einem objektiven oder absoluten Sinn; aller Wert des Augenblicks entspringt nur aus dem zufälligen Umstand, daß das Wollen dieses Augenblicks in seiner grundlosen Willkür dieses zu seinem Inhalt zu nehmen beliebt hat. Darum hat jetzt nicht einmal mehr die eigenen Glückseligkeit einen selbständigen Wert ansich, sondern nur sofern der Wille sie zufällig gerade erstrebt; wenn es ihm beliebt, sie verächtlich von sich zu stoßen und seine Sache auf Nichts zu stellen, so hat sie gar keinen Wert mehr, und wenn er die asketische Selbstquälerei vorzieht, so ist damit ihr diametrales Gegenteil als das zeitweilig allein Wertvolle gesetzt. Lehre und Unterweisung ist auf diesem Standpunkt nur im negativen Sinne möglich, nämlich als Warnung vor freiheitsstörenden Einflüssen, die sich unvermerkt einschleichen könnten. Da das Freiheitsprinzip die schlechthin unvernünftige Willkür ist, so ist sein eigentlicher Antipode das Vernunftprinzip, der Rationalismus, sowohl als bewußter Rationalismus wie in allen seinen unbewußten Verkleidungen. Alle sogenannte Vernunftwahrheit ist nun der schlimmste Trug und Wahn, und die allein wahre Wahrheit besteht in der Anerkennung der unvernünftigen Freiheit als alleinigen praktischen Prinzips. Wo so die Vernunft prinzipiell verpönt werden muß, kann nicht mehr vom Erkennen, sondern nur noch von einem Spielen mit Einfällen und gedanklichen Phantasien die Rede sein, die den Schein von Erkenntnissen vorspiegeln.

Daß die absoluten Selbstherrscher und Tyrannen von jeher eine über dem Gesetz stehende Souveränität für sich beansprucht haben, ist bekannt; aber der Liberalismus hat diesen Anspruch auch von jeher verworfen. CARLYLEs Heroenkultus hat zuerst für die Heroen der Menschheit eine solche Ausnahme zu rechtfertigen gesucht, aber noch wesentlich im Sinne des Liberalismus, um die Wohlfahrt der von ihnen Geleiteten und Regierten schneller und kräftiger zu fördern, als es auf andere Weise möglich gewesen wäre. STIRNER nimmt die Souveränität, die CARLYLE nur den Heroen zuschreibt, für jedes Ich in Anspruch, wiegt sich dann aber doch wieder in den Wahn, als ob die Individuen von ihrer unbeschränkten Freiheit bloß einen friedlichen und freundschaftlichen Gebrauch machen würden. NIETZSCHE zerstört diese Jllusion, indemer das anarchistisch-souveräne Individuum als den bestialischen Tyrannen, als den völlig rücksichtslosen Übermenschen enthüllt, dem die ganze Menschheit nur ein gleichgültiges Material zur Befriedigung seiner Launen ist. In diesen beiden Denkern hat sich die klare Herausstellung und theoretische Durchbildung des anarchistischen Prinzips vollzogen. Was dagegen von revolutionären Politikern für die Theorie des Anarchismus geleistet ist, kommt nicht über unklar tastende Versuche hinaus. STIRNER und NIETZSCHE werden künftig eine ähnliche Bedeutung für die Anarchisten haben, wie MARX und ENGELS für die Sozialdemokratie gehabt haben und noch haben, und wie ADAM SMITH, BENTHAM, MILL und FEUERBACH für den Liberalismus gehabt haben. In allen drei Fällen dienten die Theoretiker den Männern der Praxis als Wegweiser.

Bei STIRNER und NIETZSCHE ruht der Anarchismus auf der erkenntnistheoretischen Grundlage des transzendentalen Idealismus. Wenn das Ich der (obwohl vergängliche) Schöpfer seiner selbst und die Welt bloß sein Bewußtseinsinhalt und Erkenntnisobjekt ist, so verfährt es nur folgerichtig, wenn es sie auch in praktischer Hinsicht als sein Objekt, sein Eigentum, sein Geschöpf behandelt, und mit ihr in souveräner Willkür ebenso rücksichtslos und skrupellos schaltet wie der Träumende mit seiner Traumwelt. Während FICHTE den erkenntnistheoretischen Idealismus hauptsächlich als ein Mittel zur Sicherstellung des ethischen Idealismus ergriffen und festgehalten hatte, gebührt STIRNER und NIETZSCHE das philosophische Verdienst, die wahren praktischen Konsequenzen des erkenntnistheoretischen Idealismus ans Licht gestellt und ihn dadurch für jeden Besonnenen ad absurdum geführt zu haben. Die Anarchisten aber verstehen diesen Zusammenhang garnicht, halten sich nur an STIRNERs und NIETZSCHEs Lehre von der Selbstherrlichkeit des Ich und verpflanzen dieselbe auf den Boden des naiven Realismus, wo sie zu einer törichten Ungeheuerlichkeit wird.

Wenn alle Menschen zahme Haustiere, liebreiche Engel, oder reine Vernunftwesen wären, so wäre die Gefahr der Anarchie nicht groß; da aber in jedem Menschen neben dem Engel ein gut Teil Bestie und ein Stückchen Teufel schlummert, so wird die Zertrümmerung aller Schutzdämme der Rechtsordnung und Sittlichkeit in nur zu Vielen die Rohheit und Bosheit erwecken, um sie rücksichtslos an den Nächsten auszulassen. Die friedlichen und sanften Naturen werden dann garnicht umhin können, ebenfalls zum Hammer zu werden, wenn sie nicht bloß geduldiger Amboß bleiben wollen, d. h. die Folge der Anarchie ist der Krieg aller gegen alle, der Kultur und Wohlfahrt zugleich vernichtet. Daran liegt aber garnichts, weil doch alle nun wirklich ihre Freiheit nicht nur haben, sondern auch ausüben, d. h. weil so allein das anarchistische Prinzip wahrhaft realisiert ist.

Mit diesem Ergebnis ist für andere dieses Prinzip ebenso gerichtet, wie das sozialdemokratische. Der Anarchismus ist zwar das folgerichtige Endergebnis einer Weltanschauung, die das Individuum als etwas in sich Selbständiges, Ganzes, Substantielles ansieht, anstatt als Glied eines größeren Ganzen, das nur in dieser Gliedhaftigkeit seine Existenz hat, und die dabei doch den Eudämonismus als Jllusion überwunden hat. Die Absurdität des Endergebnisses beweist aber auch hier nichts weiter als die Irrtümlichkeit der Voraussetzung, von welcher ausgegangen worden ist. Der Anarchismus kann selbst in den Köpfen seiner Anhänger nur dadurch bestehen, daß er einen jeden in die Täuschung wiegt, alle Menschen außer ihm selbst würden einen ganz harmlosen Gebrauch von ihrer Freiheit machen, sobald nur erst die jetzigen freiheitfeindlichen Zustände beseitigt wären. Er entlehnt deshalb dem Liberalismus das Prinzip der freien Assoziation, das dort seine gute Begründung in der gemeinsamen Wohlfahrtsbeförderung hat, hier aber nicht nur der Begründung, sondern auch der unentbehrlichen Voraussetzungen ermangelt. Denn die Freiheit der Beteiligten wird durch die Assoziation nicht gefördert, und die Wohlfahrt ist jetzt an und für sich gleichgültig. Bestand haben kann aber jedwede Assoziation, z. B. als Ehe oder Arbeitsgesellschaft, nur dann, wenn jeder Teilnehmer seinen Willen vertragsmäßig für längere oder kürzere Zeit bindet; das ist jedoch nach dem anarchistischen Prinzip unmöglich. Mein Wille von morgen kann nicht durch den von heute seiner Freiheit beraubt werden; und doch hat jede Entschließung der anderen nur einen Sinn, wenn sie auf meine vertragsmäßige Freiheitsbeschränkung rechnen kann. Niemand wird  dem  Geld leihen, der seinen Willen nicht zur Rückzahlung binden kann, kein Weib sich einem Mann hingeben, der sich ihrem Kind nicht als Vater verpflichtet fühlt; keine Genossenschaft kann bestehen, in der alle Teilnehmer wie in einem Taubenschlag ein- und ausfliegen.

Wer sich dem gegenüber auf die Güte der menschlichen Natur verläßt, setzt ein abstraktes Ideal der Humanität anstelle der rauhen Wirklichkeit und beugt das anarchistische Prinzip unvermerkt unter dieses zu realisierende Ideal. In der Tat ist der Anarchist schon jetzt auf keine Weise am Gebrauch seiner Freiheit zu hindern, wenn er die Folgen nicht scheut; selbst wenn er ins Zuchthaus gesteckt wird, steht es ihm ja jeden Tag frei, auszubrechen oder Mitgefangene und Aufseher totzuschlagen. Wenn also der Anarchist die Staats- und Gesellschaftsordnung bekämpft, so ist es nur, weil er es vorteilhafter findet, sich bei seinem rücksichtslosen Freiheitsgebrauch bloß der ungeordneten Selbsthilfe der Verletzten und nicht der geordneten Selbsthilfe der Gesellschaft auszusetzen, oder weil er seine Willkürherrschaft leichter einer unorganisierten Vielheit von Einzelnen als einer organisierten Gesellschaft aufzwingen zu können hofft. Das ist aber schon ein Herausfallen aus dem Prinzip, nach welchem es nur auf die Freiheit des Freiheitsgebrauchs, aber nicht auf die Folgen dieses Gebrauchs und noch weniger auf die Leichtigkeit und Gefahrlosigkeit ankommen soll, mit welcher der Eine über die anderen seine Herrschaft ausüben kann. Nur der Starke und Herrschsüchtige hat ein Interesse an der Auflösung aller Ordnung und an der Herstellung des Krieges aller gegen alle; aber selbst von den Starken hat es wieder nur der Stärkste, und die anderen täuschen sich, wenn sie, ein jeder sich selbst, für den Stärksten halten.

Wer nun trotzdem von der Richtigkeit des anarchistischen Prinzips überzeugt ist, der kann diese Überzeugung entweder still für sich behalten und, soweit es ihm beliebt, danach handeln, oder er kann es sich zur Aufgabe machen, diese Überzeugung durch Wort und Schrift zu verbreiten, oder er kann allein oder in Verbindung mit Gesinnungsgenossen versuchen, die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zu zerstören, um der Anarchie Raum zu schaffen. Welche Entscheidung er zwischen diesen Möglichkeiten trifft, ist aus dem anarchistischen Prinzip nicht abzuleiten, sondern eine Sache der individuellen Willkür; da der erste Fall eine Parteibildung ausschließt, so bleiben nur die beiden letzten zu betrachten, die man als den zahmen und wilden, oder rosenroten und brandroten Anarchismus unterscheiden kann.

Gewöhnlich denkt man bei Anarchismus nur an die letztere Spielart, aber mit Unrecht. Alle revolutionären Parteien haben jederzeit die Kampf- und Zerstörungsmittel benutzt, die die Kriegs- und Zerstörungskunst ihrer Zeit ihnen anbot; darin unterscheidet sich der Anarchismus also nicht von anderen revolutionären Parteien, und es ist nicht seine Schuld, daß unsere Zeit ihm wirksamere Zerstörungsmittel liefert, als die bisherige Geschichte kennt. Frühere Revolutionäre kehrten ihre Zerstörungsmittel allerdings nur gegen bestimmte Gewalten, der wilde Anarchismus gegen alle und jede Gewalt; darum erscheinen seine Attentate den anderen Parteien so gänzlich ziellos und planlos. Andere Revolutionäre wurden noch durch irgendein Gesetz, Sitte oder Religion gebunden, die Anarchisten durch gar keine; darum sind sie in der Tat Leute, bei denen man mit den ungeheuerlichsten Verbrechen rechnen kann. Aber es ist darum keineswegs gesagt, daß sie auch tatsächlich stattfinden werden; das ist nur dann der Fall, wenn ungebildete Menschen mit überreizter Phantasie und erblicher psychopathischer Belastung an aller Hoffnung und Besserung der ihnen unerträglich scheinenden Zustände verzweifeln und die Nachahmung verbrecherischer Vorbildert ihre ansteckende Kraft auf sie entfaltet. In ruhiger veranlagten Völkern und Volksschichten braucht der Anarchismus durchaus nicht solche exzentrischen Taten zu zeitigen, durch die er sich selbst in den Augen der großen Mehrzahl bloß schadet. Sobald gebildete und idealistische Kreise sich ihm zuwenden, wie das neuerdings der Fall ist, tritt der zahme, rosarote Anarchismus der geistigen Propaganda in den Vordergrund.

Was diesem nun seine werbende politische Kraft verleiht, kann nur ein Übermaß an herrschendem Zwang sein, gegen das er die natürliche Reaktion darstellt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß wir seit dem letzten Menschenalter angefangen haben, unter einem Übermaß an Herrschaft auf allen Gebieten zu leiden, welches sich aus einer überhasteten Gesetzgebung entwickelt hat. Um die Unterlassungssonden des Liberalismus wieder gut zu machen, hat eine Schnellfabrikation von Gesetzen stattgefunden, die ein Übermaß an Maßregelungen, Vielregiererei und tötendem Schreibwerk herbeigeführt hat. Zuviel hat man durch eine strafrechtliche Regelung eindämmen wollen, wo es besser der automatischen Selbstregulierung überlassen geblieben wäre; die Folge davon ist ein übermäßiger Prozentsatz bestrafter Staatsbürger und die schwindende Scheu vor strafrechtlicher Verurteilung. Die Menge der Gesetze und Verordnungen ist nicht nur für den Laien, sondern beinahe auch für den Beamten unübersehbar geworden, ähnlich wie in Frankreich vor der Revolution, und vielleicht das Schlimmste ist, daß sie bei uns nicht bloß auf dem Papier stehen, sondern von einem gewissenhaften Beamtentum nach Möglichkeit, aber mit wenig Rücksicht auf die konkreten Verhältnisse, befolgt werden. Der Sinn für das Wesentliche, für Einfachheit, praktische Brauchbarkeit und sinngemäße Sachlichkeit der Anwendung ist in bedenklichem Maß geschwunden; der Buchstabe und die Schablone werden aber umso lästiger, je verwickelter das Leben und je mannigfaltiger die Aufgaben der Verwaltung werden. Die Polizeiaufsicht hat sich immer unerfreulicher in alle Verhältnisse des Lebens eingedrängt und die Art, wie ihre untergeordneten Organe sich ihrer Pflicht entledigen, trägt häufig nicht dazu bei, diesen Zwang weniger empfindlich zu machen. Überspannung in der Strafrechtspflege, der Regierung, der Polizeiaufsicht, der Gesetzgebung, ja sogar in der Schule, das ist die Signatur unserer Zeit; als Folge ergibt sich die geistige Uniformität der unter gleichen Bedingungen lebenden Individuen, die Abschleifung der Individualitäten und selbständigen Charaktere, die schwindende Fähigkeit und Neigung zur Initiative und Selbsthilfe, in allen Verlegenheiten das Warten auf Staatshilfe, das allgemeine Drängen zur Staatskrippe und den Beamtenstellungen, die sinkende Unternehmungslust.

Da ist es kein Wunder, daß Bestrebungen Anklang finden, die sich gegen die Hyperarchie wenden, und da jede Gegenbewegung über ihr Ziel hinauszuschießen pflegt, so mag man es auch dem Antihyperarchismus verzeichen, wenn er sich zum Anarchismus übertreibt. Die Opposition gegen den Zwangsstaat hat der Anarchismus mit dem Liberalismus und der Sozialdemokratie gemein. Aber er begreift es, daß gerade das Wohlfahrtsprinzip des Liberalismus es gewesen ist, welches den Staat in diese Vielgeschäftigkeit hineingetrieben hat, weil der Liberalismus mit seinen eigenen Mitteln seinem Prinzip nicht Genüge tun konnte. Und gerade an der Sozialdemokratie hat sich der Anarchismus entzündet, weil ihm ihre terroristische Zwangsgesellschaft nicht minder unerträglich schien als der Zwangsstaat. Gesetzt der Fall, die Sozialdemokratie hätte ihr Ziel erreicht und die alten Parteien vernichtet, müßten wir dann nicht alle zu den Anarchisten gehen?

Aber auch von dieser Eventualität abgesehen, stellt der Anarchismus dem nächsten Jahrhundert eine große und wichtige Aufgabe:  die Vereinfachung und praktischere Gestaltung  der Gesetzgebung, Rechtspflege, Regierung, Polizeiverwaltung usw. Es taucht damit ein ganz neuer Kreis von Problemen vor unseren Blicken auf, die sehr der Beachtung wert sind, und deren Lösung auch dann nicht unmöglich scheint, wenn man den wertvollen Kern unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung festhält und weiter ausbildet. Es handelt sich darum, den rasch für neue Bedürfnisse gezimmerten provisorischen Notbau, in dem wir uns beengt und gedrückt fühlen, durch eine, allen Bedürfnissen Rechnung tragende und darum wohnliche und behagliche Dauerkonstruktion zu ersetzen. In diesem Sinne erneuert der Anarchismus die eine Seite des Liberalismus, den Kampf gegen allen nicht schlechthin unentbehrlichen Zwang und Maßregelung, die Freiheitssehnsucht, aber nicht mehr um der Wohlfahrt willen, sondern um ihrer selbst willen. Sache der übrigen Parteien ist es, dafür zu sorgen, daß diese Bestrebungen nicht ihr berechtigtes Maß überschreiten oder gar zu törichten Experimenten führen; Sache der Vorsehung bleibt es, die Jllusion des Freiheitsprinzips ebenso wie die des Glückseligkeitsprinzips als Vorspann für den Kulturprozeß teleologisch zu verwerten.

So stellen sich uns Sozialdemokratie und Anarchismus als die beiden Spaltungsprodukte des Liberalismus dar, die sich bei seiner Auflösung notwendig entwickeln mußten. Daß die Sozialdemokratie sich um ein Menschalter früher herausschälte, ist darin begründet, daß sie das Ziel des Liberalismus festhält und nur sein Mittel verwirft, und daß sich erst die Unerreichbarkeit des Ziels auch auf einem anderen Weg herausgestellt haben muß, bevor man dazu kommen kann, das Ziel ganz preiszugeben und das von der Sozialdemokratie verworfene Mittel des Liberalismus als Selbstzweck hinzustellen. Sozialdemokratie und Anarchismus sind gleich utopistisch und in positiver Hinsicht gleich unfruchtbar. In negativer Hinsicht aber durch eine Kritik der bestehenden Zustände und die Aufdeckung ihrer Schäden können sie trotzdem segensreich wirken, indem sie anderen Parteien den Anstoß geben, an die vorhandenen Übelstände die bessernde Hand zu legen.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Sozialdemokratie und Anarchismus als Abspaltungen aus dem Liberalismus in Neue Tagesfragen, Leipzig 1900
    Anmerkungen
    1) Vgl. E. von HARTMANN, Das sittliche Bewußtsein, 2. Auflage, Leipzig, Seite 315 - 318.
    2) Das sittliche Bewußtsein, Seite 486 - 495, 499 - 501.
    3) Vgl. zum Beispiel KATZENSTEINs "Kritische Bemerkungen zu BEBELs Buch "Die Frau und der Sozialismus" in "Die neue Zeit", Nr. 10, 1896/97, Seite 293 - 303.
    4) Vgl. "Das Gefängnis der Zukunft" in meinen "Gesammelten Studien und Aufsätzen", 3. Auflage, Leipzig, Seite 206 - 232
    5) Vgl. "Das sittliche Bewußtsein", 2. Auflage, Seite 501 - 509. Die genauere Kritik der Sozialdemokratie finden man in meinem Buch "Die sozialen Kernfragen", Leipzig, Seite 16 - 17, 30 - 32, 42 - 44 und öfter.