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HANS SCHMIDKUNZ
Psychologie der Suggestion

"Es gibt Fälle, in denen es einen ganz besonderen Sinn hat zu sagen, ein Ding habe uns eine Eingebung gemacht. Jener Strom, dessen Rauschen wir gehört haben, erweckt uns dadurch vielleicht einen Gedanken für ein schriftstellerisches Werk und dgl. Der rauschende Strom hat es dem Dichter mit verlockender Gewalt angetan wie ein lebendes Wesen: der Poet muß zu ihm hin, in Gedanken, wenn schon nicht körperlich, er ist vom Strom berückt und in seinem Bann. Eine Künstlers ganzes Leben schlingt sich um die Augenblicke solcher Eingebungen, gemacht von Erlebnissen mannigfacher Art. Er weiß kaum, wieviel er all dem Fremden verdankt, das sich ihm einmal aufgedrängt hat und ihn beherrscht."

"Wie die Kometen wirkt sehr vieles, z. B. aufregende Zeitereignisse; schon die kleinsten Vorfälle wirken wie einst die blutigen Himmelsruten und die Wirkungen sind an der Börse abzulesen wie Gewichtsänderungen am Waagezeiger. Unzähliges wirkt so auf die Massen: gewisse Ideen und Schlagwörter, die Macht der Phrase. Es ist, als erfüllten psychische Bakterien die Luft. Und kaum viel anders ist es, wenn heute die Reklame wirkt: sie zieht an und verführt zur Ausgabe; und - was den Charakter der Eingebung vervollständigt - manch ein Angelockter rechtfertigt sich vor sich selbst und anderen, daß er dazu alle klugen Gründe gehabt hat."

Einleitung

Wie ein Wunder erscheint uns oft, was die menschliche Seele zu leisten und zu leiden vermag. Es drängen sich ihr, wenn wir etwa zu einer Frage Stellung nehmen sollen, die verschiedensten Eindrücke auf. Alle lassen uns gleichgültig bis auf den einen, der uns nicht nur trifft, sondern fortreißt und endgültig festnimmt; vielleicht überraschend schnellt. Wer sagt, woher seine Macht kommt, und wohin in's Geheimnis seiner Seele sie geht? Wo ist der Grund, daß wir Menschen in unserer "Denkfreiheit" bezwungen sind wie ein organisches Gewebe von einer brennenden Säure? Wo ein Aufschluß über den Zauber, mit welchem ein anderer Mensch oder ein eigener Gedanke uns fesselt?

Erklären können wir's kaum, aber etwas Besseres als bloße Worte findet sich doch noch immer. Man macht sich beliebige Bilder davon, schmückt die Wirkungen, deren Anfangs- und Endglied allein uns bekannt sind, zu reichen mythologischen Gestalten aus. Dann werden uns diese Gestalten bald lieb, bald fürchterlich. Das ganze Reich der Zauberei liegt der Entdeckung bereit; und sollte eine solche Fülle von Anschauungen des Volkes rundweg Erfindung sein, da doch die menschliche Phantasie so wenig aus sich selbst hat? Die Sagen erzählen von gewissen Menschen, die auf andere einen merkwürdigen Einfluß, einen Zauberbann ausüben können; erzählen vom bösen Blick und Ähnlichem; und in anderer Weise erzählt es die Weltgeschichte von ihren großen Männern. Sie waren Seelenführen, Psychagogen.

Vielleicht ist es auch ein solcher Zauber, wenn wir oft genug erfahren, wie schwere Verbrechen trotz einer sonst vollkommenen sittlichen Unbescholtenheit des Täters geschehen. Daß dies gerade bei Mördern vielleicht häufiger als sonst festzustellen ist, mag unsere Verwunderung noch steigern. Auch die Dichtkunst führt uns Derartiges vor. Man verfolge in DOSTOJEVSKIs "Verbrechen und Strafe" ("Raskolnikow"), wie gesund die sittliche Verfassung des Helden geblieben ist, trotzdem er einen Mord begangen hat. Selbst im gewöhnlichen Leben staunen wir über Ähnliches; "wie kommt dieser Mensch dazu?" fragen wir, wenn ein Bekannter einen Streich ausführt, der für uns ganz aus seinem Charakter herausfällt. Oder wir fühlen uns als freie Seelen; und doch zwingt uns manchmal etwas im tiefsten Innern wie eine fremde Gewalt. Das sind die  Stellen der Torheit,  oder die  Stellen der Schwäche,  wie sie allen, auch den tüchtigsten Menschen beschieden scheinen. Ja noch mehr: wie kommt es, daß wir oft Verschiedenstes zugleich tun, etwas lesen oder schreiben und dabei anderes denken und dgl., als bewohnten zwei Seele unsere Brust? Auch Derartiges erzeugt leicht den Eindruck der Zauberei, des Spieles eines Dämons in uns.

Unglaubliches wird glaublich. Das Dasein von Antipoden wollte einst kaum jemand zugestehen, öffentliche Sammlungen warfen ihre Meteorsteine weg, um sich nicht durch deren Anerkennung bloßzustellen, und an die moderne Post und Eisenbahn glaubten noch vor zwei Menschenaltern die Wenigsten. Als vor zehn Jahren der Däne HANSEN mit seinen öffentlichen Vorstellungen auftrat, wurde er als Schwindler verlacht. Doch es dauerte nicht lange, da war, was er gezeigt hatte, als tatsächlich anerkannt und in die Wissenschaft aufgenommen. Der moderne Hypnotismus blühte auch in Deutschland auf, nachdem Frankreich durch LIÉBEAULTs Entdeckerblick schon lange vorangegangen war. Nun kam es wie so oft; als der Bann gebrochen war, wies man darauf hin, daß man all das schon gewußt, daß bereits der englische Arzt BRAID 40 Jahre früher den Hypnotismus erklärt, und daß er eigentlich seit je bekannt gewesen ist. Wer kann da sagen, was uns die Zukunft der Wissenschaft noch bringen wird, welcher "Aberglaube" noch zu einem Glauben werden wird?

Doch selbst mit dem Hypnotismus sind wir noch nicht weit genug. Er ist in die medizinischen Wissenschaften und in's Feuilleton eingedrungen, aber fast noch gar nicht in die Philosophie. Und doch gehört er zunächst dahin, vor allem in die Psychologie. Was etwa die Lehre vom *Magnetismus für die Physik ist, das wird bald für die Psychologie der Suggestionismus, die Lehre von der *Suggestion, sein. "Für die Psychologie bedeutet sie geradezu eine Revolution" (*BERNHEIM). Aber gerade Philosophen erkannten dies am wenigsten, wie die Regierenden das Nahen der Revolutionen meist zu spät erkennen. Auch sonst ist es von der Kenntnis der fraglichen Tatsachen bis zu einem zusammenfassenden Verständnis noch weit.

Darum soll hier versucht werden, die wichtigsten dieser Erscheinungen vom Boden der Philosophie aus zusammenfassend darzustellen. "Es handelt sich darum, uralte Erfahrungen und Tatsachen mit der modernen Wissenschaft zu konfrontieren und sie mit geläuterter Erkenntnis unserem Wissensschatz einzuverleiben" (*GERSTER). Zuerst Beschreibung, dann Erklärung! Die ursächlichen Zusammenhänge sollen mittels dessen aufgedeckt werden, was  psychologische Analyse  heißt; so weit möglich; und bei dem heute noch so jungen Stand einer wissenschaftlichen Psychologie ist dies nicht viel. Bloße Analogien werden nur zu oft die wirkliche Begründung ersetzen müssen. Vielleicht kommt sie nicht über das Klassifizieren hinaus. Aber wie viele Erklärungen leisten denn mehr? NEWTONs bekannte Zusammenfassung der Anziehung der Planeten durch die Sonne und des Fallens eines Apfels zur Erde unter den Begriff der Gravitation erklärte viel und war doch nur eine Klassifikation!

Zum größeren Teil kann hier auch nichts Neues geboten werden. Seit so trefflichen Werken, wie es von FERDINAND MAACK die kleine "Einführung in das Studium des Hypnotismus und tierischen Magnetismus" (1888) und von BERNHEIM das große Suggestionswerk sind, hat sich das psychologische Verständnis dieser Dinge immer mehr vergrößert. Von beiden Schriften läßt sich sagen, was der Übersetzer der letzteren äußert: "Im Nachweis der Beziehungen, welche die hypnotischen Erscheinungen mit gewöhnlichen Vorgängen des Wachens und des Schlafes verbinden, in der Aufdeckung der für beiderlei Erscheinungsreihen gültigen psychologischen Gesetze scheint mir der Hauptwert dieses Buches gelegen zu sein."

Auf diesen Nachweisen vornehmlich ruht alles Folgende. Es zerfällt in vier Teile, wovon die ersten zwei vorwiegend der Beschreibung, die zwei letzten zunächst der Erklärung, dann den Anwendungen gehören (deskriptive und genetische Hälfte).

Der erste Teil gibt einen Überblick über die Suggestion in ihren verschiedenen Formen innerhalb mehr oder minder gewöhnlicher Verhältnisse und über die dafür günstigen Bedingungen. Er soll zumeist nur eine Berufung an alltägliche Kenntnisse sein, die jedoch viel des Geheimnisvollen einschließen, und soll mit der Frage, ob nicht diese mannigfachen Merkwürdigkeiten auf einfache Versuche zurückzuführen sind, den zweiten Teil vorbereiten.

Dieser wird zuerst in Kürze ein möglichst typisches Bild derjenigen Zustände geben, welche Hypnosen heißen, und dann ohne den Anspruch einer Bereicherung der hypnotischen Erfahrungen doch diejenigen Seiten der Sache in einer neuen Weise betonen, welche unsere psychologischen Zwecke fördern. Hier beginnt zugleich eine Anbahnung der erklärenden Hälfte durch den Versuch, die beschriebenen hypnotischen Erscheinungen als Steigerungen des alltäglichen Geschehens, als Glieder eines größeren Ganzen zu begründen.

Der dritte Teil ist als der wichtigste gedacht. Er wird sich bemüen, die hypnotischen wie die wachen, die ausgesprochendsten wie die verstecktesten Suggestionen durch Zerlegung in ihre gemeinsamen psychischen Elemente und durch eine Darstellung der sonstigen Wirksamkeit dieser Elemente zu erklären.

Der vierte, letzte Teil gilt der Ausbreitung des nun gezogenen Stammes in seine Äste und Zweige. Die Frage, welche Folgen den gegebenen Tatsachen und Erklärungen entspringen, führt zu den Anwendungen nicht nur des Hypnotismus, sondern auch des sonstigen Suggestionismus auf die verschiedenen Gebiete der Heilkunde, *Rechtspflege, der *geschichtlichen Wissenschaften*, der *Kunst, der *Religion, der *Erziehung. Dazu tritt der Versuch, das Gewonnene für weitere Strecken der Philosophie fruchtbar zu machen und insbesonders einerseits eine monistische Seelenlehre, wie sie bereits *ARISTOTELES und THOMAS von AQUIN erschauten, empirisch zu begründen, manche der uns so fragend anblickenden mystischen Rätsel andererseits von Hypnotismus und Suggestion nicht nur abzusondern, sondern auch beleuchten zu lassen.

Der Verfasser bezweckt hier eine streng wissenschaftliche Arbeit, fühlt sich aber zu einer allgen Gebildeten verständlichen Darstellung verpflichtet. Um für dieselbe auch die äußere Abrundung vollkommener zu machen, wurden die Buchnachweise und dgl., als Anmerkungen und ohne Hinweise im Text, am Schluß des Ganzen zusammengestellt.

Und nun stehen wir vor der Aufgabe, etwas zuerst abzugrenzen und dann zu erklären, was beider Bemühungen spottet. Was von seelischen Wirkungen Suggestion, irgendwelcher Art, ist und was nicht, diese nächste Frage war dem Verfasser auch eine der peinlichsten; vielleicht wird sie noch lang unter der Dunkelheit der Grenzen zwischen diesen Gebieten leiden. Es ist aber auch ein Unrecht, das, was in Wirklichkeit stetig ineinander übergeht, in der Darstellung in harte Rubriken zu zwängen, soweit nicht die Beschaffenheit unseres Geistes und unserer Sprache solche Abgrenzungen gleichsam als Hilfslinien unbedingt braucht.

Wer dies mißachtet, wird auch das mißverstehen, was eine notwendige Folge dieser Einsicht ist. Er wird vielleicht in diesem Werk eine sonst übliche Strenge der Methode vermissen und besonders über das Schwanken der Einteilungen und Definitionen klagen. Der Verfasser ist sich dieser Abweichungen wohl bewußt. Ihm sind nicht etwa die Trauben zu sauer, vielmehr glaubt er, daß er jene Anforderungen schon erfüllen könnte, wenn er sie auch nur für berechtigt oder gar für nötig hielte. Allein seiner Überzeugung nach würde dadurch den Tatsachen leicht Gewalt angetan. Ihretwegen ist die wissenschaftliche Ausstattung da, nicht sie wegen dieser. Wenn die Wissenschaft ein möglichst richtiges, doch vielleicht unbequemes Bild der Tatsachen und ihrer kausalen Beziehungen geben soll, so will der Verfasser den Namen eines wissenschaftlichen Naturalisten gerne hören. Und wenn jenes Bild die Wirklichkeit nach einem Schein darstellen darf, mit welchem sie sich der menschlichen Auffassung notwendigerweise zeigt, dann ist auch die Bezeichnung eines wissenschaftlichen Impressionisten berechtigt und ein Lob.

Im weiteren Verlauf des Werkes, im zweiten und namentlich im vierten Teil, wird es auffallen, daß der Verfasser über Wissensgebiete spricht, auf denen er nur Laie ist. Indessen geht nun gerade einmal an den Philosophen die ewige Anforderung, daß er alles wissen soll. Seine Probleme gehen nun schon so weit, und er muß sich eben, so gut als möglich, heute mit der Medizin, morgen mit der Jurisprudenz, dann mit Sprachwissenschaft, Geschichte usw. abfinden. Möge seine Unterstützung dieser Fächer für seine Irrtümer um Nachsicht bitten!

Vielleicht erscheint es anspruchsvoll, ein Werk über eine besondere psychische Phänomengruppe sofort "Psychologie" derselben zu nennen. Allein man denke an Bildungen wie "Logik der Wahrscheinlichkeit" und berücksichtige, daß der Verfasser durch eine Erörterung der Suggestion die bisherige Psychologie ergänzen will, ohne freilich nunmehr die ganze Psychologie auf die Suggestion etwa ebenso zu bauen, wie sie von manchen Seiten auf die Assoziation gegründet worden ist.

Manch Einer endlich mag sagen: Wenn die Ausführungen dieses Buches auch den Eindruck des Richtigen machen, durch Überredung, so sind sie darum doch nicht wahrhaft richtig. Ein solcher bezeichnet damit eine Wirkung, nämlich die des Glaubenmachens, welche zu den typischen Fällen der hier untersuchten Suggestion gehört. er bestätigt also in willkommener Weise durch seinen Angriff das Angegriffene.


Erster Teil
Beschreibung der Suggestion

Erster Abschnitt
Die Objektsuggestion

a) Im weitesten Sinn

Die Gegenstände unserer Außenwelt können auf uns in verschiedener Weise einwirken. Ein Stoß wirft uns um; die Schwere, wenn am Ufer eines Stromes die Böschung nachgibt, zieht uns vielleicht hinab. Das sind Wirkungen auf unseren Körper.

Außerdem gibt es solche auf das, was wir unsere Seele nennen. Das Rauschen des Stromes, wenn ich es höre, weckt in mir eine Gehörsempfindung, zusammengesetzt aus so und so vielen Geräuschen, oder es weist mir den Weg und erinnert mich, daß ich ablenken muß. An meinem Rock ist in Knopf lose, er gibt mir eine gewisse Gesichtsempfindung, zusammengesetzt aus den und den Eindrücken. Oder er erinnert mich daran, daß ich ihn befestigen muß, sonst fällt er ab. Das Licht hat auf lebende Wesen einen verschiedenen Einfluß: es löst Gesichtsempfindungen aus, wohl auch Empfindungen von Wärme und dgl. Ein Unwetter weckt in uns die und die Empfindungen, dann Erinnerungen, etwa daß wir uns gewisse Wahrnehmungen - von der und der Sache; Urteile des Wertes oder Unwertes, besonders beim Kritiker, Verleger, Regisseur usw.; angenehme oder unangenehme Gefühle beim Publikum.

In allen diesen Fällen hat uns irgendein Ding zu etwas in unserer Seele veranlaßt: zu Vorstellungen, Urteilen usw. Wenn wir sagen wollen, daß diese Wirkungen in unsere Seele hineingelegt wurden, so wird es nicht gerade falsch sein; wir können in einem gewissen allgemeinen Sinn von Eingebungen sprechen, welche uns durch diese oder jene Dinge erzeugt werden.


b) Im engeren Sinn

Allein es gibt Fälle, in denen es einen ganz besonderen Sinn hat zu sagen, ein Ding habe uns eine Eingebung gemacht. Jener Strom, dessen Rauschen wir gehört haben, erweckt uns dadurch vielleicht einen Gedanken für ein schriftstellerisches Werk und dgl. Der rauschende Strom hat es dem Dichter mit verlockender Gewalt angetan wie ein lebendes Wesen: der Poet muß zu ihm hin, in Gedanken, wenn schon nicht körperlich, er ist vom Strom berückt und in seinem Bann. Eine Künstlers ganzes Leben schlingt sich um die Augenblicke solcher Eingebungen, gemacht von Erlebnissen mannigfacher Art. Er weiß kaum, wieviel er all dem Fremden verdankt, das sich ihm einmal aufgedrängt hat und ihn beherrscht.

Abernicht nur der Künstler ist im Bann solcher berückende Gewalten, sondern wie überhaupt die Wege vom Kunstwerk zur genießenden Seele Ähnlichkeiten zeigen mit denen von der Seele des Künstlers zu seiner Schöpfung, so verfällt auch der Hörer wieder ähnlichen Verlockungen der Kunst. Die alten Sagen von OBERONs Horn, das alles, was seiner Eingebung fähig ist, zum Tanz verlockt, wiederholen sich mannigfach.

Das nun, was uns ein Ding "eingibt", sind nicht nur Berückungen von dieser romantischen Art. Ein Gegenstand kann uns z. B. durch irgendeinen Ärger verwirren, daß wir vieles nicht bemerken, was sonst gesunden Sinnen zugänglich ist, als hätte uns ein geistiges Wesen mit Blindheit geschlagen. Auch in diesem Fall hat uns der Gegenstand mit seinen Eingebungen berückt, so kleinlich er vielleicht war. Noch mehr: wie oft mutet uns ein Ding an gleich einem beseelten Wesen, und uns ist, als spräche es zu uns, als gäbe es uns einen Befehl!

Wie etwas Ärger oder Verwirrung in uns einpflanzt, so kann es uns auch irgendwelche Unbehaglichkeiten bringen. Seelische Eindrücke sind manchmal imstande, von einem Schmerz zu befreien. "Die Erzählung, daß eine von den heftigsten Zahnschmerzen geplagte berühmte Schauspielerin in dem Moment, als sie die Bühne betrat, keinen Schmerz mehr verspürte und bis zu ihrem Abgang von der Szene schmerzfrei blieb, verdient allen Glauben, auch wenn sie nicht so sicher verbürgt wäre" (ROSENBACH). Starke Eindrücke bewirken noch weit mehr. Namentlich erste Eindrücke können uns oft wie Ahnungen ergreifen. Fast alle Beschäftigung mit etwas Neuem, Ungewohntem wirkt in überraschenden Energien auf uns ein. "Neue Besen kehren gut", und was dieser übertragenen Weistümer mehr sind. Überhaupt sind derartige Einwirkungen sehr von der Zeit abhängig. Ein besonders deutliches Beispiel findet sich bei LOMBROSO: "Die Urteile fallen immer desto härter aus, je mehr die Richter noch unter dem frischen Eindruck eines Verbrechens stehen, je kürzer die Zeit ist, da es begangen wurde."

Ein entscheidendes Merkmal solcher Eindrücke stellt sich hier ganz besonders an's Licht: nämlich der Gegensatz gegen Beeinflussungen auf dem Weg über das Urteilsvermögen. Doch greifen sie auch dieses an. So sieht man zumal den Gegenstand, mit welchem sich jemand vorzugsweise beschäftigt, berückend wirken. Der Biograph überschätzt seinen Helden weniger aus besserer Erkenntnis als aus Eingebung, und die Erkenntnis muß der Überschätzung dienen. Der heutige Arzt sieht "Alles" materialistisch, der Psychiater krankhaft, der Dramatiker dramatisch.

Wenn ein Mächtiger und Herrschender leicht dazu kommt, seine Macht und Herrschaft möglichst überall zur Geltung zu bringen, so sind die Folgen dieser Einseitigkeit begreiflich. "Der Besitz der Vorrechte und der Macht scheint zu allen Zeiten den unstetigsten Einfluß auf die geistige und sittliche Gesundheit der damit Belehnten gehabt zu haben" (CULLERE). Indem sich darin der Verfall von Adels- und Fürstenfamilien ausprägt, liegt auch die Anwendung nicht weit: ich meine die Gefahren einer jeden -kratie.

Daneben stehen aber auch wieder fördernde und hebende Einwirkungen. Nehmen wir irgendeinen Gegenstand der Beschäftigung: z. B. einen Vorwurf für wissenschaftliche Untersuchung, eine Landschaft für den Maler und dgl. Das eine Mal sei der Gegenstand aus vielen anderen durch eine gleichgültige Wahl herausgerissen, etwa auf Bestellung, das andere Mal mit Liebe erfaßt. Dann ist seine Einwirkung auf den Arbeitenden tief geändert; sie ist von einer Macht und Bannkraft wie sonst nie.

Nicht nur Liebe, sondern auch jede andere Anregung fördert den Angeregten vielfach. Es heißt, daß man auf Reisen, besonders angenehmen, selten schwer krank wird. Ebenso halten größere Pflichten und Arbeiten von der Erschlaffung ab, selbst vom Tod; tapferes Ausschreiten hemmt die Müdigkeit. Ein einziger Erfolg,  eine  Ermutigung stärkt uns zu vielem weiteren. Aber  ein  Mißerfolg,  eine  Entmutigung kann uns wieder auf lange Zeit lähmen, kann uns vom angefaßten Gegenstand zurückstoßen wie eine Widrigkeit dieses Gegenstandes selbst.

Solcher Abstoßungen gibt es noch viele andere. DOSTOJEVSKIs RASKOLNIKOW vermag nicht in den geraubten Beutel zu blicken. Oder wenn uns in einem Kunstwerk etwas sehr stört, so verhindert und das leicht, das Kunstwerk sonst zu beachten oder gar zu würdigen. Wir werden "blind" dagegen. Wie bald ist irgendeine Kunstrichtung dieser psychologischen Erscheinung verfallen! Ein Stückchen Inhalt aoder mehrere empören z. B. des Lesers Sittlichkeitsgefühl, und die ganze Schöpfung verfällt der Empörung. Daß gleicherweise auch besondere Schönheiten des Werkes blind gegen seine Mängel machen können, ist bald zu glauben.

Wenn der früher erwähnte lose Knopf an meinem Rock mir Gesichtseindrücke und Erinnerungen wecken kann, so vermag er auch noch mehr. Zum Beispiel zupfe ich an ihm und muß es immer tun, - und vom Schorf einer Wunde, die ich habe, kann meist ebensowenig ab - immer wieder muß ich wieder mit den Fingern hin und daran zerren und reiben. Beim Lesen älterer Bücher, deren Papier von Erhöhungen durchsetzt ist, findet man sich leicht gezwungen, dieselben abzukraten. Ebenso gibt uns das Licht zunächst nur Sinneseindrücke; allein von der Gartenlampe aus wie vom Leuchtturm lockt es Insekten und Vögel in Massen unwiderstehlich an und in den Tod.

Wir hatten früher von gewöhnlichen Empfindungen gesprochen, die ein Unwetter in uns wecken kann. Schon etwas anderes scheint es, wenn das Geweckte nichts Alltägliches, sondern eine alte Vergangenheit ist, die nun neu heraufbeschworen wird; und vielleicht knüpft sich der wunderlichste Gedankenkreis daran, alles vom Wetter eingegeben. Aber während es dem Einen sich einfach meldet, sich etwa recht unangenehm macht, ladet es den Andern zu sich ein, berückt ihn mit magischer Gewalt, daß er am liebsten, wenn's am meisten tobt, hinaus und dem Wetter nach muß, wie der Held in JONAS LIEs Roman "Der Hellseher".

"Einladend" nennen wir viele Gegenstände, auch wenn es sich nicht gerade um die magischsten Gewalten handelt. Aber wie leicht ist man auch wieder im Bereich solcher! "Es ist bekannt, daß ein Mensch, der sich in einer unbekannten Stadtgegend, besonders in der Nacht, verirrt hat, durchaus nicht geraden Wegs vor sich hingehen kann. Eine unbekannte Gewalt zieht ihn alle Augenblicke an die Ecken aller Straßen und Gäßchen, an denen er vorbeikommt."

Diese geheimnisvollen Ortsgewalten wiederholen sich vielfach. Für den Verliebten haben die Orte, berührt vom Gegenstand seiner Liebe, eine magische Anziehungskraft; es ist, als verbreiteten sie ihm einen besonderen Glanz. In merkwürdigster Weise bannt den Verbrecher die Stätte siner Tat. EDGAR ALLEN POE verwertet dies bei vielen Gelegenheiten. DOSTOJEVSKI zeigt seinen Helden vielfach unter diesem Bann. RASKOLNIKOW fällt dem Gedanken, zwei Frauen zu töten, zum Opfer. Nun zeiht nicht nur der Tatort den Mörder ganz unheimlich an sich, sondern mehrmals auch die Stelle, wo der Raub verborgen gewesen war. Solches ist aber nicht erdichtet. Die Anziehungskraft des Tatortes für den Mörder kennen alle Praktiker so gut, daß die Stelle des Mordes oft so lange von Detektiven bewacht wird, bis der Schuldige diesem Netz wie einem Licht zugeflogen ist. LOMBROSOs "Verbrecher" zeigt es genauer. Verbrecher lassen sich sogar gern in der Stellung der Tat photographieren, oder sie sind gezwungen, Schriftliches über sie aufzuzeichnen.

In einer ähnlichen Weise sind Ort und besondere Ausführung des Selbstmordes von weitreichender Anziehungskraft. Ist irgendwo ein Selbstmord unter merkwürdigen Umständen geschehen, so kommt es oft dazu, daß derselbe Ort bald einen Selbstmörder nach dem anderen, alle in derselben Mordart, aufnehmen wird, wie der Erdboden an einem Leuchtturm die zur Flamme gelockten und am harten Glas zu Tode geschmetterten Vögel.


c) Im engsten Sinne

Dieser letze Fall nun unterschied sich einigermaßen von allen früheren. Zuerst kam das Hervorrufen irgendeines Phänomens durch ein anderes, davon verschiedenes, z. B. einer Bewegung durch den Anblick irgendeines anderen Ereignisses. Jetzt aber wurde ein Phänomen erzeugt durch ein anderes von  gleichem Inhalt,  z. B. ein Selbstmord besonderer Art durch das Wissen von einem oder mehreren Selbstmorden gleicher Art. Dort war ein neuer Inhalt geschaffen, hier ein bereits vorhandener zu neuer Ausführung geweckt worden. Und wenn wir schon dort den Begriff und Ausdruck der Eingebung anwenden konnten, so wird er hier umso passender sein, als es etwas Fertiges ist, was eingepflanzt, nicht etwas Neues, was ausgelöst werden soll.

Verfolgen wir die seelischen Erlebnisse eines Wanderers, so finden wir, daß ihm dies und jenes auf seinem Weg Eindrücke erzeugt, ihm Vorstellungsbilder gibt, ihn zu Urteilen, Gefühlen, Begehrungen veranlaßt. Kaum ist etwas darunter psychologisch auffällig.

Nun gerät er aber in eine abgelegene wildromantische Gegend und findet dort ein altes Steinrelief, welches darstellt, wie ein Ritter einen Drachen erschlägt und so das Land befreit. Der Anblick eines Bildes, zusammen mit der ganzen Situation, ergreift den Wanderer so mächtig, daß er sich mit voller Seele hineinlebt. War ihm ein solcher Anblick sonst nur etwa Anlaß zu spotten oder zu kritisieren oder sich in archäologischen Bestimmungen zu üben, so bewirkt er jetzt etwas ganz anderes. Die Anschauung, welche der Wanderer von jenem Denkmal erhält, führt dazu, daß er den Inhalt derselben in sich "lebendig" werden läßt, ihn so in seinem Innern trägt, als handle es sich nicht um künstlerischen Schein, sondern um historische Wirklichkeit. Ja selbst bis zum mehr oder minder ausdrücklichen Glauben kann die anfängliche bloße Vorstellung angeschwollen sein: der Wanderer nimmt nun, unter zeitweiligem Verzicht auf ein kritisches Urteil, wirklich an, daß es sich mit der Sache so verhalte, wie der redende Stein will. Die bildliche Anschauung hat eine Wirklichkeit hervorgerufen, wie sie sonst nur das Ergebnis anderer Faktoren sein könnte.

Gesetzt aber den weiteren Fall, daß der Wanderer dichterisch veranlagt ist, so wird jener in ihm "lebendig" und in gewissem Sinn eine Wirklichkeit gewordene Inhalt zu noch mehr anwachsen. Er wurzelt sich ein wie eine Pflanze, wächst und drängt und sprengt seine Hülle - ich meine die Grenzen des bloßen Annehmens oder Glaubens - und wird zum Gedicht: den Poeten hat das ursprüngliche Anschauungsbild schließlich gezwungen, ihm einen neuen künstlerischen Ausdruck zu geben, aus ihm ein dichterisches Werk zu gestalten, ein Epos vom Ritter und dem Drachen. Abermals ist eine neue Wirklichkeit entstanden.

Versetzen wir uns in einen anderen Fall. Jemand liest einen Roman, z. B. den eines Mörders, der sein Geheimnis wahren will. Der Leser gelangt zu der Stelle, wo der schuldbewußte Held seinen Hausgenossen ausweicht. In diese Situation denkt er sich so treu hinein, daß er nachher sich selbst dabei ertappt, wie er auf der Treppe seinen Hausgenossen ausweichen muß. Er liest ferner, wie die Mutter des Helden kommt, um denselben zu besuchen, und fühlt sich gedrängt, selbst ins Nebenzimmer zu gehen und seine Mutter zu empfangen.

Andere lesen medizinische Werke über Krankheiten, und dieses Lesebild wächst sich dazu aus, daß der Glaube, eine dieser Krankheiten selbst zu haben, oder sogar die Krankheit selber ensteht wirklich.

Verschaffen wir uns noch einen Überblick über die hier zu betrachtenden Typen!

Ein Kunstwerk konnte uns mehrfach mit seinen Eingebungen verlocken: an sich ziehen, oder zum Tanz zwingen, oder gegen seine Fehler ode Vorzüge blind machen. Das waren Wirkungen, die nicht schon als solche oder wenigstens als gleicher Inhalt im Kunstwerk lagen. Nun setzen wir aber den Fall - und er ist nur zu naturwahr -, daß jemand in einem Roman liest, wie arme Leute nach Amerika auswanderten und dort reich wurden. Jetzt ist er dem eingegebenen Gedanken verfallen und führt ihn an sich selbst aus, wiegt sich in der Vorstellung, er wäre in Amerika, "spielt Amerika", kauft sich einen Pflanzerhut und dgl. Aber endlich wirken diese Phänomene so quälend, daß sie aus der inneren Welt in die äußere übertragen werden, und daß die Reise angetreten werden muß. So hat das Lesen auf uns gewirkt wie eine Verlockung, Berückung, Verführung durch ein lebendes Wesen, einen Dämon in uns oder im betreffenden Ding; vielleicht erscheint mir im Traum das personifizierte Amerika und ruft mich zu sich.

Mit solchen Einwirkungen haben wir unsere frühere Reihe von Eindrücken seitens eines Objektes bis Beispielen fortgeführt, welche die Eigentümlichkeiten der früheren Fälle in einer gesteigerten Weise darbieten: als das Erzeugen einer Wirkung in unserer Seele durch die Einführung ihres Bildes in dieselbe. Dafür ist der Terminus "Eingebung" am angemessensten. Indem uns hier jenes Gedankenbild, das nun wie ein Ei ausgebrütet wird, gleichsam untergeschoben wurde, ist auch ein Wort, das von diesem "Unterschieben" ausgeht und es mit umfaßt, angezeigt. Dieses Wort aber ist "Suggestion", und wir werden es noch eingehender kennenlernen.

Bisher hatten wir die "Objektsuggestion" und zwar in dreifacher Stufenfolge der Strenge des Begriffs, gleichsam in drei konzentrischen Kreisen, vorgeführt: erst die Eingebung in jenem weitesten, uneigentlichsten Sinn, wo es sich nur überhaupt um die Erzeugung eines seelischen Phänomens durch ein Ding handelt; dann in einem engeren Sinn, der nur zusammengehalten war durch den Eindruck, den diese Fälle Anderen als eigentümliche Verlockungen machten (subjektive Abgrenzung); und endlich im engsten Sinn der Wirkung vom Bild zur Wirklichkeit (objektive Abgrenzung).

Der Unterschied zwischen dem zweiten und dritten Kreis lag darin, daß nur der letztere eine Eingebung der Wirkung durch Einführung ihres Bildes kennt. Aber zugleich zeigt sich, wie schwankend dieser Unterschied ist. Der Umstand, daß die fragliche Wirkung, vor ihrer Existenz, in einer Vorstellung vorgebildet sein soll, läßt verschiedene Möglichkeiten offen, wann, wo und wie dieses Vorbild eintritt. Entweder lag es schon im Objekt, so wenn wir einen Auswandererroman lesen. Oder es kam erst in unserem Inneren zustande. Hier kann es aber alle Stufen der Deutlichkeit oder Stärke durchlaufen; wer vermag ihm bei zauberisch schnellen Wirkungen nachzuspüren, bis zu dem Fall, wo es überhaupt nicht da war, wo wie die Beispiele des zweiten der drei konzentrischen Kreise beginnen? Geschah die Zusammenfassung dieses Kreises zu einer Einheit rein impressionistisch, so zwingt uns zum Zugeständnis des Ineinanderfließens beider Kreise das, was wir naturalistische Methode nennen möchten.

Einen besonders deutlichen Beleg für diese Undeutlichkeit der vorliegenden Materie - genauer: für ein Zusammenwirken von  a)  und  c)  - bietet das Schwindelgefühl, welches man beim Anblick in eine große Tiefe hat: auf einem Turm, über einem Abgrund und dgl. Mag man noch so gesichert stehen, sich noch so fest halten: der Blick nach unten zieht den nicht Eingewöhnten mit magischer Gewalt hinunter. Auch wenn man, ohne hinabzublicken, das Fernrohr zur Hand nimmt, kann einen ein Gefühl des Schwankens erfassen. Selbst nachher, zuhause auf einem sicheren Stuhl sitzend, fühlt man sich vielleicht noch immer gezogen und muß sich ängstlich bewegen und halten. Auch hier liegt die Anschauung nahe, daß das Objekt eine befehlende Gewalt besitze gleich einem lebenden Wesen. So stellte der Maler LEOPOLD BODE, den "Schwindel" dar: ein dämonisches Weib, das den Jäger von einem hohen Felsen herabzureissen versucht. So zieht das "feuchte Weib" den Fischer GOETHEs zu sich. Und ähnlich ist es wohl Manchem, dem das Brausen eines Stromes tief in die Seele greift, den es gleich der niederschmetternden Stimme eines befehlenden Menschen zu sich ruft.

Wenn wir einen Seiltänzer oder Clown ein halsbrechereisches Kunststück ausführen sehen und beängstigt nach unserem Nachbarn fassen, um uns zu halten, dann gibt uns das Gesehene den Gedanken des Ausgleitens, Fallens, und dieser Gedanke wieder die Schutzbewegung ein. Vielleicht geschah sie ohne ein solches Bild; doch wahrscheinlich mit ihm.

Gewisser wird dieses Verhältnis im folgenden Fall, den die Wissenschaft dem Entdeckergeist FRANZ BRENTANOs verdankt. Wenn wir auf das Rohrgeflecht eines Stuhles oder auf ein Teppichmuster ein Stückchen dunkelschwarzen Samt legen und uns nun mit diesem ganzen Objekt in eine dämmerige Dunkelheit begeben, wo doch das Muster des Grundes noch genug sichtbar ist, so fängt es allmählich an, durch das Schwarz durchzuscheinen, zwar nicht wirklich, aber doch in unserem inneren Sehen. Der Anblick dessen, was vor uns liegt, gab uns unter jenen günstigen Lichtverhältnissen die Vorstellung des ununterbrochenen Musters ein, und diese setzte sich in den Glauben daran bis zur Sinnestäuschung um. Hier ist zugleich eine neue Wirkungsart der Suggestion aufgetreten: die Täuschung der Sinne, die Jllusion bzw. Halluzination.

Im Allgemeinen also suggeriert uns die Gelegenheit (mit oder vielleicht auch ohne Bild davon) ihre Benützung. Die Gelegenheit ist es, welche nicht nur Diebe macht. Ihre Eingebungen (sei es in engerem oder in weiterem Sinn) sind verführerischer als andere - Dank den assoziativen und ideomotorischen Kräften, die eine spätere Erörterung bloßlegen soll. Aus RASKOLNIKOW haben sie den Mörder gemacht.
    "Wie oft bewirkt die Wahrnehmung der Mittel
    Zu böser Tat, daß man sie böslich tut!" [Shakespeare]
Dichter stellen diese Gelegenheitssuggestionen mit besonderer Vorliebe dar.

Eine solche Anziehungskraft besitzen auch eigene Taten. Die eine Untat läßt ihren Bann im Täter zurück. Wer einmal als Mörder Blut geleckt, der ist leicht diesem blutigen Bann verfallen. Aber nicht nur der Mord als socher bewährt sich als anziehende Macht, sondern überhaupt das erste Geschehen. Einmal ist eben nicht keinmal, sondern mehrmal. Wir sind um die Reinheit unseres Kleides ängstlich besorgt; aber  ein  Fleck darauf, und die ängstliche Sorge wird Lässigkeit. Im Sittlichen ist es ebenso gefährlich, und mit Recht spricht man auch hier von der schiefen Ebene. Morgenstund hat nicht bloß Gold, sondern auch den übrigen Tag im Mund.

Nicht nur Böses wirkt in der verlockenden Macht alles Ersten. Auch Indifferentes. Eine Gesellschaft ist verstimmt, doch ein ermunternder Vorfall "bricht das Eis". Das Bild des Vorfalls hat fortzeugend in die Wirklichkeit zurückgewirkt. Damit ist nun ein weites Gebiet betreten: das der Nachahmung.

Hierher gehörte schon der Antrieb zu einer Tat durch deren Kenntnis aus der Lektüre. Neben Taten werden auch einfache Seelenphänoemene durch solche Bilder erzeugt; man liest von Mut und fühlt sich mutiger, von Arbeitsamkeit und fühlt sich zur Arbeit getrieben, vom Leben der Bohéme und fühlt sich schon selbst als Bohémien. Durch das Gehör wirken diese Darstellungen - poetische, feurig deklamiert - noch lebhafter. Was die Dichtung schildert, das kann sie auch selbst. Seit TYRTAEUS und AESCHYLUS hat manche Poesie zu Taten entflammt oder von Schlimmem abgehalten oder auch eine böse Verführung gestiftet; so sehen wir es immer wieder, massenweise, an den Schund- und Schauerromanen.

Wahrnehmungen lösen noch viel anderes aus als die Realisierung oder Wiederholung des Wahrgenommenen. Wir wissen - u. a. durch LESSING -, daß die Gebärden des Schauspielers, welche einen Affekt darstellen, im Spielenden diesen Affekt selbst erzeugen können. Die Ausdrucksform erzeugte das Bild der hier eigentlich vorauszusetzenden Situation, und das Bild als Ganzes ergänzte nun auch die vorliegende Wirklichkeit.

Eine ganze Reihe ähnlicher Wirkungen schließen sich hier an. Der "Biss in die Zitrone" macht denen, die ihn sehen, das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Anblick von Wasser, besonders von rinnendem, und auch das Trinken von Wasser erzeugt leicht einen augenblicklichen Harndrang usw. Es sind die von BERNHEIM so genannten  "sensoriellen Suggestionen". 

Wir sahen, daß Wahrnehmungen irgendwelcher Erscheingungen am eigenen Körper oder anderswo nach einer Ergänzung der Wirklichkeit im Sinne des erzeugten Bildes drängten. Wenn nun jene Erscheinungen nicht in die Wahrnehmung fallen, sondern etwa - je nachdem die Klassifikation und Terminologie eines Psychologen eben ist - nur Empfindungen erzeugen, bewußte oder unbewußte, also überhaupt nur in der primitivsten Weise auf die Seele wirken: kann ihnen auch dann jener Erfolg werden?

Ich hatte einst schreibend ein irriges Klammerzeichen gemacht und erkannte als Ursache davon dies, daß eine Zeile oberhalb ein anderes Klammerzeichen stand, dessen bild sich mir mit der Wirksamkeit einer Suggestion aufgedrängt hatte. Erfahrene Zecher wissen, daß, wenn jemand eine Betrunkenheit simuliert, er meistens wirklich ein wenig betrunken ist. Also hat in diesem Fall der körperliche Zustand in irgendeiner verborgenen Tiefe der Seele den Drang nach Ergänzung erzeugt: es entstand das Bild einer stärkeren Betrunkenheit, und dasselbe macht sich in der Wirklichkeit geltend.

Diese Erfahrung steht nicht vereinzelt. "Man darf den alten Glaubenssatz der Psychiater nicht vergessen, daß Simulation ungleich seltener ist als man glaubt, und daß von den zur Beurteilung gelangenden Fällen viele ausgeschieden werden müssen, in denen der Simulant doch psychisch gestört ist. Der simulierte Zustand ist zwar nicht vorhanden, aber dahinter lauert eine tiefe Erkrankung, die gewissermaßen dissimuliert [heruntergespielt - wp] wird" (F. C. MÜLLER). Viel Ähnliches anderswo. Eine Zeit und ein Mensch, in denen einige Dekadenz vorhanden ist, werden leicht die Dekadenz zu ihrem Banner machen, werden Verfall spielen. So unsere Zeit, "fin de siecle" [Ende des Jahrhunderts - wp].

Ebenso gibt uns eine Schwierigkeit, die überwunden werden soll, den Gedanken der Unmöglichkeit dieser Überwindung und damit diese Unmöglichkeit selbst ein. Wir wollen ein Musikstück spielen, eine Stelle geht nicht glatt ab, sie ist nicht gerade schwer, und wir spielen auch Schwereres - aber mit aller Bemühung bringen wir gerade sie nicht richtig heraus, vermögen z. B. eine Pause nie lang genug auszuhalten; die Stelle ist uns wie verhext.

Nun gehört allerdings etwas Besonderes dazu, um sich davon beeinflussen zu lassen. Der Gegenstand tut es nicht allein. Gar groß wird der Anteil des Menschen selbst bei denjenigen Einflüssen, wie sie etwa von Kometen ausgehen können. Direkt, so wie die Sonne durch ihre Wärme, wirken sie wohl nicht; doch durch ihre Merkwürdigkeit wirken sie auf die Einbildungen, und diese sind dann bald die eigentlichen Unglückskometen, die "Autosuggestion" ist dann die eigentliche Suggestion. Doch davon später.

Wie die Kometen wirkt sehr vieles, z. B. aufregende Zeitereignisse; schon die kleinsten Vorfälle wirken wie einst die blutigen Himmelsruten und die Wirkungen sind an der Börse abzulesen wie Gewichtsänderungen am Waagezeiger. Unzähliges wirkt so auf die Massen: gewisse Ideen und Schlagwörter, die Macht der Phrase. Es ist, als erfüllten psychische Bakterien die Luft. Und kaum viel anders ist es, wenn heute die Reklame wirkt: sie zieht an und verführt zur Ausgabe; und - was den Charakter der Eingebung vervollständigt - manch ein Angelockter rechtfertigt sich vor sich selbst und anderen, daß er dazu alle klugen Gründe gehabt hat.

damit haben wir die Gruppen der Objektsuggestionen durch Beispiele abgeschlossen, welche bereits in eine andere Art von Suggestionen hinüberleiten, in diejenigen, welche von Personen ausgehen.

LITERATUR - Hans Schmidkunz, Psychologie der Suggestion, Stuttgart 1892