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MARTIN JULIUS ESSLIN
Das Wesen des Absurden

Ionesco
Sinn des Absurden
"Das Hauptmerkmal dieser Geisteshaltung ist die Erkenntnis, daß die Gewißheiten und unerschütterlichen Glaubenssätze früherer Zeiten hinweggefegt sind; sie wurden gewogen und für zu leicht befunden und sind nun als billige und etwas kindliche Illusionen in Verruf geraten."

Am 19. November 1957 wartete eine Gruppe aufgeregter Schauspieler auf ihren Auftritt. Die Schauspieler waren Mitglieder des Ensembles "Actor's Workshop" in San Francisco; ihr Publikum bestand aus vierzehnhundert Insassen des Zuchthauses von San Quentin. Seit dem Gastspiel SARAH BERNHARDTs im Jahre 1913 hatte es in San Quentin keine Theatervorstellung mehr gegeben. Vierundvierzig Jahre später sollte hier jetzt ein Stück aufgeführt werden, das man hauptsächlich deshalb ausgewählt hatte, weil es keine Frauenrollen enthält: SAMUEL BECKETTs "Warten auf Godot".

Kein Wunder, daß die Schauspieler und ihr Regisseur HERBERT BLAU sich Sorgen machten. Wie sollten sie diesem hartgesottenen Publikum ein so schwerverständliches, handlungsarmes Stück nahebringen, bei dessen Aufführungen in Westeuropa es beinahe zu Tumulten unter den intellektuellen Snobs gekommen wäre? HERBERT BLAU entschl0ß sich, die Zuchthäusler von San Quentin zuerset auf das, was sie erwartete, vorzubereiten. Er trat vor den Vorhang und wandte sich an die Menge, die sich in der abgedunkelten North Dining Hall zusammendrängte. Ein Meer flackernder Flämmchen lag vor ihm: die Gefangenen steckten sich Zigaretten an und warfen die flammenden Streichhölzer achtlos über die Schulter. BLAU verglich das Stück mit Jazzmusik, "die man sich einfach anhören muß, bei der jeder sich denken kann, was er will". Auf diese Weise hoffe er, werde jeder Zuschauer auch irgendeine Deutung, irgendeinen persönlichen Zugang zu "Warten auf Godot" finden.

Der Vorhang hob sich. Das Spiel begann. Und was das intellektuelle Publikum von Paris, London und New York verwirrt hatte, das begriffen die Sträflinge sofort. In dem Artikel "Notizen eines Premierenbesuchers" berichtete ein Mitarbeiter der Gefängniszeitung "San Quentin News":
    "Da hatte sich doch so ein Dreigespann muskelstrotzender Kraftprotzen mit insgesamt 643 Pfund Lebendgewicht im Seiteingang aufgepflanzt und wartete nun auf die Mädchen und auf den Gaudi. Als nichts dergleichen passierte, kamen sie schwer in Rage und erklärten laut und vernehmlich, sie wollten bloß mal warten, bis es im Haus dunkel wäre, und sich dann aus dem Staube machen. Aber sie machen einen Fehler. Sie hörten und sahen zwei Minuten zu lange zu - und blieben. Blieben bis zum Schluß. Alle waren erschüttert ..."
Der Leitartikler desselben Blattes schrieb unter der Überschrift "Ensemble aus San Francisco läßt S. Q. Publikum auf Godot warten":
    "Von dem Augenblick an, wo ROBIN WAGNERs bedeutungsvolle Vorhöllen-Dekoration im Bühnenlicht auftauchte, bis zu der Sekunde, da die beiden suchenden Landstreicher ihren letzten sinnlosen und doch erwartungsvollen Händedruck wechselten, hatte das Ensemble aus San Francisc0 sein Gefangenen-Publikum in der Hand ... Fünf Minuten nach Beginn der BECKETT-Aufführung waren auch die Befürchtungen jener verflogen, die gemeint hatten, man sollte es bei der ersten Vorstellung hier lieber mit einem weniger umstrittenen Stück versuchen."
Ein Reporter des "San Francisco Chronicle", der bei der Aufführung zugegen war, bemerkte, die Häftlinge hätten keine Schwierigkeiten gehabt, das Stück zu verstehen. Ein Gefangener sagte ihm. "Godot ist die Gesellschaft". Ein anderer meinte: "Er ist die Außenwelt". Ein im Zuchthaus angestellter Lehrer habe geäußert: "Die wissen, was warten heißt ... und sie wußten auch, wäre Godot schließlich gekommen, es hätte nur eine Enttäuschung sein können". Aus dem Leitartikel der Gefängniszeitung läßt sich entnehmen, daß der Verfasser des Artikels den Sinn des Stückes klar erfaßt hatte:
    "Es handelt sich um eine Äußerung, eine symbolische, weil jeder irrtümliche persönliche Bezug vermieden werden sollte, eines Autors, der von jedem einzelnen Zuschauer erwartete, daß er seine eigenen Schlüsse zog, seine eigenen Fehler beging. Das Stück verfolgte keinen bestimmten Zweck, es zwang dem Zuschauer keine dramatisierte Moral auf, es stellte keine besonderen Hoffnungen in Aussicht ... Wir warten immer noch auf Godot, und wir werden weiter warten. Wenn die Szene zu düster wird und die Handlung zu langsam vorangeht, können wir uns immer noch beschimpfen und schwören, uns für immer zu trennen - aber dann gibt's keinen Ort, wohin wir gehen könnten!"
Es heißt,  Godot  selbst wie auch Redewendungen und andere Figuren des Stückes seien seither zu einem festen Bestandteil des Zuchthausjargons, der Anstaltsmythologie von San Quentin geworden.

Wie konnte aber ein Stück der angeblich esoterischen Avantgarde einen so unmittelbaren und nachhaltigen Eindruck bei einem aus Sträflingen bestehenden Publikum hinterlassen? Liegt es daran, daß es sie mit einer Situation konfrontierte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Lage aufwies? Vielleicht. Möglicherweise rührte es aber auch daher, daß sie ungebildet genug waren, um ohne irgendwelche vorgefaßten Meinungen und von vornherein festgelegten Erwartungen ins Theater zu kommen. So konnten sie gar nicht erst den Fehler machen, den so mancher routinierte Kritiker beging, wenn er das Stück wegen seines Mangels an Handlung, Entwicklung, Charakterzeichnung, Spannung oder einfach wegen des Mangels an gesundem Menschenverstand verdammte. Ganz gewiß kann man auch die Zuchthausinsassen von San Quentin nicht der Sünde des intellektuellen Snobismus zeihen, den man einem großen Teil der Zuschauer von "Warten auf Godot" wiederholt vorgeworfen hat. Die Zuchthäusler hätten wohl kaum behauptet, sie fänden ein Stück gut, von dem sie auch nicht das mindeste verstanden, nur weil sie den Eindruck erwecken wollten, sie seien auf dem laufenden.

Die beifällige Aufnahme, die "Warten auf Godot" in San Quentin fand, und der Beifall, den man an vielen Orten den Stücken von IONESCO, ADAMOV, PINTER und anderer Autoren des Theaters des Absurden gezollt hat, beweisen, daß diese Stücke, die so häufig als Unsinns- und Vexierspiele abgetan werden, wirklich etwas auszusagen haben und auch wirklich verstanden werden können. Das Unverständnis, mit dem Kritiker und Rezensenten ihnen immer noch begegnen, und die Verwirrung, die Bühnenwerke dieser Art ausgelöst haben und noch auslösen, sind weitgehend durch den Umstand bedingt, daß sie zu einer neuen, noch in Entwicklung befindlichen Form des Dramas gehören, die bisher noch nicht richtig verstanden und kaum je definiert worden ist. Stücke, die in dieser neuen Form abgefaßt sind, müssen, wenn man sie nach den Normen und Kriterien einer anderen Form beurteilt, unausweichlich als ein unverschämter und unerhörter Schwindel anmuten. Wenn zu einem guten Stück eine geschickt konstruierte Handlung gehört - diese Stücke haben keine nennenswerte Handlung oder Intrige; wenn für ein gutes Stück subtile Charakterzeichnung und Motivierung unabdingbar sind - diese Stücke weisen meist keine Figuren auf, die man als Charaktere bezeichnen könnte, sondern stellen dem Zuschauer fast so etwas wie Marionetten vor; wenn ein gutes Stück ein klar umrissenes Problem haben sollte, das eingangs sauber exponiert und am Ende gelöst wird - diese Stücke haben oft weder Anfang noch Ende; wenn es die Aufgabe eines guten Stückes ist, der menschlichen Natur einen Spiegel vorzuhalten und in scharf beobachtenden Skizzen ein Bild der Sitten und Moden eines Zeitalters zu entwerfen - diese Stücke scheinen oft nur Spiegelbilder von Träumen und Angstvorstellungen zu sein; wenn die Wirkung eines guten Stückes auf schlagfertigen Repliken und geschliffenen Dialogen beruht - diese Stücke bestehen oft nur aus zusammenhanglosem Geschwätz.

Aber diese Stücke, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen wollen, verfolgen auch ganz andere Ziele als das traditionelle Drama und bedienen sich deshalb auch anderer Methoden. Sie können nur mit den Maßstäben des Theaters des Absurden gemessen werden, und eben diesen Begriff möchte ja das vorliegende Buch bestimmen und klären.

Es muß jedoch gleich nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die Dramatiker, deren Werke hier untersucht werden, keiner geschlossenen literarischen Gruppe oder programmatischen Bewegung angehören. Im Gegenteil: sie alle sind Einzelgänger, und ein jeder von ihnen hält sich für einen einsamen Außenseiter, der abseits von den anderen allein in seiner Welt lebt. Jeder hat seine persönlichen Ansichten über Stoff und Form; das Schaffen eines jeden hat seine eigenen Wurzeln, Quellen und Hintergründe. Wenn diese Autoren trotzdem gegen ihren Willen offensichtlich vieles gemeinsam haben, so rührt das daher, daß ihre Werke mit großer Feinfühligkeit Sorgen und Ängste, Gefühle und Gedanken widerspiegeln, die gegenwärtig viele Menschen in der westlichen Welt bewegen.

Das soll nun aber keineswegs heißen, die Werke seien repräsentativ für die Verhaltensweisen der Masse. Wenn man behauptet, jedes Zeitalter habe ein einheitliches, ihm eigentümliches Weltbild und einen homogenen Stil des Denkens, so ist das eine unzulässige Vereinfachung. Gerade unsere Epoche, die stärker als irgendeine andere im Zeichen des Überganges steht, zeigt eine Formation von verwirrender Vielschichtigkeit: Glaubensvorstellungen des Mittelalters, überlagert durch den Rationalismus des achtzehnten und den Marxismus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts; und diese wiederum von Zeit zu Zeit erschüttert durch jähe vulkanische Ausbrüche urzeitlicher Fanatismen und primitiver Stammeskulte. Und jede dieser Komponenten des kulturellen Gefüges findet ihren charakteristischen Ausdruck in der Kunst. Im Theater des Absurden kann man nun eine Geisteshaltung erkennen, die wahrhaft repräsentativ für unsere Zeit.

Das Hauptmerkmal dieser Geisteshaltung ist die Erkenntnis, daß die Gewißheiten und unerschütterlichen Glaubenssätze früherer Zeiten hinweggefegt sind; sie wurden gewogen und für zu leicht befunden und sind nun als billige und etwas kindliche Illusionen in Verruf geraten. Der Zerfall des religiösen Glauben trat bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mit voller Klarheit zutage, weil Ersatzreligionen wie die Fortschrittsgläubigkeit, der Nationalismus und verschiedene totalitäre Trugbilder an seine Stelle getreten waren. Mit alledem räumte der Krieg auf. 1942 stellte sich ALBERT CAMUS gelassen die Frage, warum der Mensch nicht in den Selbstmord flüchten solle, da doch das Leben jeglichen Sinn verloren habe. In seinem Buch "Le Mythe de Sisyphe", einer der großen, fruchtbaren Seelenanalysen unserer Zeit, versuchte CAMUS, die Situation des Menschen in einer Welt zerbrochener Glaubensvorstellungen zu bestimmen:
    "Eine Welt, die sich erklären läßt, und sei es auch mit unzureichenden Gründen, ist eine vertraute Welt. In einem Universum jedoch, das plötzlich der Illusionen und des Lichtes der Vernunft beraubt ist, fühlt sich der Mensch als Fremder. Aus diesem Exil gibt es keinen Ausweg, weil es in ihm keine Erinnerungen an eine verlorene Heimat und keine Hoffnung auf ein gelobtes Land gibt. Diese Scheidung des Menschen von seinem Leben, des Schauspielers von seinem Hintergrund ist genau das Gefühl der Absurdität."
"Absurd bedeutet ursprünglich "disharmonisch" in einem musikalischen Kontext. Daher definiert das Lexikon die Bedeutung des Wortes als in Disharmonie mit dem Vernünftigen und Angemessenen, ungereimt, unvernünftig, sinnwidrig. In der Umgangssprache kann "absurd" einfach "lächerlich" bedeuten, aber CAMUS verwendet das Wort nicht in diesem Sinne, und auch wir meinen nicht diese Bedeutung, wenn wir vom Theater des Absurden sprechen. In einem Essay über KAFKA hat IONESCO definiert, was er unter diesem Terminus versteht:
    "Absurd ist etwas, das ohne Ziel ist ... Wird der Mensch losgelöst von seinen religiösen, metaphysischen oder transzendentalen Wurzeln, so ist er verloren, all sein Tun wird sinnlos, absurd, unnütz, erstickt im Keim."
Dieses Gefühl metaphysischer Angst angesichts der Absurdität der menschlichen Existenz bildet, allgemein gesprochen, das Thema der Stücke BECKETTs, ADAMOVs, IONESCOs, GENETs und anderer Dramatiker. Aber allein vom Thematischen her läßt sich das, was wir hier als Theater des Absurden bezeichnen, nicht bestimmen. Ein ähnliches Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens, der unaufhaltsamen Entwertung aller Ideale, der zwangsläufigen Abkehr von der ursprünglichen Reinheit des Wollens beherrscht auch viele Werke von Dramatikern wie GIRAUDOUX, ANOUILH, SALACROU, SARTRE und CAMUS. Und doch unterscheiden sich diese Autoren von den Dramatikern des Theaters des Absurden in einem wesentlichen Punkt: sie fassen ihr Gefühl der Irrationalität menschlicher Existenz in die Form glasklarer, logisch aufgebauter Argumentation. Im Theater des Absurden hingegen ist das Bestreben wirksam, das Bewußtsein der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins und der Unzulänglichkeit rationaler Anschauungsformen durch den bewußten Verzicht auf Vernunftgründe und diskursives Denken zum Ausdruck zu bringen.

SARTRE und CAMUS fassen den neuen Gehalt in die alten Formen; die Autoren des Theaters des Absurden hingegen gehen einen Schritt weiter: sie versuchen, ihre Ausdrucksformen in Einklang zu bringen mit den Grunderfahrungen, die sie mitzuteilen haben. Vom künstlerischen (nicht vom philosophischen) Standpunkt aus betrachtet, erfahren die philosophischen Erkenntnisse von SARTRE und CAMUS im Theater des Absurden eine gültigere Darstellung als in den Dramen von SARTRE und CAMUS selbst.

Wenn CAMUS beweisen will, daß in unserem desillusionierten Zeitalter die Welt von Sinn entleert sei, so führt er diesen Beweis in streng gebauten Stücken im elegant rationalen und diskursiven Stil eines Moralisten aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wenn SARTRE die These aufstellt, die Existenz gehe der Essenz voraus und der Mensch sei letztlich nur reine Möglichkeit, die Freiheit, sich in jedem Augenblick neu zu entscheiden, dann entwickelt er diese  Ideen  in Dramen, deren blendend gezeichnete Charaktere die Einheit der Person stets wahren und damit die traditionelle Auffassung widerspiegeln, jeder Mensch habe einen unveränderlichen, unwandelbaren Wesenskern - deutlicher ausgedrückt: eine unsterbliche Seele. Der glatte Stil und die Brillanz der Beweisführung von SARTRE und CAMUS verraten noch in der Unbarmherzigkeit ihrer Analyse die stillschweigende Überzeugung, daß logische Abhandlungen gültige Lösungen erbringen können, daß die Analyse der Sprache zur Entdeckung von Grundbegriffen führt - platonischen Ideen.

Hier liegt ein innerer Widerspruch, den die Dramatiker des Absurden, mehr aus Instinkt und Intuition als bewußt, zu überwinden und zu lösen suchen. Das Theater des Absurden verzichtet darauf,  über  die Absurdität der menschlichen Existenz zu diskutieren; sie  stellt  sie einfach  dar  als konkrete Gegebenheit - das heißt: in greifbaren szenischen Bildern. Darin zeigt sich der Unterschied zwischen der philosophischen und der dichterischen Betrachtungsweise, der Unterschied zwischen Erkenntnis und Erlebnis, der Unterschied - um es an einem Beispiel aus einem anderen Bereich zu verdeutlichen - zwischen der  Gottesidee  in den Werken des THOMAS von AQUIN oder SPINOZAs und der  Gotteserfahrung  in den Schriften des Heiligen JOHANNES vom KREUZ oder MEISTER ECKHARTs.

Das Streben nach völliger Übereinstimmung des Ausgesagten mit der Form der Aussage unterscheidet das Absurde Theater vom existentialistischen Drama.

Das Theater des Absurden darf auch nicht mit einer anderen bedeutenden, parallel verlaufenden Strömung im französischen Theater der Gegenwart verwechselt werden, die sich ebenfalls mit der Absurdität und Unsicherheit des menschlichen Daseins auseinandersetzt, nämlich mit dem Theater der "poetischen Avantgarde", das durch MICHEL de GHELDERODE, JACQUES AUDIBERTI, GEORGES NEVEUX und in der jüngeren Generation durch GEORGES SCHEHADÉ, HENRI PICHETTE und JEAN VAUTHIER vertreten wird - um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen. In diesem Falle ist es noch schwieriger, eine scharfe Trennungslinie zu ziehen, denn die Anschauungen der beiden Gruppen weisen eine weitgehende Ähnlichkeit auf. Die "poetische Avantgarde" gründet sich wie das Theater des Absurden auf Phantasie und Traumwirklichkeit; auch sie lehnt die traditionellen dramatischen Grundregeln ab, wie zum Beispiel die Einheit und Unzerstörbarkeit des Charakters oder die Forderung nach einer zusammenhängenden dramatischen Handlung. Aber die Stücke der "poetischen Avantgarde" haben eine wesentlich andere Atmosphäre; sie wirken lyrischer und weisen bei weitem nicht so viele brutal-drastische oder groteske Züge auf. Noch bedeutsamer sind die verschiedenen Einstellungen der beiden Gruppen zur Sprache: die "poetische Avantgarde bedient sich vorwiegend einer bewußt "poetischen" Sprache; sie will Stücke schaffen, die wirklich als Dichtung gelten können, Bilder, die aus einer Fülle sprachlicher Assoziationen zusammengefügt sind.

Das Theater des Absurden fügt sich damit in die "anti-literarische" Bewegung unserer Zeit ein, die sich auch in der abstrakten Malerei ausprägt, wo alle "literarischen" Element aus den Bildern ausgemerzt werden sollen, oder im  "nouveau roman",  der jede Emphase ablehnt und den Anthropomorphismus durch die Beschreibung von Dingen zu ersetzen sucht. Und es ist auch kein Zufall, daß das Theater des Absurden, wie die hier genannten und manche anderen Bewegungen, die neue künstlerische Ausdrucksformen schaffen wollen, Paris zu seinem Zentrum gewählt hat.

Damit soll nicht behauptet werden, das Theater des Absurden sei seinem Wesen nach französisch. Es ist aus einer geistigen Strömung hervorgegangen, die sich durch die gesamte westliche Tradition zurückverfolgen läßt, und wir finden seine Vertreter ebenso in England, Spanien, Italien, Deutschland, der Schweiz und in den Vereinigten Staaten wie in Frankreich. Außerdem sind die führenden Dramatiker des Theaters des Absurden, die in Paris leben und französisch schreiben, nicht einmal alle Franzosen.

Als Ausgangspunkt und Zentrum dieser modernen Bewegung ist Paris weniger ein französischer als vielmehr ein internationaler Mittelpunkt: wie ein .Magnet zieht es Künstler aller Nationalitäten an, die in Freiheit schaffen und ein nonkonformistisches Leben führen wollen, ohne sich mit einem Blick über die Schulter vergewissern zu müssen, ob die Nachbarn auch nicht schockiert sind. Das ist das Geheimnis von Paris, dem Treffpunkt der Individualisten aus aller Welt: hier, in einer Welt der Cafès und der kleinen Hotels, kann man ungebunden und ungestört leben.

Ein Kosmopolit ungewisser Abstammung wie APPOLINAIRE, Spanier wie PICASSO und JUAN GRIS, Russen wie KANDINSKY und CHAGALL, Rumänen wie TZARA und BRANCUSI, Amerikaner wie GERTRUDE STEIN, HEMINGWAY und E.E. CUMMINGS, ein Ire wie JOYCE und viele andere aus aller Herren Länder konnten sich deshalb hier zusammenfinden und die moderne Bewegung in den bildenden Künsten und in der Literatur ins Leben rufen. Das Theater des Absurden geht auf dieselbe Tradition zurück und wurzelt in demselben Boden. Der Ire SAMUEL BECKETT, der Rumäne EUGÈNE IONESCO und der Russe armenischer Abstammung ARTHUR ADAMOV fanden in Paris nicht nur die Atmosphäre, in der sie in aller Freiheit experimentieren konnten, es bot sich ihnen hier außerdem noch die Möglichkeit, ihre Stücke aufführen zu lassen.

Die Inszenierungen der kleineren Pariser Theater sind oft wegen ihrer mangelnden Sorgfalt und künstlerischer Unbekümmertheit kritisiert worden. Diese Kritik mag manchmal berechtigt sein, trotzdem ist es eine Tatsache, daß es keinen anderen Ort auf der Welt gibt, wo man so viele erstklassige Theaterleute finden kann, die wagemutig und intelligent genug sind, sich für die experimentellen Stücke unbekannter Dramatiker einzusetzen, und die den jungen Autoren helfen, ihre Bühnenerfahrung zu vervollkommnen. Das gilt für LUGNÈ-POE, COPEAU, DULLIN, JEAN-LOUIS BARRAULT, JEAN VILAR, ROGER BLIN, NICOLAS BATAILLE, JACQUES MAUCLAIR, SYLVAIN DHOMME, JEAN-MARIE SERREAU und viele andere, deren Namen mit dem Erfolg der besten Stücke des zeitgenössischen Theaters fest verbunden sind.

Von ebenso großer Bedeutung ist der Umstand, daß das Pariser Theaterpublikum hochintelligent ist, aufgeschlossen, bereit nachzudenken und von wachem Interesse für alle neuen Ideen. Zugegeben, auch in Paris führten die Uraufführungen einiger besonders ungewöhnlicher Manifestationen des Theaters des Absurden zu heftigen Gegendemonstrationen, und in manchen Fällen spielten die Schauspieler vor leerem Haus. Ausschlaggebend aber ist, daß diese Theaterskandale ein Ausdruck leidenschaftlicher Anteilnahme waren und daß selbst in den leersten Häusern noch Enthusiasten saßen, die nachher in beredten Worten geräusch- und wirkungsvoll die Vorzüge der experimentellen Stücke priesen, deren Uraufführung sie miterlebt hatten.

Trotz dieser günstigen Umstände, die sich aus dem fruchtbaren geistigen Klima von Paris ergeben, bleibt der Erfolg, den das Theater des Absurden innerhalb so kurzer Zeit errang, einer der erstaunlichsten Aspekte dieses erstaunlichen Phänomens. Daß derart eigenartige und verwirrende Stücke, die nichts von alledem aufweisen, was das herkömmliche gute Theaterstück kennzeichnet, innerhalb von knapp zehn Jahren sich von Finnland bis Japan, von Norwegen bis Argentinien die Bühnen in aller Welt erobert haben, daß sie ein Flut von Werken ähnlicher Art auslösten, ist an sich schon ein überzeugender empirischer Beweis für die Bedeutung des Theaters des Absurden.

Wenn wir dieses Phänomen unter literarischen und bühnentechnischen Gesichtspunkten untersuchen und es als eine Manifestation des zeitgenössischen Denkens erklären wollen, so müssen wir dabei von der Interpretation der Werke selbst ausgehen. Nur auf dieser Grundlage läßt sich dann auch nachweisen, daß das Theater des Absurden einer alten Tradition entspringt, die vielleicht zeitweilig durch andere Strömungen überdeckt worden sein mag, sich aber dennoch bis in die Antike zurückverfolgen läßt. Erst wenn man die moderne Bewegung in den historischen Zusammenhang eingeordnet hat, kann man darangehen, ihre Bedeutung zu bestimmen; erst dann läßt sich auch abschätzen, wie wichtig die Rolle ist, die sie im geistigen Leben der Gegenwart spielt.

Ein Publikum, dessen Geschmack und Erkenntnisvermögen an überlieferten Formen geschult worden sind, wird natürlich immer geneigt sein, das Neue am Althergebrachten zu messen. Es erfährt jedes Kunsterlebnis nur mittelbar, durch einen Filter kritischer Grundbegriffe und vorgefaßter Meinungen. Ein solches System von Wertmaßstäben ist an sich zweifellos brauchbar; wenn man es jedoch auf völlig neue und revolutionäre Ausdrucksformen anwendet, kann es nur Verwirrung stiften. Denn dann löst es in dem von hergebrachten Meinungen bestimmten Zuschauer einen inneren Konflikt aus: Einerseits kann er nicht leugnen, daß er neue und wirksame Eindrücke empfangen hat, andererseits aber wäre es aufgrund der lange konsolidierten vorgefaßten Meinungen eigentlich unmöglich, daß solche Formen - oder Formfehler - derartige Wirkungen auslösen. Dieser innere Konflikt zwischen Vorurteil und Erlebnis ist es, der sich schließlich in Entrüstungsstürmen entlädt und jene Erbitterung und Feindseligkeit schafft, wie sie Werke in neuen künstlerischen Konventionen immer hervorrufen.
LITERATUR - Martin Julius Esslin, Das Theater des Absurden, Düsseldorf 1975