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THEODOR ELSENHANS
Phänomenologie, Psychologie,
Erkenntnistheorie

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"... genau so, wie Husserl phänomenologisch die Wesenserschauung als den Weg zur Gewinnung richtiger Urteile über Erlebnisse erkennt. Die psychologische Feststellung des in einem bestimmten Fall vorhandenen Evidenzgefühls ist natürlich nicht der Grund, ein Urteil als richtig zu behaupten, sondern das Erlebnis dieser Evidenz als solches, das dem Urteilenden in der Regel überhaupt nicht deutlich zu Bewußtsein kommt. In einem Streitfall steht Evidenzbewußtsein gegen Evidenzbewußtsein, genau so, wie Wesenserschauung gegen Wesenserschauung steht."

"... das vielerörterte Bekanntheitsgefühl, Evidenzgefühle ... die in den Phänomenen nicht das mindeste Fundament haben? Mir scheint: hier ist wirklich das oft mißbrauchte Wort: Wer im Glashaus sitzt, usw. schwer zu unterdrücken. Wer uns zumutet, reine Wesen, reine Gegebenheiten zu erschauen, die ein absolutes Sein darstellend weder Begriffe noch Anschauungsinhalte in einem uns bekannten Sinn sind, müßte, glaube ich, mit der Anklage der Fiktion zurückhaltender sein."

"Um eine bl0ße Beschreibung von Gegebenem kann es sich dann nicht mehr handeln; denn das "Gegebene", das "Objekt" der Wahrnehmung ist seinem Inhalt nach ja bereits als Geist von unserem Geist erkannt. An die Stelle der bloßen Deskription tritt, wie Natorp in einer Auseinandersetzung mit Husserl sagt, die "Rekonstruktion". Die Gegenstandsbeziehung von dieser Konsequenz loszulösen, wäre nur dann möglich, wenn wir auf dem Standpunkt der naiven Betrachtungsweise stehen blieben, für die Inhalt und Gegenstand der Wahrnehmung samt allen Empfindungsdaten "außerhalb unseres Bewußtseins gegeben sind. Damit aber fällt die ganze "Erlebnis"-Lehre dahin."

Wie dem Astronomen die scheinbare Bewegung der Himmelskörper, deren Wahrnehmung er mit dem Laien teilt und deren Schein er durchschaut, immer wieder zum Ausgangspunkt und zur steten Orientierung dient, um das Universum wissenschaftlich zu durchmessen, so muß der Denker von der Höhe seiner Abstraktionen immer wieder zum "natürlichen Weltbegriff" zurückkehren, der ihm, obwohl er seine Unhaltbarkeit durchschaut, nicht bloß in seinen Handlungen der selbstverständliche Schauplatz, sondern auch in seinen tiefsten Forschungen und kühnsten Ideen Ausgangspunkt und Orientierungsmittel bleibt.


B) Phänomenologie und Erkenntnistheorie
I. Die letzte Rechtsquelle aller Erkenntnis

Eine grundsätzliche Erörterung der Stellung der Phänomenologie zur Psychologie führt mit Notwendigkeit auf erkenntnistheoretische Fragen. Zwar ist die Phänomenologie nicht selbst Erkenntnistheorie; ja sie ignoriert ausdrücklich "die inhaltlichen und vielgestaltigen Probleme der Möglichkeit der verschiedenen Erkenntnisarten und Erkenntniskorrelationen" (51). Aber sowohl die Begründung der zentralen Stellung der Phänomenologie innerhalb des Reichs der Wissenschaft überhaupt als insbesondere die erkenntnistheoretische Bedeutung des Anschauungsprinzips schließen erkenntnistheoretische Probleme ein. Nach HUSSERL ist "das unmittelbare Sehen, nicht bloß das sinnliche, erfahrende Sehen, sondern das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein welcher Art auch immer", die "letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen". "Rechtgebende Funktion hat sie nur, weil und soweit sie originär gebende ist". (52) Es ist das Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis ist, daß "alles, was sich uns in der Intution originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen ist, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt" (53). Jede Aussage, die nichts weiter tut, als solchen Gegebenheiten den angemessenen Ausdruck zu verleihen, ist daher wirklich "ein absoluter Anfang, im echten Sinn zur Grundlegung berufen, principium". Natürlich kann von diesem Anfang weitergegangen, das Erschaute verarbeitet, Begriffe, Urteile, Schlüsse darauf gegründet werden, aber alle diese späteren Schritte, alle diese "unanschaulichen Verfahrensweisen" haben, wie wir früher gehört haben, nur "die methodische Bedeutung" "uns den Sachen entgegenzuführen, die eine nachkommende Wesenserschauung zur Gegebenheit zu bringen hat. Die Anschauung in dem besonderen Sinn der Phänomenologie bleibt daher auch hier die letzte Rechtsquelle der Erkenntnis. Mit dieser ihrer intuitiven Wesenserkenntnis ist darum die Phänomenologie das "wesentliche eidetische Fundament der Psychologie und der Geisteswissenschaften" (54). Ja sie umspannt "im Umfang ihrer eidetischen Allgemeinheit" alle Erkenntnisse und Wissenschaften, nämlich "in Hinsicht auf all das, was an ihnen unmittelbar einsichtig ist". Als angewandte Phänomenologie leistet sie "an jeder prinzipiell eigenartigen Wissenschaft" "die letztauswertende Kritik und damit insbesondere die letzte Sinnesbestimmung des "Seins" ihrer Gegenstände und die prinzipielle Klärung ihrer Methodik". Es ist daher begreiflich, daß die Phänomenologie "gleichsam die geheime Sehnsucht der ganzen neuzeitlichen Philosophie ist". Bei DESCARTES, bei LOCKE und HUME, bei KANT finden sich ihre Spuren.

Damit tritt die allumfassende Bedeutung der Phänomenologie, wie sie von ihrem Urheber gedacht ist, erst ins rechte Licht. Sie erst liefert die zuverlässigen Grundlagen für die Philosophie und durch sie für die Wissenschaft überhaupt. Das in ihr herrschende Prinzip der "originär gebenden Anschauung" schafft einen Inbegriff sicherer ursprünglicher Erkenntnisse, die, unabhängig von irrtumsfähigen logischen Prozessen oder gar subjektiven Hypothesen, den Ausgangspunkt und zugleich das Kriterium für alle weiteren Erkenntnisse bilden können. Daß sie das aber können, beruth im Wesenlichen auf zwei Grundmerkmalen, die ihnen eigen sind, ihrer Voraussetzungslosigkeit und ihrer unmittelbaren Evidenz. Beides hängt auf das Engste zusammen. Was absoluter Anfang sein soll, darf weder seinem Inhalt noch seiner Gültigkeit nach von anderem abhängen.


II. Die Evidenz

Betrachten wir zunächst einmal die "Evidenz". Für die Bestimmung dieses Begriffs wird der Gegensatz zwischen Ding und Erlebnis, zwischen "transzendenter" und "immanenter" Wahrnehmung maßgebend. Jede immanente Wahrnehmung soll notwendig die Existenz ihres Gegenstandes verbürgen.
    "Richtet sich das reflektierende Erfassen auf mein Erlebnis, so habe ich ein absolutes Selbst erfaßt, dessen Dasein prinzipiell nicht negierbar ist, d. h. die Einsicht, daß es nicht ist, ist prinzipiell unmöglich."

    "Zu jedem Erlebnisstrom und Ich als solchem gehört die prinzipielle Möglichkeit, diese Evidenz zu gewinnen, jeder trägt die Bürgschaft seines absoluten Daseins als prinzipielle Möglichkeit in sich selbst." (55)
Auch wenn ein Ich in seinem Erlebnisstrom nur Phantasien, nur fingierenden Anschauungen hätte, so wäre doch das fingierende Bewußtsein nicht selbst ein fingiertes, vielmehr gehört auch hier zu seinem Wesen, wie zu jedem Erlebnis, "die Möglichkeit wahrnehmender und das absolute Dasein erfassender Reflexion". (56) Eine genauere Begriffsbestimmung der Evidenz ergibt sich aber noch aus dem Unterschied zwischen dem "assertorischen" Sehen eines Individuellen, z. B. dem "Gewahren" eines Dings oder eines individuellen Sachverhaltes, und dem "apodiktischen" Sehen, dem Einsehen eines Wesens oder Wesensverhaltes, die außerdem, nämlich bei der Anwendung einer Wesenseinsicht auf assertorisch Gesehenes, auch in einer durch die Mischung bedingten Modifikation auftreten können. Evidenz im Allgemeinen kommt beidem zu, aber nur dem zweiten "apodiktische Evidenz" (57). Mit Schärfe wird betont, daß es sich bei der Evidenz nicht etwa um einen "dem Akt irgendwie angehängten Inhalt, um ein Beigefügtes welcher Art auch immer" handelt, sondern um "eigentümlichen Setzungsmodus". Evidenz sei "nicht irgendein Bewußtseinsindex, der an ein Urteil angeheftet, uns wie eine mystische Stimme aus einer besseren Welt zuruft: "Hier ist die Wahrheit!" Andernfalls wären ja die Bedenken zu erwägen, "die keine Index- und Gefühlstheorie der Evidenz überwinden kann: ob nicht ein Lügengeist (der Cartesianischen Fiktion) oder eine fatale Änderung des faktischen Weltverlaufs es bewirken könnte, daß gerade jedes falsche Urteil mit diesem Index, diesem Gefühl der Denknotwendigkeit, des transzendenten Sollens und dgl. ausgestattet wäre." (58)

Knüpfen wir sogleich an diesen letzteren Punkt an, so sehen wir uns zu der Gegenfrage herausgefordert: Ist denn die hier vertretene Evidenztheorie, ist überhaupt irgendeine Theorie in der Lage, skeptische Bedenken dieser Art, wie sie in der Cartesianischen Fiktion des Lügengeistes ihren extremen Ausdruck gefunden haben, zu überwinden? Ist denn der "Wesensforscher" besser dran, wenn ein anderer "Wesensforscher" bei einer Exemplifikation durch ein wirkliches oder Phantasieerlebnis das Wesen dieses Erlebnisses anders erfaßt, als er selbst? Wie will er denn, der die vermeintliche Zuverlässigkeit der "Wesensschauung" für eine Selbsttäuschung hält, das Gegenteil beweisen? Er verlangt von ihm, daß er es versucht, die "phänomenologische Einstellung" zu vollziehen, er betont die Schwierigkeiten und Vorurteile, die besonders der Empirist zu überwinden hat, um die "reinen Gegebenheiten" zu erfassen und erwartet, daß sich an ihm, sofern er richtig eingestellt ist, dieselbe unmittelbare Evidenz der "Wesensschauung" erweist. Genau in derselben Lage befindet sich der empirische Forscher, der voraussetzt, daß ein anderer Beobachter durch dasselbe Evidenzbewußtsein, das ihn selbst leitet, aufgrund einer Wahrnehmung und Beobachtung derselben Erlebnisse zu denselben richtigen Urteilen geführt wird, wie er selbst, nur daß er dabei kein bisher unbekanntes "Schauen" von seinem Gegner verlangt, sondern dasjenige Anschauung und Denken verbindende Verfahren, das in der Praxis der Wissenschaft längst bewährt ist. Die Behauptung eines das gültige Urteil begleitenden Evidenzbewußtseins hat ja richtig verstanden nicht den Sinn, daß aus einer inneren Wahrnehmung der Evidenz oder gar in einer induktiven Ableitung aus den Tatsachen der Evidenz die Gültigkeit eines Urteils erschlossen werden soll. Indem wir von Evidenzbewußtsein (59) reden, stellen wir vielmehr nur aufgrund einer psychologischen Analyse dasjenige psychische Moment fest, auf welchem der Vollzug richtiger Urteile beruth, genau so, wie HUSSERL phänomenologisch die "Wesenserschauung" als den Weg zur Gewinnung richtiger Urteile über Erlebnisse erkennt. Die psychologische Feststellung des in einem bestimmten Fall vorhandenen Evidenzgefühls ist natürlich nicht der Grund, ein Urteil als richtig zu behaupten, sondern das Erlebnis dieser Evidenz als solches, das dem Urteilenden in der Regel überhaupt nicht deutlich zu Bewußtsein kommt. In einem Streitfall steht Evidenzbewußtsein gegen Evidenzbewußtsein, genau so, wie "Wesenserschauung" gegen "Wesenserschauung" steht.


III. Reflexion und Selbstbeobachtung und die Überwindung des Zweifels an ihren
Ergebnissen

Doch nein! Wir können es weder bei dieser bloßen Gegenüberstellung des Für und Wider bewenden lassen, da ja doch eine Entscheidung zwischen wahr und falsch möglich sein muß, noch auch bei der scheinbaren Gleichberechtigung der die Richtigkeit des Urteils begründenden Momente, da eine nähere Betrachtung der angeblich "apodiktischen Evidenz" jener "Wesenserschauung" mit Notwendigkeit über diese selbst hinausführt. Natürlich genügt das bloße Haben eines Erlebnisses nicht; es muß seinem Wesen nach erschaut werden. Aber auch dieses Erschauen reicht noch nicht aus, wenn er diese Erkenntnis anderen vermitteln, ja wenn er sie auch nur für sich selbst als eine klare und vollständige Erkenntnis besitzen will. Er muß sie in Begriffe fassen und diese Begriffe mit Worten bezeichnen. Das erschaute Wesen muß dabei zunächst durch die Reflexion hindurch. Über die Schwierigkeit, die darin liegt, hat sich auch HUSSERL ausgesprochen. Er bringt sie in einen Zusammenhang mit den in der Identität des Beobachtenden und des Erlebenden liegenden Schwierigkeiten der Selbstbeobachtung. Zwar hat die Phänomenologie keine Daseinsfeststellungen über Erlebnisse zu machen, also auch keine "Erfahrungen" und "Beobachtungen" in einem natürlichen Sinn, in dem eine Tatsachenwissenschaft sich auf dergleichen stützen müßte; aber sie macht doch, "als prinzipielle Bedingung ihrer Möglichkeit, über unreflektierte Erlebnisse Wesensfeststellungen". Diese verdankt sie aber der Reflexion, näher der "reflektierten Wesensintuition". Es kommen daher die skeptischen Bedenken hinsichtlich der Selbstbeobachtung insofern auch für die Phänomenologie in Betracht, als sich diese Bedenken "von der immanent erfahrenden Reflexion auf jede Reflexion überhaupt erstrecken lassen". (60) HUSSERL meint jedoch, auch dieser, wie jeder echte Skeptizismus, zeigt sich durch den prinzipiellen Widersinn an, "daß er in seinen Argumentationen implizit, als Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung, eben das voraussetzt, was er in seinen Thesen leugnet." Wer auch nur sagt: Ich bezweifle die Erkenntnisbedeutung der Reflexion, behauptet einen Widersinn. Denn über sein Zweifeln aussagend reflektiert er, und diese Aussage als gültig hinstellen setzt voraus, daß die Reflexion den bezweifelten Erkenntniswert wirklich und zweifellos (d. h. für die vorliegenden Fälle) hat, daß sie die gegenständliche Beziehung nicht ändert, daß das unreflektierte Erlebnis im Übergang in die Reflexion nicht sein Wesen einbüßt." (61) Da ferner in den Argumentationen beständig die Rede ist von der Reflexion als von einer Tatsache und ebenso von unreflektierten Erlebnissen als Tatsachen, so wird ebendamit beständig ein Wissen von unreflektierten Erlebnissen, darunter von unreflektierten Reflexionen vorausgesetzt, während zugleich die Möglichkeit eines solchen Wissens in Frage gestellt wird. Nicht der leiseste Rechtsgrund bleibt dann für die Gewißheit übrig, daß es überhaupt ein unreflektiertes Erlebnis und eine Reflexion gibt und geben kann. Hier wie überall verliert die Skepsis ihre Kraft "durch einen Rückgang von den verbalen Argumentationen auf die Wesensintuition, auf die originär gebende Anschauung und ihr ureigenes Recht". (62)

Diese scharf durchgeführte Stellungnahme zum Skeptizismus, in dessen Überwindung eines der stärksten Motive der Phänomenologie liegt, sowie der Versuch, auf diesem Weg das Problem der Selbstbeobachtung gewissermaßen auszuschalten, ist aber, wie sich sofort zeigen wird, durchaus abhängig von der bereits berührten Frage nach dem Verhältnis des Erlebnisses zur Aussage über das Erlebnis. Schon die Analyse der Selbstbeobachtung führt mit Notwendigkeit auf diese Frage.

Beobachtung ist ja nicht identisch mit Wahrnehmung und ebensowenig Selbstbeobachtung mit innerer Wahrnehmung. Der Zoologe, der ein Tier beobachtet, nimmt es nicht bloß wahr, wie ein beliebiger Spaziergänger, sondern er richtet seine Aufmerksamkeit auf das ihn interessierende Objekt und - dies ist der Punkt, der uns hier besonders interessiert - mit der sinnlichen Wahrnehmung verbinden sich unmittelbar und von ihr abtrennbar all die begrifflichen Vorstellungen, welche der Beobachter von ähnlichen Objekten bereits besitzt und die sich nun "bereit stellen", um die wissenschaftliche Erfassung des Objekts, in diesem Fall insbesondere seine Klassifikation, zu ermöglichen. Auch das Verhalten des psychologischen Beobachters ist hiervon nicht grundsätzlich verschieden, sofern auch er nicht umhin kann, im Augenblick der Beobachtung die bisher über das Objekt gewonnenen Begriffe in Anwendung zu bringen (63). Eben hiervon soll sich nun allerdings die phänomenologische Erfassung des Wesens der Erlebnisse in zweierlei Richtung unterscheiden. Einmal soll diese ein reines Schauen sein, für das gerade das Fehlen der logischen Vermittlung charakteristisch und eine der Garantien seiner Unfehlbarkeit ist. Und dann wird die Wesenserschauung, die sich ja auch beliebiger Phantasieerlebnisse zur Exemplifikation bedienen kann, gegenüber jeder Feststellung von Tatsächlichem aufs Schärfste abgegrenzt. Mit welchem Recht wird denn aber überhaupt irgendein Erlebnis mit einem bestimmten Namen bezeichnet, wenn der "Wesensforscher" nicht bereits Begriffe von Erlebnissen besitzt, die es ihm ermöglichen, ein Erlebnis gerade diesem und keine anderen Begriff unterzuordnen und es dementsprechend zu bezeichnen? Das "Haben" des Erlebnisses als solches bedeutet ja noch nichts; irgendein Wert für die Erkenntnis entsteht erst in dem Augenblick, in welchem das Erlebnis benannt werden kann und damit aus der Sphäre des bloßen "Habens", das dem Menschen für viele Erlebnisse mit dem Tier gemeinsam ist, in die Sphäre des Erkennens erhoben wird.

In diese Erwägungen wird mit Notwendigkeit auch jene ganze Beweisführung hineingezogen, durch welche HUSSERL den Skeptizismus zu überwinden trachtet. Wenn er den Widersinn eines Skeptizismus, der die Möglichkeit bezweifelt, irgendetwas über den Inhalt eines unreflektierten Erlebnisses und über die Leistung der Reflexion zu konstatieren, darin sieht, daß in den Argumentationen des Skeptikers doch immer von der Reflexion als von einer Tatsache und ebenso von unreflektierten Erlebnissen als Tatsachen die Rede ist, das in Frage gestellte Wissen von der Reflexion und von unreflektierten Erlebnissen also doch als möglich vorausgesetzt wird, so ist damit die Schwäche eines solchen Skeptizismus ohne Zweifel richtig getroffen. Daraus folgt aber noch nicht, daß jenes Wissen als "unmittelbares Wissen" ausschließlich begründet sein kann "durch eine reflexiv gebende Anschauung im HUSSERLschen Sinn. Vielmehr führt diese Ansicht mit Notwendigkeit über sich selbst hinaus. Es ist unbestreitbar, da viele Erlebnisse, z. B. Freude oder Zorn, sich unter dem Einfluß der auf sie gerichteten Reflexion verändern. Wir müssen nun allerdings annehmen, daß es trotzdem möglich ist, ihr Vorhandensein festzustellen und ihr Wesen zu erkennen, wenn wir nicht jenem unhaltbaren Skeptizismus verfallen wollen; und diese Annahme schließt grundsätzlich allerdings die Voraussetzung ein, daß "das unreflektierte Erlebnis im Übergang in die Reflexion sein Wesen nicht einbüßt." (64) Aber diese Voraussetzung bezieht sich auf einen unteilbaren Zeitmoment; und selbst für diesen wäre niemals feststellbar, ob das Erlebnis Freude, Zorn, Reflexion oder irgendetwas andderes ist, wenn der Reflektierende nicht von früheren Erlebnissen her und an Begriffen von diesen Erlebnissen ein Kriterium dafür hätte, was Freude, Zorn, Reflexion ist. Wir sehen: die Wesenserschauung als angebliches unmittelbares und absolutes Wissen führt doch immer wieder in das Denken hinüber und läßt sich von ihm, sofern sie überhaupt Erkenntnis sein will, niemals völlig trennen. Überall, wo wir "Gegebenheiten" erforschen wollen, und sei es auch das "Wesen" dieser "Gegebenheiten, stehen wir auf dem Boden der Erfahrungswissenschaft, die uns KANT als ein untrennbares Zusammen von Anschauung und Denken nachgewiesen hat.

Jene Forderung eines Kriterium verstärkt sich aber noch, wenn wir berücksichtigen, daß es eine Bewußtseinstätigkeit, die auf einen unteilbaren Zeitmoment beschränkt wäre, nicht gibt. Auch die Reflexion, die, soweit es dabei auf die wissenschaftliche Erkenntnis des Psychischen ankommt, mit der Selbstbeobachtung zusammenfällt, nimmt, um zur Wirkung zu gelangen, eine gewisse Zeit in Anspruch. Dann aber bleibt immer die Möglichkeit, daß die Qualität des Beobachteten von dem Augenblick, wo die Reflexionstätigkeit einsetzt, bis zu dem Moment, wo sie ihre volle Wirkung äußert, sich bereits etwas geändert haben könnte. Hier hilft nur die Erinnerung und der Vergleich der erinnerten Momente unter der Leitung eines aus der Erfahrung gewonnenen Begriffes der in Betracht kommenden Erlebnisse. Nehmen wir an, die Qualität eines Erlebnisses wäre a und das vollständige Vorhandensein derselben wäre mit aaa bezeichnet, so könnte die unter dem Einfluß der Reflexion auftretende Veränderung der Qualität des Erlebnisses symbolisch dargestellt werden in der Reihe: aaa, aab, abc, bcd, cde usw. Jeder Zustand kann, wenn er vorüber ist, in der Erinnerung reproduziert werden und unterliegt insofern nicht dem modifizierenden Einfluß der Reflexion; und der erinnerte Moment kann mit anderen erinnerten Momenten und mit dem erlebten Moment verglichen und anhand des die Benennung vermittelnden Begriffs z. B. A entschieden werden, daß die Reihe von bcd an überhaupt nicht mehr zum gemeinten Erlebnis gehört. Soweit die Reflexion also überhaupt eine Erkenntnis sein soll, ist sie niemals bloß eine "gebende Anschauung", sondern immer schon eine Anwendung von Begriffen, ein Ineinander von Anschauung und Denken.

Die Folgerungen für den Evidenzbegriff sind nicht schwer daraus zu ziehen. Man mag das Wort "Evidenz" auch auf die einzelne Anschauung anwenden, oder man mag wie HUSSERL das "Einsehen eines Wesens oder Wesensverhaltes" so nennen: in jedem Fall gewinnt der Begriff erst dadurch Erkenntniswert, daß er auf ein in einer Aussage formuliertes Urteil Anwendung findet, ob dieses selbst sich nun auf die Anschauung oder auf andere Urteile gründet. Auch die "anschauliche Evidenz" ist also überall, wo sie wirklich eine Erkenntnis vermitteln soll, stets zugleich "begriffliche Evidenz" (65). Es geht nicht an, irgendeinen anschaulichen Erkenntnisinhalt, der sich auf Gegebenes bezieht, völlig von der bisher erworbenen, in Begriffen und Urteilen bereits vorliegenden Erkenntnis loszulösen. Wir mögen vielleicht einmal in einem Gegenwartsaugenblick so leben, daß Vergangenheit und Zukunft versinken und das Erlebnis, in das wir uns vertiefen, innerhalb des gesamten "Erlebnisstroms" vollkommen isoliert erscheint. Für die Erkenntnis wäre diese Isolierung, auch wenn sie in einem entwickelten Bewußtsein möglich sein sollte, insofern wertlos, als das Wissen von einem solchen Erlebnis überhaupt erst dadurch Erkenntnis wird, daß das Erlebte in einem Urteil zu den bereits vorhandenen Begriffen in Beziehung gesetzt wird. Dem Mystiker und Ekstatier zerfließt in der Hingabe an das All-Eine sein eigenes Ichbewußtsein und damit auch jede Anknüpfung an den sonstigen Zusammenhang seines Denkens. Sobald er aber von dem redet, was sein ganzes Sein erfüllt, um anderen dieselben Erkenntnisse zu vermitteln, bedient er sich gewisser Begriffe, die das Gesagte in Beziehung bringen zu seinem sonstigen Wissen und - trotz der grundsätzlichen Ablehnung aller menschlichen Verkleinerung, wie sie am schärfsten und kühnsten in PLOTINs Enneaden vertreten ist - in irgendeiner Weise abhängig macht von menschlichen begrifflichen Vorstellungen.


IV. Die Frage des Kriteriums
und seines Verhältnisses zur Evidenz.

Zur weiteren Durchdringung dieses Problems der Evidenz ist es nötig, das Verhältnis der Begriffe Evidenz und Kriterium näher ins Auge zu fassen. Von Evidenz reden wir da, wo die Wahrheit eines Urteils, sei es nun aus der Anschauung oder unabhängig von ihr gewonnen, "unmittelbar einleuchtet". Sie ist natürlich nicht die Wahrheit selbst, sie fällt auch nicht zusammen mit dem Inhalt des wahren Urteils. Sie ist vielmehr der psychologische Ausdruck für den Wahrheitscharakter der Wahrheit. Die Begriffsbestimmung der "Evidenz", die HUSSERL in den "Logischen Untersuchungen" gibt, ist von dieser Auffassung nicht so weit entfernt, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Da heißt es: "Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil aktuelles Erlebnis ist." Und eine eigentliche Definition der Evidenz wird gegeben in dem Satz: "das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem selbst Gegenwärtigen, das sie meint, zwischen dem aktuellen Sinn der Aussage und dem selbst gegebenen Sachverhalt ist die Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit." (66) Sehen wir ab von dem hier mit enthaltenen platonisch gewendeten Begriff der Wahrheit und von der These, daß die Evidenz des Urteils ausschließlich in einer "originären Gegebenheit", in der unmittelbaren "Wesenserschauung" wurzeln kann - eine These, die wir schon deshalb ablehnen zu müssen glaubten, weil die erst den Urteilsinhalt zur Evidenz erhebende Formulierung des Urteils den Evidenzanspruch mit Notwendigkeit auch auf die darin zum Ausdruck kommenden von der bisherigen Erfahrung abhängigen begrifflichen Beziehungen erstreckt - so stimmt darin mit unserer Auffassung zusammen, daß der Wahrheitscharakter der Wahrheit in einem besonderen Erlebnis erlebt wird. Denn auch für HUSSERL ist ja doch die Evidenz nicht das Erleben des Wahrheitsinhalts als solchen, sondern ein Vorgang, in welchem eben das "Wahrheitsein" dieses Inhalts erlebt wird. Welche Qualität man diesem Erlebnis zuschreibt, ob es als ein Gefühl angesehen wird oder als irgendetwas anderes, ist hier unwesentlich. Dagegen ist die Frage natürlich die durchgreifende, in welchem Sinn diese Evidenz als Kriterium zu betrachten ist. Gehen wir von der ursprünglichen Bedeutung von kriterion aus, wonach es ein "Mittel zu entscheiden", ein "entscheidendes Kennzeichen" ist, so gelangen wir zunächst zu der Auffassung, daß das Kriterium ein Mittel ist, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu entscheiden. Dies gilt zunächst für das urteilende Subjekt selbst. Wir können diese subjektive Seite des Kriteriums auch kurz als das "subjektive Kriterium" bezeichnen. Dieses "subjektive Kriterium" fällt nun zusammen mit der Evidenz. Seine Wirksamkeit besteht aber, wie bereits betont wurde, natürlich nicht darin, daß der Urteilende das Evidenzerlebnis bei sich selbst konstatiert und daraus den Schluß zieht, daß das von ihm begleitete Urteil wahr ist; sondern das Evidenzbewußtsein wirkt für ihn nur als tatsächliches Motiv mit, das Urteil zu vollziehen. Es hat daher auch als Erlebnis des Einen keine Bedeutung für die Zustimmung der andern zu demselben Urteil. Wenn diese zustimmen, so tun sie es natürlich wiederum nicht etwa, weil sie aus dem irgendwie vermuteten oder konstatierten Evidenzbewußtsein der andern den Schluß gezogen hätten, daß deren Urteile wahr sind, sondern weil sie aufgrund des gesetzmäßig - nicht "zufällig", wie HUSSERL will - eintretenden Evidenzbewußtseins, das wir psychologisch allerdings am Besten als Gefühl zu fassen glauben, gar nicht anders können, als ihre Zustimmung zu erteilen. Es hat also auch keinen Sinn, sich andern gegenüber auf dieses Evidenzgefühl zu berufen; denn entweder ist es da oder es ist nicht da. Wir können andere Urteilende, die wir überzeugen wollen - und darum handelt es sich natürlich - nur veranlassen, die Anschauungs- und die Denkakte zu vollziehen, bei denen sich dieses Evidenzgefühl einstellt. Die Richtigkeit des Vollzugs dieser Akte ist das "objektive Kriterium" der Wahrheit, das einzige, auf das wir uns berufen können, wenn es sich darum handelt, in der Auseinandersetzung mit anderen gemeinsam die Wahrheit zu erforschen. Auch, wo die Bedingungen menschlichen Erkennens selbst zum Gegenstand der Forschung gemacht werden, wie dies z. B. in KANTs "Kritik der reinen Vernunft" der Fall ist, verhält es sich nicht wesentlich anders. Von jenem Ineinander von Anschauung und Denken aus, das wir "Erfahrung" nennen, müssen in richtig vollzogenem Regressus die Bedingungen der Möglichkeit dieser Erfahrung abgeleitet werden, und als objektives Kriterium erscheint hier das Prinzip der "Möglichkeit von Erfahrung". Da diese Forschungsarbeit aber, sofern sie selbst Erkenntnis ist, die Möglichkeit des Erkennens schon voraussetzt, kann sie diese Möglichkeit nicht selbst erst beweisen, sondern sie muß sich darauf verlassen, daß jenes letzte, subjektive Kriterium, das den Hintergrund aller Anerkennung von Wahrheiten bildet, seine Schuldigkeit tut. Das objektive Kriterium aber ist auch hier unentbehrlich, da auf ihm allein die Möglichkeit beruth, für die Entscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit einen gemeinsamen Boden zu finden. Aber gerade hier ist der Punkt, wo das Prinzip der Wesensanschauung kaum eine befriedigende Lösung als möglich erscheinen läßt. Das gemeinsame Suchen nach Wahrheit ist von der Möglichkeit abhängig, andere von der Richtigkeit des eigenen Ergebnisses zu überzeugen. Dies aber setzt wiederum die Möglichkeit voraus, den andern dazu zu bringen, daß er sich gewissen gemeinsam für beide gültige Kriterien der Wahrheit unterwirft. Da eine äußere Nötigung ausgeschlossen ist, kann es sich nur um eine innere psychische Nötigung handeln, die als solche zunächst subjektiver Art, die aber an objektive von jedem Denkenden nacherlebbare Momente geknüpft ist. Für die Phänomenologie gibt es im Grunde solche objektive Kriterien überhaupt nicht. (67) Sie fordert von demjenigen, der das Wesen der in Betracht kommenden Objekte erkennen will, die "phänomenologische Einstellung", und wer diese phänomenologische Einstellung vollzieht, "erfaßt" oder "erschaut" ohne weiteres das Wesen jener Objekte, der Erlebnisse. Derjenige, der eine solche Wesensschauung nicht vollziehen zu können behauptet, wird auf die Schwierigkeit des Verfahrens, auf die Notwendigkeit der Übung und auf die Voraussetzung einer völligen Loslösung von allen Vorurteilen des gewöhnlichen empirischen Verfahrens hingewiesen. Ein solches Erkenntnisverfahren stellt sich aber jenseits aller sonstigen Kriterien der Erkenntnis. Jedem Einwand gegen ein Ergebnis einer solchen Wesensforschung, welcher erfahrungsmäßig bekannten Tatsachen entnommen ist, ist entgegenzuhalten, daß er nicht der richtigen Methode entstammt. Denn sobald einmal die Möglichkeit einer Korrektur der Wesensforschung durch die Tatsachenforschung zugegeben wäre, würde der ersteren ihr Sonderrecht und ihre grundlegende Bedeutung genommen. Eine solche Position scheint unangreifbar und ist doch zugleich - zumindest erkenntnistheoretisch betrachtet - hilflos gegenüber jedem Angriff. Denn nachdem sie einen besonderen, auf die bisher erprobte Weise nicht kontrollierbaren, nur dem besonders sich "einstellenden" gangbaren Weg der Erkenntnis behauptet, ermöglicht sie auch dem Gegner, seinerseits ein besonderes der bisher erprobten Kontrolle der Wissenschaft nicht unterworfenes Verfahren, die Wahrheit zu ermitteln, für sich in Anspruch zu nehmen. Aber auch die einer solchen esoterischen Lehre zustimmenden Forscher selbst haben kaum eine Möglichkeit, sich unter sich kritisch auseinanderzusetzen. Zumindest wird sich der kritische Ausgleich der auf einem gemeinsamen Boden erwachsenden Forschungen nur auf Sekundäres beziehen. Denn die Wesensschauung als solche ist ja absolut, sie unterliegt keiner Korrektur durch eine induktive Ableitung aus den Gegebenheiten. Behauptung steht gegen Behauptung; der eine erschaut dies als Wesen eines Erlebnisses, der andere jenes. Alle diese Schwierigkeiten fallen weg, wenn wir HUSSERLs Phänomenologie ihres scholastisch-apriorischen Gewandes entkleiden und in ihr den energischen und mit Scharfsinn durchgeführten Versuch sehen, einer modernen deskriptiven Psychologie (68) zuverlässige begriffliche Grundlagen und ein von der Vermischung mit naturwissenschaftlichen Methoden freies Verfahren zu sichern. Die bisherige Arbeit der Phänomenologie und ihr geschichtliches Recht läßt sich, wie wir bereits gesehen haben, ohne Schwierigkeit unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Ihrer völligen Identifikation mit der Psychologie steht aber noch ein letzter grundsätzlich wichtiger Gesichtspunkt entgegen, der eine gesonderte Betrachtung erfordert.


V. Die Voraussetzungslosigkeit der Phänomenologie
in ihrem Verhältnis zur Erkenntnistheorie

Die Psychologie ist nach HUSSERL eine Erfahrungswissenschaft, die als solche eine philosophische Bearbeitung ihres Erfahrungsgebietes, nämlich eine "systematische, das Psychische immanent erforschende Bewußtseinswissenschaft", bereits voraussetzt. Diese Wissenschaft ist eben die Phänomenologie. Sie ist die voraussetzungslose Grundlage aller Philosophie überhaupt. Fordert man von einer wissenschaftlichen Philosophie eine erkenntnistheoretische Begründung, und wiederum von einer erkenntnistheoretischen Untersuchung, die ernsthaft einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, daß sie dem Prinzip der Voraussetzungslosigkeit genügt, so kann dieses Prinzip nach HUSSERL nicht mehr besagen wollen, "als den strengen Ausschluß aller Aussagen, die nicht phänomenologisch voll und ganz realisiert werden können". (69) Die Phänomenologie kann ja dieser Aufgabe genügen, da sie, ohne irgendwelche des Beweises bedürftige Annahmen vorausschicken zu müssen, vorurteilslos nur "reine Gegebenheiten" beschreibt. Sie liefert damit absolute Anfänge und zuverlässige deskriptive Grundlagen aller Erkenntnis und ermöglich es dadurch, die Philosophie aus dem Stadium der Unwissenschaftlichkeit in das einer "strengen Wissenschaft überzuführen (70).

Wir berühren damit das vielleicht stärkste Denkmotiv der ganzen Phänomenologie. HUSSERL ist sich bewußt, wie nahe er dem Versuch DESCARTES' kommt, den universellen Zweifel durch die Reflexion auf ein unmittelbar Gewisses, im Bewußtsein Gegebenes zu überwinden. Es erscheint ja zunächst nur als eine moderne Fassung jenes Cartesianischen Grundgedankens, wenn der Möglichkeit, daß ein Ich in seinem Erlebnisstrom "nur Phantasien", nur "fingierende Anschauungen" hätte, der Satz gegenübergestellt wird:
    "Das Vorschwebende mag ein bloßes Fiktum sein, das Vorschweben selbst, das fingierene Bewußtsein ist nicht selbst ein fingiertes, und zu seinem Wesen gehört, wie zu jedem Erlebnis die Möglichkeit wahrnehmender und das absolute Dasein erfassender Reflexion." (71
Ein Doppeltes charakterisiert aber den wesentlichen Unterschied. An die Stelle des Cartesianischen Zweifels tritt die universelle "Ausschaltung" oder "Einklammerung" der gesamten Erfahrungswelt, die nur die Welt des "reinen Bewußtseins", die "Welt als Eidos" übrig läßt. Zweitens aber wird das Kriterium der von diesem Ausgangspunkt aus fortschreitenden Erkenntnis nicht rationalistisch in der Klarheit und Deutlichkeit des Denkens, sondern intuitionistisch in der "Wesensschauung" gefunden. Das zweite dieser Grundmerkmale hat uns bereits eingehend beschäftigt, dasa erste aber ist durchaus maßgebend für die Art der Voraussetzungslosigkeit der Phänomenologie in ihrem Verhältnis zur Erkenntnistheorie.

Dieser wichtige Punkt erhält neues Licht, wenn wir dem Standpunkt der Phänomenologie einen anderen modernen philosophischen Versuch gegenüberstellen, von einem gegebenen Ausgangspunkt möglichst voraussetzungslos die Grundlagen der Philosophie zu entwickeln. Nach dem von RICHARD AVENARIUS begründeten Empiriokritizismus ist - ähnlich wie bei HUSSERL die "natürliche Einstellung" - der "natürliche Weltbegriff" der "natürliche Ausgangspunkt allen Philosophierens". Die Weltbegriffe der Philosophie sind nur Variationserscheinungen desselben. Dieser natürliche Weltbegriff zerfällt aber, unter einem formalen Gesichtspunkt betrachtet, alsbald in zwei logisch verschiedenwertige Bestandteile: eine "Mannigfaltigkeit von tatsächlich Vorgefundenem" und eine "Hypothese". Der erstere, der "empiriokritische Befund", scheidet sich wieder in zwei Hauptteile, das "Ich" und die "Umgebung", deren gegenseitige Beziehung unauflöslich ist und daher "empiriokritische Prinzipalkoordination" genannt wird. Der zweite Bestandteil des natürlichen Weltbegriffs besteht darin, "daß ich den mitmenschlichen Bewegungen, welchen, sofern sie nur ls ein von meinem örtlichen Standpunkt aus Vorgefundenes betrachtet werden, tatsächlich nur eine mechanische Bedeutung zukommt, eine mehr als mechanische Bedeutung zuschreibe". (72 Indem nun aber die herrschende Psychologie dieses noch anzunehmende "Amechanische" als "Empfindungen", die ihren Ort im "Gehirn" haben, in uns hineinverlegt, wird durch diese "Introjektion" der ganze natürliche Weltbegriff gefälscht, und es entsteht erst dadurch die ihm fremde Scheidung in eine äußere und innere Welt. Die "Kritik der reinen Erfahrung" soll dann diese Introjektion wieder ausschalten, um den unvariierten natürlichen Weltbegriff wieder herzustellen. (73 Der Weg aber, auf dem dies geschieht, zeigt, daß schon das "Vorgefundene" im Licht einer bestimmten Wissenschaft betrachtet wurde (74. Die menschlichen Individuen erscheinen als "hochentwickelte Organismen" mit einer "Mehrheit von Teilsystemen", die "Umgebungsbestandteile" als Änderungsbedingungen für den Organismus, das dem Gehirn entsprechende zentrale nervöse Teilsystem C tritt völlig an die Stelle dessen, was dem natürlichen Erkennen etwa als "Ich" oder als Selbstbewußtsein gilt, und das ganze System steht durchaus unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung des Gesamtorganismus. (75

Was also hier herauskommt, ist keine Variationserscheinung des natürlichen Weltbegriffs, sondern eine Beseitigung desselben zugunsten eines andersartigen wissenschaftlichen Weltbegriffs, nämlich des biologischen, der bereits die Art und Weise der Beschreibung des Vorgefundenen bestimmt hat.


VI. Der Begriff der Intention und
die Bildertheorie

Formal dieselbe, wenn auch material eine ganz anders orientierte Vermischung eines natürlichen und eines wissenschaftlichen Weltbegriffs scheint mir nun die Phänomenologie HUSSERLs zu enthalten. "Ich und Umgebung", der "empiriokritischen Prinzipialkoordination", entspricht bei HUSSERL die "Intentionalität". Dieser Begriff schließt sich an FRANZ BRENTANOs Abgrenzung der "psychischen Phänomene" an, der jedes psychische Phänomen "durch das charakterisiert" sein läßt, "was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (wohl auch mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier keine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden". Auch für HUSSERL ist das Bewußtsein eine zusammenfassende Bezeichnung für "jederlei, psychische Akte" oder "intentionale Erlebnisse". Es handelt sich dabei aber nicht, wie BRENTANOs Ausdrucksweise nahelegen könnte, um einen realen Vorgang oder ein reales sich Beziehen, das sich zwischen dem Bewußtseini oder Ich und der "bewußten" Sache abspielen würde, auch nicht um ein Verhältnis zwischen zwei gleicherweise im Bewußtsein real zu findenden Sachen: "Akt und intentionales Objekt". Im intentionalen Erlebnis ist ein Gegenstand "gemeint", es ist auf ihn "abgezielt" "und zwar in der Weise der Vorstellung oder zugleich der Beurteilung usw." und darin liegt nichts anderes, als "daß eben gewisse Erlebnisse präsent sind, welche einen Charakter der Intention haben und speziell der vorstellenden, urteilenden, begehrenden Intention usw." (76 Ein solches Erlebnis kann natürlich mit dieser seiner Intention im Bewußtsein vorhanden sein, ohne daß der Gegenstand überhaupt existiert und vielleicht gar existieren kann.
    "Jupiter stelle ich mir nicht anders vor als Bismarck, den Babylonischen Turm nicht anders als den Kölner Dom, ein regelmäßiges Tausendeck nicht anders als einen regelmäßigen Tausendflächner." (77
Damit tritt ein grundwesentlicher Unterschied hervor zwischen Sein als Erlebnis und Sein als Ding. Zum Wesen des Erlebnisses gehört es, daß es in einer immanenten Wahrnehmung wahrnehmbar ist, zum Wesen eines Raumdinglichen aber, daß es das nicht ist (78. Wir bezeichnen daher das Ding als "schlechthin transzendent". Zu dieser prinzipiellen Unterschiedenheit der Seinsweisen, der kardinalsten, die es überhaupt gibt, zwischen Bewußtsein und Realität, zwischen Immanenz und Transzendenz, gehört aber auch ein "prinzipieller Unterschied der Gegebenheitsart". Ein Ding nehmen wir dadurch wahr, daß es "sich abschattet" nach seinen verschiedenen Bestimmtheiten. Ein Erlebnis, ein Gefühlserlebnis z. B. schattet sich nicht ab. "Blicke ich darauf hin, so habe ich ein Absolutes, es hat keine Seiten, die sich bald so bald so darstellen könnten." (79

Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Intentionalität wird noch deutlicher nach der negativen Seite in der Ablehnung jeglicher "Bilder-" oder "Zeichentheorie". Wenn man sagt: "Draussen" ist das Ding selbst, im Bewußtsein ist als sein Stellvertreter ein Bild, so übersieht man völlig den wichtigsten Punkt, nämlich, "daß wir im bildlichen Vorstellen aufgrund des erscheinenden "Bildobjekts" das abgebildete Objekt (das "Bildsujet") meinen." (80. Die Bildertheorie vermag ja nicht zu erklären, wie "wir über das im Bewußtsein allein gegebene "Bild" hinauskommen und es als Bild auf ein gewisses bewußtseinsfremdes Objekt zu beziehen vermögen". Auch die gegenseitige Ähnlichkeit, die zwischen Bild und Sache behauptet wird, macht ja das eine nicht zum Bild des andern. Das Bewußtsein selbst müßte dem wahrnehmungsmäßig ihm erscheinenden Objekt erst die "Geltung" oder "Bedeutung" eines Bildes verleihen. Die Auffassung als Bild setzt also selbst schon ein dem Bewußtsein intentional gegebenes Objekt voraus, und würde offenbar auf einen unendlichen Regress führen, da das Objekt selbst immer wieder durch ein Bild konstituiert sein müßte. Auch die Zeichentheorie unterliegt demselben Einwand. Denn auch sie setzt ein "fundiertes Aktbewußtsein" voraus, damit das Zeichen auf den Gegenstand bezogen wird. Es ist überhaupt ein schwerer Irrtum, wenn man "einen reellen Unterschied zwischen den "bloß immanenten" oder "intentionalen" Gegenständen auf der einen und ihnen eventuell entsprechenden "wirklichen" und "transzendenten" Gegenständen auf der anderen Seite macht". Man braucht es vielmehr nur auszusprechen, und jedermann muß es anerkennen: daß
    "der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand, und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden. Der transzendente Gegenstand wäre gar nicht Gegenstand dieser Vorstellung, wenn er nicht ihr intentionaler Gegenstand wäre." (81
Damit ist die erkenntnistheoretische Stellung oder - wie wir im Sinn der Phänomenologie besser sagen würden - die nicht-erkenntnistheoretische oder vor-erkenntnistheoretische Stellung der Phänomenologie mit aller wünschenswerten Schärfe gekennzeichnet.

Knüpfen wir zunächst an die Polemik gegen die Bildertheorie an, so läge es nahe, zuvörderst daran zu erinnern, daß die Ansicht, unsere Wahrnehmung könnte an die Dinge nur herankommen durch bloße "Abschattungen" derselben, während Erlebnisse sich nicht "abschatten", doch mit der Bildertheorie recht viel Ähnlichkeit hat, sofern der Schatten als ein auf die Umrißlinien reduziertes Bild des "Abgeschatteten" betrachtet werden kann. Unser Interesse ist jedoch in erster Linie der tieferen Frage zugewandt, inwieweit es der Phänomenologie hier gelungen ist, falschen, in das Verhältnis von Ding und Wahrnehmung hineingetragenen Voraussetzungen eine voraussetzungslose Erfassung der "Gegebenheiten" gegenüberzustellen; und diese Frage wiederum hängt auf das Engste zusammen mit der andern nach dem Verhältnis der naiven und der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, des "natürlichen" und des "wissenschaftlichen Weltbegriffs". Es zeigt sich nämlich, daß die hier vorgebrachten Einwände gegen eine richtig verstandene Bilder- oder Zeichentheorie sich nur dann als triftig erweisen, wenn beide Betrachtungsweisen miteinander vermischt werden, daß sie sich aber bei reinlicher Scheidung derselben auflösen.

Greifen wir irgendein Beispiel heraus.
    "Vor mir liegt im Halbdunkel dieses weiße Papier. Ich sehe, ich betaste es. Dieses wahrnehmende Sehen und Betasten des Papiers ... ist eine cogitatio, ein Bewußtseinserlebnis. Das Papier selbst mit seinen objektiven Beschaffenheiten, seiner objektiven Lage zu dem Raumding, das mein Leib heißt, ist nicht cogitatio, sondern cogitatum, nicht Wahrnehmungserlebnis, sondern Wahrgenommenes. Nun kann ein Wahrgenommenes selbst sehr wohl ein Bewußtseinserlebnis sein; aber es ist evident, daß so etwas wie ein materielles Ding, z. B. dieses im Wahrnehmungserlebnis gegebene Papier, prinzipiell kein Erlebnis ist, sondern ein Sein von total verschiedener Seinsart." (82
Daß dieses von mir wahrgenommene Papier als "materielles Ding" "ein Sein von total verschiedener Seinsart", ebenso wie ich es wahrnehme, ein transzendentes Ding ist, kann ich doch nur behaupten, wenn ich mich in den Standpunkt des naiven Denkens hineinversetze. Tue ich das aber, so muß ich es auch mit voller Konsequenz tun. Für das naive Denken existiert dieses Ding "außerhalb" des Wahrnehmenden. Von einem "Bild" ist erst die Rede, wenn das Ding nicht mehr wahrgenommen, nicht mehr gesehen, gehört, betastet wird. Er kann sich davon ein Bild machen, das dem wahrgenommenen Ding ähnlich ist. Diese Ähnlichkeit stellt aber nicht Bild und Sache auf die gleiche Stufe, so daß sie vertauschbar wären; denn das Bild ist ja in ihm. Kommt er in den Fall, das Bild mit dem Ding selbst zu vergleichen, so ist die Auswahl dessen, was er "meint", eben durch die Ähnlichkeit des "Inhalts", der für ihn mit dem "Gegenstand" zusammenfällt, gegeben, das Ding selbst aber dadurch hinreichend charakterisiert, daß es "draußen" ist. Auch ein unendlicher Regressus braucht nicht zu entstehen; denn das Bild ist ja doch nur deshalb nötig, weil der Gegenstand selbst nicht da ist; das Bild selbst bedarf dieser Vermittlung nicht.

Gehen wir nun von hier zur wissenschaftlichen Betrachtungsweise über, so sehen wir dabei ab von den ältesten Bildertheorien, von der Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung durch EMPEDOKLES und DEMOKRIT aus en in die Sinnesorgane eindringenden, von den Dingen sich ablösenden Bilderchen. In einer KANTs Philosophie geschichtlich voraussetzenden Erörterung können wir vom Verhältnis zwischen Ding und Wahrnehmung nicht reden, ohne uns der Abhängigkeit des "Dings" von uns, den Wahrnehmenden, von unseren Anschauungs- und Denkformen bewußt zu sein. Der Gegenstand der Erkenntnis wird mit Notwendigkeit zum Problem. Dem entgeht auch der Gegenstand nicht, den wir "meinen". Reden wir einmal von "intentionalen Erlebnissen" und sind alle Erlebnisse als etwas "Bewußtes" erkannt, so stehen wir bereits auf dem Boden des kantischen Grundgedankens, und wir können von der in jenen Erlebnissen enthaltenen Gegenstandsbeziehung nicht mehr so sprechen, als ob der damit "gemeinte" Gegenstand unabhängig von unserem Vorstellen und Denken gegeben wäre. Auch die "Wesensschauung" kann sich dem nicht entziehen, auch ihr muß der Gegenstand zum Problem werden, nachdem er einmal im intentionalen Erlebnis als miterlebt angesehen und damit in den subjektivierenden Prozeß hineingezogen ist. Um eine bl0ße Beschreibung von Gegebenem kann es sich dann nicht mehr handeln; denn das "Gegebene", das "Objekt" der Wahrnehmung ist seinem Inhalt nach ja bereits als Geist von unserem Geist erkannt. An die Stelle der bloßen Deskription tritt, wie NATORP in einer Auseinandersetzung mit HUSSERL sagt, (83 die "Rekonstruktion". Die Gegenstandsbeziehung von dieser Konsequenz loszulösen, wäre nur dann möglich, wenn wir auf dem Standpunkt der naiven Betrachtungsweise stehen blieben, für die Inhalt und Gegenstand der Wahrnehmung samt allen Empfindungsdaten "außerhalb unseres Bewußtseins gegeben sind. Damit aber fällt die ganze "Erlebnis"-Lehre dahin.

Kehren wir ferner nochmals zu der Bilder- und zu der Zeichentheorie (von welchen die letztere nur für die wissenschaftliche Betrachtungsweise in Betracht kommt) zurück, so zeigt sich, daß auch gegenüber einer konsequent durchgeführten wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise zumindest die hier angeführten Einwände sich nicht als stichhaltig erweisen. Stellen wir uns z. B. auf den kantischen Standpunkt und nehmen an, die unmittelbare Beziehung einer Erkenntnis auf Gegenstände in der Anschauung sei nur dadurch möglich, daß der "Gegenstand das Gemüt auf gewisse Weise affiziere", so fallen im Augenblick der Anschauung "Bild" oder "Zeichen" des Gegenstandes mit diesem selbst zusammen; in der Reproduktion aber liegt die Beziehung auf den Gegenstand allerdings nur in der Ähnlichkeit des Bildes mit diesem selbst oder in der Vertretung desselben durch das "Zeichen", was sich auch darin zeigt, daß das "Bild" oder "Zeichen" irrtümlich auch auf einen anderen ähnlichen Gegenstand bezogen werden kann. Ein unendlicher Regressus ist nicht die notwendige Folge, da die Vertretung des Gegenstandes durch ein Bild oder Zeichen durch die Abwesenheit einer äußeren "Affektion" bedingt ist, eine Vertretung der Vertretung aber unnötig erscheint. Um die sonstigen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die zweifellos einer solchen Vorstellungsweise anhaften, handelt es sich hier nicht. Es sollte nur gezeigt werden, daß eine kritische Auseinandersetzung mit der Bildertheorie nicht mit Notwendigkeit auf die Lehre von der Intention führt, daß vielmehr die sich hierbei herausstellenden Schwierigkeiten aus einer Vermischung des naiven und des wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Standpunktes entstehen, indem einerseits der "Gegenstand" als ein von seiner Vergegenwärtigung unabhängiges Etwas, andererseits die Wahrnehmung des "Gegenstandes" im Ganzen als ein Bewußtseinserlebnis betrachtet wird.

Dadurch wird aber zugleich die Voraussetzungslosigkeit der Phänomenologie an einem wichtigen Punkt eingeschränkt. Das "absolute Sein des Immanenten", das als solches die unmittelbare "Wesensschauung" als Grundlage aller Wissenschaft ermöglicht, entlehnt seine Absolutheit dem Gegensatz gegen das "bloß phänomenale Sein des Transzendenten". Das Letztere ist aber weder als "Transzendentes", als "Ding" im naiven, noch als "Transzendentes" in einem erkenntnistheoretischen Sinn "bloß phänomenal". Es erhält diesen Charakter erst, indem in die voraussetzungslose Betrachtung der "Gegebenheiten" beim Übergang von der "natürlichen" zur "phänomenologischen Einstellung" ein ganz bestimmter Begriff des "Erlebnisses" hereinkommt. Wir sehen also: wie sich in einem anderen hervorragenden Versuch, vorurteilslos von einem "Vorgefundenen" auszugehen, in demjenigen von AVENARIUS in die Beschreibung mehr und mehr eine - man möchte sagen biologisierende Betrachtungsweise mischt, so ist es hier eine - erkenntnistheoretisch gewiß mögliche, aber mit dem "natürlichen Weltbegriff" nicht übereinstimmende - psychologisierende (84 Betrachtungsweise, welche die Beschreibung des unmittelbar Gegebenen fast unmerklich in einer bestimmten Richtung modifiziert.


VII. Die Notwendigkeit eines im "praktischen
Realismus" gegebenen voraussetzungslosen
Ausgangspunktes.

Aber auch hier, wie in dem früher besprochenen Eintreten der Phänomenologie für eine der Naturwissenschaft gegenüber selbständige deskriptive Psychologie, liegt ein Denkmotiv zugrunde, dessen Befriedigung in einer so geschlossenen logisch-systematischen Form ansich schon der Phänomenologie ihre Bedeutung und ihr geschichtliches Recht sichert. Beschäftigt sich die Erkenntnistheorie mit den im Erkennen als solchem liegenden Voraussetzungen allen Wissens, so ist es eine umso wichtigere Frage, inwiefern sie selbst voraussetzungslos sein oder sich auf voraussetzungslose Anfänge gründen kann. In keinem Fall wird sie dabei umhin können, irgendwie von "Gegebenheiten", zumindest vom Erkennen, ihrem Gegenstand, als "Gegebenheit" auszugehen.

Dies tritt selbst in einer Erkenntnistheorie, die jeden empirischen Einschlag in der Begründung so sorgfältig zu meiden sucht, wie die kantische, deutlich hervor. Sucht KANT die Erkenntnisprinzipien als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung oder - was hier dasselbe bedeutet - der Erfahrungserkenntnis nachzuweisen, so ist diese Beweisführung nur dann triftig, wenn Erfahrung möglich sein muß, nämlich, weil sie wirklich ist. Die Erfahrung als eine "Urtatsache", wie KUNO FISCHER sagt (85, bildet daher den Ausgangspunkt der kantischen Erkenntnistheorie, und zwar "Erfahrung" nicht etwa bloß in einem empirischen Sinn des "Rohstoffs sinnlicher Eindrücke", sondern in dem prägnanten Sinn der bereits erfolgten Verarbeitung dieses Rohstoffs durch die Verstandestätigkeit, da ja ihr Vorhandensein in diesem Sinn von der transzendentalen Deduktion der Kategorien vorausgesetzt wird. Da aber diese Erfahrung doch auch nicht, ohne einen unerträglichen Zirkel hervorzurufen, die philosophisch bearbeitete und in ihre Bestandteile bereits gesonderte Erfahrung des Erkenntnistheoretikers sein kann, so muß es, als Ausgangspunkt wenigstens, die vorwissenschaftliche, oder besser vor-erkenntnistheoretische, die "gemeine" Erfahrung sein, und es vollzieht also auch die theoretische Vernunft, prinzipiell betrachtet, wie die "praktische" bei KANT etwas wie einen "Übergang" von der "gemeinen" "Vernunfterkenntnis" zur "philosophischen" (86.

Wir haben diesen Gedankengang, insbesondere die Frage, wie sich dazu der apriorische Charakter der Erkenntnisprinzipien verhält, hier nicht weiter zu verfolgen (87. Wir stellen nur fest, daß auch bei modernen Forschern, auch bei solchen, bei denen sich keinerlei Zugeständnisse an den Empirismus vermuten lassen, sich die Unvermeidlichkeit eines solchen Ausgangspunktes verfolgen läßt. Als Beispiel sei RICKERT angeführt, der die Notwendigkeit eines von der Erkenntnistheorie vorausgesetzten Objektes, nämlich eben des Erkennens selbst, stark betont (88. Ob dieses Erkennen das Erkennen der Einzelwissenschaften oder des praktischen Lebens ist, macht zumindest im prinzipiellen Verhältnis zur Erkenntnistheorie keinen wesentlichen Unterschied. Auch der Einzelforscher steht als solcher auf einem "naiven" oder "natürlichen" Standpunkt. Auch solche Erkenntnistheoretiker, die, wie z. B. KÜLPE, ausdrücklich bei ihrer Untersuchung die Einzelwissenschaften zugrunde legen, um das in ihnen vorgefundene Verfahren der "Realisierung" zu erforschen (89, setzen daher als Ausgangspunkt das von der erkenntnistheoretischen Reflexion noch nicht berührte Erkennen voraus. Aber auch der erkenntnistheoretisch Reflektierende selbst sieht sich genötigt, immer wieder zu diesem Ausgangspunkt zurückzukehren. Ob er nun ausdrücklich das Erkennen selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung macht oder in einem regressivem Verfahren gleichsam hinter dasselbe auf seine Bedingungen zurückgeht: will er nicht ständig unbegründete Annahmen in seine Theorie hineintragen, so muß er sich immer wieder vergegenwärtigen, was Erkennen, unbeeinflußt von der Theorie von ihm selbst, ist. Und er kann dies; denn so weit er sich auch in seiner Wissenschaft von einem natürlichen Standpunkt entfernt haben mag, im praktischen Leben sieht es sich doch immer im Bann der natürlichen Auffassung, die man auch als "naiven Realismus" bezeichnet hat, die man aber, sofern sie auch für den, der sie wissenschaftlich überwunden hat, im praktischen Leben weiterbesteht, besser als praktischen Realismus bezeichnen würde.

In welcher Weise dieser "praktische Realismus als Ausgangspunkt", der also nicht bloß die Anfänge, sondern die gesamte erkenntnistheoretische Reflexion begleitet, von dieser selbst bearbeitet wird, haben wir hier nicht weiter zu verfolgen. Wir heben nur zwei Folgerungen hervor, die sich für die in unseren Erörterungen berührten prinzipiellen Fragen ergeben. Erstens, daß die Erkenntnistheorie nicht bloß Psychologie sein kann, da sie sonst gerade die im praktischen Realismus sich stets findende Annahme eines vom Subjekt und allen seinen Vorstellungen unabhängigen Seins als Möglichkeit im Voraus ausschalten würde; zweitens, daß für sie die Psychologie - wobei vorläufig unentschieden bleiben mag, ob in der Form z. B. der HUSSERLschen Phänomenologie oder der RICKERTschen Transzendentalpsychologie oder irgendeiner empirischen Psychologie - eine umfassende Bedeutung haben muß, da eine Theorie des Erkennens ohne genaue Kenntnis des nach dem praktischen Realismus "im" Subjekt vor sich gehenden Erkenntnisprozeß nicht denkbar ist. Die Psychologie setzt allerdings die Erkenntnistheorie voraus - aber nur in einer systematischen Ordnung der Wissenschaft, nicht in ihrem Betrieb, im Letzteren schon deshalb nicht, weil ihre wichtigsten Vorgänge, die an das praktische Leben anknüpfenden Vorstellungen, Gefühle, Wollungen nur denselben praktischen Realismus voraussetzen, der auch den Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie bildet, und in ihrer Tatsächlichkeit durch keine erkenntnistheoretische Zerstörung dieses Standpunktes berührt werden. Dagegen bleibt die Anwendung etwaiger erkenntnistheoretischer Ergebnisse auf ihre Erkenntnis als solche ebenso vorbehalten, wie die Erkenntnistheorie selbst, die einem ähnlichen Zirkel verfällt, sich vorbehalten muß, ihre Ergebnisse auf ihre eigene Untersuchung anzuwenden.

Dieser Vorbehalt setzt allerdings wiederum voraus, daß es einen von der Untersuchung selbst noch unberührten Ausgangspunkt gibt und bestätigt damit die Notwendigkeit, von dem auszugehen, was wir als praktischen Realismus bezeichnet haben. Für eine erkenntnistheoretische Reflexion, die ohne ein von ihr selbst noch unberührtes "Gegebenes" sich selbst untersuchen wollte, wäre jener Zirkel unüberwindlich.

Die Erkenntnistheorie als Wissenschaft wird diesen ihren eigenen Ausgangspunkt zerstören, aber sie kehrt doch ständig zu ihm zurück und orientiert sich an ihm. Wie dem Astronomen die scheinbare Bewegung der Himmelskörper, deren Wahrnehmung er mit dem Laien teilt und deren Schein er durchschaut, immer wieder zum Ausgangspunkt und zur steten Orientierung dient, um das Universum wissenschaftlich zu durchmessen, so muß der Denker von der Höhe seiner Abstraktionen immer wieder zum "natürlichen Weltbegriff" zurückkehren, der ihm, obwohl er seine Unhaltbarkeit durchschaut, nicht bloß in seinen Handlungen der selbstverständliche Schauplatz, sondern auch in seinen tiefsten Forschungen und kühnsten Ideen Ausgangspunkt und Orientierungsmittel bleibt.
LITERATUR Theodor Elsenhans - Phänomenologie, Psychologie, Erkenntnistheorie - Kant-Studien, Bd. 20, Berlin 1915
    Anmerkungen
    51) "Ideen" Seite 48.
    52) "Ideen" Seite 36f.
    53) "Ideen" Seite 43f.
    54) vgl. hierzu und zum Folgenden: "Ideen" Seite 34, 118f, 121, 179, 282f.
    55) "Ideen" Seite 85
    56) "Ideen" Seite 285.
    57) "Ideen" Seite 85.
    58) "Ideen" Seite 300.
    59) Welche Qualität diesem Evidenzbewußtsein zukommt, ob es seinem Kern nach ein Gefühl ist oder etwas anderes, darum handelt es sich hier nicht. Vgl. zur erkenntnistheoretischen Seite der Frage mein Werk über "Fries und Kant" II, Seite 95f zur psychologischen Seite mein "Lehrbuch der Psychologie" Seite 289f, Husserls Bemerkung ("Ideen" Seite 39f): die letztgenannten Darstellungen des Lehrbuchs seien "psychologische Fiktionen ohne das mindeste Fundament in den Phänomenen" habe ich mit einiger Verwunderung gelesen. Sollten die dort erwähnten Gefühle intellektueller Befriedigung, die Husserl selbst mit der "Freude über einen frei und fruchtbar ablaufenden theoretischen Gedankengang" ("Ideen" Seite 146) anführt, sollte das vielerörterte "Bekanntheitsgefühl" und die auch von Sigwart "der letzte Ankergrund aller Gewißheit überhaupt"), latuer Erscheinungen, deren Vorkommen, wenn wir von dem hier nicht in Betracht kommenden Streit um die Gefühlsqualität absehen, von den verschiedensten wissenschaftlichen Beobachtern bestätigt wird, wirklich in den "Phänomenen" nicht das "mindeste Fundament" haben? Mir scheint: hier ist wirklich das oft mißbrauchte Wort: "Wer im Glashaus sitzt, usw. schwer zu unterdrücken. Wer uns zumutet, "reine Wesen", reine "Gegebenheiten" zu erschauen, die ein "absolutes Sein" darstellend weder Begriffe noch Anschauungsinhalte in einem uns bekannten Sinn sind, müßte, glaube ich, mit der Anklage der Fiktion zurückhaltender sein.
    60) "Ideen" Seite 151f
    61) "Ideen" Seite 155f.
    62) "Ideen" Seite 156.
    63) vgl. hierzu mein "Lehrbuch der Psychologie", Seite 36f und meine Schrift über "Selbstbeochtung und Experiment in der Psychologie", 1897.
    64) "Ideen" Seite 155.
    65) Diese Unterscheidung findet sich besonders scharf bei Wilhelm Wundt, Psychologismus und Logizismus, Kleine Schriften I, Seite 627f.
    66) Husserl, Logische Untersuchungen I, zweite Auflage, Seite 190f. vgl. hierzu auch mein Buch über "Fries und Kant" II, Seite 96f.
    67) vgl. hierzu Richard Hönigswald, Prinzipien der Denkpsychologie", 1913, Seite 30.
    68) vgl. hierzu auch Heinrich Maier, "Logik und Psychologie", Festschrift für Alois Riehl (1914) Seite 360f.
    69) Logische Untersuchungen II, Seite 19
    70) "Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos, Seite 289f.
    71) "Ideen" Seite 85.
    72) vgl. Avenarius, "Der menschliche Weltbegriff", Leipzig 1891, Seite 144f und "Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1894, Seite 174 und 153.
    73) Avenarius, "Kritik der reinen Erfahrung", 1888, I, VII.
    74) Avenarius, Weltbegriff a. a. O. Seite 144f.
    75) Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung I, Seite 32f. Von der Frage, inwieweit schon im Vorgefundenen psychologische Voraussetzungen mitenthalten sind, die, wie mir scheint, zu bejahen ist (vgl. mein Buch "Fries und Kant" I, Seite 15f) soll hier abgesehen werden.
    76) Logische Untersuchungen II, Seite 366f.
    77) Logische Untersuchungen I, Seite 373. vgl. "Ideen" Seite 64f.
    78) "Ideen" Seite 76f
    79)
    80) Logische Untersuchungen II, Seite 422f. "Ideen" Seite 78f, 99, 186.
    81) Logische Untersuchungen II, Seite 424
    82) "Ideen" Seite 61f.
    83) Paul Natorp, Allgemeine Psychologie I (1912) Seite 286f und 33f.
    84) im weitesten auch eine die Phänomenologie mit umspannenden Sinn.
    85) Kuno Fischer, Kritik der kantischen Philosophie, Seite 91, 99f. Ähnlich, wenn auch von einem anderen Standpunkt aus Alois Riehl, Kritizismus I, Seite 303: "der Begriff der Erfahrung ist der feste Grund, die einzige Voraussetzung der kantischen Erkenntnistheorie."
    86) vgl. die Überschrift des I. Abschnitts der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten": Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen.
    87) Ich muß auch hierfür auf mein Buch über "Fries und Kant" I, Seite 30f verweisen.
    88) Heinrich Rickert, "Zwei Wege der Erkenntnistheorie", Transzendentalpsychologie und Transzendentallogik, Kant-Studien XIV, Heft 2, Seite 4f; ders. "Der Gegenstand der Erkenntnis", zweite Auflage (1904), Seite 1f.
    89) Oswald Külpe, Die Realisierung, ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften I (1912), Seite 2f.