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Der Zusammenbruch des Rationalismus [ 2 / 2 ]
III. Der Zusammenbruch des Rationalismus Ich habe nunmehr an einigen Hauptpunkten das Verhältnis von Wissenschaft und Leben, wie es sich gestaltet hat in der Entwicklung des Rationalismus, zu zeigen versucht. Der Rationalismus galt mir weniger als erkenntnistheoretische Richtung, denn als geistige Gesamthaltung. Diese Gesamthaltung kann man auch dort noch erkennen, wo man sich, wie beim Empirismus, in den technischen Formulierungen der Probleme scharf vom Rationalismus abheben zu müssen glaubte. - Der eine ursprüngliche Impuls der Neuzeit wirkt durch alle verschiedenen Einzelgestaltungen hindurch, denn auch die Gegensätze sind nur verständlich aus den gemeinsamen Voraussetzungen und Zielen. Ändern sich diese, so muß sich auch die ganze Problemstellung ändern, d. h. in diesem Fall: das Verhältnis von Wissenschaft und Leben muß ein anderes werden. Inzwischen ist aber Folgendes eingetreten: Wir sind auf allen Gebieten über die Voraussetzungen des Rationalismus hinausgewachsen: die Ziele seiner Sehnsucht haben wir als unerfüllbar, halb schmerzlich und halb freudig, aufgegeben. Das hat auch unsere Stellung zum Leben verändert. Wir erfassen es nicht mehr mit der Wissenschaft, in dem, was es ist, noch weniger in dem, was es sein wird. Die Wissenschaft hat ihre erkenntnistheoretische Autonomie verloren; sie ist Mittel und Werkzeug des Lebens geworden; vielleicht das vornehmste und wichtigste, aber immerhin doch nur ein Mittel. Aber die Wissenschaft hat an Weite und Beweglichkeit gewonnen, was sie an Absolutheit verloren hat. Sie hat eine innere Strukturveränderung durchgemacht von umwälzender Bedeutung. Da sie die Ziele des Rationalismus nicht mehr erreichen kann, hat sie sich andere setzen müssen. Ich gehe nun in Folgendem den umgekehrten Weg, den ich in den bisherigen Ausführungen gegangen bin. Bisher ging ich von der Wissenschaft aus und versuchte zu zeigen, wie die ihr eigentümlichen Motive und Tendenzen das Leben erfassen und gestalten. Jetzt will ich zuerst vom Leben ausgehen und will zeigen, wie sehr sich dieses gewandelt hat gegen die Zeit des Rationalismus, wie sehr der Rationalismus mit seinen Zielen und Werten gegenüber unserem Leben versagt. Ich beginne mit dem Zusammenbruch des geschichtsphilosophischen Rationalismus. Dieser unternimmt gegenüber dem Ganzen der Geschichte denselben Versuch wie der metaphysische und phänomenologische Rationalismus gegenüber der Natur: aus letzten, zeitlos gültigen Begriffen eine abschließende Erkenntnis von den Grundzügen der geschichtlichen Wirklichkeit zu gewinnen. Alle diese geschichtsphilosophischen Versuche sind aufs Tiefste beeinflußt von BOSSUET. Er expliziert Gott an der Geschichte der Juden; HERDER, der Vorläufer des geschichtsphilosophischen Rationalismus, tut dies an der Geschichte aller Völker. Die Geschichte hatte in der Aufklärung keine Beziehung zur Metaphysik. Das Problem der Teleologie, das der Aufklärung des 18. Jahrhunderts besonders am Herzen lag, bezog nur das Reich des Organischen auf den Weltgrund. Bei HERDER vereinigen sich nun BOSSUETs theologisierende Geschichtsauffassung und die auf die Teleologie des Organischen gerichtete Aufklärung. Was HERDER in großen, genial geführten Linien als Gebiet der Geschichtsphilosophie abgesteckt hatte, das wird zur Domäne des geschichtsphilosophischen Rationalismus. Seine Eigenart besteht im Beziehen der Menschheitsgeschichte auf den Weltgrund und in dem Versuch, dieser Beziehung die Form der Wissenschaft zu geben, d. h. dem zeitlichen Nacheinander jede Zufälligkeit zu nehmen, um es intellektuell begreifen zu können. Die Sehnsucht des Rationalismus nach überschaubaren Zusammenhängen und nach zeitlos gültigen Urteilen hat erst gegenüber der Geschichte ihre höchste Erfüllung erlangt. Man denke sich folgende Lage: der Mannigfaltigkeit der Natur glaubte man Herr geworden zu sein; von wenigen durchsichtigen und einfachen Prinzipien aus begriff man sie, sei es nun in der mechanistischen Naturauffassung der französischen Enzyklopädisten, sei es in der Form der synthetischen Urteile a priori, in den die gestaltenden Faktoren der unseren Sinnen gegebenen Natur erfaßt waren. Man hatte die Möglichkeiten der Erkenntnis umschrieben; was von der Natur erkannt, und wie sie erkannt werden kann, das glaubte man für alle Zeiten festgelegt zu haben. Und nun strömte am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts die Fülle der geschichtlichen Bildungen in das Bewußtsein der Menschen; die verschiedenen Gebiete des geistigen Lebens ballten sich zu großen Einheiten zusammen, die in sich selbst scheinbar die Gesetze ihrer Entwicklung trugen. Die Aufklärung sah nur ein an die einzelnen Individuen zerstreutes geistiges Leben; nun löste sich der Blick von den Individuen und ließ diese als zufällige und zu vernachlässigende Momente fallen. Und jetzt, wo man die Persönlichkeit mit ihren Entscheidungen als vorwärtstreibenden Faktor aus dem Prozeß entfernt hatte, konnte die unpersönliche Notwendigkeit in einem Nacheinander der Geschehnisse intellektuell bemeistert werden.
Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts glaubte man eine überschaubare Anzahl historischer Potenzen zu besitzen, die einem mehr oder weniger geschlossenen Kulturkreis angehörten. Man befand sich im Bann von Aufgaben, welche die Gegenwart mit den früheren Jahrhunderten verbanden. Und man hatte ganz bestimmte Lösungen dieser Aufgaben, definitive Lösungen, auf die irgendein dauernder Zustand als die Zeit der letzten Erfüllung folgen sollte. Man war sich zwar nicht einig über das Mittel, diesen Zustand zu erreichen, aber daß es ein Mittel ist, daß ein einziger Weg zu diesem Ziel, zum tausendjährigen Reich, führt, darüber war man sich einig. Nur in dem einigen und innigen Glauben daran bekämpfte man sich. So weit ein ROUSSEAU, VOLTAIRE, COMTE, MARX in ihren Anschauungen auch auseinander gehen, so stehen sie doch alle unter derselben rationalistischen Auffassung, die die geschichtliche Welt für überschaubar und abschließbar hält. Sie alle glauben an restlosse Erfüllungen bestimmter Ideen. Daher die kühne Sicherheit in ihren Forderungen. Wir mußten aber seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein völlig neues Verhältnis zur Geschichte zu gewinnen suchen, und zwar aus Erfahrungen heraus, die allen Rationalismus gesprengt haben. Uns ist der Kampf der Prinzipien mit den konkret gegebenen Verhältnissen nicht etwas vorübergehendes, sondern etwas im Wesen der Dinge selbst begründetes. Was der rationalistischen Geschichtsphilosophie ein zeitlich vorübergehender Zug war, ist uns ein untilgbares Moment geschichtlichen Lebens überhaupt. So haben wir z. B. im Staatsgedanken die ewige Unverträglichkeit seiner beiden Hauptmomente erkannt: der Macht und des Rechts. Die großen Konflikte der Geschichte wechseln nur ihr äußeres Gewand. Sie tauchen immer wieder von Neuem auf; ja, noch mehr: wir wissen, daß stets neue Konflikte und Probleme entstehen, wenn die alten teilweise ihre Lösung gefunden haben. Die Wirklichkeit ist immer überraschend in einem guten wie in einem schlechten Sinn. Das Unvorhersehbare ist das Kennzeichen der Geschichte. Wir haben zuviele Enttäuschungen und Überraschungen im letzten Jahrhundert erlebt, um nicht gegen all geschichtsphilosophischen Deduktionen mißtrauisch zu sein. Und hier ist es nun am Ort, auf die starke Irrationalität hinzuweisen, welche die moderne Technik dem geschichtlichen Leben gebracht hat. Die moderne Technik ist in jedem ihrer Gebild ein Triumph rationaler Gestaltung wissenschaftlicher Prinzipien; im Ganzen ihrer Entwicklung und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten zeigt sie hingegen ein durchaus irrationales Gepräge. Denn sie unterscheidet sich von aller früheren Technik wesentlich dadurch, daß in ihr längeren Stabilisierungsperioden aufgehört haben, und sie unaufhaltsam der Beherrschung immer neuer Energiearten zustrebt. Es scheint, als ob die Technik mit der Erfindung der Dampfmaschine einen toten Punkt überwunden hat, um jenseits derselben einem Tempo zunehmender Beschleunigung zu folgen. Nur die Richtung dieser Bewegung ist gegeben: Beherrschung der anorganischen Energien - aber welche neuen Energiearten sich der Beherrschung darbieten werden, das entzieht sich jeder Voraussicht und Berechnung; denn die Wissenschaft, der sich die Technik im Laufe des 19. Jahrhunderts immer enger angeschlossen hat, sieht in den bisher entdeckten Energien nur einen geringen Bruchteil der im Universum vorhandenen Energiearten. Ein Gefühl des Unabgeschlossenen und Vorläufigen unseres Wissens und Könnens beseelt und beseeligt die Forscher unserer Zeit. Dieser doppelt beflügelte Glaube, daß die Wissenschaft uns immer neue Energiequellen des Universums erschließen wird, und daß die Technik imstande sein wird, diese Energien in den technischen Machtbereich des Menschen hineinzuziehen, dieser Glaube, sage ich, gibt der modernen Technik die dramatische Spannung und umspielt sie mit jenem Zauber zukunftsstolzer Hoffnungen, der der Romantik des Empirismus eigen ist. Und dies möchte ich als das heraklitische Moment der modernen Technik bezeichnen, daß sie alle Beharrung von sich weist, und daß sie durch die ihr zur Verarbeitung zuströmenden neuen Energien nie zur Ruhe und zum Abschluß kommen kann. Hinter Dampf und Elektrizität tauchen schon als neue Energiequellen jene radioaktiven Energien auf, die wir eben erst im Begriff sind, wissenschaftlich zu erkennen. Nun weist Professor EBERT auf den Atomzerfall der Radioelemente als auf eine neue Energiequelle hin. Und RAMSAY äußert sich in seinem Buch "Vergangenes und Künftiges aus der Chemie" Phänomene in folgender Weise:
Dieser Irrationalismus des technischen Entwicklungsprozesses bekommt aber erst dadurch die eigentliche Steigerung, daß der Zusammenhang von Technik und allgemeiner Kultur immer enger wird. Die allgemeine Kultur stand schon immer in einer Abhängigkeit vom jeweiligen Stand der Technik. Doch zu keiner Zeit war die Technik so sehr das Schwungrad der Kultur wie in der Gegenwart. In verstärktem Sinn ist durch Dampf und Elektrizität die Technik ein Faktor des geschichtlichen Lebens geworden. Sie ist an Macht und Bedeutung den politischen Faktoren zumindest gleich geworden. Und wenn nicht alles trügt, rückt sie immer mehr zu denjenigen Potenzen vor, in denen die Entscheidungen über Völkerschicksale liegen. Bei einer solchen Lage der Dinge gewinnt der Irrationalismus des technischen Entwicklungsprozesses eine besondere Bedeutung für die soziale Dynamik. Das Vorwärtsdrängen der Technik in unvorhersehbaren Richtungen, die Beschleunigung im Tempo aufeinanderfolgender Erfindungen und Verbesserungen, die Ungewißheit über die Zukunftsgestaltung technischer Aufgaben, all das teil sich jenen Gebieten mit, die in unmittelbarer Abhängigkeit von der Technik stehen. Ich greife als Beispiele nur zwei Gebiete heraus: das Kriegswesen und die Volkswirtschaft. Das Kriegswesen folgt wohl am schnellsten allen Fortschritten der Technik. Wo die Existenz des Staates auf dem Spiel steht, da treten alle anderen Rücksichten zurück, wie es wohl auch der Krieg war, der zu allen Zeiten am meisten zu neuen technischen Leistungen anspornte. Das Ziel des Krieges ist immer dasselbe geblieben: die Vernichtung des Feindes. Aber die Mittel zu diesem Ziel sind mit wachsender Technik immer verwickelter geworden. Wenn auch die Eisenbahnen den Aufmarsch der Millionenheere rationalisiert haben, so werden doch die Bedingungen, unter denen die Truppe sich an den Feind heranarbeiten muß, immer komplizierter. Dazu kommt noch, daß die fortwährenden Wandlungen der Waffentechnik ein schwer zu bannendes Moment der Unsicherheit in der Taktik hervorgerufen haben. Die Bedürfnisse des Angriffs und die Bedürfnisse der Verteidigung treiben zu immer neuen Erfindungen, die sich letztenendes selbst aufheben und eine Art circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] darstellen. Man denke nur, wie Panzerplatte und Granate sich gegenseitig steigern. Damit betrete ich bereits das volkswirtschaftliche Gebiet. Hier sind die irrationalen Momente der Technik genugsam bekannt. Der Siegeszug der Maschine geht oft über zertrümmerte Existenzen. Technische Verbesserungen steigern die Produktion so sehr, daß die Konsumtion hinter ihr zurückbleiben muß, wodurch Krisen und Depressionen aller Art entstehen.
Ich habe noch eine Art von irrationaler Wirkung der Technik zu erwähnen: der mehr indirekten Auslösungen, welche neue Erfindungen in einem historisch gegebenen Milieu hervorrufen. Eine Erfindung, die zu einem eng begrenzten Zweck gemacht worden ist, greift in ihren Folgen weit über die Befriedigung der unmittelbaren Absicht, von der aus sie ins Leben gerufen wrude, hinaus und kann Veränderungen geschichtlicher Lagen hervorbringen, die in keinem Verhältnis zu der in ihr verkörperten technischen Leistung stehen. Als bekannte Beispiele der Vergangenheit nenne ich u. a. das Schießpulver und die Buchdruckerkunst. Für die moderne Technik will ich nur auf zwei solcher indirekter Wirkungen hinweisen. Zuerst auf das Rassenproblem. Es ist ein indirekte Wirkung der Entwicklung der Verkehrstechnik. Diese hat die frühere geographische Abgeschlossenheit der Rassen aufgehoben und die heterogensten [ungleichartigsten - wp] Rassen in plötzliche Reaktionsnähe gebracht. Eine andere indirekte Auslösung der modernen Technik ist die Frauenbewegung, sowohl nach ihrer geistigen wie nach ihrer ökonomischen Seite. Durch die mobilisierte Bedürfnisdeckung der Technik wurde ein großer Teil Frauenkraft von der Arbeit im Haus frei und mußte sich neue Möglichkeiten der Betätigung suchen. Die Irrationalität dieser indirekten Wirkungen der Technik wird besonders noch dadurch erhöht, daß sie sich erst nach Ablauf einer längeren Zeitperiode einstellen, wenn die Erfindung selbst gar nicht mehr als neu empfunden wird. Vergeblich bemüht sich die Generation, die unter dem Bann einer großen Erfindung steht, den neuen veränderten Zustand der Dinge vorauszudenken. Sie kommt über farblose Allgemeinheiten nicht hinaus. Wir befinden uns alle gegenüber einer großen Erfindung in derselben rat- und hilflosen Verfassung, in der der Vater des großen Mediziners KUSSMAUL sich befand, als er, unter dem Eindruck der ersten Eisenbahn stehend, in die Worte ausbrach: "Nichts ergreift mich mehr als diese Erfindung; eine neue Welt ersteht, und ich sinne vergeblich, wie sie sich gestalten mag." Diese Unübersehbarkeit der nächsten Zukunft wird bei gleichbleibendem Tempo aufeinanderfolgenden Erfindungen ein nicht mehr zu bannendes Moment der Menschheitsgeschichte werden. Im Hinblick auf die indirekten Wirkungen der Technik kann man den Satz aufstellen: Je mehr eine Epoche das Dasein technisch rationalisiert, umso größer wird die Summe der Irrationalitäten in der nächsten. Damit komme ich zur Frage des Fortschritts. Betrachtet man die Technik ansich, so stellt sie einen Fortschritt in zwei Richtungen dar. Einmal in der Steigerung des Nutzeffekts der Rohenergien und dann in der Beherrschung neuer Energien. Aber betrachten wir die Technik als Faktor der Geschichte, in ihrer Verschlingung mit dem Gesamtleben der Menschheit, so bekommt die Frage des Fortschritts einen irrationalen Zug. Es hat den Anschein, als ob, wie in der Wissenschaft, so auch in der Technik mit jedem Problem, das gelöst wird, neue Probleme entstehen. Es scheint, als ob der Fortschritt mehr im Herausarbeiten immer neuer Probleme als in einem allmählichen Vermindern der Probleme besteht. Die Technik sollte uns befreien von den blinden Gewalten der Natur. Sie hat es in hohem Maß getan. Aber gleichzeitig ist das Gebiet der Zwangsläufigkeit für Menschen in erschreckendem Maß gewachsen. Die Technik sollte dem Menschen das Dasein übersichtlicher und zukunftssicherer gestalten; sie hat es auch getan. Aber gleichzeitig hat sie einen Zustand der Unübersichtlichkeit geschaffen, wie er nie zuvor in der Menschheit vorhanden war. Je weiter die Technik fortschreitet, umso empfindlicher wird der Gesamtorganismus gegen innere und äußere Störung. Es liegt hier eine Parallelerscheinung zur biologischen Entwicklung vor, in der auch die Wesen mit komplizierterer Organisation leichter anfällig sind. Es liegen im Fortschritt der Technik selbst Probleme, welche nicht wieder durch die Technik ihre Lösung finden können. Nur ein Teil der Wunden, welche die Technik schlägt, vermag sie wieder zu heilen. Der Gedanke, den Enthusiasten der Technik oft geäußert haben, daß der technische Forschritt direkt den Fortschritt der Vernunft bedeutet, dieser Gedanke läßt sich angesichts der Gegensätzlichkeit im Fortschritt der Technik nicht aufrecht halten. Die moderne Technik hat ein starkes Gefühl von sozialem Relativismus erzeugt und damit eines der Hauptmomente des geschichtsphilosophischen Rationalismus gesprengt. Von den Zeiten PLATOs her war es das Bestreben des Rationalismus, eine absolut gültige soziale Organisation zu entwerfen. Das Mittel hierzu war, die soziale Organisation anzuknüpfen an eine vermeintliche metaphysische Ordnung der Welt und sie dadurch jeder Veränderung zu entziehen. Diese Festlegung eines bestimmten sozialen Zustandes, mit allem, was er an zeitlichen Zufälligkeiten und Härten enthielt, diesen rationalistischen Absolutismus, mit dem die politische Gewalt so oft allen Antrieb, die Dinge zu einem besseren Menschenlos umzugestalten nieder hielt, hat die moderne Technik vernichtet. - Und damit kommt ich zu einem letzten Punkt im Zusammenbruch der rationalistischen Geschichts- und Geistesphilosophie: der Unmöglichkeit eines Abschlusses in den geistigen Werten. Die Erkenntnis fortquellenden Lebens auf religiösem und ethischem Gebiet hat uns dazu geführt, auf zeitlos gültige Normen zu verzichten. In der Religionsphilosophie ist der Glaube an eine absolute Religion unmöglich geworden. Dieser Glaube hat zur Voraussetzung, daß die Entwicklung der Religion im zeitlichen Nacheinander ihrer Erscheinungsformen zugleich eine immer höhere Steigerung ihres Wahrheitsgehaltes offenbart. Das setzt aber wiederum voraus, daß wir einen festen unwandelbaren Begriff vom Wesen der Religion haben - was der Rationalismus auch zu haben vorgab. In Wirklichkeit war aber dieser Begriff eine Abstraktion aus den geschichtlich vorliegenden Formen des religiösen Bewußtseins, also etwas Vorläufiges, das vom jeweiligen Denker mit Absolutheit umkleidet wurde. Dazu kommt ein Zweiges die moderne Religionsphilosophie und Theologie sieht nicht mehr im Dogma und den religiösen Vorstellungen, sondern im Erlebnis das Primäre der Religion. Dann darf sie aber umso weniger von einer absoluten Religion sprechen, d. h. von einer Religion, der keine neuen Erfahrungen zuquellen. Und nun noch ein Drittes: absolute Religion, das bedeutet zugleich, daß es eine Religion für alle geben kann und geben soll. Hiergegen hat JAMES in seiner Religionspsychologie überzeugend dargelegt, daß angesichts der Verschiedenheiten der seelischen Typen eine Religion, die für alle paßt, nicht möglich ist. SCHLEIERMACHER glaubte noch, die religiöse Erfahrung auf das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit zurückführen zu könen. JAMES zeigt dagegen, daß die Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung unaufhebbar ist. Man vermag wohl Gedanken verschiedener Art durch eine Umdeutung und Auslegung aufeinander zurückführen, aber nicht Erlebnisse mit eigentümlicher Klangfarbe. Diese sind ein Letztes. Und solche letzten ursprünglichen Typen religiöser Erlebnisarten, wie sie in der leichtmütigen und schwermütigen Seele, in dem mehr zur Mystik neigenden Temperament und dem auf begriffliche Architektonik gerichteten Gemüt vorliegen, machen es unmöglich, daß eine Norm des religiösen Lebens für alle gelten kann. JAMES hat seiner Religionspsychologie den Untertitel "A study in human nature" gegeben. Und die menschliche Natur hat der tieferen Analyse einen solchen überraschenden Reichtumg gezeigt, daß der Versuch aufgegeben werden muß, Einheit und Gleichförmigkeit in religiösen Dingen herzustellen. Daher erhebt JAMES die Frage, ob das Vorhandensein so vieler verschiedener religiöser Typen, Sekten und Bekenntnisse etwas Anormales ist. Er antwortet nachdrücklich mit einem Nein, und zwar aus dem Grund,
Auch in der Ethik haben wir die rationalistischen Versuche aufgeben müssen, eine absolute Norm für alle Zeiten und alle Menschen aufzustellen. Alle diese Versuche, auch die des Empirismus der Aufklärung standen unter dem Glauben, es müsse sich für die ethische Wirklichkeit etwas Ähnliches vollbringen lassen, wie NEWTON es für die physikalische Wirklichkeit vollbracht hat. BENTHAM bemerkt einmal, daß die Naturwissenschaft ihren BACON und NEWTON gehabt hat; die Moralwissenschaft hat zwar in BACON in HELVETIUS gehabt, harrt aber noch eines NEWTON, - wobei BENTHAM uns nicht im Zweifel läßt, daß er wohl geeignet wäre, dieser NEWTON der Moral zu sein. Aber ebensowenig, wie wir heute alle Naturgesetze auf ein einziges zurückführen können, ebensowenig können wir hoffen, alle sittlichen Ideale auf ein einziges zurückführen zu können. Die unaufhebbare Verschiedenheit der Menschen, die Fülle der streitenden Ideale, die von jedem großen Ethiker noch vermehrt werden, das Hervortreten neuer Daseinsprobleme, die in den ethischen Richtungslinien der Vergangenheit nicht vorgesehen waren (5), das wachsende Bewußtsein von der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der tieferen ethischen Konflikte - man denken an die Frauengestalten IBSENs - all das hat immer mehr den rationalistischen Glauben an ein System zeitlos gültiger, absoluter Normen erschüttert. Uns erscheint der Gedanke entsetzlich, es könne einmal irgendeinem, wenn auch dem größten Ethiker, unbeschränkte Macht über das Leben gegeben werden. Lieber noch das Chaos als den Reichtum und quellende Leidenschaft des Lebens in die alles verengende Ordnung eines Systems zu zwängen. So sehen wir überall, wie der vollufrige Lebensstrom über die Dämme tritt, die der Rationalismus einstens ihm aufgeschüttet hat. Die Fülle und die Mannigfaltigkeit der historischen Bildungen vermögen vom Gedanken nicht mehr bewältigt werden. Der Rationalismus, der da glaubte, aus letzten Ideen heraus mit dem Denken auch die Zukunft meistern zu können, hat noch nicht die Erkenntnis gehabt, daß, nach einem Wort von EMIL DUBOIS-REYMOND, der Gedanke sich niemals von der Wirklichkeit entfernen kann, wie sich die Wirklichkeit von sich selbst im Laufe der Zeit entfernt. Nicht mehr der Kreis ist uns das Sinnbild der Geschichte, sondern die Hyperbel mit ihren ins Unendliche hinausdeutenden Ästen. Der Rationalismus bemühte sich, das zeitliche Nacheinander im Erscheinen neuer Werte als einen logisch-notwendigen Zusammenhang einer bestimmt gerichteten Entwicklung zu zeigen; das Spätere war ihm a priori auch das Wertvollere, und alles mündete aus in eine Spitze. Für uns liegt in der Geistesgeschichte mehr eine koordinierte Mannigfaltigkeit von Werten vor; nicht konvergierende, sondern divergierende Reihen bieten sich dem vom Rationalismus nicht getrübten Blick dar. Die Erkenntnis von der Macht des Unvorhersehbaren, alle festen Begriffe sprengenden im geschichtlichen Leben ist das bedeutendste Ereignis in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Mit ihm beginnt eine neue Epoche des Lebens - und deshalb auch des Denkens. ![]() Ich suche jetzt den Rationalismus in demjenigen Gebiet auf, von dem aus er sich organisiert hat und von dem aus er seinen stärksten Impuls empfangen hat: in der mathematischen Naturwissenschaft. Ich habe im ersten Kapitel die rationalistische Wissenschaftsauffassung geschildert und gleichzeitig die Glaubensvoraussetzungen, die der Rationalismus in der Natur als verwirklicht annahm. Nun haben wir uns aber im Laufe der letzten Jahrzehnte so weit von der Naturauffassung des 17. und 18. Jahrhunderts entfernt, daß für unsere Naturauffassung die Glaubensvoraussetzungen des rationalistischen Wissenschaftsideals nicht mehr zutreffen. Was bedeutet Naturauffassung? Es kann keine vollständige Erkenntnis der Natur bedeuten, denn nie hat wohl ein Forscher seine Erkenntnis für erschöpfend gehalten - irgendetwas stand ihm immer noch aus. Aber über das, was noch aussteht, macht sich der Mensch bestimmte Vorstellungen, Vorstellungen, die das wissenschaftlich Erkannte über die Grenzen hinaus verlängern und zum Ganzen abrunden. Das Verlangen nach einer Naturauffassung entspringt dem Verlangen, das noch unbekante nach Analogie des Bekannten zu ergänzen, wie wir nach dem, was wir von einem Menschen kennen, uns Schlüsse bilden von seinem künftigen Verhalten. Im Begriff der Naturauffassung liegt immer eine Zukunftserwartung. Auch der Rationalismus hatte gegenüber der Natur eine Zukunftserwartung, die sich etwa so formulieren läßt: Alles, was sich noch von der Natur erkennen läßt, wird sich leicht in den Rahmen des bisher Erkannten einfügen. Die Einheit und Einfachheit der Natur wird immer mehr zutage treten, je mehr wir die noch ausstehenden Phänomene kennen lernen; in den letzten Axiomen unserer Naturwissenschaft besitzen wir göttliche, bzw. überpersönliche Vernunftwahrheiten, welche absolute, durch keine Erfahrung zu verändernde Gültigkeit haben, und in denen die einzig möglichen Voraussetzungen der Naturerkenntnis überhaupt liegen. Hat nun die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts diese Zukunftserwartung der rationalistischen Naturauffassung erfüllt? Darauf ist mit einem uneingeschränkten Nein zu antworten. Das Hauptmerkmal der rationalistischen Naturauffassung ist der Monismus [philosophisch-religiöse Lehre von der Existenz nur eines einheitlichen Grundprinzips des Seins und der Wirklichkeit - wp]. Wenn der Monismus nun als Folge unserer Naturwissenschaft zurecht bestände, dann müßten sich die Vorgänge in der Natur für unsere Wissenschaft immer einheitlicher, immer einfacher erweisen. Wie steht es nun damit? Die gegenwärtige Naturwissenschaft zeigt uns wohl einen allgemeinen Zusammenhang der Dinge, zeigt uns, daß einige Gebiete aufeinander zurückführbar sind, daß es mehr Einheit gibt, als man früher vermutete; aber sie zeigt uns auch zugleich bei sehr vielen Vorgängen, daß die der Forschung vorliegende Natur weder einheitlich, noch einfach, noch gleichartig [marbe] ist. Es haben sich ganz neue unaufhebbare Gegensätze der Wirklichkeit vor uns aufgetan. Die Linie der Diskontinuitäten hat sich verschoben. Verlief sie früher z. B. zwischen Mensch und Tier, so verläuft sie jetzt mehr zwischen dem Anorganischen und dem Organischen, dem materiellen und dem seelischen Geschehen. In der Physik hat es sich als unmöglich herausgestellt, die verschiedenen Qualitäten aufeinander zurückzuführen. Ebenso ist in der Biologie heute eine starke Strömung vorhanden, welche das organische Geschehen als nicht auf das anorganische reduzierbar betrachtet. Schon HEINRICH HERTZ, den die Monisten so gern als einen der Ihrigen betrachten, hat sich in den "Prinzipien der Mechanik" gegen eine Übertragung der Mechanik auf das biologische Gebiet ausgesprochen.
Die monistische Zufkunftserwartung, daß sich die verschiedenen Gesetze immer mehr als Spezialfälle eines einzigen umfassenden Weltgesetzes offenbaren werden, hat sich in keiner Weise erfüllt. Die Anzahl der Gesetze hat sich im 19. Jahrhundert so vermehrt, daß WUNDT einmal zu der Äußerung veranlaßt wurde: "Im 17. Jahrhundert gab Gott die Naturgesetze, im 18. die Natur, im 19. jeder einzelne Naturforscher." (7) Außerdem hat man vielfach der Gültigkeit der überkommenen Naturgesetze immer engere Grenzen ziehen müssen. Das typische Beispiel hierfür bildet MARRIOTs Gesetz. Das einfache Gesetz, die Dichte eines Gases ist proportional dem Druck, hat annähernd Gültigkeit nur für verdünnte Gase bei Temperaturen, welche namhaft über der Konsensationstemperatur und tief unter der Dissoziationstemperatur liegen. Auch dem Glauben, daß es ein Gesetz von allumfassender Gültigkeit für sämtliche Naturvorgänge gibt, begegnet heute bereits vielfach der Zweifel. Es käme hier am ehesten das Energiegesetz in Frage. Hierüber äußert sich daher LORENTZ:
Der Monismus nahm ferner an, daß die Naturvorgänge uns umso einfacher und durchsichtiger erscheinen werden, je näher wir sie kennenlernen. Gerade das Gegenteil ist eingetreten. Einmal schließen sich, wie ich schon zeigte, die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaft nicht zu einer kontinuierlichen Einheit zusammen. Dann aber ist auf jedem einzelnen Gebiet die Einfachheit immer mehr zurückgetreten vor der Kompliziertheit und Mannigfaltigkeit der Faktoren. Auf physikalischem und chemischem Gebiet können die Fortschritte der Theorien selbst zur Reduktion der Zahl der Qualitäten, die sie ursprünglich als primär betrachtet hatten, führen. Soll man daraus aber schließen, daß die Materie immer weniger reich an Attributen wird, die ihr Wesen bilden, daß sie zu einer Einfachheit tendieren, die mit der atomistischen Materie oder der kartesianischen Materie vergleichbar wäre?
Die einfachen Vorstellungen haben wir als die spezifisch menschlichen Vorstellungen erkannt. Früher urteilte man einfach, also natürlich. Heute sind wir skeptisch gegen diese Folgerungen geworden. Das Einfache ist uns ein Hilfsmittel geworden, um uns im Gewirr der Naturvorgänge zurechtzufinden. Wir lassen uns durch den Reiz, den die einfachen Formeln auf uns ausüben, nicht mehr verführen. Wir betrachten diesen Reiz nicht mehr als die Äußerung einer größeren Sicherheit. So mannigfaltig auch die Phantasie des Menschen sein mag, so ist die Natur dennoch unendlich viel reicher als alle unsere Vorstellungen (11). Für die ältere Naturauffassung des Rationalismus lag das noch Unbekannte in der Verlängerung des Bekannten. Wir sind durch mannigfache Erfahrungen dahin gekommen, annehmen zu müssen, daß das, was wir noch nicht von der Natur kennen, durchaus nicht in der Verlängerung des schon Bekannten zu liegen braucht. Wir haben kein Gesamturteil mehr über das Ganze der Natur. Wir wissen deshalb nicht, wie sich das, was wir von der Natur kennen, zu dem verhält, was wir noch nicht von ihr kennen. Daher haben sich auf allen Gebieten die absoluten Begriffe und Urteile in relative wandeln müssen. Wenn man früher das Wort "Element" aussprach, so glaubte man, damit etwas Letztes und Definitives gesagt zu haben. Für einen modernen Chemiker bedeutet dieses selbe Wort etwas Relatives und Vorläufiges. Es besagt nur, daß ein Körper gegen alle Versuche, ihn zu zerlegen, bis jetzt einen siegreichen Widerstand geleistet hat. Dieselbe Vorläufigkeit hat der Begriff des Naturgesetzes angenommen. In das 17. und 18. Jahrhundert wirkte noch die theologische Auffassung des Mittelalters nach, welche im Naturgesetz eine besondere Anordnung des Schöpfers sah, eine über den einzelnen Vorgängen stehende unverbrüchliche Macht. Die gegenwärtige Naturwissenschaft hat diese dem logischen Realismus nachgebildete Vorstellung vom Naturgesetz aufgegeben. Wir reden weniger von Gesetzen - ein Wort, das leicht zur falschen Analogie mit den Rechtsgesetzen führen kann - als von Sätzen. Daher besagt, wie OSTWALD in seinen "Prinzipien der Chemie" ausführt, ein Naturgesetz nur, daß erfahrungsmäßig zwischen gewissen verschiedenen Erfahrungen ein Zusammenhang besteht, demzufolge sie entweder gleichzeitig oder in regelmäßiger zeitlicher Folge vorkommen. Da wir nun nicht alle Fälle beobachten können, in denen ein derartiger Zusammenhang besteht, deshalb können wir durchaus nicht mit absoluter Sicherheit sagen, daß dieser Zusammenhang stets in der Vergangenheit bestanden hat und in der Zukunft bestehen wird. Der Rationalismus stand ferner unter dem starken Eindruck der Gleichförmigkeit und der Kontinuität der Naturvorgänge. Nur so konnte er kühn seine Urteile, die einem beschränkten Erfahrungskreis entnommen waren, auf das Ganze der Natur ausdehnen. Wir sind zurückhaltender gegen die deduktive Erweiterung des Gleichförmigkeitsgedankens geworden. Wir haben zu vielen Ungleichförmigkeiten kennengelernt, und haben die Gleichförmigkeit vorsichtig in engere Grenzen bannen müssen (12). Ist das schon in der Physik und Chemie der Fall, wieviel mehr in der Biologie und Psychologie! Und dieses ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der Naturauffassung des Rationalismus und der unsrigen. Die rationalistische Naturauffassung stand im Zeichen der Mechanik. Daher die Macht und die Bewertung der Deduktion. Daher der Glaube des Rationalismus an allgemein gültige und zeitlose Urteile. Unsere Naturauffassung geht vom Leben aus. Und dem Leben gegenüber versagt die Deduktion. BERGSON macht einmal die Bemerkung, man wäre in Verlegenheit, wollte man eine biologische Entdeckung anführen, die aus reinen Vernunftschlüssen gemacht worden ist. Der Glaube an die Bedeutung der Deduktion hin auf das Engste zusammen mit dem Glauben, daß die Mathematik das Vorbild der Wissenschaft sein muß. Man erkannte nicht den tiefgreifenden Unterschied zwischen der Verallgemeinerung auf mathematischem und auf physikalischem Gebiet. Der Verallgemeinerung auf physikalischem Gebiet fehlt die Sicherheit, die dem mathematischen Gebiet innewohnt. Denn während wir uns in der Mathematik bei uns selbst befinden, in der Sphäre unseres eigenen Denkens, treten wir in der Physik in eine uns fremde Welt, von der wir nicht wissen, wie weit sie unseren gedanklichen Forderungen entgegenkommt. Gibt man dennoch den physikalischen Verallgemeinerungen den Charakter absolut gültiger Sätze, so hebt man den so fruchtbaren Konflikt zwischen Theorie und Tatsache auf. Dem Rationalismus erscheint die tatsächliche Wissenschaft in einer idealen Verklärung; er sieht zwischen Theorie und Tatsache eine innere Geschlossenheit und eine vernunftnotwendige Einheit, von der die gegenwärtige Wissenschaft weiter als je entfernt ist. Ein zutreffendes Bild von der Lage unserer Wissenschaft gibt SIDGWICK mit folgenden Worten:
All das führt zu Ergebnissen, die den Rationalismus vernichten müssen. Innerhalb der Theorien, Hypothesen und Gesetze gibt es nichts Absolutes. Jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird die Wirklichkeit früher oder später die rücksichtslose Widerlegung durch eine Tatsache entgegenstellen (15). Der Rationalismus hat kein Recht, diese Behauptung als Skeptizismus zu bezeichnen. Sie ist nur der Ausdruck der neuen Lage der Wissenschaft, vor der der Rationalismus die Augen verschließt. Den Rationalisten strenger Observanz [Ausprägung - wp] möchte es wohl scheinen, als ob Chaos und Willkür einreißen müßten, wenn die absoluten Urteile aufgegeben werden, ebenso wie einem BOSSUET die Toleranz gegen Andersgläubige als schierer Wahnsinn erschienen ist. Aber der Rationalismus hat noch eine letzte Position, scheinbar unangreifbarer Art. Gibt es nicht in jeder Wissenschaft Axiome, die jenseits aller Erfahrung und deshalb jenseits aller Widerlegung und Bestätigung durch das Experiment liegen? Grundsätze, in denen zwar nicht die metaphysische Struktur der Dinge, wohl aber die notwendigen Voraussetzungen unserer Wissenschaft überhaupt liegen? Das ist die Position des phänomenologischen Rationalismus, die Position KANTs. KANT hat seine Wissenschaftsauffassung dem Rationalismus von CHRISTIAN WOLFF entnommen. Er geht mit dem Rationalismus von der ungeprüften Voraussetzung aus, daß es allgemeingültige und apodiktische [unmittelbar evidente - wp] Urteile gibt, Urteile, die eben wegen ihrer Apodiktizität nicht aus der Erfahrung stammen können. Und nur Urteile von solcher Qualität machen das Wesen der Wissenschaft aus.
Aber abgesehen von dem mißlungenen Versuch KANTs, gewisse Axiome der Naturwissenschaft aus dem Wesen des Verstandes abzuleiten, erkennt die moderne Naturwissenschaft in keiner Weise mehr solche absolut notwendigen Urteile inhaltlicher Art an. Die Physik erkennt keinen qualitativen Unterschied mehr zwischen dem Wesenscharakter ihrer letzten Axiome und den experimentell feststellbaren und nachprüfbaren Gesetzen und Theorien. Den Axiomen, auf denen sich die Wissenschaft aufbaut, kommt keine ewige Dignität zu, keine apodiktische Vernunftnotwendigkeit. Die neueren Lehrbücher der Mechanik fassen die letzten Axiome dieser Wissenschaft als empirische Verallgemeinerungen auf. Und von NEWTONs Gesetzen heißt es in der Encyclopedia Britanica (Artikel Mechanics):
Der Rationalismus sah den Fortschritt der Wissenschaft garantiert durch die dem menschlichen Geist eingeborenen Axiome. Er betonte wohl die Spontaneität des Geistes gegenüber der Sinneserfahrung, aber diese Spontaneität war doch nur scheinbar, denn es fehlte ihr das freischöpferische Moment. Gewisse Sätze werden zum Inbegriff der einzig möglichen Art, die Natur zu erfassen, gemacht, ob diese Natur nun mehr in einem ontologischen oder mehr in einem phänomenologischen Sinn gemeint ist. Man wollte im Rationalismus absolute Sicherheit, und man glaubte diese nur dann zu besitzen, wenn man die letzten Sätze, auf denen die Wissenschaft ruht, dem Geist zuwies. In Wirklichkeit konstruierte man den Geist nach den Ansprüchen der mathematischen Naturwissenschaft. Die Ansprüche selbst aber zog man nicht in Zweifel. Wie, wenn sich aber nun zeigt, daß man eine historisch bedingte Naturwissenschaft zu der Naturwissenschaft gemacht hat? Wenn es keine innere Sicherheit gibt, die uns von der Nachprüfung durch die Erfahrung befreit, wenn unsere letzten Sätze, auf denen unsere Wissenschaft aufgebaut ist, nur glückliche Griffe wären, die uns zu mannigfachen Erfahrungen geführt haben, der Sicherheitskoeffizient unserer letzten Axiome aber nicht im Geist, sondern in der Erfahrung wurzelt? Wenn weder die Natur noch die Naturwissenschaft etwas zeitlos Unveränderliches wären, wenn die Fortschritte unserer Naturwissenschaft, um es einmal in einem übertreibenden Bild auszudrücken, nur soviel bedeuten würden, wie die Fortschritte in der Technik der Scheinwerfer, die eine immer größere Fläche beleuchten können, eine Fläche, die wohl noch immer an Ausdehnung zunehmen kann, die aber gegenüber dem dunklen Raum verschwindend klein bleibt? (19) Wenn schließlich die klaren mit aprioristischer Notwendigkeit umkleideten Ideen der Wissenschaft erst allmählich durch den Gebrauch, der von ihnen gemacht worden ist, ihre Vernunftnotwendigkeit erhalten haben und sie den größten Teil ihrer Klarheit dem Licht verdanken, das ihnen die Tatsachen und Anwendungen, zu denen sie geführt haben, durch Rückstrahlung zugesandt haben (20) - dann sind alle Voraussetzungen der rationalistischen Wissenschaftsauffassung zusammengebrochen; und dieses Ereignis hat sich im letzten Jahrzehnt auch wirklich vollzogen. Die Wissenschaft als Ganzes bekommt den Charakter eines Wagnisses. Im Rationalismus ist ihr Weg und Ziel vorgezeichnet; was möglich und was nicht möglich ist, steht fest. Es gibt innere Garantien, daß wir uns auf dem rechten Weg befinden. Für uns bedeutet die Geschichte der Wissenschaft ein Einschlagen bestimmter Richtungen, ein Festlegen bestimmter Voraussetzungen, die lange Zeit gelten und eines Tages sich als unzureichend erweisen. Im Rationalismus wird leicht eine Zweiwahrheitentheorie entstehen, die Wahrheit des Verstandes und die Wahrheit des Glaubens. Zwischen den Kräften, die die Wissenschaft bilden und denen, die das Leben ausmachen, ist kein Zusammenhang. Die Wissenschaft in ihrem Grundbestand ist unveränderlich. Wir hingegen sind mit allen unseren wissenschaftlichen Urteilen von der Erfahrung abhängig. Und was noch mehr besagt: wir haben kein Gesamturteil über das Ganze der Erfahrung mehr. Die intellektuelle Ordnung, die der Rationalismus so eifrig verteidigt, und in der er nach Art eines Polizeistaates keine Störungen duldet, diese intellektuelle Ordnung haben wir heute in ihrer Bedingtheit und Vorläufigkeit erkannt. Der Rationalismus liebt weniger die Vernunft, als er die Einbrüche neuer Erfahrungen in das einmal festgefügte System fürchtet. Uns liegt heute weniger an den Tatsachen, die das Alte bestätigen, als an solchen, die Ausnahmen darstellen, denn durch diese dringen wir zu neuen Bezirken der Wirklichkeit vor. Der Rationalismus wird stets versuchen, das Neue als eine besondere Form des Alten darzustellen. Wenn das nicht geht, so wird er, wie etwa bei gewissen Phänomenen der Psychical Research das Neue einfach leugnen oder die Verteidiger des Neuen in Strafe nehmen. Die Rationalisten sind die Rentiers [Profiteure - wp] der bestehenden intellektuellen Ordnung. Wenn irgendein absonderliches Phänomen als Störenfried auftritt, dann rufen sie nach der Polizei der Wissenschaft. Heute liegt eine Veränderung im Temperament der Wissenschaft vor. Vielleicht kann man diese Veränderung als eine Liberalisierung der Wissenschaft bezeichnen, als ein Aufgeben des starren Konservatismus. Es handelt sich um Wandlungen, die jenseits aller Einzelheiten liegen, die aber auf das Tiefste alles Einzelne beeinflussen. Ein Kreis wissenschaftlicher Traditionen ist geschlossen. Neue Wissenschaften, wie Psychologie und Biologie, verlangen dringend nach philosophischer Berücksichtigung. Alte Wissenschaften, die scheinbar schon abgeschlossen waren, sind durch neue Tatsachen bis auf den Grund erschüttert worden. Mit Ausnahme vielleicht der Mathematik sind alle Wissenschaften heute nur "eigentlich sogenanntes Wissen". So kann heute der Rationalismus schon durch eine tiefere Selbstbesinnung auf das Lebendige in unserem Leben aufgehoben werden. Es gibt Zeiten, wo alle theoretischen Diskussionen über eine Frage unfruchtbar sind, weil die eigentliche Entscheidung schon anderweitig gefallen ist. Wenn ein Glaube eine lange Dogmengeschichte hinter sich hat, dann wähnt er wohl, die vorwärtstreibende Macht seiner Ideen läge in einer zwingenden Logik. Er vergißt die bestimmten Hoffnungen und Überzeugungen stillschweigender Art, die seinen Theorien den Impuls und das sieghaft Überredende gegeben haben. Solange er den Kontakt mit dem Leben aufrechterhält, ist er echt, lebendig, voller Wirklichkeit. So war es mit dem Rationalismus bis HEGEL. Aber was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschehen ist, bedeutet für den Rationalismus nicht nur eine Überwindung mittels neuer Theorien, sondern vor allem eine Überholung durch das Leben. Es gilt gegenwärtig vor allem in der deutschen Philosophie, wieder Fühlung zu nehmen mit dem Leben, und der Erkenntnis zum Sieg zu verhelfen, daß unser Leben nicht mehr im Rationalismus den philosophisch befriedigenden Ausdruck finden kann. Wir entfernen uns damit wohl von der Sicherheit und Exaktheit der Formeln, deren sich eine den Zusammenhang mit dem Lebendigen preisgebende Philosophie rühmen kann. Aber wir müssen ein viel größeres Maß an Unbestimmtheit und Unsicherheit auf uns nehmen, um dafür nicht länger träge Zuschauer eines vergangenen Geschehens zu sein. Die rationalistische Auffassung vom Wesen der Wissenschaft entstammt einem vorkopernikanischen Lebensgefühl. Der menschliche Intellekt kommt direkt hinter dem göttlichen. Unsere Erkenntnis ist mit ihren letzten Voraussetzungen auf das Absolute hin orientiert. Die Wesenszüge der Wirklichkeit sind gleich den Wesenszügen des wissenschaftlichen Denkens. Nun aber hat der Evolutionismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wesenszüge des wissenschaftlichen Denkens aus ihrer Isolierung gelöst und sie dem allgemeinen seelischen Leben eingefügt. Die wissenschaftsbildenden Potenzen, die dem Rationalismus in einer übermenschlichen, dem Göttlichen verwandten Vernunft enthalten waren, versuchen wir heute aus den weiteren Zusammenhängen des seelischen Lebens zu erfassen. Das ist eine Aufgabe, an deren Anfang wir stehen. Wenn man aber bedenkt, wie lange der Rationalismus gebraucht hat, um seine definitive Form zu finden, dann darf man dem Evolutionismus keinen Mangel an Exaktheit vorwerfen. Der Evolutionismus, als Gegensatz zum Apriorismus, muß als eine Arbeitshypothese bezeichnet werden, die sich aus der neuen durch die Biologie befruchteten Psychologie ergeben hat (21). Der Intellekt steht nach dieser Auffassung im Dienste des Lebens. Die Erkenntnistätigkeit des Menschen wird ihrer Selbstherrlichkeit entkleidet. Der Intellekt rückt aus dem Zentrum der Dinge. Das Weltbild des wissenschaftlichen Bewußtseins muß erweitert und vertieft werden durch die übrigen Erfahrungen des Lebens. Versuche in dieser Richtung sollen uns im Folgenden beschäftigen. ![]()
1) HEGEL, Philosophie der Geschichte, Seite 70. 2) HEGEL, a. a. O., Seite 159. 3) SVANTE ARRHENIUS, Die Vorstellung vom Weltgebäude im Wandel der Zeiten, Seite 182 4) WILLIAM JAMES, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, Leipzig 1907, Seite 447. 5) vgl. hierzu das Wort von TRAUB: "Infolge der Unberechenbarkeit des technischen Fortschritts wird es dem Sozialethiker immer schwieriger, bestimmte Richtungslinien zu ziehen." 6) vgl. WILHELM JERUSALEM, Einleitung in die Philosophie, vierte Auflage, § 33 7) WUNDT, Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze?, Philosophische Studien, Bd. III, Seite 496 8) HENDRIK ANTOON LORENTZ, Sichtbare und unsichtbare Bewegungen, zweite Auflage 1910, Seite 122 9) GUSTAV von BUNGE, Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie, vierte Auflage 1898. 10) LLOYD MORGAN, Instinkt und Gewohnheit, Leipzig 1909, Seite 305 11) Vgl. hierzu den orientierenden Aufsatz von REYER: "Das Einfache in der Natur", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 31. Jahrgang, neue Folge, Bd. VI) und die Arbeiten von DUHEM und POINCARÉ. 12) Es seien hier nur zwei typische Beispiele aus der jüngsten Zeit erwähnt. Früher nahm man an, daß das Arbeitsvermögen des Dampfes proportional zu seiner Erhitzung ist. BLAESS dagegen hat gezeigt, daß das Arbeitsvermögen des erhitzten Dampfes mit zunehmender Temperatur ständig zunimmt, sondern von einer gewissen Temperatur an konstant bleibt. (VIKTOR BLAESS, Über Ausströmungsversuche mit gesättigtem Wasserdampf, Physikalische Zeitschrift, 4. Jahrgang, Nr. 2) - Früher nahm man an, daß die Temperatur im Luftraum pro Kilometer 10 Grad abnimmt. Neuere Beobachtungen haben gezeigt, daß in einer Höhe von 10 km die Temperatur der Luft nahezu gleichförmig ist (SVANTE ARRHENIUS, a. a. O., Seite 143). 13) A. SIDGWICK, The Use of Words in reasoning, Seite 29 14) "Oú est le savant philosophe", schreibt BOEX-BOREL in seinem Buch Le Pluralisme, "qui nierat que l'inconnu et le connu de 1908 dépassent ceux de 1880?" [Wo ist der gelehrte Philosoph, der leugnet, daß das Unbekannte und das Bekannte von 1908 das von 1880 übertreffen? wp] 15) DUHEM, a. a. O., Seite 235 16) Vgl. ÖSTERREICH, Der Kritizismus und die Metaphysik", Seite 75 und 81; ferner SCHELER, Die transzendentale und psychologische Methode [masc1pheno], Seite 26 und öfter. 17) Als solche bezeichnet DUHEM die Axiome. 18) Ein theoretischer Physiker vom Range eines BOLTZMANN hat sich zu diesem Punkt einmal folgendermaßen geäußert: "Nicht die Logik, nicht die Philosophie, nicht die Metaphysik entscheidet in letzter Instanz, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern die Tat. Deshalb halte ich die Errungenschaften der Technik nicht für nebensächliche Abfälle der Naturwissenschaft, ich halte sie für logische Beweise. Hätten wir diese praktischen Errungenschaften nicht erzielt, so wüßten wir nicht, wie man schließen muß. Nur solche Schlüsse, welche praktischen Erfolg haben, sind richtig." (zitiert bei J. WIESNER, "Natur, Geist, Technik", Leipzig 1910, Seite 342). 19) In der Gegenwart mehren sich die Äußerungen von Naturforschern, die zur größten Bescheidenheit gegenüber der Gesamtleistung der Wissenschaft mahnen. So schreibt RAMSAY am Schluß seines Aufsatzes: Was ist ein Element? "Wenn der Anfänger begonnen hat, sich auf dem Gebiet des bisher Bekannten umzutun, so gelangt er leicht zu der Vorstellung, daß nur wenig übrig gelassen worden ist, was noch entdeckt werden könnte. Aber all unser Fortschritt seit den Tagen von Sir Isaac Newton hat den Ausspruch jenes großen Mannes nicht Lügen gestraft: daß wir nur den Kindern gleichen, die am Strand des Wissens hier und da einen Kiesel aufheben, während sich der weite Ozeam des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt. Nichts ist sicherer, als daß wir nur eben begonnen haben, einiges von den Wundern der Welt zu erkennen, in der wir leben, weben und sind." (Vergangenes und Künftiges aus der Chemie, Leipzig 1909, Seite 203). - - - Auf der letzten Chemikerversammlung in München hat sich von BEYER in der Eröffnungsrede folgendermaßen geäußert: "Während sich die Wissenschaft allgemeiner Hochachtung erfreut, bemerken wir Fachleute, daß das Fundament, je weiter wir vordringen, immer schwankender wird. Wir verstehen die Natur zwar nicht, aber wir beherrschen sie." 20) BERGSON, Einführung in die Metaphysik, Seite 54 21) Vgl. JERUSALEM, Apriorismus und Evolutionismus, Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Philosphie, Heidelberg 1909, Seite 806 und öfter. |