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GEORG SAMUEL ALBERT MELLIN
"Rationalismus"
Enzyklopädisches Wörterbuch
der kritischen Philosophie

[oder Versuch einer faßlich und vollständigen Erklärung der in Kants
kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze]


"Der Rationalismus der spekulativen Vernunft ist die Behauptung, daß es unter unseren Erkenntnissen solche gibt, die a priori sind, oder die aus dem Erkenntnisvermögen selbst entspringen, welche also aller unserer Erkenntnis eine notwendige und unveränderliche Form geben und sie unveränderlichen Gesetzen unterwerfen. Der Empirismus der spekulativen Vernunft ist die Behauptung, es gebe keine solchen Erkenntnisse, sondern alle Erkenntnis kommt a posteriori, durch die Sinne in uns."

1. Rationalismus. So nennt man, in der Theorie vom Ursprung unserer Erkenntnis, die Behauptung, daß es Erkenntnisse gibt, die aus dem Erkenntnisvermögen selbst entspringen, und daher Erkenntnisse a priori heißen. Die Behauptung hingegen, daß alle unsere Erkenntnis aus der Erfahrung müsse abgeleitet werden, und durch die Sinne in uns kommt, heißt der Empirisums, und wenn er gar keine rationale Erkenntnis zugibt, der reine Empirismus. Der Rationalismus gründet sich darauf, daß es Erkenntnisse gibt, die Notwendigkeit und Allgemeinheit haben, welche allein durch die Ableitung jener Erkenntnisse aus dem Erkenntnisvermögen eingesehen wird; indem der Mensch so erkennen muß und also notwendig immer so erkennt, wie das Erkenntnisvermögen nach seiner Beschaffenheit die Erkenntnisse allein formen kann. Der Empirismus begnügt sich damit, daß er diese Allgemeinheit und Notwendigkeit fühlt, ohne sie weiter einsehen zu können; daher er auch weiter keinen Probierstein der Erfahrung verstattet, der immer nur in Prinzipien a priori angetroffen werden kann. Denn nur eine eingesehene Notwendigkeit kann uns die Erfahrung sichern, die sonst nicht bloß etwas zufälliges enthält, sondern, selbst dem Gefühl des Empiristen entgegen, ganz zufällig und damit vollkommen unsicher und ein bloßer Traum wird (Prolegomena 27). (siehe Artikel "a priori" und "a posteriori")

2. KANT, der den Rationalismus zuerst in Anbetracht der Gründe, Grenzen, Anwendung und Umfang desselben in seiner ganzen Vollkommenheit aufgestellt hat, hatte zu unserem Zeitalter das Zutrauen, daß der Empirismus vermutlich nur noch zur Übung der Urteilskraft aufgestellt wird. Er meinte daher, daß man es denen doch Dank wissen muß, die sich mit dieser sonst eben nicht belehrenden Arbeit bemühen wollen (Marginalien II Nr. 178). Er irrte sich aber hierin, denn in Deutschland hat man ebenso, wie bisher in Frankreich der Empirismus herrschend war, denselben in allem Ernst verteidigt. Besonders gab CHRISTIAN GOTTLIEB SELLE, Mitglied und zuletzt Direktro der philosophischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Grundsätze der reinen Philosophie, Berlin 1788 heraus, in welchen er den Empirismus in seiner größten Stärke vorgetragen hat. CARL CHRISTIAN SCHMID, Professor zu Jena, hat seinem Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der kantischen Schriften, 4. vermehrte Auflage, Jena 1798, eine Abhandlung angehängt, die einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus (Rationalismus) in der Philosophie, durch die Grundsätze der reinen Philosophie von SELLE veranlaßt, enthält. Er stellt darin das sellische System kurz dar, vergleicht es mit dem kantischen und setzt einige prüfende Anmerkungen über das erstere hinzu. In England verteidigt HUME, in Frankreich vorzüglich HELVETIUS den Empirismus in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit in moralischen Bestimmungen findet man im Artikel "Freiheit, transzendentale".

3. Man kann den Rationalismus wie auch den Empirismus nach den drei spezifisch verschiedenen Erkenntnisvermögen einteilen, in den der spekulativen Vernunft, den der praktischen Vernunft und den der Urteilskraft. Der Rationalismus der spekulativen Vernunft ist die Behauptung, daß es unter unseren Erkenntnissen solche gibt, die a priori sind, oder die aus dem Erkenntnisvermögen selbst entspringen, welche also aller unserer Erkenntnis eine notwendige und unveränderliche Form geben und sie unveränderlichen Gesetzen unterwerfen. Der Empirismus der spekulativen Vernunft ist die Behauptung, es gebe keine solchen Erkenntnisse, sondern alle Erkenntnis kommt a posteriori, durch die Sinne in uns. Der reine Empirismus der spekulativen Vernunft ist die Ansehung der kosmologischen Ideen im Artikel "Epikurismus" vorgetragen; er muß durchaus leugnen, daß es einen freien Willen, folglich Moralität und einen Gott, folglich Religion gibt, wenn er konsequent sein will. Denn das sind Vernunftideen, zu denen es in der Sinnenwelt keine Gegenstände gibt. Gibt es also nichts weiter als Erfahrungserkenntnis, so gibt es auch nichts weiter, als die Sinnenwelt, folglich keine übersinnlichen Gegenstände (Marginalien I, Nr. 564). Der reine Empirismus hat daher auch gar kein praktisches Interesse. Moral und Religion ziehen uns, als Willensbestimmungen, um ihrer selbst willen an, Niemand, der nicht ganz verworfen ist, möchte sie wohl missen. Der reine Empirismus aber gefällt uns in Beziehung auf unseren Willen und unsere Handlungen gewiß nicht; denn er scheint der Moral und der Religion alle Kraft und allen Einfluß zu nehmen. Denn wenn es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen gibt, wenn der Wille nicht frei ist, so verlieren die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit, und an der Religion, und den transzendentalen (aus dem Vernunftvermögen selbst hervorgehenden und auf nicht empirische Gegenstände hinweisenden) Ideen, die die letztere voraussetzt, ihre theoretische (obwohl allein nicht zureichende, dennoch unentbehrlich) Stütze (Marginalien I, Nr. 565; Kr. d. r. V. 496). Dagegen hat freilich der reine Empirismus ein größeres spekulatives Interesse, und das ist es eben, was so sehr für ihn einnimmt. Der Verstand ist bei demselben immer auf seinem eigentümlichen Boden, nämlich dem Feld von lauter möglichen Erfahrungen, mittels deren Gesetze er seine sichere und faßliche Erkenntnis ohne Ende erweitern kann. Er kann hier alles der Anschauung darstellen, oder doch in Begriffen, deren Bild in gegebenen ähnlichen Anschauungen klar und deutlich vorgelegt werden kann (Marginalien I, Nr. 566, 496). Der Empirist wird es z. B. niemals erlauben, irgendeine Epoche der Natur für die schlechthin (absolut) erste anzunehmen, weil er einen schlechthin ersten Anfang der Welt verwirft. Er wird von den Gegenständen der Natur nie zu denen überzugehen erlauben, die weder Sinn, noch Einbildungskraft in concreto darstellen kann, dergleichen das absolut Einfache ist, und hält daher sogar die Seele für ebenso teilbar und verweslich wie die Materie. Er wird nicht einräumen, daß man in der Natur einen freien Willen zugrunde legt, weil nach Naturgesetzen alles notwendig sein muß, und nichts in der Natur unabhängig von diesen Gesetzen wirken kann. Er wird nicht zugeben, daß man die Ursache irgendwie außerhalb der Natur in einem Urwesen suchen soll, das nicht zur Natur gehört. Denn all dies hieße das Feld der Erfahrung verlassen und folglich nach seiner Vorstellung, dichten (Marginalien I, Nr. 567; Kr. d. r. V. 497).

Der Grundsatz des empirischen Philosophen (Empirist) kann die Maxime der größtmöglichen Erweiterung des menschlichen Verstandes durch die Erfahrung sein, und dabei den Vorwitz und die Vermessenheit des die wahre Bestimmung der Vernunft (Erfahrungserkenntnis immer weiter zu treiben, und den Willen immer mehr durch moralische Grundsätze zu bestimmen) verkennenden Gebrauchs oder Mißbrauchs derselben niederschlagen, indem man mit Einsicht und Wissen durch Vernunft groß tut, da wo eigentlich Einsicht und Wissen aufhören. Dann ist es aber zugleich seine Maxime, die Ansprüche auf Wissen und Einsicht zu mäßigen, und in Behauptungen bescheiden zu sein, und zu machen, dadurch, daß er immer darauf aufmerksam macht, daß es den Behauptungen und vermeintlichen Einsichten derer, die mit Vernunfterkenntnis groß tun, vielleicht an Realität fehlen möchte (Marginalien I, Nr. 568; Kr. d. r. V. 498). Aber der Empirismus bleibt gemeinhin nicht bei diesen Grundsätzen, und wird dann höchst nachteilig. Er wird nämlich in Anbetracht der Ideen gemeinhin selbst dogmatisch, und, statt daß er behaupten sollte, unsere Erkenntnis erstrecke sich nur auf das Feld der Erfahrung, behauptet er zu wissen, daß es außer den Erscheinungsgegenständen keine Gegenstände gibt. Er verneint also dreist das, was doch über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnis ist, und fällt also selbst in den Fehler der Unbescheidenheit. Allein diese Unbescheidenheit ist viel tadelnswürdiger, als die des dogmatischen Rationalisten, denn es wird durch sie dem praktischen Interesse der Vernunft der unersetzliche Nachteil verursacht, daß ihm die Religion genommen, die Moral verdorben und so die Moralität selbst wankend gemacht wird (Kr. d. r. V. 499; Marginalien I, Nr. 569). (siehe Artikel "Epikurismus" und "Platonismus) Der reine Empirismus der spekulativen Vernunft ist endlich der Popularität oder der Fassungskraft des gemeinen Verstandes, gänzlich zuwider. Man sollte zwar glauben, daß die transzendentale Dogmatik oder der Inbegriff von Behauptungen, die eine Erkenntnis a priori möglich machen sollen; den Empirismus dem gemeinen Verstand annehmlicher machen würde. Allein eben das, daß der Gelehrteste von den Gegenständen dieser Erkenntnis nicht mehr weiß, als der gemeine Verstand, empfiehlt ihm den dogmatischen Rationalismus. Die Eitelkeit also etwas zu wissen, wovon der Gelehrteste nicht mehr weiß, und die Gemächlichkeit, dies zu wissen, ohne viel Nachforschungen darüber anstellen zu dürfen, empfehlen den dogmatischen Rationalismus sehr. Der gemeine Verstand will zudem etwas haben, womit er zuversichtlich anfangen kann zu erklären, die Unbegreiflichkeit eines solchen absoluten Anfangs beunruhigt ihn nicht. Zuletzt aber verschwindet alles spekulative Interesse bei ihm vor dem praktischen, und so ist der Empirismus der transzendental-idealisierenden spekulativen Vernunft aller Popularität gänzlich beraubt (Kr. d. r. V. 500f; Marginalien I, Nr. 572). Der dogmatische Rationalismus hat zudem noch ein architektonisches Interesse, denn die Vernunft fordert nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a priori. Diesem Interesse ist nun der Empirismus gänzlich zuwider; denn seine Sätze sind von der Art, daß sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich machen. (1) Der dogmatische Rationalismus kann das Gebäude seiner Erkenntnis vollenden, denn nach demselben gibt es einen absoluten Anfang der Welt, absolut einfache Teile, woraus alles zusammengesetzt ist usw. Bei den Voraussetzungen, des Empirismus ist aber ein vollständiges Gebäude der Erkenntnis gänzlich unmöglich, denn nach ihnen gibt es über einen Zustand der Welt immer einen noch älteren, in jedem Teil immer noch andere wiederum teilbare usw. (Kr. d. r. V. 502f; Marginalien I, Nr. 573). Könnte sich ein Mensch von allem Interesse losmachen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen, bloß nach dem Gehalt ihrer Gründe in Betracht ziehen, so würde er in einem unaufhörlich schwankenden Zustand sein, und sich bald zu einer Behauptung, bald wieder zum Gegenteil derselben bekennen. Heute würde es ihm überzeugend vorkommen, der menschliche Wille sei frei; morgen, alles sei Naturnotwendigkeit; heute würde er behaupten, es gibt einen Gott, morgen, ein Wesen, das keine Ursache hat, ist ein Unding; heute, die Seele ist ein einfaches Wesen, morgen, es gibt nichts als Materie; heute, die Welt hat einen Anfang, morgen, sie ist ewig. Beim Handeln aber würde er wieder seine Prinzipien so wählen, daß das praktische Interesse nicht dabei leidet, das Spiel der spekulativen Vernunft würde verschwinden, und der sonst hin und her Schwankende sich zum dogmatischen Rationalismus schlagen. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der unparteiischen Prüfung seiner eigenen Vernunft zu widmen, so kann es Niemandem verwehrt werden, das Resultat seiner Prüfung, seine Gründe für die Sätze und Gegensätze, anderen Menschen mitzuteilen. (Kr. d. r. V. 503f; Marginalien I, Nr 574).

SELLE hat sich bloß über einen einzigen dieser Sätze, worüber der dogmatische Rationalist mit dem Empiristen im Streit ist, erklärt, nämlich über Gott; allein sehr inkonsequent in Anbetracht des Empirismus, den SELLE aufstellt. Denn er wird in Anbetracht der Idee von Gott ein dogmatischer Rationalist, und fällt so aus seinem System heraus.
    "Da schließt er (a. a. O., Seite 163) weder in den Erscheinungen, noch in den endlichen Substanzen (welche sich zu den Erscheinungen, wie Ursache zur Wirkung verhalten sollen) der zureichende Grund ihres Daseins zu finden ist, so muß jenseits der Substanzen, welche die Gegenstände der Sinnlichkeit begründen, eine Substanz vorhanden sein, die nichts mehr voraussetzt (vorher hatte er aber gesagt, daß alle Dinge, insofern wir sie erkennen, in einer solchen Verbindung stehen, daß immer eines das andere voraussetzt, und nirgends etwas zu finden ist, das keiner Voraussetzung mehr bedarf; woher nun dieses muß, als aus der Vernunft? folglich fällt Selle hier aus seinem System in den Rationalismus), die den zureichenden Grund ihres Daseins in sich selbst hat, die nicht mehr endlich, und folglich unendlich ist, und hier stehen wir vor Gott."
Gottes objektives Dasein wird, nach SELLE, aus dem Satz des zureichenden Grundes, als einem erfahrenen Gesetz der Dinge erkannt (a. a. O., Seite 170) und doch hören wir, wie er sagt, bei der Erkenntnis Gottes alle Vorstellungen und sinnlichen Begriffe auf, und nur durch Verstandesbegriffe kann uns die Vernunft diese Erkenntnis gewähren (a. a. O., Seite 174).
    "Das Wesen der erscheinenden Substanzen besteht darin, daß sie durch ihre Einwirkung auf unser Erkenntnisvermögen die Vorstellung des Raums und den Begriff der Undurchdringlichkeit hervorbringen. Wir nennen sie daher insofern auch materielle Substanzen. Nun sind alle erscheinenden Substanzen auch endlich, folglich kann Gott als eine unendliche Substanz nicht durch Sinnlichkeit erkannt werden." )(a. a. O., Seite 175
Wahrlich inkonsequenter und mehr dem reinen Empirismus, den doch SELLE in der Theorie behauptet, entgegen, kann man in der Anwendung dieser Theorie nicht verfahren. Wen solche Schlüsse überzeugen können, dem ist bald geholfen. Übrigens nimmt er auch eine Vernunfterkenntnis (nach seiner Theorie, eine aus der Erfahrung, in der doch alles notwendig ist, durch Vernunft abstrahierte Erkenntnis) der freien Handlungen an (a. a. O., Seite 179f). Man sieht, ein solcher Empirismus, der bloß den Grund des Gebäudes des rationalen Empirismus weggräbt, und doch versteht, das Gebäude in der Luft schwebend zu erhalten, ist freilich auch so gar ohne spekulatives Interesse.

Konsequenter ist da schon HELVETIUS. Er behauptet auch (De L'Homme, De Ses Facultés Intellectuelles Et De Son Éducation, Teil 1, Abteilung II, Kapitel 1, Seite 76) daß alle unsere Vorstellungen durch die Sinne in uns kommen; aber er sagt auch, man wird mich vielleicht fragen, was die Fähigkeit zu empfinden ist, und was aus ihr wird, wenn die Organe aufgelöst werden; ein berühmter englischer Chemiker antwortet, sagt HELVETIUS, das, was im zerfetzten Eisen aus der Qualität den Magneten anzuziehen wird.
    "Die physische (materielle) Empfindungsfähigkeit (Sensibilität) ist die einzige Ursache unserer Handlungen, unserer Gedanken, unserer Leidenschaften und unserer Geselligkeit." (a. a. O., Kapitel VII, Seite 102)
Das, was man intellektuelles Vergnügen oder Mißvergnügen nennt, kann immer auf ein physisches Vergnügen oder Mißvergnügen bringen. Die Gewissensbisse sind nichts anderes, als das Vorhersehen der physischen Schmerzen, denen das Verbrechen uns aussetzt. Der Verstand ist nichts anderes als das Resultat der verglichenen Empfindungen des Menschen (Kapitel XV). Alles in den Menschen ist Empfinden; und sie empfinden und erhalten nicht anders Vorstellungen, als durch die fünf Sinne. Gut im moralischen Sinn heißt, was von allgemeinem Nutzen ist. Es gibt keine Wahrheit, die sich nicht auf eine Tatsache (factum) bringen läßt. (a. a. O., Kapitel XXIII) Das Wort Tugend erweckt im Verstand stets die undeutliche Vorstellung von irgendeiner der Gesellschaft nützlichen Qualität (a. a. O. Abschnitt 9, Kapitel XII). Am Schluß seines Werkes (Rekapitulation, Kapitel III) äußert HELVETIUS endlich die Bescheidenheit, die einem kritischen Empiristen so wohl ansteht, und welche in mir den Wunsch erregt hat, man möchte ihn wenigstens nicht den groben, dogmatischen Materialisten zuzählen, zumal da er selbst dagegen protestiert, so gewiß es auch ist, daß er zu den Sensualisten und Empiristen gehört (siehe Artikel "Materialismus").

Am konsequentesten und bescheidensten ist endlich DAVID HUME, der ebenfalls den empirischen Ursprung aller menschlichen Erkenntnis behauptet. Er bringt aber nicht alles, wie HELVETIUS, auf Tatsachen, sondern nimmt auch gewisse Beziehungen der Begriffe an, welche wir uns von den sinnlichen Gegenständen machen, und durch die bloße Wirksamkeit des Denkvermögens gefunden werden sollen; zu dieser Klasse rechnet er die Mathematik. (siehe Artikel "Hume") Ein Hauptwerk über den Empirismus, das alle nachherigen Empiristen benutzt haben, ist LOCKEs (Essay upon human understanding) (siehe Artikel "Locke")

4. Der Rationalismus der praktischen Vernunft ist die Behauptung, daß die praktischen Begriffe des Guten und Bösen nach einem, aus der Vernunft entspringenden, also reinen, a priori den Willen bestimmenden Gesetz, und durch dasselbe, bestimmt werden müssen; daß also die Vernunft durch ihr Gesetz den Willen a priori bestimmen kann. Der Empirismus der praktischen Vernunft setzt die praktischen Begriffe des Guten und Bösen bloß in Erfahrungsfolgen (der sogenannten Glückseligkeit). Der Empirismus frägt, was wird daraus entstehen, wenn ich so oder so handle, wird es mir Nutzen oder Schaden bringen, und nennt im ersteren Fall die Handlung gut, im letzteren böse; der Rationalismus frägt, welche Handlungsmaxime kann als allgemeines Gesetz für den Willen betrachtet werden, damit ich bloß um dieser Beschaffenheit der Maxime willen danach handle, und nennt die Handlung, die darum geschieht, gut und die entgegengesetzte böse. Der erstere rottet die Sittlichkeit in Gesinnungen mit der Wurzel aus; daher ist die Verwahrung vor demselben höchst wichtig und anratungswürdig. Der Rationalismus der Urteilskraft ist die Behauptung, daß aus der Urteilskraft selbst Gründe der Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine entspringen. Der Empirismus der Urteilskraft ist die Behauptung, daß alles Urteilen sich bloß auf logisches Abstraktion von Erfahrungsgegenständen gründet, wodurch alles Allgemeine gegeben wird, unter welches das Besondere subsumiert wird (Prolegomena 124f). Beide sind entweder der des Geschmacks oder der der teleologischen Urteilskraft.

Vom Rationalismus und Empirismus des Geschmacks siehe Artikel "Geschmack". Vom Rationalismus und Empirismus der teleologischen Urteilskraft siehe Artikel "Urteilskraft, teleologische".

5. Der Rationalismus in Glaubensfragen ist die Behauptung, daß bloß die natürliche Religion moralisch-notwendig, d. h. Pflicht ist. Er ist entweder Naturalismus (siehe Artikel "Naturalist") oder reiner Rationalismus, welcher eine übernatürliche göttliche Offenbarung zuläßt, aber behauptet, daß sie zu kennen und für wirklich anzunehmen, zur Religion nicht notwendig erforderlich ist (Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, Seite 231). Der Rationalist muß sich, vermöge dieses seines Titels, von selbst schon innerhalb der Schranken der menschlichen Einsicht halten. Daher wird er, wenn er konsequent sein will, immer nur reiner Rationalist sein. Also kann die Streitfrage nur die wechselseitigen Ansprüche der reinen Rationalisten und des Supranaturalisten in Glaubenssachen, der an eine übernatürliche Offenbarung glaubt, betreffen. Der Gegenstand des Streits zwischen beiden ist: ob sich eine übernatürliche Offenbarung beweisen läßt, und ob sie zur alleinigen allgemeinen wahren Religion notwendig, oder die bloße natürliche Religion schon hinlänglich, und die geoffenbarte bloß zufällig ist. (Religion innerhalb der Grenzen etc. 232)

LITERATUR: Georg Samuel Albert Mellin, Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, Bd. 4-2, Jena und Leipzig 1802
    Anmerkungen
    1) Der Empirismus legt schon dadurch, daß er die Notwendigkeit und Allgemeinheit der philosophischen Begriffe aufhebt (wie dies nicht nur aus seiner ganzen Darstellung durch Locke, sondern sogar aus dem eigenen Geständnis dieses Philosophen bekannt sein sollte), seine Unzulänglichkeit, Philosophie als Wissenschaft zu begründen, an den Tag, und muß eben darum auf dem Gebiet des positiven Dogmatismus dem Rationalismus das Feld räumen (Reinhold in der "Abhandlung über den philosophischen Skeptizismus", Seite 48 und Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand, neu übersetzt von Tennemann, Jena 1793).