ra-3K. LamprechtG. RadbruchW. Perpeet    
 
MAX SCHELER
Die Stellung des Menschen
im Kosmos


"Fragen wir, was der allgemeinste Begriff der Empfindung ist, so ist es der Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegungen kraft dieser Rückmeldung. Im Sinne dieser Begriffsbestimmung besitzt die Pflanze keine Empfindung, kein über die Abhängigkeit ihrer Lebenszustände vom Ganzen ihrer Vorgeschichte hinausgehendes spezifisches Gedächtnis und keine eigentliche Lernfähigkeit, wie solche auch die einfachsten Infusorien an den Tag legen. Untersuchungen, die vermeintlich bei Pflanzen bedingte Reflexe und eine gewisse Dressierbarkeit feststellten, dürften in die Irre gegangen sein."

"Organologisch stellt das vor allem die Nahrungsverteilung regelnde vegetative Nervensystem, wie schon sein Name sagt, im Menschen die noch in ihm vorhandene Pflanzlichkeit dar. Eine periodische Energie-Entziehung am animalischen, das äußere Machtverhalten regelnden System zugunsten des vegetativen, ist wahrscheinlich die Grundbedingung der Rhythmik der Schlaf- und Wachzustände. Insofern ist der Schlaf ein relativ pflanzlicher Zustand des Menschen."

"Die Großhirnrinde ist wesentlich ein Dissoziations organ gegenüber den einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltensweisen, nicht ein Assoziationsorgan."

Fragt man einen gebildeten Europäer, was er sich bei dem Wort "Mensch" denkt, so beginnen fast immer drei unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise in seinem Kopf miteinander in Spannung zu treten. Es ist einmal der Gedankenkreis der jüdisch-christlichen Tradition von  Adam  und  Eva,  von Schöpfung, Paradies und Fall. Es ist zweitens der griechisch-antike Gedankenkreis, in dem sich zum ersten Mal in der Welt das Selbstbewußtsein des Menschen zu einem Begriff seiner Sonderstellung erhob in der These, der Mensch sei Mensch durch Besitz der "Vernunft",  logos, phronesis, ratio, mens - logos  bedeutet hier ebensowohl Rede wie die Fähigkeit, das "Was" aller Dinge zu erfassen -; eng verbindet sich mit dieser Anschauung die Lehre, es liege eine übermenschliche Vernunft auch dem ganzen All zugrunde, an der der Mensch, und von allen Wesen er allein, teilhat. Der dritte Gedankenkreis ist der auch längst traditional gewordene Gedankenkreis der modernen Wissenschaft und der genetischen Psychologie, es sei der Mensch ein sehr spätes Endergebnis der Entwicklung des Erdplaneten, ein Wesen, das sich von seinen Vorformen in der Tierwelt nur im Komplikationsgrad der Mischungen von Energien und Fähigkeiten unterscheidet, die ansich bereits in der untermenschlichen Natur vorkommen. Diesen drei Ideenkreisen fehlt jede Einheit untereinander. So besitzen wir dann eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander kümmern - eine  einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht.  Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdecken, so wertvoll sie sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als daß sie es erleuchten. Bedenkt man ferner, daß die genannten drei Ideenkreise der Tradition heute weithin erschüttert sind, völlig erschüttert ganz besonders die darwinistische Lösung des Problems vom Ursprung des Menschen, so kann man sagen, daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so  problematisch  geworden ist wie in der Gegenwart.

Ich habe es darum unternommen, auf breitester Grundlage einen neuen Versuch einer Philosophischen Anthropologie zu geben. Im folgenden seien nur einige Punkte, die das  Wesen des Menschen im Verhältnis zu Pflanze und Tier,  ferner die  metaphysische Sonderstellung des Menschen  betreffen, erörtert und ein kleiner Teil der Resultate angedeutet, zu denen ich gekommen bin.

Schon das Wort und der Begriff "Mensch" enthält eine tückische Zweideutigkeit, ohne deren Durchschauung man die Frage der Sonderstellung des Menschen gar nicht angreifen kann. Das Wort soll einmal die Sondermerkmale angeben, die der Mensch morphologisch als eine Untergruppe der Wirbel- und Säugetierart besitzt. Es ist selbstverständlich, daß, wie auch immer das Ergebnis dieser Begriffsbildung aussieht, das als  Mensch  bezeichnete Lebewesen nicht nur dem Begriff des Tieres  untergeordnet  bleibt, sondern auch eine verhältnismäßig sehr kleine Ecke des Tierreichs ausmacht. Das bleibt auch dann noch der Fall, wenn man den Menschen (was übrigens sachlich und begrifflich sehr bestreitbar ist) mit LINNÉ die "Spitze der Wirbel-Säugetierreihe" nennt, da ja auch diese Spitze wie jede Spitze einer Sache noch zu der Sache gehört, deren Spitze sie ist. Völlig unabhängig von einem solchen Begriff, der aufrechten Gang, Umgestaltung der Wirbelsäule, Äquilibrierung des Schädels, die mächtige Gehirnentwicklung des Menschen und die Organumgestaltungen, welche der aufrechte Gang zur Folge hatte (wie Greifhand mit opponierbarem Daumen, Rückgang des Kiefers und der Zähne), zur Einheit des Menschen zusammenfaßt, bezeichnet aber dasselbe Wort "Mensch" in der Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern, etwas total Anderes, daß man kaum ein zweites Wort der menschlichen Sprache finden wir, bei dem eine analoge Doppeldeutigkeit vorliegt: Es soll auch einen Inbegriff von Dingen bezeichnen, den man dem Begriff des "Tieres überhaupt" aufs schärfste  entgegensetzt,  also auch allen Säuge- und Wirbeltieren; und dies im selben Maß wie etwa auch dem  infusorium stentor  [Einzeller - wp], obgleich doch wohl kaum bestreitbar ist, daß das "Mensch" genannte Lebewesen einem Schimpansen morphologisch, physiologisch und psychologisch unvergleichlich viel ähnlicher ist als Mensch und Schimpanse einem  infusorium. 

Es ist klar, daß dieser zweite Begriff "Mensch" einen völlig anderen Sinn, einen ganz anderen Ursprung haben muß als der erste (1). Ich will diesen zweiten Begriff den  Wesensbegriff des Menschen  nennen, im Gegensatz zum ersten natursystematischen Begriff. Ob dieser zweite Begriff, der dem Menschen als solchem eine  Sonder stellung gibt, die mit jeder anderen Sonderstellung einer lebendigen Spezies unvergleichbar ist,  überhaupt zurecht besteht  - das ist unser Thema.

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Die Sonderstellung des Menschen kann uns erst deutlich werden, wenn wir den gesamten Aufbau der biopsychischen Welt in Augenschein nehmen. Ich gehe dbei aus von einer  Stufenfolge der psychischen Kräfte  und Fähigkeiten, wie sie die Wissenschaft langsam herausgestellt hat. Was die Grenze des Psychischen betrifft, so fällt sie mit der Grenze des Lebendigen überhaupt zusammen. Neben den  objektiven  wesensphänomenalen Eigenschaften der Dinge, die wir "lebendig" nennen, wie Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung, Selbstbegrenzung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht (auf die hier nicht eingegangen werden soll), ist die Tatsache, daß Lebewesen nicht nur Gegenstände für äußere Beobachter sind, sondern auch ein  Fürsich- und Innesein  besitzen, in dem sie sich selber inne werden, ein für sie wesentliches Merkmal - ein Merkmal, von dem man zeigen kann, daß es mit den objektiven Phänomenen des Lebens an Struktur und Ablaufsform die innigste Seinsgemeinschaft besitzt. Es ist die psychische Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt - das psychische Urphänomen des Lebens.

Die unterste Stufe des Psychischen - zugleich der Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt, auch noch den reinsten Denkakten und zartesten Akten lichter Güte die Tätigkeitsenergie liefert - bildet der bewußtlose, empfindungs- und vorstellungslose  "Gefühlsdrang."  In ihm ist "Gefühl" und "Trieb" (der als solcher stets bereits eine spezifische Richtung und Zielhaftigkeit "nach" etwas, z. B. Nahrung, Sexualbefriedigung hat) noch nicht geschieden. Ein bloßes "Hinzu", z. B. zum Licht, und "Vonweg", eine objektlose Lust und ein objektloses Leiden sind seine einzigen zwei Zuständlichkeiten. Scharf geschieden ist der Gefühlsdrang aber bereits von den Kraftzentren und -Feldern, die den transbewußten Bildern zugrunde liegen, die wir "anorganische" Körper nennen; diesen kann ein Innesein in keinem Sinn zugesprochen werden.

Diese erste Stufe des seelischen Werdeseins, wie sie sich im Gefühlsdrang darstellt, müssen und dürfen wir schon der  Pflanze  zuweisen. Der Eindruck, der Pflanze mangelt ein Innenzustand, rührt nur von der Langsamkeit der Lebensvorgänge her; vor der Zeitlupe verschwindet dieser Eindruck vollkommen. Keineswegs aber geht es an, wie dies FECHNER getan hat, der Pflanz auch bereits "Empfindung und Bewußtsein zuzueignen. Wer wie FECHNER Empfindung und Bewußtsein als die elementarsten Grundbestandteile des Psychischen ansieht - es geschieht dies mit Unrecht -, der müßte der Pflanze die Beseeltheit absprechen. Zwar ist der Gefühlsdrang der Pflanze bereits auf ihr Medium, auf ein Hineinwachsen in es nach den Grundrichtungen "oben" und "unten", dem Licht und der Erde zu, hingeordnet, aber doch nur auf das  unspezifizierte Ganze  dieser medialen Richtungen, auf mögliche Widerstände und Wirklichkeiten - wichtig für das Leben des pflanzlichen Organismus - in ihnen, nicht aber auch bestimmte Umweltbestandteile und -Reize, denen besondere Sinnesqualitäten und Bildelemente entsprächen. Die Pflanze reagiert z. B. spezifisch auf die Intensität der Lichtstrahlen, nicht aber differenz auf Farben und Strahlrichtungen. Nach eingehenden neueren Untersuchungen des holländischen Botanikers BLAAUW kann man der Pflanze keine spezifischen Tropismen, keine Empfindung, auch nicht die kleinsten Anfänge eines Reflexbogens, keine Assoziationen und bedingten Reflexe zuschreiben, und eben darum auch keinerlei "Sinnesorgane", wie sie HABERLANDT zu umgrenzen gesucht hat. Die durch Reize ausgelösten Bewegungserscheinungen, die man früher auf solche Dinge bezog, haben sich als Bestandteile jener allgemeinen  Wachstums erscheinungen der Pflanze erwiesen. Fragen wir, was der allgemeinste Begriff der  "Empfindung"  ist - bei höheren Tieren dürften die durch die Blutdrüsen auf das Gehirn ausgeübten Reize die primitivsten Empfindungen darstellen und sowohl den Organempfindungen wie auch den von Außenvorgehenden zugehenden Empfindungen zugrunde liegen -, so ist es der Begriff einer spezifischen  Rückmeldung  eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens  an ein Zentrum  und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegungen kraft dieser Rückmeldung. Im Sinne dieser Begriffsbestimmung besitzt die Pflanze  keine  Empfindung, kein über die Abhängigkeit ihrer Lebenszustände vom Ganzen ihrer Vorgeschichte hinausgehendes spezifisches "Gedächtnis" und keine eigentliche Lernfähigkeit, wie solche auch die einfachsten Infusorien an den Tag legen. Untersuchungen, die vermeintlich bei Pflanzen bedingte Reflexe und eine gewisse Dressierbarkeit feststellten, dürften in die Irre gegangen sein.

Von dem, was wir bei Tieren "Triebleben" nennen, ist in der Pflanze nur der allgemeine Drang zu  Wachstum und Fortpflanzung  in den Gefühlsdrang eingeschlossen. Daß Leben  nicht  wesentlich "Wille zur Macht" ist, sondern der Drang zu Fortpflanzung und Tod der Urdrang allen Lebens, beweist daher die Pflanze am klarsten. Weder wählt sie spontan ihre Nahrung, noch verhält sie sich in der Befruchtung aktiv: sie wird durch Wind, Vögel und Insekten passiv befruchtet, und da sie die Nahrung, deren sie bedarf, im allgemeinen aus anorganischem Material selbst bereitet, das überall in gewissem Maß vorhanden ist, hat sie es ja auch nicht nötig, sich wie das Tier an bestimmte Orte zu begeben, um Nahrung zu finden. Daß die Pflanze  nicht  den Spielraum der spontanen Ortsbewegung des Tieres hat, daß sie keine spezifische Empfindung, keinen spezifischen Trieb, keine Assoziation, keinen bedingten Reflex, kein eigentliches Macht- und Nervensystem besitzt, ist ein  Ganzes  von Mängeln, das vollständig klar und eindeutig aus ihrer  Seins-Struktur  zu begreifen ist. Man kann zeigen: hätte die Pflanze nur eines von diesen Dingen, so müßte sie auch das andere und alle anderen haben. Da es keine Empfindung ohne Triebimpuls und Mitanheben einer motorischen Aktion gibt, muß da, wo das Machtsystem fehlt, auch ein System von Empfindungen fehlen. Die Mannigfaltigkeit der Sinnesqualitäten, die ein tierischer Organismus besitzt, ist nie größer als die Mannigfaltigkeit seiner spontanen Beweglichkeit - und eine  Funktion  der letzteren.

Die  wesenhafte  Richtung des Lebens, die das Wort "pflanzlich", "vegetativ" bezeichnet - daß wir es hier nicht mit empirischen Begriffen zu tun haben, beweisen die mannigfachen Übergangserscheinungen zwischen Pflanze und Tier, die schon ARISTOTELES kannte -, ist ein ganz nach außen gerichteter Drang. Daher spreche ich bei der Pflanze von  "ekstatischem"  Gefühlsdrang, um dieses totale Fehlen einer dem tierischen Leben eigenen Rückmeldung von Organzuständen an ein Zentrum, dieses völlige Fehlen einer Rückwendung des Lebens in sich selbst, einer noch so primitiven re-flexio, eines noch so schwach "bewußten" Innenzustandes zu bezeichnen. Denn Bewußtseins  wird  erst in der primitiven re-flexio der Empfindung, und zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände - alles Bewußtsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewußtseins in steigendem Leiden - gegenüber der ursprünglichen spontanen Bewegung. Mit dem Bewußtseins, mit der Empfindung fehlt der Pflanze alle Lebens"wachheit", die ja aus der Wächterfunktion der Empfindung erst herauswächst. Empfindungen zu entbehren aber vermag die Pflanze wie gesagt nur darum, weil sie - der größte Chemiker unter den Lebewesen - ihr organisches Aufbaumaterial aus den anorganischen Substanzen selber bereitet. So geht in Ernährung und Wachstum, Fortpflanzun und Tod (ohne artspezifische Lebensdauer) ihr Dasein auf.

Jedoch findet sich bereits im pflanzlichen Dasein das Urphänomen des  Ausdrucks,  eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm. Der "Ausdruck ist eben ein  Urphänomen  des Lebens - keineswegs, wie DARWIN meinte, ein Inbegriff atavistischer [einem primitiveren Stadium entsprechender - wp] Zweckhandlungen. Was dagegen der Pflanze ganz fehlt, das sind die Kundgabefunktionen, die wir bei allen Tieren finden, die allen Verkehr der Tiere miteinander bestimmen, und die das Tier bereits weitgehend unabhängig machen von der unmittelbaren Anwesenheit der Dinge, die für es lebenswichtig sind. Erst beim Menschen baut sich auf Ausdrucks- und Kundgabefunktionen die Darstellungs- und Nennfunktion der Zeichen auf. Das für alle Tiere, die in Gruppen leben, wesentliche Doppelprinzip von Pionier und Gefolgschaft, Vormachen und Nachmachen, finden wir in der pflanzlichen Welt nicht.

Aufgrund der  mangelnden Zentralisierung  des pflanzlichen Lebens, besonders des Fehlens eines Nervensystems, ist die Abhängigkeit der Organe und Organfunktionen bei der Pflanze von Haus aus inniger als beim Tier. Jeder Reiz ändert aufgrund des reizleitenden Gewebesystems der Pflanze in höherem Maß den  ganzen  Lebenszustand, als es beim Tier der Fall ist. Einer mechanischen Lebenserklärung ist die Pflanze daher schwerer, nicht leichter zugänglich als das Tier (im allgemeinen). Denn erst mit der Zunahme der Zentralisierung des Nervensystems im Tier wächst auch die Unabhängigkeit seiner Teilreaktionen - und damit eine gewisse Annäherung des tierischen Körpers an die Maschinenstruktur.

Da die Pflanze keiner aktiven Anpassung an die tote und lebendige Umwelt fähig ist, darf man bei den gleichwohl bestehenden teleoklinen [zweckgerichteten - wp] Beziehungen, die sie zur anorganischen Zusammensetzung ihres Milieus, ferner zu Insekten, Vögeln etc. hat, sagen, daß die Pflanze für die hinter allen morphologischen Bilderscheinungen stehende  Einheit des Lebens  im metaphysischen Sinne und für den allmählichen Werdecharakter aller Arten von Formbildungen des Lebens an geschlosssenen Stoff- und Energiekomplexen in höherem Maße bürge als das Tier. Ganz und gar versagt für ihre Formen wie für ihre Verhaltensweise das von den Darwinisten wie den Theisten so maßlos überschätzte Nützlichkeitsprinzip - als sei in einem objektiv-teleologischen Sinne die Pflanze "für" das Tier, das Tier "für" den Menschen da, als sei ein  zweck haftes Streben in der Natur auf den Menschen hin -, ganz und gar auch der Lamarckismus. Die überaus reichen Formen ihrer blättrigen Teile weisen in ihrer Fülle noch eindringlicher als die Formen- und Farbenfülle der Tiere auf ein phantasievoll spielendes, aber ästhetisch geregeltes Prinzip in der unbekannten Wurzel des Lebens hin.

Diese erste Stufe der Innenseite des Lebens, der Gefühlsdrang, ist nicht nur in allen Tieren,, sondern auch im  Menschen  noch vorhanden: Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, hinter der nicht der dunkle Drang stünde, die er mit seinem die Schlaf- und Wachzeiten kontinuierlich durchschneidenden Feuer nicht unterhielte - selbst die einfachste Empfindung ist nie bloß Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit. Gleichzeitig stellt der Drang die  Einheit  aller reich gegliederten Triebe und Affekte des Menschen dar. Nach neueren Forschern dürfte er im Gehirnstamm des Menschen, der wahrscheinlich auch Zentralstelle für die die leiblichen und seelischen Vorgänge vermittelnden endokrinen Drüsenfunktionen ist, lokalisiert sein. Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären  Widerstands erlebnisses, das die Wurzel allen Habens von "Realität", von "Wirklichkeit" ist, insbesondere auch der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorgängigen Eindrucks der  Wirklichkeit.  Vorstellen und mittelbares Denken (Schließen) können uns nie etwas Anderes als das "Sosein" und "Anderssein" dieser Wirklichkeit indizieren. Sie selbst als "Wirklichsein" des Wirklichen ist uns nur in einem mit Angst verbundenen allgemeinen Widerstand, bzw. einem Erlebnis des Widerstandes gegeben. (2)

Organologisch stellt das vor allem die Nahrungsverteilung regelnde vegetative Nervensystem, wie schon sein Name sagt, im Menschen die noch in ihm vorhandene Pflanzlichkeit dar. Eine periodische Energie-Entziehung am animalischen, das äußere Machtverhalten regelnden System zugunsten des vegetativen ist wahrscheinlich die Grundbedingung der Rhythmik der Schlaf- und Wachzustände. Insofern ist der Schlaf ein relativ pflanzlicher Zustand des Menschen. Im Weib, bei ausgeprägten Ackerbaustämmen (im Gegensatz zu Tierzüchtern und Nomaden), im ganzen (nichtjüdischen) Asien scheint das pflanzliche Prinzip (wie schon FECHNER bemerkt) im Menschen zu überwiegen.

Als die zweite seelische Wesensform, die dem undifferenzierten ekstatischen Gefühlsdrang in der objektiven Stufenordnung des seelischen Lebens folgt, haben wir das anzusehen, was wir als  "Instinkt"  bezeichnen - ein seiner Deutung und seinem Sinn nach sehr umstrittenes dunkles Wort. Wir entgehen dieser Dunkelheit dadurch, daß wir uns aller Definition mit psychologischen Begriffen zunächst enthalten und den Instinkt (wie auch die folgenden Wesensstufen) ausschließlich vom sogenannten Verhalten des Lebewesens aus definieren. Das "Verhalten" eines Lebewesens ist immer Gegenstand äußerer Beobachtung und möglicher Beschreibung. es ist unabhängig von den physiologischen Bewegungseinheiten, die es tragen, feststellbar, und ebenso feststellbar, ohne daß (physikalische oder chemische) Reizbegriffe bei seiner Charakteristik eingeführt werden. Wir vermögen unabhängig und vor aller sei es physiologischen, sei es psychologischen kausalen Erklärung Einheiten und Veränderungen des Verhaltens eines Lebewesens bei veränderlichen Umgebungsbestandteilen festzustellen und gewinnen damit gesetzliche Beziehungen, die insofern bereits sinnerfüllt sind, als sie ganzheitlichen teleoklinen Charakter tragen. Es ist ein Irrtum der "Behavioristen", wenn sie in den Begriff des Verhaltens bereits den physiologischen Hergang seines Zustandekommens aufnehmen. Wertvoll an diesem Begriff ist gerade dies, daß es ein  psychophysisch indifferenter  Begriff ist. Das heißt: jedes Verhalten ist immer auch Ausdruck von Innenzuständen; denn es gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar "ausdrückt". Es kann und muß daher immer doppelt erklärt werden, psychologisch und physiologisch zugleich; es ist gleich falsch, die psychologische Erklärung der physiologischen wie die letztere der ersteren vorzuziehen. Das "Verhalten" ist das deskriptiv "mittlere" Beobachtungsfeld, von dem wir auszugehen haben. In diesem Sinne nennen wir "instinktiv" ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muß erstens  sinngemäß  sein, d. h. es muß so sein, daß es für das  Ganze  des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger teleoklin, d. h. eigendienlich oder fremddienlich ist. Und es muß nach einem festen, unveränderlichen  Rhythmus  ablaufen. Auf den festen Rhythmus kommt es an, nicht etwa auf die Organe, die zu diesem Verhalten benutzt werden und die bei Wegnahme dieses oder jenes Organs wechseln können; auch nicht auf die Kombination einzelner Bewegungen, die je nach der Ausgangslage des tierischen Körpers bei gleicher Aufgabe und Leistung wechseln können. Die amechanische Natur des Instinktes, die Unmöglichkeit, ihn auf kombinierte Einzel- oder Kettenreflexe (wie LOEB auf "Tropismen") zurückzuführen, ist dadurch gesichert. Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung - nach dem Prinzip, das JENNINGS das von "Versuch und Irrtum" genannt hat -  erworbenen  gleichfalls sinnvollen Bewegungen  nicht.  Die Sinnbewegung braucht nicht auf gegenwärtige Situationen zu gehen, sondern kann auch auf zeitlich und räumlich weit entfernte abzielen. Ein Tier bereitet z. B. für den Winter oder für die Eiablage etwas sinnvoll vor, obgleich man nachweisen kann, daß es als Individuum ähnliche Situationen noch nie erlebte, und daß auch Kundgabe, Tradition, Nachahmung von Artgenossen dabei ausgeschaltet ist; es verhält sich so, wie sich nach der Quantentheorie schon das Elektron verhält: "als ob" es einen künftigen Zustand vorhersähe. Ein weiteres Merkmal des instinktiven Verhaltens ist es, daß es nur auf solche typische wiederkehrende Situationen anspricht, die für das  Art erleben als solches, nicht für die Sondererfahrung des Individuums bedeutsam sind. Der Instinkt ist stets artdienlich, sei es der eigenen, sei es der fremden Art, mit der die eigene Art in einer wichtigen Lebensbeziehung steht (Ameisen und Gäste; Gallenbildungen der Pflanzen; Insekten und Vögel, die die Pflanzen befruchten). Dieses Merkmal scheidet das instinktive Verhalten erstens scharf von "Selbstdressur" durch "Versuch und Irrtum" und allem "Lernen", zweitens von allem "Verstandes"gebrauch, die beide, wie wir sehen werden, primär individual- und nicht artdienlich sind. Das instinktive Verhalten ist daher niemals eine Reaktion auf die von Individuum zu Individuum wechselnden speziellen Inhalte der Umwelt, sondern je nur auf eine ganz besondere  Struktur,  eine arttypische Anordnung der möglichen Umweltteile. Während die speziellen Inhalte weitgehendst ausgewechselt werden können, ohne daß der Instinkt beirrt wird und zu Fehlhandlungen führt, wird die kleinste Änderung der Struktur Beirrungen zur Folge haben. Das ist es, was man als "Starrheit" des Instinktes bezeichnet, im Unterschied zu den überaus plastischen Verhaltensweisen, die auf Dressur, Selbstdressur und auf Intelligenz beruhen. In seinem gewaltigen Werk "Souvenirs Entomologiques" hat JULES FABRE eine überwältigende Mannigfaltigkeit eines solchen instinktiven Verhaltens mit größter Präzision gegeben. Dieser Artdientlichkeit entspricht es, daß der Instinkt in seinen Grundzügen  angeboren  und  erblich  ist, und zwar als spezifiziertes Verhaltensvermögen selbst, nicht nur als allgemeines Erwerbungsvermögen von Verhaltensweisen, wie es natürlich auch Gewöhnbarkeit, Dressierbarkeit und Verständigkeit sind. Die Angeborenheit besagt jedoch nicht, daß das instinktiv zu nennende Verhalten sich sogleich nach der Geburt abspielen müßte, sondern bedeutet nur, daß es bestimmten Wachstums- und Reifeperioden, eventuell sogar verschiedenen Formen der Tiere (bei Polymorphismus) zugeordnet ist. Sehr wichtig als Merkmal des Instinktes ist schließlich, daß er ein Verhalten darstellt, das von der  Zahl  der Versuche, die ein Tier macht, um einer Situation zu begegnen, unabhängig ist: in diesem Sinne kann er als von vornherein  "fertig"  bezeichnet werden. So wenig wie die eigentliche Organisation des Tieres durch kleine differentielle Variationsschritte entstanden gedacht werden kann, ebensowenig der Instinkt durch Addition erfolgreicher Teilbewegungen. Wohl ist der Instinkt durch Erfahrung und Lernen spezialisierbar, wie man z. B. an den Instinkten der Jagdtiere sieht, denen zwar das Jagen auf ein bestimmtes Wild, nicht aber die Kunst, es erfolgreich auszuüben, angeboren ist. Das aber, was Übung und Erfahrung hier leistet, entspricht immer nur gleichsam den Variationen einer Melodie, nicht der Erwerbung einer neuen. Der Instinkt ist also schon der Morphogenesis [Entstehung der Form - wp] der Lebewesen selbst eingegliedert und im engsten Zusammenhang mit den gestaltenden physiologischen Funktionen tätig, welche die Strukturformen des Tierkörpers erst bilden.

Sehr wichtig ist das Verhältnis des Instinktes zu den Empfindungen, zur Tätigkeit der Sinnesfunktionen und -Organe, auch zum Gedächtnis. Daß Instinkte erst durch äußere Sinneserfahrungen entstehen (Sensualismus), ist ausgeschlossen. Der Empfindungsreiz löst den rhythmisch festen Ablauf der instinktiven Tätigkeit nur aus, ohne seinen So-Ablauf zu determinieren. Geruchsempfindungsreize, optische Empfindungsreize können dabei  dieselbe  Tätigkeit auslösen - es müssen also nicht einmal Empfindungen derselben Modalität, geschweige denn derselben Qualität sein, die diese Auslösung besorgen. Wohl aber gilt der umgekehrte Satz:  Was  ein Tier vorstellen und empfinden kann, ist durch den Bezug seiner angeborenen Instinkte zur Umweltstruktur apriori beherrscht und bestimmt. Dasselbe gilt von seinen Gedächtnisproduktionen: sie erfolgen stets im Sinne und im Rahmen seiner vorherrschenden Instinktaufgaben, ihrer Oberdetermination, und erst in sekundärer Weise ist die Häufigkeit der assoziativen Verknüpfungen der bedingten Reflexe und der Übungen von Bedeutung. Das Tier, das sehen und hören kann, sieht und hört nur das, was für sein instinktives Verhalten bedeutsame ist - auch bei gleichen Reizen und sensorischen Bedingungen der Empfindung. Alle afferenten [eingehende Signalleitung - wp] Nervenbahnen und Rezeptionsorgane für Reize haben sich auch entwicklungsgeschichtlich erst nach der Anlage von efferenten [ausgehende Signalleitung - wp] Nervenbahnen und Erfolgsorganen gebildet. Noch im Menschen liegt dem Sehen der Trieb zum Sehen und diesem der allgemeine Wachtrieb zugrunde; der Schlaftrieb sperrt Sinnesorgane und -Funktionen zu. So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sogenannten "Trieb"handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, daß sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z. B. die Sucht nach Rauschgift). Jede Ableitung instinktiver Verhaltensweisen aus mechanisch gedachten Tropismen und Taxen (LOEB) - die selbst vielmehr einfachste Instinkte sind -, jede Rückführung auf kombinierte Einzelreflexe motorischer Bahnen (die es nach neueren Forschungen überhaupt nicht gibt; nicht einmal der Patellar- oder der Augenlidschlußreflex ist so ein rein mechanischer Reflex) und auf Kettenreflexe hat sich als unmöglich erwiesen (JENNINGS - ALVERDES). Ebensowenig aber ist es möglich, den Instinkt auf Vererbung von Verhaltensweisen zurückzuführen, die auf "Gewohnheit" und "Selbstdressur" beruhen (SPENCER), d. h. in letzter Linie auf assoziative Gesetzlichkeit und bedingten Reflex, oder ihn als nachträgliche Automatisierung verständigen, "intelligenten" Verhaltens anzusehen (WUNDT). Das Werden des Instinktes einer Art ist durchaus ein Teilprodukt der Artbildung selbst; in "reinen Linien" ist der Instinkt ganz unveränderlich. Teilschritte, wie es solche der Gewöhnung und Übung sind, können ihn nicht verändern, so wenig wie den "Bauplan" eines Tieres. Der Instinkt ist ohne Zweifel eine primitivere Form des Seins und Geschehens als die durch Assoziationen bestimmten seelischen Komplexbildungen. Wir sind in der Lage zu zeigen, daß die psychischen Abläufe, die der assoziativen (gewohnheitsmäßigen) Gesetzmäßigkeit folgen, im Nervensystem erheblich höher lokalisiert, also genetische später sind als die instinktiven Verhaltensweisen. Gerade die  sinneinheitlichen  Verhaltensweisen (Greifen nach einem Ding, Singen einer Melodie) können in pathologische Ausfallserscheinungen noch stattfinden, wo weniger Sinngegliedertes (Einzelbewegungen, wie das Bewegen eines einzelnen Fingers; oder das Singen der Tonleiter) nicht mehr hervorzubringen ist. Diese festgegliederten Sinneinheitlichkeiten des Verhaltens sind wesentlich  sub kortikal [unter der Großhirnrinde - wp] bedingt. Die Großhirnrinde ist wesentlich ein  Dissoziations organ gegenüber den einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltensweisen, nicht ein Assoziationsorgan.

Wir dürfen sagen, daß das Heraustreten relativer  Einzel empfindungen und -vorstellungen aus diffusen Komplexen und die assoziative Verknüpfung zwischen diesen Einzelgebilden, desgleichen das Heraustreten eines bestimmten nach Befriedigung verlangenden "Triebes" aus dem instinktiven Sinnverband des Verhaltens, wie andererseits die Anfänge der "Intelligenz" die den nun erst sinnentleerten Automatismus wieder "künstliche" sinnvoll zu machen sucht, beiderseits genetische gesehen  gleich ursprüngliche Entwicklungs produkte (Zerfallsprodukte - nicht im Wertsinn) des instinktiven Verhaltens sind. Sie gehen im allgemeinen streng gleichen Schritt sowohl miteinander wie mit der Individuierung der Lebewesen, dem Herausfallen des Einzelwesens aus der Artgebundenheit; halten ferner gleichen Schritt mit der Mannigfaltigkeit der individuellen Sondersituationen, in die das Lebewesen gelangen kann.  Schöpferische Dissoziation,  nicht Assoziation oder "Synthese" (WUNDT) einzelner Stücke, ist also der Grundvorgang der psychischen Entwicklung. Und dasselbe gilt auch physiologisch: Der Organismus gleich auch physisch umso weniger einem Mechanismus, je einfacher er organisiert ist, bringt aber bis zum Eintritt des Todes und der Zytomorphose der Organe immer mehr phänomenal mechanismenartige Gebilde und Verhaltensweisen selbst hervor. Es dürfte wohl nachweisbar sein, daß die Intelligenz keineswegs erst auf einer höheren Stufe des Lebens wie z. B. KARL BÜHLER meint, zum assoziativen Seelenleben (und seinem physiologischen Analogon, dem bedingten Reflex) hinzutritt; sie bildet sich vielmehr streng gleichmäßig und parallel zum assoziativen Seelenleben aus, und sie ist, wie jüngst ALVERDES und BUYTENDYK gezeigt haben, keineswegs erst bei den höchsten Säugetieren, sondern schon im Infusorium vorhanden. Es ist, als ob das, was im Instinkt sinnvoll, aber starr und artgebunden ist, in der Intelligenz beweglich und individuell-bezogen würde, das aber, was im Instinkt automatisch ist, in der Assoziation und dem bedingten Reflex mechanisch, also relativ  sinnfrei erst würde,  gleichzeitig aber auch mannigfaltiger kombinierbar. Daß also die Instinkte keine automatisch gewordenen Verstandes- und Willkürhandlungen sind, das läßt auch verstehen, daß die Gliedertiere, welche auch morphologische eine ganz andere und viel starrere Grundlage ihrer Organisationen besitzen als die höheren Tiere, die Instinkte am vollkommensten besitzen, kaum aber Zeichen eines verständigen (intelligenten) Verhaltens von sich geben, dagegen der Mensch als plastischer Säugetiertypus, bei dem die Intelligenz und nicht minder das assoziative Gedächtnis am höchsten entwickelt ist, stark zurückgebildete Instinkte besitzt. Auf alle Fälle ist die seelische Grundform des Instinktes an die tierische und in atavistischen Resten an die menschliche Form des Lebens geknüpft.

Versucht man das instinktive Verhalten psychisch zu deuten, so stellt es eine untrennbare  Einheit von Vor- Wissen und Handlung  dar, sodaß niemals  mehr  Wissen gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzeitig eingeht. Zwar liegt schon der Anfang der Trennung von Sensation und Reaktion vor (Reflexbogen), aber es besteht noch der engste Zusammenhang beider in der Funktion. Ferner ist das Wissen, das im Instinkt liegt, nicht sowohl ein Wissen durch Vorstellungen und Bilder oder gar durch Gedanken, sondern eine Fühlen  wert betonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände. Von angeborenen "Vorstellungen" bei Instinkten zu reden, wie es REIMARUS getan hat, hat also keinen Sinn.

Im Verhältnis zum Gefühlsdrang ist der Instinkt zwar bereits auf artmäßig häufig wiederkehrende, aber doch spezifische - inhaltlich verschiedene, daher nicht ohne Wahrnehmung gegebene - Bestandteile der Umwelt gerichtet. Er stellt als solcher eine zunehmende Spezialisierung des Gefühlsdrangs und seiner Qualitäten dar.

Unter den zwei Verhaltensweisen, die, wie wir sahen, beide ursprünglich aus dem instinktiven Verhalten hervorgehen, das "gewohnheitsmäßige" - die dritte psychische Form, die wir unterscheiden - den Inbegriff der Tatsachen der Assoziation, Reproduktion, des bedingten Reflexes, d. h. jene Fähigkeit dar, die wir als  "assoziatives Gedächtnis"  (Mneme) bezeichnen. Diese Fähigkeit kommt keineswegs allen Lebewesen zu; sie fehlt den Pflanzen, wie schon ARISTOTELES gesehen hat. Zusprechen müssen wir sie jedem Lebewesen, dessen Verhalten sich aufgrund früheren Verhaltens gleicher Art in einer lebensdienlichen, also sinnvollen Weise  langsam und stetig abändert,  d. h. so, daß das jeweilige Maß, in welchem sein Verhalten sinnvoller wird, in strenger Abhängigkeit steht von der  Zahl der Versuche  oder der sogenannten Probierbewegungen. Daß ein Tier überhaupt spontan Probierbewegungen macht (auch die spontanen Spielbewegungen, z. B. der jungen Hunde und Pferde lassen sich dazu rechnen), daß es ferner diese Bewegungen zu wiederholen tendiert, gleichgültig, ob sie Lust oder Unlust im Gefolge haben, beruth nicht auf dem Gedächtnis, sondern ist aller Reproduktin Voraussetzung - ein selbst angeborener Trieb (Wiederholungstrieb). Daß es aber diejenigen Bewegungen, die hierbei Erfolg hatten für irgendeine positive Triebbefriedigung, später häufiger zu wiederholen sucht - sodaß sie sich in ihm "fixieren" - als diejenigen, die Mißerfolg hatten, ist eben die Grundtatsache, die wir mit dem Prinzip von "Erfolg und Irrtum" bezeichnen. Wo wir solche Tatsachen finden, sprechen wir von "Übung", wo es sich nur um das Quantitative handelt, von "Erwerbung" von Gewohnheiten in qualitativer Hinsicht, je nachdem von Selbstdressur oder, wenn der Mensch eingreift, von Fremddressur.

Diese psychische und physiologische Fähigkeit  allem  organischen Leben zuzusprechen (wie HERING und SEMON wollten), wäre richtig nur, wenn man damit sagen will, daß das Verhalten alles Lebendigen niemals nur von einem zeitlich unmittelbar vorgehenden Zustand des Organismus, sondern von seiner ganzen Vorgeschichte abhängig ist, daß Lebendiges - im Unterschied vom (phänomenal) Toten - kein streng soseinsidentischen Zustände besitzt, daß also gleiche Ursachen und gleiche Wirkungen hier nicht vorkämen. Es ist aber falsch, wenn man damit meint, daß spezielle sensomotorische Verhaltensweisen bei allem Lebendigen einen bestimmenden Einfluß auf den jeweilig leichteren Ablauf ähnlicher Verhaltensweisen besitzen. Denn in diesem Sinne besitzt das gesamte pflanzliche Leben keine der obigen Tatsachen, und kann es auch nicht, da es, ganz nach außen ergossen, jene Rückmeldung von jeweiligen Organzuständen an ein Zentrum (= Empfindung) und ein Motorium  nicht  hat. Die Grundlage des assoziativen Gedächnisses ist der von PAWLOW so benannte "bedingte Reflex": Ein Hund z. B. sondert nicht nur bestimmte Magensäfte ab, wenn das Fressen in seinen Magen gelangt, sondern auch schon, wenn er das Fressen sieht, oder sogar, wenn er nur die Schritte des Mannes hört, der ihm das Fressen zu bringen pflegt; der Mensch sondert die Verdauungssäfte sogar schon dann ab, wenn ihm im Schlaf suggeriert wird, daß er die betreffende Nahrung einnimmt. Läßt man bei einem solchen Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst wird, gleichzeitig mehrmals ein Signal erklingen, so kann auch ohne den adäquaten Reiz beim Auslösen des Signals das betreffende Verhalten eintreten. Solche und ähnliche Tatsachen nennt man "bedingten Reflex". Nur die psychische Analogie dazu ist die sogenannte "assoziative Gesetzlichkeit", nach der ein erlebter Gesamtkomplex von Vorstellungen sich wiederherzustellen und seine fehlenden Glieder zu ergänzen strebt, wenn ein Teil dieses Komplexes, z. B. ein Teil der Umwelt, sensorisch oder motorisch wiedererlebt wird. Zerfällt ein Komplex in mehrere Teilstücke, so können sich auch diese Einzelvorstellungen wieder verbinden nach dem Gesetz von "Berührung und Ähnlichkeit". Die sogenannten Assoziationsgesetze für die Reproduktion von Vorstellungen resultieren hieraus. So sicher hier eine eigentümliche Gesetzlichkeit des psychischen Lebens vorliegt, die bei einigen höheren Tierarten, besonders den Wirbel- und Säugetieren, eine sehr große Rolle spielt, so hat doch die Forschung gewiß gemacht: vollständig strenge Assoziationen von Einzelvorstellungen, die  nur  dieser Gesetzmäßigkeit von "Berührung und Ähnlichkeit", d. h. partieller Identität der Ausgangsvorstellungen mit früheren Komplexen unterliegen, dürften niemals vorkommen, so wenig wie ein völlig isolierter immer gleicher Reflex eines einzelnen örtlich bestimmten Organs, so wenig auch wie eine streng reizproportionale "reine" Empfindung unabhängig von allen wechselnden determinierenden Triebeinstellungen und allem Gedächtnismaterial. (Jede Empfindung ist immer eine Funktion des Reizes  und  der triebhaften Aufmerksamkeit.) So wenig es eine "reine" isolierte streng reizproportionale Emfpindung gibt, so wenig eine "reine" Assoziation. Alles assoziative Gedächtnis steht unter der determinierenden Kraft von Trieben, Bedürfnissen und deren Aufgaben, die diese selbst (oder der Zwang des Dresseurs) setzen. Es handelt sich bei allen Assoziationsgesetzen - genauso wie bei den Naturgesetzen der Physik, die Gesamtvorgänge betreffen - nur um statistische Regelmäßigkeiten,  nicht  um Elementargesetze des Seelenlebens (wie LOCKE, HUME, MILL und die gesamte Assoziationspsychologie meinten). Alle Begriffe wie "reine" Empfindung, assoziativer Reflex, haben daher den Charakter von  Grenzbegriffen,  die nur die Richtung einer gewissen Art von psychischen respektive physischen Veränderungen andeuten. Annähernd reine Assoziationen finden sich wohl nur bei ganz bestimmten  Ausfalls erscheinungen gedanklicher Oberdeterminanten, z. B. bei äußeren Klangassoziationen der Sprachworte im Zustand der Ideenflucht. So wenig ist diese Verknüpfungsweise genetisch elementar, daß erst im  Alter  der seelische Vorstellungsverlauf (als Folge der Stärkeminderung und der Differenzierungsabnahme des Trieblebens) sich dem Assoziationsmodell mehr und mehr annähert, wie die Veränderungen der Schrift, des Zeichnens, der Malerei, der Sprache im hohen Alter bezeugen: sie erhalten alle einen zunehmend additiven, nicht-ganzheitlichen Charakter (d. h. die Assoziationsgesetze gelten angenähert für den senilen Schwachsinn). Analog nähert sich im Altern die Empfindung der Reizproportionalität der "reinen" Empfindung. Geradeso wie der leibliche Organismus im Laufe des Lebens immer mehr einen relativen Mechanismus hervorbringt, bis er im Tod ganz in einen solchen versinkt, so bringt auch unser psychisches Leben immer mehr rein gewohnheitsmäßige Verbindungen von Vorstellungen und Verhaltensweisen hervor: der Mensch wird im Altern immer mehr der Sklave der Gewohnheit. Genauso wie die nüchterne Wahrnehmung von Tatbeständen ohne Phantasieüberschuß bzw. ohne mythische Verarbeitung ein Spätphänomen der seelischen Entwicklung ist für den Einzelnen bzw. für ganze Völker - das ganze Leben der Völker in ihrer mythologischen Jugendperiode, nicht minder das seelische Leben des Kindes ist überwuchert und zugedeckt von der spontanen ursprünglichen Trieb- und Wunsch phantasie -, so ist auch die (gehirnphysiologisch sehr hoch lokalisierte) assoziative Verbindung ein solches  Spät phänomen (3). Sie ist also nichts weniger als ein Elementarphänomen, zu dem später synthetisierende Bindungen durch ein sogenanntes "beziehendes Denken" oder eine "Oberseele" träten. Das assoziative Gedächtnis ist auch darin nie "rein", daß es, wie sich gezeigt hat, fast keine Assoziation gibt, die ganz ohne intellektuellen Einschlag ist. Niemals findet sich der Fall, daß der Übergang von assoziativer Zufallsreaktion zu sinngemäßer Reaktion streng stetig mit der Zahl der Versuche wächst. Die Kurven zeigen fast immer Unstetigkeit, und zwar in dem Sinne, daß die Wendung von Zufall zu Sinn schon etwas  früher  eintritt, als das reine Prinzip von "Versuch und Irrtum" nach den Wahrscheinlichkeitsregeln erwarten läßt - so, als sei durch die Zahl der Versuche so etwas wie "Einsicht" geweckt worden.

Das Prinzip des assoziativen Gedächtnisses ist in irgendeinem Grad bereits bei allen Tieren tätig und stellt sich als unmittelbare Folge des Auftretens des  Reflexbogens,  der Scheidung des sensorischen vom motorischen System dar. In der Größe seiner Verbreitung gibt es aber gewaltige Unterschiede. Die typischen Instinkttiere (Gliedertiere) mit kettenartig geschlossenem Bau zeigen es am wenigsten, die Tiere von plastischer, wenig starrer Organisation mit großer breiter Kombinierbarkeit immer neuer Bewegungen aus Teilbewegungen (Säuge- und Wirbeltiere) zeigen es am schärfsten. Im Menschen nimmt das Prinzip der Assoziation, Reproduktion, die größte Ausdehnung an. Eng verbindet sich das Prinzip vom ersten Augenblick seines Auftretens an mit der Handlungs- und Bewegungs nachahmung  aufgrund des Affektausdrucks und der Signale der Artgenossen. "Nachahmung" und "Kopieren" sind nur Spezialisierungen jenes Wiederholungstriebs, angewandt auf  fremdes Verhalten und Erleben,  der zunächst eigenen Verhaltensweisen und Erlebnissen gegenüber tätig ist und sozusagen den Dampf alles reproduktiven Gedächtnisses darstellt. Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der  "Tradition",  die zur biologischen "Vererbung" eine ganz neue  Dimension  der Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt, jedoch von aller freibewußten "Erinnerung" an Vergangenes (Anamnesis) und von aller Überlieferung aufgrund von Zeichen, Quellen, Dokumenten (allem Geschichtswissen) aufs allerschärfste geschieden werden muß. Während jene letzteren Formen nur dem Menschen eigentümlich sind, tritt die Tradition schon in den Horden, Rudeln und sonstigen Gesellschaftsformen der Tiere auf: auch hier "lernt" die Herde, was die Pioniere vormachen, und vermag es kommenden Generationen zu überliefern.

Ein gewisser "Fortschritt" ist daher schon durch die Tradition möglich. Doch beruth alle echte menschliche Entwicklung wesentlich auf einem zunehmenden  Abbau  der Tradition. Bewußte "Erinnerung" an individuelle, einmalig erlebte Geschehnisse und stetige Identifikation einer Mehrheit von Erinnerungsakten untereinander auf ein und dasselbe Vergangene hin ist nur dem Menschen eigen; sie stellt stets die Auflösung, ja die eigentliche Tötung der lebendigen Tradition dar. Die tradierten Inhalte sind uns ja gleichwohl stets als "gegenwärtige" gegeben, als zeitlich undatiert; sie erweisen sich als wirksam auf unser gegenwärtiges Tun, ohne aber selbst dabei in einer bestimmten Zeitdistanz gegenständlich zu werden: die Vergangenheit suggeriert uns mehr in der Tradition, als daß wir um sie "wissen" (4). Die Abtragung der Traditionsgewalt schreitet in der menschlichen Geschichte zunehmend fort: sie ist eine Leistung der Ratio, die stets in ein und demselben Akt einen tradierten Inhalt  objektiviert  und in die Vergangenheit, in die er gehört, gleichsam  zurückwirft - damit den Boden freimachend für je neue Entdeckungen und Erfindungen. Die sehr langsame Abtragung der Wirksamkeit all dieser Mächte, welche "die Gewohnheit zur Amme des Menschen machen", ist ein wesentlicher Teil aller Geschichte. Der Druck, den die Tradition auf unser Verhalten vorbewußt ausübt, nimmt in der Geschichte durch die fortschreitende Geschichts wissenschaft  zunehmend ab. -

Die Wirksamkeit des assoziativen Prinzips bedeutet im Aufbau der psychischen Welt zugleich Zerfall des Instinktes und seiner Art von "Sinn"  und  Fortschritt der Zentralisierung und gleichzeitigen Mechanisierung des organischen Lebens, bedeutet ferner eine zunehmende Herauslösung des organischen  Individuums  aus der Artgebundenheit und der anpassungslosen Starrheit des Instinktes. Denn erst durch den Fortschritt dieses Prinzips vermag das Individuum sich je  neuen,  d. h. nicht-arttypischen Situationen anzupassen. Es hört damit auf, nichts weiter zu sein als ein Durchgangspunkt von Fortpflanzungsprozessen. Ist das Prinzip der Assoziation im Verhältnis zur praktischen Intelligenz (wie wir sehen werden) noch ein  relatives  Prinzip der Starrheit und Gewohnheit - ein "konservatives Prinzip" -, so ist es im Verhältnis zum Instinkt also bereits ein mächtiges Werkzeug der  Befreiung.  Es schafft eine ganz neue Dimension des Reicherwerdens des Lebens.

Das gilt auch für die Triebe, Gefühle, Affekt. Der vom Instinkt entbundene  Trieb  erscheint relativ schon bei den höheren Tieren - damit freilich auch der Horizont der Maßlosigkeit: er wird schon hier mögliche Lustquelle, unabhängig vom Ganzen der Lebenserfordernisse. Nur solange z. B. der Sexualimpuls eingebettet ist in die tiefe Rhythmik der mit dem Wandel der Natur einhergehenden Brunstzeiten, ist er ein unbestechlicher  Diener  des Lebens. Herausgelöst aus der instinktiven Rhythmik, wird er mehr und mehr selbständige Quelle der Lust - und kann schon bei höheren Tieren, insbesondere bei gezähmten, den biologischen Sinn seines Daseins weit überwuchern (z. B. Onanie bei Affen, Hunden). Wird das Triebleben, das ursprünglich durchaus auf Verhaltensweisen und Güter, und keineswegs auf die Lust als Gefühl gerichtet ist, vom Menschen prinzipiell als Lustquelle benutzt, wie in allem Hedonismus, so haben wir es mit einer späten Dekadenzerscheinung des menschlichen Lebens zu tun (5). Die rein auf die Lust gerichtete Lebenshaltung stellt eine ausgesprochen Alterserscheinung des individuellen wie des Völkerlebens dar, wie etwa der alte "den Tropfen kostende" Trinker und analoge Erscheinungen im Erotischen bezeugen. Ebenso ist die Trennung der höheren und niederen seelischen Funktionsfreuden von der Zustandslust der Triebbefriedigung und das Überwuchern der Zustandslust über die vitalen und geistigen Funktionsfreuden eine Alterserscheinung. Das "Lustprinzip" ist also nichts Ursprüngliches, wie der Hedonismus, ein Bruder des Sensualismus, meint, sondern Folge erst gesteigerter assoziativer Intelligenz. Erst im Menschen nimmt diese Isolierbarkeit des Triebes aus dem instinktiven Verhalten und die Trennbarkeit von Funktions- und Zustandslust die ungeheuerlichsten Formen an, sodaß man mit Recht gesagt hat, der Mensch könne immer mehr oder weniger als ein Tier sein, niemals aber - ein Tier.
LITERATUR: Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928
    Anmerkungen
    1) Vgl. die Abhandlung "Zur Idee des Menschen", a. a. O. Hier ist nachgewiesen, daß der traditionelle Begriff des Menschen durch die Ebenbildlichkeit mit Gott konstituiert ist, daß er also die Idee Gottes als Bezugszentrum voraussetzt.
    2) Vgl. die Abhandlung "Erkenntnis und Arbeit" in dem Buch "Die Wissensformen und die Gesellschaft", und "Idealismus - Realismus" im "Philosophischen Anzeiger", 2. Jahrgang, Heft 3, Bonn 1927.
    3) Vgl. die Abhandlung "Probleme einer Soziologie des Wissens" und "Erkenntnis und Arbeit", beide in dem Band "Die Wissensformen und die Gesellschaft".
    4) Die Suggestion, nach PAUL SCHILDER wahrscheinlich auch die Hypnose, ist eine schon in der Tierwelt weit verbreitete Erscheinung; letztere dürfte als Hilfsfunktion der Begattung entstanden sein und diente wohl zuerst dem Ziel, das Weibchen in den Zustand der Lethargie zu versetzen. Die Suggestion ist eine primäre Erscheinung gegenüber der "Mitteilung" z. B. eines Urteils, dessen Sach-Sinnverhalt selbst im "Verstehen" erfaßt wird. Dieses letztere Verstehen von gemeinten Sachverhalten, die in einem sprachlichen Satz beurteilt werden, findet sich nur beim Menschen.