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GIDEON SPICKER
Die Ursachen des Verfalls
der Philosophie

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"Wir müssen in der Scholastik eine mit klarem Bewußtsein vollzogene Versöhnung des Heidentums und Christentums erblicken. Man stand der heidnischen Philosophie nicht mehr so schroff und polemisch gegenüber. Das Christentum lief keine Gefahr mehr, weder von Seiten der Philosophie, welche es heftig bekämpfte, noch von Seiten des Staates, der in demselben ein revolutionäres Element erblickte. Von Juden und Heiden, die sich am Christentum ärgerten oder es für eine Torheit hielten, war keine Gefahr mehr zu befürchten. Im politisch und sozial gesicherten Besitz des Glaubens konnte man sich ruhig der wissenschaftlichen Reflexion überlassen."

"Die Religion ist für die große Masse, die Philosophie für die wenigen Auserwählten. Die Religion ist die Metaphysik des Volkes, die eigentliche Metaphysik die Religion der Gebildeten. Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie könnte hiernach nur ein gradueller sein. Es ist dasselbe und gleiche Vermögen, nur besitzt es der eine in höherem Maße oder hat es weiter entwickelt als der andere."

"Der Nominalismus ist trotz kirchlicher Verdammung nie ganz erloschen. Diese Lehre ist deswegen so interessant, weil, wenn es keine Arten und Gattungen, sondern nur Individuen gibt - eine Theorie, worunter selbstverständlich auch die menschliche Seele und jedes Naturwesen fällt. Hätte die Kirche diese Lehre nicht gleich im Keim erstickt, so würden die Scholastiker naturnotwenidg zu einem allgemeinen Individualismus gekommen sein."

"Die Idee des Guten ansich spricht schon deutlich genug für ihren religiösen Ursprung. Ein Wesen, dem nur Macht und Intelligenz zukäme, könnte auch bloß ein Teufel sein; Verehrung, Anbetung, vertrauensvolle Hingabe ist nur möglich, wenn sich mit der höchsten Vernunft zugleich die reinste Güte verbindet."


R A T I O N A L I S M U S
[ - Fortsetzung - ]

An keinem der großen Rationalisten läßt sich der religiöse Anteil so klar und überzeugend nachweisen, wie bei SPINOZA (39). Der Pantheismus ist überhaupt nie etwas anderes gewesen als religiöse Spekulation. Man braucht nur an die indischen, neuplatonischen Philosophen und an die mittelalterlichen Mystiker zu erinnern. Es ist schlechterdings undenkbar, daß ein irreligiöser Mensch, ein Skeptiker oder Materialist, jemals ein Pantheist wird. Der Pantheismus, wie auch der Theismus, ob er sich spekulativ, kritisch oder orthodox nennt, hat seinen Ursprung stets in der Religion. Die Form mag noch so verschieden sein, das Wesen bleibt immer dasselbe.

Über LEIBNIZ können wir uns kürzer fassen. Seine Philosophie ist der Tendenz nach eine thetische, der Konferenz nach aber eine pantheistische. Wie PLATO das parmenidische Sein in die Vielheit der Ideen umbildete, so war LEIBNIZ bestrebt, SPINOZAs einheitliche Substanz (40) in die Vielheit der Monaden aufzulösen. (41) Diese Monaden sind von Gott geschaffene, geistige Wesen. Qualitativ sind alle einander gleich und nur graduell voneinander verschieden. Die Frage ist nun, ob sich Gott ebenfalls nur graduell oder aber substanziell von allen übrigen Monaden unterscheidet (42). Im ersten Fall haben wir einen konkreten Monismus, im zweiten einen Dualismus, wie ihn die Scholastik und CARTESIUS lehrte. Die Frage ist nicht leicht zu entscheiden, weil LEIBNIZ sich viel zu unbestimmt ausdrückt. Haben die Monaden ihr Sein und Wesen ander göttlichen Substanz (43); sind sie nur "eingeschränkte Götter" und ist nach LEIBNIZ Gott selbst nichts anderes, "als die Größe aller positiven Realität mit einer Beiseitesetzung aller Grenzen und Schranken der Dinge in der Welt", so ist damit deutlich die Einheit und Absolutheit der Substanz ausgesprochen (44). Die Schöpfung ist nicht das Entscheidende zwischen Monismus und Dualismus. SPINOZAs Modi werden ebenfalls von der Substanz hervorgebracht. Die Monaden sind nur etwas konkreter gedacht, es sind verselbständigte Modi, der Substanz nach aber dasselbe wie die Gottheit. Im Grunde sind es gar keine Substanzen, wenn man unter diesem Begriff ein Wesen versteht, das zu seiner Existenz keines anderen bedarf. Als Substanzen in diesem Sinn können sie also nicht geschaffen sein und als Modi sind es keine Substanzen. Die Monaden sind Entfaltungen der einen unendlichen Substanz; sie lösen sich von ihr nicht ab, treten nicht frei und selbständig aus ihr hervor, führen kein eigenes Dasein. Denn die Substanz ist unteilbar und unendlich. Außer ihr kann nichts existiern. Alles was geschieht sind deshalb Vorgänge in ihrem eigenen Wesen, Veränderungen in und an der Substanz. Das ist Spinozismus, Pantheismus und LEIBNIZ hat denselben nicht überwunden.

Echt rationalistische ist die Art, wie wir nach LEIBNIZ zur Erkenntnis Gottes kommen.
    "Was uns von den gewöhnlichen Tieren unterscheidet, ist allein die Erkenntnis der wirklich notwendigen und ewigen Wahrheiten. Diese gibt uns Vernunft und Wissen, denn sie erhebt uns zur Erkenntnis Gottes und unser selbst. ... Mittels der Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten und ihrer Abstraktionen erheben wir uns zu den Akten des reflektierenden Denkens, zum Gedanken des Ichs und zur Betrachtung unseres Inneren. Auf dem Weg des Nachdenkens über uns selbst gelangen wir dann zum Begriff des Wesens, der Substanz, des Stofflosen und endlich Gottes selbst, indem wir einsehen lernen, daß, was in uns beschränkt vorhanden ist, in ihm ohne Grenzen ist." (45)
In diesen wenigen Sätzen ist das Bekenntnis und die eigentümliche Art des ganzen Rationalismus enthalten. Mittels des "Nachdenkens", des "reflektierenden Denkens", der "Abstraktion" gelangen wir zu den Begriffen des Wesens, der Substanz, der Immaterialität und durch diese zur Erkenntnis unseres Selbst, der Welt und Gottes. Die Vernunft, das Organ der notwendigen und ewigen Wahrheiten und ihre Tätigkeit besteht nur im Denken. "Vorstellungen und ihre Veränderungen sind das Einzige, was man an der einfachen Substanz antrifft." (46) Die Monade ist ein intellektuelles, rein logisches Wesen, das nur sich selbst vorstellt, ähnlich wie der aristotelische nous [Geist - wp]. Von Gefühl, Willen, sinnlicher Wahrnehmung kann nirgends die Rede sein, außer auf Kosten der Konsequenz (47). Hält man dieser Auffassung die kantische Kritik entgegen, wonach die Begriffe: Wesen, Substanz, Realität, Ichheit, Gottheit nichts anderes als Kategorien und Ideen, Denkformen, leere Begriffe sind, die eines Inhalts bedürfen, der nicht schon in den Begriffen als solchen liegt, sondern aus ganz anderen Quellen geschöpft werden muß, dann begreift man den Irrtum und die Inhaltslosigkeit des Rationalismus. Denn wenn die Monade kein anderes Vermögen besitzt, als das Vorstellungen zu produzieren, dann ist ihre Tätigikeit nur eine formale, Kategorien und Ideen erzeugende. In LEIBNIZ steigert sich der Rationalismus bis zur höchsten Potenz, indem er die Substanz auf das einzige Attribut des Denkens beschränkt. Gott ist nur ein denkendes Wesen, die Monade nur ein denkendes Wesen, das ganze Universum nur ein Vorstellungsprozeß. Damit war die äußerste Konsequenz des Rationalismus erreicht. Vom "cogito" ging er aus und kam wieder auf dasselbe zurück. Schlagender, anschaulicher sind die Folgen der Einseitigkeit des Standpunktes wohl nie in der Geschichte der Philosophie zutage getreten, als in dieser Substanzperiode. Nur Geist von einer solchen Größe und Selbständigkeit konnten die Mängel ihres Prinzips durch alle Konsequenzen so rasch enthüllen. Sie selbst wurden dieser Mängel nicht gewahr, wie hätten sie sonst so zuversichtlich und beharrlich auf ihren Ansichten bestehen können! Auch wirkte der Geist der Geschichte mittels seiner Organe über dieselben hinaus. Ohne diesen Rationalismus wäre ein KANT unmöglich gewesen. Und ohne KANT wären wir vielleicht die dogmatische Metaphysik, die nur der systematische Ausdruck des Rationalismus ist, bis heute nicht los geworden. Solange aber die Metaphysik als Wissenschaft ihr Ansehen behauptete, konnte das Wesen der Religion und ihre transzendentale Bedeutung nicht zum Bewußtsein kommen. Der Rationalismus ist, seitdem es eine Philosophie gibt, der gefährlichste Konkurrent der Religion gewesen. Denn er glaubte, dasselbe leisten zu können, wie die Religion. In diesem Fall hätten wir zwei gleich berechtigte Erkenntnisvermögen für ein und dasselbe Objekt. Entweder ist nun das eine überflüssig oder sie ergänzen sich gegenseitig.

Sieht man auf die Geschichte der antiken und modernen Philosophie, so ist nicht zu bestreiten, daß diese mit der jeweils bestehenden Religion im Kampf lag. Die Vernunft wurde stets als das höhere angesehen. Ist dies richtig, so kann sie die Religion ersetzen und eben dadurch überflüssig machen. So dachten auch in der Tat die meisten Philosophen. Die Religion ist für die große Masse, die Philosophie für die wenigen Auserwählten. Die Religion ist die Metaphysik des Volks, die eigentliche Metaphysik die Religion der Gebildeten. Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie könnte hiernach nur ein gradueller sein. Es ist dasselbe und gleiche Vermögen, nur besitzt es der eine in höherem Maße oder hat es weiter entwickelt als der andere. Welches ist nun dieses Vermögen, der Verstand oder Gefühl? Wenn sich der Philosoph bloß dem Grad nach vom Ungebildeten unterscheidet und sein Vorzug nur in einem höheren Maß an Verstandesmäßigkeit und Bildung besteht, dann kann die Religion des Ungebildeten auch nur eine Sache des Verstandes sein. Die Religion ist dann keine besondere Kraft, sie unterscheidet sich nicht spezifisch von der Philosophie, sondern beide setzen ein und dasselbe Vermögen des Verstandes voraus, mit verschiedenen Graden der Fähigkeit und Bildung.

Dabei ist nur auffallend, daß der ungebildete Verstand mehr Religion haben soll als der gebildete, daß die Philosophie auch materialistisch und skeptisch sein kann und die Religion nicht. Wie unnatürlich, daß der höher entwickelte Verstand sich weniger vom Dasein Gottes soll überzeugen können als der unentwickelte! Die große Mehrzahl der Gebildeten heutzutage verhält sich zumindest skeptisch oder indifferenz gegenüber dem Transzenenten. Hätten alle Menschen diese Bildung, so wäre der Skeptizismus die allgemein herrschende Überzeugung. Damit hörte die Religion überhaupt auf. Denn nichts wirkt tödlicher auf den Glauben als Zweifel und Indifferentismus. Andererseits scheint es ein Widerspruch zu sein, daß der höher gebildete Verstand nur dazu dienen soll, um zu erkennen, daß man nichts erkennt. Wenn dies das Ziel des höchsten Bildungsgrades ist, dann wird es auf dem niedrigsten Grad wohl nicht besser stehen. Der religiöse Glaube des Volkes ist nur eine allgemeine Selbsttäuschung. Weder Religion noch Philosophie, sofern sie sich nur graduelle von einander unterscheiden, sind Organe zur Erkenntnis des Übersinnlichen. Damit haben beide ihre Transzendenzunfähigkeit erklärt.

Diese Konsequenz ist unvermeidlich, wenn Religion und Philosophie als ein und dieselbe Kraft mit verschiedener Gradualität betrachtet werden. Der Kampf zwischen beiden in alter und neuer Zeit und selbst in der Scholastik - die Vereinigung zwischen Theologie und Philosophie war nur scheinbar und von ganz kurzer Dauer - kann nicht bloß ein gradueller zwischen Bildung und Barbarei, sondern muß ein spezifischer zwsichen Gefühl und Verstand gewesen sein, wobei sich jede Partei im Besitz des allein richtigen Erkenntnisorgans wähnte. Im Altertum, besonders in Griechenland, war es noch nicht so deutlich. Die Religion stand zu tief unter der Philosophie. In der neueren Zeit dagegen, wo sich die Religion längst mit der Philosophie in Gestalt der christlichen Dogmatik verbunden hatte, konnte die Religion im Verhältnis zur früheren Philosophie wohl als das höhere transzendentale Vermögen betrachtet werden. Man sah in der Dogmatik allerdings eine Offenbarung, aber diese setzte den Glauben und dieser das religiöse Gefühl voraus, und somit blieb das entscheidende Organ zur Erkenntnis übersinnlicher Wahrheiten eben doch das Gefühl und nicht der Verstand.

Gegen dieses Gefühl richtete sich der moderne Rationalismus. Er protestierte nicht bloß gegen Dogmatik und Scholastik, sondern auch gegen das Prinzip derselben, den Glauben. Der Rationalismus wollte vor allem Wissenschaft sein, die sich auf Vernunft und Erfahrung stützt, also Verstand und Sinnlichkeit als die eigentlichen Erkenntnisquellen ansieht. Da aber die Sinnlichkeit nicht als Quelle ewiger Wahrheiten galt (48), so war der Kampf zwischen Philosophie und Religion eine Kampf um den Vorrang des einen oder anderen Prinzips, nämlich des Gefühls oder des Verstandes. Letzterer triumphierte im Rationalismus von CARTESIUS bis KANT und von diesem bis heute, aber schließlich auf Kosten der Metaphysik und damit zugleich auf seine eigenen Kosten. Denn man wollte mit dem Verstand allein übersinnliche, ewige Wahrheiten erreichen, und nun stellte sich heraus, daß dieser Verstand nur ein formales Vermögen ist, dem der Inhalt aus anderen Quellen zugeführt werden muß. Jahrhunderte hat dieser Kampf um den Vorrang der Prinzipien gedauert. Sogar in der Scholastik, als die Philosophie durch ALBERTUS, THOMAS von AQUIN und SCOTUS schon ganz der Theologie untergeordnet war, wurde nur die Lehre von der Schöpfung, der Dreieinigkeit, der Menschwerdung usw. als durch die natürliche Vernunft nicht erkennbar, ausgeschlossen. Auch diese vielverkannten und verrufenen Denker waren nicht frei von Rationalismus.

Von jeher war der Rationalismus in der größten Verlegenheit, das Wesen der Religion zu erklären. Wenn er mit dem bloßen Verstand das leistet, was man sonst der Religion und dem Glauben zuschrieb, kann er ihr keine prinzipielle Bedeutung zuerkennen. Wozu ist sie dann also da, wenn sie doch keine Erkenntnis gewährt? Die Aufklärer alter und neuer Zeit, die Sophisten und Rationalisten waren immer geneigt, die Macht der Religion als etwas dem Verstand und der Bildung Nachteiliges, den Menschen Verdummendes anzusehen. Sind Kirche und Orthodoxie als Hauptrepräsentanten dieser Macht dem Fortschritt der Wissenschaft und Kultur abhold und gefährlich, sind diese beiden Autoritäten nichts anderes als ein Ausfluß der Religion, der vor allem dazu dient, die politische und soziale Herrschaft einer bestimmten Klasse und Kaste zu unterstützen, dann ist die Abneigung der Rationalisten gegen die Hauptquelle des Kulturhemmnisses begreiflich. Zugleich aber sieht man darin ihre gänzliche Unklarheit über den Wert und das Wesen des transzendentalen Faktors. Der Rationalist kann kein Verständnis dafür haben, weil er mit seinem einseitigen Vernunftprinzip ihn von sich ausschließen muß. Er könnte nicht Rationalist sein, wenn er in der Religion die Quelle übersinnlicher Wahrheiten erblicken würde. Selbst die edelsten und größten Denker, ein SPINOZA und ein LEIBNIZ wußten mit der Religion nichts anzufangen. Sie beschäftigten sich eingehend mit derselben, jener in seinem "theologisch-politischen Traktat", dieser in seiner "Theodicee". Allein beide Werke lassen sich nicht wohl mit den philosophischen Prinzipien ihrer Autoren vereinigen (49). Der logisch-automatische Charakter der Monaden und der mathematischer Mechanismus in SPINOZAs Substanz schließen das religiöse Gefühl sowie die sittliche Selbstbestimmung aus. Beide Denker waren Deterministen. Der Wille als selbständige, autonome Kraft findet keinen Platz in ihrem System (50). Dies ist namentlich bei LEIBNIZ umso unbegreiflicher, als er die christlichen Dogmen, wenn auch etwas abgeschwächt, doch im Ganzen beibehält (51). Auf der Freiheit des Willens und seiner Verantwortlichkeit, auf der Möglichkeit der Sünde und deren unendlichen Folgen über dieses Leben hinaus beruth hauptsächlich das Christentum. Der Glaube an Christus und die Kirche ist nicht allein maßgebend und entscheidend für die ganze Ewigkeit, sondern die mit dem Glauben verbundenen Handlungen. Von diesen hängt die ewige Seligkeit oder Verdammnis ab. An die Möglichkeit einer Verdammnis glaubt auch LEIBNIZ. Aber die Monade kann ja nicht sündigen; als bloßes Vorstellungswesen hat sie keinen Willen; sie kann höchstens logische Irrtümer begehen, dunklere oder klarere Vorstellungen erzeugen. Der Determinismus in der Monade ist ein Ausfluß der prästabilierten Harmonie (52). Den Grundgedanken des Christentum: ein Glaube, der in Liebe wirksam ist, hat LEIBNIZ ethisch und metaphysisch unmöglich gemacht. Alle diese Unklarheiten und Inkonsequenzen in seinem System sind nur infolge seines einseitig rationalistischen Standpunktes. Diese Einseitigkeit besteht darin, daß der Verstand alles sein soll und Gefühl und Wille, zwei der wichtigsten Faktoren im menschlichen Gemüt, ganz außer acht gelassen werden. Was die neuere Philosophie durch die Erhebung des Denkens über den Glauben gewonnen, hat sie andererseits durch die Vernachlässigung der Ethik und der Religion wieder verloren. Das Christentum, seiner Idee und Totalität nach betrachtet, ist doch etwas Universelleres als irgendein philosophisches System oder auch eine ganze Periode. Mit keinem einzigen der bekannten Systeme könnte man eine Weltepoche begründen, die Millionen Menschen Jahrhunderte lang beschäftigt und befriedigt. Die christliche Religion, Moral, Philosophie, Kunst usw. mag für unsere moderne Auffassung noch so unzureichend und widerspruchsvoll sein, so wird man doch zugestehen müssen, daß das Christentum keine einzige Grundkraft der Seele: Wahrnehmung, Gefühl, Verstand, Willen, Phantasie vernachlässigt hat, wie dies von einzelnen Philosophen und ganzen Epochen geschah. Das Denken kam scheinbar am wenigsten zur Geltung und das ist auch immer der Hauptvorwurf gewesen, der ihm in neuerer Zeit namentlich von Seiten des Rationalismus gemacht wurde. Wir wollen das keineswegs ganz in Abrede stellen und nur die Frage aufwerfen, woher der Rationalismus seinen Ursprung hat. Um kurz zu sein, behaupten wir: zunächst und direkt aus der Scholastik, indirekt aus dem Christentum überhaupt und ursprünglich aus der griechischen Philosophie, soweit das Christentum dieselbe von Anfang an in sich aufnahm.

Aus zwei Gründen konnte die Scholastik, sobald sie anfing zu philosophieren, dem Rationalismus nicht entrinnen. Der erste lag in der inneren Beschaffenheit des Christentums selbst, im philosophischen Charakter der Dogmatik. Das Wesen der Gottheit, die Schöpfung, Inkarnation und Bestimmung des Menschen, enthielten die höchsten metaphysischen, psychologischen und ethischen Probleme. Die Dreieinigkeit war nicht gleich von Anfang an ein Glaubensartikel, sondern wie wir in der Patristik und selbst in der Scholastik noch sehen, in ihrem tiefsten Wesen nichts anderes als eine Attributenlehre. Es handelte sich darin lediglich um die Eigenschaften Gottes, ein Problem, das uns noch heute beschäftigt, wenn auch in anderer Form. Wie ist der letzte Grund aller Dinge beschaffen? Ist er zu erkennen oder nicht? Ist er materiell oder geistig? Was ist Materie, was ist Geist? Welches ist der Zweck unseres Daseins? Vor diesen Fragen stehen wir noch gegenwärtig. Die Inkarnation gehört scheinbar ganz in das Gebiet der Religion und Mythologie. Sieht man aber vom spezifisch dogmatischen Charakter ab und verallgemeinert man diesen einzelnen Fall, so entwickelt sich daraus die Frage nach der Entstehung des Menschen überhaupt, oder nach dem Verhältnis der absoluten Substanz zu den relativ selbständigen Individuen. Gerade in diesem Dogma, der spekulativen Grundidee des esoterischen Christentums, ist das Prinzip des Monismus ausgesprochen, welches die Jenseitigkeit Gottes aufhebt und die Einheit des Göttlichen und Menschlichen proklamiert. Die alte dualistische Philosophie eines PLATO und ARISTOTELES drängte zu dieser Auffassung schon im Neuplatonismus; alle hervorragenden Mystiker des Mittelalters gingen von dieser Idee aus und der moderne Pantheismus kam immer wieder auf dieselbe zurück. In der ganzen Philosophie existiert außer dem erkenntnistheoretischen Problem kein schwierigeres als das des Verhältnisses zwischen dem Unendlichen und Endlichen. SPINOZA und LEIBNIZ, SCHELLING und HEGEL sind daran gescheitert. Wie tief diese Frage in die Metaphysik und Ethik eingreift, ist jedem, der sich ernsthaft damit beschäftigt hat, hinlänglich bekannt. Dabei ist der Theist nicht weniger in Verlegenheit als der Pantheist. Wenn Gott den Menschen schafft und beständig erhalten muß, wo hört das Göttlich auf und fängt das Menschliche an? (53) Ohne eine gewisse Selbständigkeit ist ein freier Wille und sittliche Verantwortung nicht denkbar. Und gesetzt, es steht wirklich ein geistiges Wesen an der Spitze der Welt, oder der absoluten Substanz käme wenigstens ein solches Attribut zu und die Geschichte vollzieht sich nach einem bestimmten Plan, so fragt es sich weiter: ist dieser Plan zu erkennen? Ist in diesem verworrenen und leidenschaftlichen Getriebe irgendeine Vernunft zu entdecken oder ist alles barer Unsinn und blinde, mechanische Notwendigkeit? Jedenfalls müssen Gründe für die eine wie für die andere Behauptung angeführt werden und das ist was man früher Philosophie der Geschichte nannte. Alle diese Probleme hat das Christentum in seinen beiden Hauptepochen, der Patristik und Scholastik scharfsinnig erörtert, trotz seines Offenbarungsglaubens. Denn mit dem Glauben allein lassen sich solche Probleme nicht behandeln. Man mußte sich der Vernunft bedienen so gut wie heute. Dies ist die innere Seite, welche die christlichen Denkern von Haus aus auf den Rationalismus hinwies.

Die andere äußerliche bestand in der Aneignung und Verarbeitung der allmählich bekannt gewordenen philosophischen Literatur, insbesondere des ARISTOTELESllmählich bekannt gewordenen philosophischen Literatur, insbesondere des ARISTOTELES. Der erste Scholastiker, welcher die sämtlichen Werke dieses Denkers gekannt und in den Dienst der Theologie gestellt hat, war ALEXANDER von Hales. Allein erst ALBERTUS MAGNUS suchte dessen Philosophie mit der christlichen Dogmatik zu vereinigen, welches Bestreben sein großer Schüler THOMAS von AQUIN fortsetzte; dadurch brachte er den ganzen Prozeß zu einem gewissen Abschluß, der in der Akkomodation der Philosophie an die Theologie bestand (54). Dieser Teil der Scholastik, welcher als Höhepunkt gilt, ist trotz aller Systematik und Harmonie zwischen Glauben und Wissen bei Weitem nicht so interessant, wie die vorhergehende Periode vom Anfang des 9. bis zum 13. Jahrhundert (55). Die Existenz Gottes glaubte man zwar noch mit Hilfe aristotelischer Argumente rechtfertigen zu können. Aber die Lehre von der Schöpfung, Trinität und Inkarnation, deren philosophische Begründung die Kirchenväter und früheren Scholastiker als Hauptaufgabe der Spekulation betrachteten, wurden dem philosophischen Denken entzogen und als Offenbarungsgeheimnisse hingestellt. Wenn der "Fürst der Scholastik" mit ARISTOTELES in dem Wissen der Gotteserkenntnis den höchsten Zweck des Lebens erkennt, zugleich aber die wichtigsten Glaubenssätze als übervernünftigt, dem menschlichen Denken unerreichbare Wahrheiten betrachtet (56), so zeugt dies entweder von einem Mangel an Selbständigkeit gegenüber der Kirche und Orthodoxie oder an spekulativer Denkkraft. Letzteres offenbart sich besonders in der allzu großen Abhängigkeit von ARISTOTELES (57). Man glaubt diesen selbst zu hören, wenn THOMAS von einem ersten Beweger als reiner, stoffloser Form und Aktualität spricht und dennoch meint, daß sich Gott nur a posteriori, aus dem Wesen und der Existenz der Welt beweisen läßt, andererseits aber deren Anfangslosigkeit als nicht streng erweisbar ansieht (58). Auch die Seele ist ihm, wie dem ARISTOTELES eine reine Form, immateriell und darum unzerstörbar. Er polemisiert gegen die substanzielle Selbständigkeit der platonischen Ideen mit Hilfe des ARISTOTELES, gegen die Ewigkeit der Materie, die Präexistenz der Seele und deren dreiteilige Wesenheit (59). All dies, worin hauptsächlich seine Umbildung der platonisch-aristotelischen Philosophie besteht, wurde schon von seinem Vorgänger behandelt. Wenn wir alles abziehen, was wirklich Gutes und Fruchtbares in der Dogmatik und in ARISTOTELES enthalten ist, so ist etwas wahrhaft Neues und Originelles bei ihm nicht zu finden. Das Große und Verdienstvolle liegt in der Systematisierung und zweckmäßigen Zusammenfassung der vorhandenen, aber zerstreuten Elemente zu einem einheitlichen Ganzen. So großartig dieses System in seiner Art ist, so mögen doch einige Konsequenzen, die wir beispielsweise aus seinen Hauptsätzen ziehen wollen, zur Genüge zeigen, wie wenig THOMAS in die Tiefe geht und wie sehr ihm, falls er wirklich von Natur ein origineller und selbständiger Philosoph gewesen sein sollte, der Autoritätsglaube hinderlich im Weg stand.

Wenn nach THOMAS das Dasein Gottes nur a posteriori, aus dem Dasein und der Beschaffenheit der Welt erkannt, deren zeitlicher Anfang jedoch nicht philosophisch bewiesen, sondern nur geglaubt werden kann, so hat hier die Vernunft nichts weiter zu sagen. Ist hiernach möglicherweise die Welt so ewig wie Gott, dann fällt sie substanziell mit ihm zusammen und dies führt zum Pantheismus; ist sie nicht identisch mit ihm und doch ewig, so ist dies ein Rückfall in den platonischen Dualismus und dann hat Gott seine Schranke an ihr und hört auf unendlich und allmächtig zu sein; ist es aber nicht auszumachen, ob die Welt geschaffen oder mit Gott identisch oder von ihm verschieden und doch ewig ist, dann ergibt sich als natürliche Folge der Skeptizismus. Außerdem ist des denkbar, daß kein Gott existiert und die Materie allein das Urprinzip der Welt ist, eine Auffassung, die sich ebenfalls in der Scholastik geltend machte, aber von der Kirche zeitig unterdrückt wurde, was hier nicht weiter in Betracht kommt (6). Wenn aber nach THOMAS jene drei Fälle durch die Vernunft nicht zu entscheiden sind und sie in Bezug auf das Transzendente völlig unzureichend ist, dann hat der Glaube an die Offenbarung von ihr keine Unterstützung zu erwarten, dann spricht man mit Recht von einem grundlosen, blinden Autoritätsglauben. Offenbar dachte fast zweihundert Jahre früher ABÄLARD in dieser Beziehung philosophischer, indem er den Grundsatz aufstellte, daß die vernünftige Einsicht erst den Glauben begründen muß, weil dieser sonst seiner Wahrheit nicht sicher ist. Noch vor ABÄLARD hat ANSELMUS die Dialektik auf die Theologie angewandt und in seiner Weise die Dogmatik rationalisiert. Mit noch höherer Genialität und Freiheit hat im Anschluß an DIONYSIUS AREOPAGITA, folglich an den Neuplatonismus SCOTUS ERIGENA eben diese Anwendung vollzogen, die auch schon bei den Kirchenvätern, insbesondere bei AUGUSTIN nicht fehlt. ROSCELLIN ging soweit, den Nominalismus auf das Trinitätsdogma anzuwenden und trotz seines Widerrufs auch später noch daran festzuhalten. Wenn nach der nominalistischen Theorie in Wirklichkeit nur Individuen existieren, so sind, schloß ROSCELLIN, die drei Personen der Gottheit drei individuelle Substanzen, d. h. drei Götter. Da man mit dieser Theorie dem Polytheismus verfallen wäre, so würde die denkende Vernunft von selbst dahin gelangt sein, den Tritheismus in eine Attributenlehre zu verwandeln und die drei Personen als Gottes Macht, Weisheit und Güte aufzufassen, was auch ABÄLARD in der Tat getan hat, jedoch - wahrscheinlich nur scheinbar - ohne die Personalität jener Attribute aufzuheben (61). Was dieser noch nicht wagte, das hat später ein anderer Lehrer der Theologie zu Paris AMALRICH von BENA, und der bedeutendste unter seinen Anhängern DAVID von DINANT, ausgeführt, indem beide, im Anschluß an ERIGENA und den AREOPAGITEN, Gott und Welt schlechthin identifizierten. Gott ist nach AMALRICH die einheitliche Essenz aller Kreaturen und nach DAVID sind Gott, die erste Materie und der nous des ARISTOTELES ein und dasselbe Wesen, da sie sämtlich dem höchsten Begriff entsprechen. Unterschieden sie sich, so stände über ihnen ein gemeinsames Höheres, worin sie übereinkämen und dann wäre dieses Gott. Diese kühnen Denker standen damals keineswegs vereinzelt da; an antikirchlichen Philosophemen hat es selbst während der Blütezeit der Scholastik nicht gefehlt. Der feine Dialektiker SIMON von TOURNAY soll mit gleicher Leichtigkeit den kirchlichen Glauben öffentlich als wahr und insgeheim als falsch erwiesen haben (62). Bald wurde bei sehr vielen die Unterscheidung einer doppelten Wahrheit beliebt, kam aber zunächst gegenüber der allmächtigen Kirche noch nicht auf. Dies beweist, daß man im Sinne des AVERROES unabhängig von der Kirche und im Gegensatz zur Orthodoxie die reinen Konsequenzen aus den aristotelischen Prinzipien zu ziehen wagte. Die Lehre von der doppelten Wahrheit drohte so sehr um sich zu greifen, daß schon zwei Jahre nach dem To des hl. THOMAS, Papst JOHANN XXI. sich veranlaßt fühlte, diese gefährliche Doktrin zu verdammen. Zu gleicher Zeit wurden in Paris folgende Sätze vorgetragen: Gott ist nicht dreieinig und einer, weil die Dreieinigkeit sich nicht mit der reinen Einfachheit vereinigen läßt; die Welt und die Menschheit sind ewig; eine Auferstehung des Fleisches muß von Philosophen nicht zugegeben werden; die vom Körper getrennte Seele leidet nicht vom Feuer; Entzückungen und Visionen finden nur auf natürlichem Weg statt; die theologischen Reden stützen sich auf Fabeln; ein Mensch, der mit den moralischen und intellektuellen Tugenden ausgerüstet ist, hat ansich die genügende Befähigung zur Glückseligkeit (63).

Inzwischen ist der Nominalismus trotz kirchlicher Verdammung nie ganz erloschen. Diese Lehre ist deswegen so interessant, weil, wenn es keine Arten und Gattungen, sondern nur Individuen gibt - eine Theorie, worunter selbstverständlich auch die menschliche Seele und jedes Naturwesen fällt - von hier ab zur LEIBNIZschen Monadologie nur noch ein kleiner Schritt zu tun war. Hätte die Kirche diese Lehre nicht gleich im Keim erstickt, so würden die Scholastiker naturnotwenidg zu einem allgemeinen Individualismus gekommen sein (64). Fast ganz modern, vielfach an HOBBES, KANT, HELMHOLTZ und die neuere Erkenntnistheorie erinnernd, muten uns die Konsequenzen an, welche OCKHAM, der Erneuerer des Nominalismus, aus diesem Prinzip gezogen hat (65). Die natürliche Form unseres Erkennens ist nach ihm die Intuition. Er versteht darunter die Fähigkeit, das individuelle Sein unmittelbar zu erfassen. Um über einen Gegenstand urteilen zu können, muß er vor allem für das Bewußtsein existieren. Abstraktes Denken begründet kein Urteil über Dasein oder Nichtsein (66). Sichere Erkenntnis wird nicht durch die Sinne erworben. Diese liefern nur Zeichen von den Dingen, die ihnen nicht notwendig ähnlich sind. Die Worte sind willkürliche, auf Übereinkunft beruhende Zeichen für die Begriffe (67). Sicherer, als alle Sinneswahrnehmungen, die uns bezüglich der Existenz und Beschaffenheit äußerer Objekte täuschen können, ist die intuitive Erkenntnis des Intellekts von unseren eigenen inneren Zuständen. Ob aber die Empfindungen, Denkfunktionen und Willensakte von einem immateriellen Wesen herrühren oder nicht, läßt sich aus diesen Funktionen selbst nicht erkennen und durch Beweise sicher stellen.

Hinsichtlich des Transzendenten wird von ihm weiter behauptet: alle Erkenntnis, die den Erfahrungskreis überschreitet, ist ungewiß und fällt dem bloßen Glauben anheim. Gott ist nicht intuitiv erkennbar; sein Dasein folgt nicht aus seinem Begriff, wie ANSELM glaubte; auch a posteriori ist ein strenger Beweis nicht möglich. Gott muß nicht notwendig als erste Ursache vorausgesetzt werden. Man kann sich eine Mehrheit von Welten mit verschiedenen Urhebern denken. Es ist nicht einmal notwendig, daß das vollkommenste Wesen auch unendlich ist (68). Indessen gibt er doch auch zu, daß das Dasein Gottes schon aus bloßen Vernunftgründen wahrscheinlich gemacht werden kann. Die Glaubensartikel dagegen hätten vom Standpunkt der Philosophie und natürlichen Vernunft auch nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit für sich.

Läßt sich bei einem Mann, der solche Ansichten äußert, mit Grund voraussetzen, daß er sich aus voller Überzeugung der Lehre der Kirche unterworfen hat? Ist es nicht vielmehr wahrscheinlich, daß er sich der Orthodoxie gegenüber gänzlich indifferent verhalten hat oder ihr doch zumindest keine positiven Dienste erwies? Was uns aber noch mehr interessiert, als seine Stellung zur Kirche und zum Papsttum, ist einerseits die Tatsache, daß die Konkordanz zwischen Glauben und Wissen, wie sie ALBERTUS und THOMAS künstlich bewerkstelligen, schon nach zwei Generationen in eine vollständige Diskrepanz (69) umschlug und andererseits die auffallende Erscheinung, daß sich schon am Schluß der Scholastik die ersten Ansätze zum Bruch mit der rationalistischen Metaphysik zeigen und zwar nicht zugunsten des kirchlichen Glaubens oder der Moral, wie das bei DUNS SCOTUS der Fall ist. Die Parallele, welche ÜBERWEG zwischen diesem und KANT zieht, paßt eher auf OCKHAM als auf jenen autoritätsgläubigen Mann.

    "Duns Scotus", sagt er, "verhält sich zu Thomas von Aquino ähnlich wie Kant zu Leibniz. Thomas und Leibniz sind Dogmatiker. Duns Scotus und Kant sind Kritiker, welche die Argumente für die der natürlichen Theologie angehörenden Sätze (insbesondere das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele) nicht mehr oder weniger bekämpfen, ohne doch diese Sätze selbst zu bestreiten. Beide basieren die Überzeugungen, für welche ihnen die theoretische Vernunft keine Beweise mehr liefert, auf den sittlichen Willen, dem sie vor der theoretischen Vernunft den Vorrang zusprechen. Ein durchgängiger Unterschied liegt freilich darin, daß für Duns Scotus die Autorität der katholischen Kirche, für Kant die Autorität des eigenen sittlichen Bewußtseins maßgebend ist; ferner auch darin, daß Kants Kritik eine prinzipiell und universelle, die des Scotus aber eine partielle ist. Aber wie Scotus zu den kirchlichen Doctrinen, so bewahrt Kant trotz seines Kritizismus zu den Überlegungen des allgemein religiösen Bewußtseins immer noch das positive Verhältnis der Zustimmung in eben dem Sinne, in welchem jenes Bewußtsein selbst dieselben versteht." (70)
Wenn nun derselbe Autor zugibt, daß bei "Duns Scotus die Philosophie der Theologie noch fast durchaus in gleichem Sinn, wie bei Thomas, in Bezug auf die allgemeinen und spezifisch christlichen Dogmen dient", daß die natürliche Vernunft der Ergänzung durch die Offenbarung bedarf, ihr nicht widerspricht, sich nicht gegen dieselbe indifferent verhält, sondern sie immer noch wesentlich unterstützt; wenn SCOTUS die Lehre von der unbefleckten Empfängnis verteidigt, die selbst THOMAS noch nicht anerkennt; wenn sein Zweifeln in seinem Glauben kaum Bedenken erregt, sein Ziel stets die Harmonie zwischen Philosophie und kirchlicher Lehre bleibt und schließlich "der Scotismus immer noch neben dem Thomismus eine von den Doktrinen ist, in welchen die Scholastik kulminiert", worin besteht dann noch die Ähnlichkeit zwischen KANT und SCOTUS? Nur wenn der Scholastiker die Autorität der Kirche ganz über Bord geworfen, der Vernunft die Transzendenzfähigkeit abgesprochen und den Willen als eine selbständige autonome Kraft aufgefaßt hätte, könnte von einem Vergleich zwischen beiden die Rede sein. OCKHAM steht KANT hinsichtlich der Negation ungleich näher, indem er innerlich weder die Autorität der Dogmatik, noch die Transzendenzfähigkeit der theoretischen Vernunft anerkannte. Dagegen ist SCOTUS umso gefährlicher, als er trotz der Erhebung des Willens über den Verstand, jenen wie diesen, d. h. die ganze Persönlichkeit des Menschen, dem unbedingten Glauben unterwirft und dadurch jede Selbständigkeit im Denken und Wollen vernichtet. Man darf nur fragen, welcher Standpunkt steht der heutigen Praxis der Kirche am nächsten: der OCKHAMs oder der des SCOTUS?

Diese kurzen Andeutungen dürften genügen, uns die Überzeugung zu verschaffen, daß schon in der Scholastik die ersten Keime und Ansätze der neueren Philosophie, wie sie im Pantheismus, Individualismus und Kritizismus eines SPINOZA, LEIBNIZ und KANT weiter entwickelt wurden, vorgebildet waren. Versteht man unter Philosophie im allgemeinen das Streben nach Erkenntnis eines letzten Prinzips aufgrund des freien Forschens und Denkens, so stehen alle diejenigen, welche sich nicht blindlings der Dogmatik unterwarfen, sondern eine doppelte Wahrheit unterschieden, mit dem versteckten Hintergedanken, daß die höhere Wahrscheinlichkeit der Vernunft und nicht der kirchlichen Autorität zukommt, der neueren Epoche von CARTESIUS bis HEGEL näher als die sogenannten großen Scholastiker ALBERTUS, THOMAS und SCOTUS. Aus diesen Gründen können wir die philosophische Bedeutung des größten unter diesen dreien, was die spekulative Denkkraft und Originalität betrifft, nicht so hoch schätzen als die mancher seiner Vorgänger und Nachfolger. Um diese Behauptung ausführlicher zu beweisen, müßten wir noch zwei der hervorragendsten Denker, MEISTER ECKHART und NIKOLAUS von CUSA zum Vergleich heranziehen. Sollte letzterer schon zur neueren Zeit gerechnet werden, wie das mehrfach - unserer Ansicht nach jedoch mit Unrecht - geschieht (71), so beschränken wir uns mit einem Hinweis auf den ersteren, der noch ein Zeitgenosse des Fürsten der Scholastik war. Sieht man vom neulich aufgefundenen Traktat ECKHARTs ab und hält sich an seine deutschen Schriften, die sich etwa zu jenem verhalten, wie KANTs kritische Werke zu seinen Vorlesungen, wobei er sich noch jahrzehntelang an die allgemein geltende WOLFFische Philosophie anschloß, so erstaunt man ob der Tiefe, Kraft und Kühnheit seiner Gedanken. Er knüpft zwar an den AREPAGITEN, AUGUSTIN und die Neuplatoniker an; aber wie selbständig verhält er sich diesen wie der ganzen Scholastik und der Kirche gegenüber? Wären seine Gedanken systematisch geordnet und konsequenz durchgebildet worden, so verdiente dieses System nicht bloß neben, sondern über das des SPINOZA gestellt zu werden. ECKHART steht der spekulativen Idee und Tradition des Christentums näher als SPINOZA. Er kannte ARISTOTELES und die sich ihm anschließenden Scholastiker genau, sowie auch die bedeutendsten Kirchenväter und letzten Ausläufer der griechischen Philosophie. Bei seinem hervorragend theoretischen Interesse und mystischen Tiefsinn würde das Einheitsprinzip, die Grundvoraussetzung seiner ganzen Spekulation zu einem System der Freiheit geführt haben, in welchem Ethik, Religion und Wissenschaft ihre gleichmäßige Berechtigung und ihren befriedigensten Ausdruck gefunden hätten (72).

In der Akkomodation [Anpassung - wp] der Philosophie an die christliche Dogmatik können wir nach dem Gesagten das Hauptverdienst des THOMAS nicht erkennen; auch in der Umbildung der aristotelischen Theologie und Psychologie nicht, einerseits weil sie zum guten Teil von seinen Vorgängern schon vollzhogen (73), andererseits im Anschluß an die Glaubenslehre nicht besonders schwierig war, sondern darin, daß die Verbindung von Glauben und Wissen, Theologie und Philosophie seit der Konstituierung des Christentums auf griechisch-römischem Boden zum ersten Mal in der abendländischen Welt mit klarem Bewußtsein, wenn auch mehr äußerlich, einen harmonischen, einheitlichen und systematischen Ausdruck gefunden hat. Indem die Kirche dieses System später akzeptierte, fand es gerade dadurch die weiteste Verbreitung und praktische Bedeutung. Wir sehen an ARISTOTELES, AUGUSTIN, HEGEL, daß solche universelle, systematische Zusammenfassungen aller Bildungselemente einer Zeitepoche, mit Ausschluß aller Extreme, selbst wenn sie ansich berechtigt wären und die Zukunft für sich hätten, ein Bedürfnis der menschlichen Vernunft sind. Die große Mehrzahl geringerer Geister bekommt dadurch einen gewissen Halt, denkt die großen Ideen, auf welche sie selbst nicht gekommen wäre, mit, kann sich an den leitenden Gesichtspunkten orientieren, einzelne Probleme im Zusammenhang mit dem ganzen System schärfer ausbilden, Konsequenzen, die man übersehen hat, hervorheben, andere, die zwar angedeutet, aber nicht entwickelt wurden, zu Ende zu führen, dadurch auf die Mängel des Systems aufmerksam machen und zu dessen Auflösung und Weiterbildung beitragen. Dieser Prozeß wiederholt sich fortwährend in der Geschichte. Abgesehen davon, daß durch die scholastische Umbildung der platonisch-aristotelischen Theologie und Psychologie ein wirklicher Fortschritt erzielt wurde, konnte die Bedeutung jener alten Systeme, da sie dieser Umbildung zugrunde lagen, nie mehr verkannt und vergessen werden. Sie würden fortgewirkt haben, auch wenn die griechischen Philosophen nach der Eroberung von Konstantinopel nicht nach Italien gekommen wären. Was aber die Hauptsache ist: die Scholastiker selbst mußten bei aller Offenbarungsgläubigkeit doch zugeben, daß die natürliche, ganz auf sich selbst gestellte Vernunft, trotzdem sie durch die Sünde gebrochen und verdunkelt wurde, etwas zu leisten vermag; daß ein PLATO und ARISTOTELES aus eigener Kraft zum Monotheismus, so unvollkommen er noch war, vordrangen; daß sie die Einfachheit und Geistigkeit Gottes und der Seele und so gar die Materie in einer Weise bestimmten, daß man sie, zumindest die letztere, nicht wesentlich anders zu fassen vermochte. Dadurch haben diese großen Theologen indirekt eine zweite Autorität neben die Offenbarung gestellt und den späteren Bruch mit der Scholastik vorbereitet. Wenn aber PLATO, ARISTOTELES und die Neuplatoniker eine solche Bedeutung für das Christentum hatten und sie nur das allgemeine Resultat der gesamten griechischen Kulturentwicklung waren, dann bedurfte es nur noch einer genaueren Kenntnis ihrer Geschichte und der Anfänge des Christentum, um einzusehen, wie die griechische Philosophie schon in der Patristik zur Konstituierung der christlichen Dogmatik ihr Wesentlichstes beitrug. So war eine Perspektive in den natürlichen Ursprung des Christentums eröffnet und damit dem übernatürlichen Charakter der Offenbarung der Boden entzogen. Diese großartige Entwicklung bedurfte zwar vieler Jahrhunderte und ist noch gegenwärtig nicht völlig zum Abschluß gekommen, aber sie war vorbereitet durch die mittelalterlichen Denker und mußte notwendig diesen Verlauf nehmen. Wir müssen in der Scholastik insbesondere in ALTBERTUS und THOMAS, eine mit klarem Bewußtsein vollzogene Versöhnung des Heidentums und Christentums, der Vernunft und der Offenbarung, des Wissens und Glaubens erblicken. Man stand der heidnischen Philosophie nicht mehr so schroff und polemisch gegenüber, wie die Patristiker, welche die neue Weltreligion erst bilden, verteidigen und verbreiten mußten. Das Christentum lief keine Gefahr mehr, weder von Seiten der Philosophie, welche es heftig bekämpfte, noch von Seiten des Staates, der in demselben ein revolutionäres Element erblickte. Von Juden und Heiden, die sich am Christentum ärgerten oder es für eine Torheit hielten, war keine Gefahr mehr zu befürchten. Im politisch und sozial gesicherten Besitz des Glaubens konnte man sich ruhig der wissenschaftlichen Reflexion überlassen und, soweit es der Offenbarungsstandpunkt erlaubte, die großen Ideen des Altertums aufnehmen und verarbeiten.

Mit jener Versöhnung war die geschichtliche Kontinuität im Prinzip hergestellt. Durch die Scholastik, die arabische und jüdische miteinbegriffen, ist uns die alte Philosophie überliefert und ihre Bedeutung zum erstenmal in der abendländischen Welt anerkannt worden. Die Scholastik bildet den Knotenpunkt, in welchem sich die Fäden der antiken Spekulation und christlichen Dogmatik schürzten, um von der neueren Philosophie weiter gesponnen zu werden. Mit Unrecht wird sie von der Gegenwart so sehr verachtet und vernachlässigt. Sie ist jetzt fast ganz den Theologen überlassen, die von ihrem Standpunkt aus bloß ihre dogmatische Brauchbarkeit, aber nicht ihre welthistorische Bedeutung erkennen. Die Scholastik ist nur eine Phase im Kulturprozeß, dazu noch eine sehr unvollkommene und unselbständige. ARISTOTELES galt ihr ebensogut als eine Autorität in weltlichen, wie die Bibel in göttlichen Dingen. Diese Phase kann deshalb nur als ein schülerhafter Anfang der modernen europäischen Kultur und Philosophie, nicht als der dogmatisch metaphysische Abschluß des Christentums betrachtet werden. Von der Orthodoxie haben wir gemäß ihres Standpunktes keine frei, wissenschaftliche Erfassung derselben zu erwarten. Umso notwendiger ist es, daß sich die Philosophen mit ihrem angeblich historischen Sinn dieser interessanten Epoche bemächtigen, wie die Geschichtsforscher der mittelalterlichen Chronisten. Oder sollte die politisch-soziale Seite dieser Periode mehr Wert haben als die ethisch-religiös-philosophische? (74)

Außer den beiden angeführten Gründen, weshalb die Scholastik vom Rationalismus nicht frei war, kommt zufolge dieser Entwicklung noch weiter hinzu, einmal, daß die großen Ideen der neueren Philosophie im Keim darin vorgebildet waren; sodann, daß fast alle hervorragenden Geister bis zum Anfang des Niedergangs dieser Epoche an die Transzendenzfähigkeit des Denkens glaubten. Dies war namentlich in der ersten Periode bei SCOTUS ERIGENA, ABÄLARD, ROSCELLIN und ANSELMUS der Fall. Aber auch ALBERTUS und THOMAS zweifelten nicht an dieser Transzendenzfähigkeit, wie schon aus ihrer großen Verehrung des ARISTOTELES hervorgeht. Sie versuchten zwar in verschiedenen Punkten seine Lehre umzubilden, allein sie glaubten an die objektive Wahrheit dieser ihrer Auffassung. Mit Ausnahme einiger spezifisch christlicher Dogmen, welche zu begreifen die Vernunft nicht fähig ist, hielten sie alles andere für wissenschaftlich erreichbar. Am wenigsten, sollte man annehmen, käme der Rationalismus zur Geltung in dem heftigen Kampf zwischen Nominalismus und Realismus, der sich durch die ganze Scholastik hindurchzog. Statt jedoch dem Skeptizismus zu verfallen, wonach für und gegen diese Ansichten nichts Endgültiges und Sicheres auszumachen ist, war jede Partei von der Richtigkeit ihrer Behauptung überzeugt. Hätte sich dieser Kampf bloß auf irdische Dinge, soweit sie den sinnlichen Wahrnehmungen zugänglich sind, beschränkt, so köntne von Rationalismus im strengeren Sinn nicht die Rede sein. Aber sie wandten diese Doktrinen gleich auf das Übersinnliche, namentlich auf die Dreieinigkeit an, was den Glauben an die Transzendenzfähigkeit der Vernunft voraussetzt, worin eben das Grundwesen des Rationalismus besteht. Näher besehen ist ihm jedoch auch in Bezug auf irdische Dinge nicht zu entrinnen. Ist nämlich nach nominalistischer Ansicht der Komplex von mehreren Individuen bloß eine subjektive Zusammenfassung, so erfordert die Konsequenz, die schon ROSCELLIN gezogen hat, daß auch die Unterscheidung von Teilen im Individuum eine bloß subjektive Zerlegung ist. Die Beziehung des Teils auf das Ganze ist ein Denkakt und als solcher subjektiv, wie jede Beziehung. Was aufeinander bezogen wird, existiert an und für sich, ist somit kein Teil, sondern eine Substanz. Ein Teil weist immer auf das Ganze hin und umgekehrt; keines ist ohne das andere denkbar. Der Teil kann deshalb nicht an und für sich existieren, ist folglich keine Substanz. Ob wir imstande sind, uns ein Wesen ohne alle Beziehung vorzustellen, z. B. eine Substanz ohne Akzidenz, ist freilich eine andere Sache, die mit der Frage zusammenhängt, ob es Individualbegriffe gibt. Die Schwierigkeit und Tragweite dieser Unterscheidungen leuchtet uns sofort ein, wenn wir nach der Beschaffenheit der Substanz fragen. Ein Atom, welches als ausgedehnter Körper aus Teilen besteht, ist kein Individuum im eigentlichen Sinn und folglich keine Substanz. Unter diesen Begriff fielen also nur Monaden, als einfache, unteilbare, geistige Wesen. Daß wir zu erklären imstande wären, ob wir oder die Welt aus Monaden oder Atomen zusammengesetzt sind, würde KANT seiner Paralogismen und Antinomien zufolge, niemals zugegeben haben. Wir wollen damit nur andeuten, daß der Streit zwischen Nominalismus und Realismus auch in Bezug auf die endlichen Dinge ganz rationalistisch und alles, was den Erscheinungen, bzw. den sinnlichen Wahrnehmungen zugrunde liegt, nicht weniger transzendent ist, als die Dreieinigkeit oder das Dasein Gottes.

Wie sehr die Scholastik neben oder trotz ihrer Gläubigkeit rationalistisch verfuhr, geht noch aus dem besonderen Umstand hervor, daß sie am Schluß, ja sogar auf ihrem Höhepunkt, gleichsam wider Willen, im Prinzip dem Skeptizismus verfiel. Schon bei DUNS SCOTUS zeigen sich die ersten Spuren. (75) Er bekämpft das ontologische Argument. Die Existenz Gottes sei nicht aus bloßen Begriffen zu erweisen, weder a priori aus der Ursache, da es keine solche über ihm gibt, noch auch ganz evident a posteriori, aus seinen Werken; es müsse zwar eine letzte durch sich selbst seiende Ursache geben, aber daraus folgt nicht, daß sie schlechthin allmächtig und die Schöpfung aus nichts entstanden ist. Ebenso läßt sich die Unsterblichkeit der Seele aus Vernunftgründen nur mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Sein Hauptargument gegen den Rationalismus erblicken wir sowohl in der Erhebung des Willens über den Verstand im Menschen, wie auch in der Gottheit. Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung beruhen infolgedessen nicht auf dem durch eine Vernunftnotwendigkeit bedingten Willen Gottes. (76) Die Schöpfung der Welt war keineswegs notwendig. Bei der Inkarnation hätte sich Christus statt mit der menschlichen, mit der tierischen oder jeder anderen Natur vereinigen können. Gott gebietet das Gute nicht darum, weil es gut ist, wie THOMAS behauptet, sondern es ist gut, weil Gott es gebietet. THOMAS ist Determinist und lehrt die Prädestination; d. h. die Vernunftnotwendigkeit ist ihm das Maßgebende in Gott und dem Menschen. SCOTUS ist nach beiden Richtungen hin Indeterminist. Das Verhältnis zwischen unserem Verstand und Willen ist nach dem einen wie nach dem andern, nur in umgekehrter Weise, das Abbild des in Gott in höchster Potenz vorhandenen Verhältnisses zwischen Verstand und Willen. Dieser weitgehende Skeptizismus und die scharfsinnige, negative Kritik, worauf die Hauptstärke des DUNS SCOTUS beruth, richtet sich aber nicht gegen die Kirche und die Offenbarung, sondern nur gegen die Lehren anderer und gegen die Transzendenzfähigkeit der menschlichen Vernunft. Sein Ordensbruder WILHELM von OCKHAM ging jedoch einen Schritt weiter, indem er neben seinem Zweifel an unserer Erkenntnisfähigkeit des Übersinnlichen auch noch stillschweigend die Autorität der Kirche fallen ließ oder ihr zumindest gleichgültig gegenüber st and. Offen trat er freilich nicht gegen dieselbe auf, unterwarf sich ihr vielmehr, wie einige behaupten, andere jedoch bezweifeln (77). Ebenso hat er sich nicht ausdrücklich zum Skeptizismus bekannt, sei es, daß ihm nach Außen der Mut fehlte oder ihn eine gewisse innere Scheu vor den letzten Konsequenzen zurückhielt. (78) Wie dem nun auch sein mag: jedenfalls ist das Vertrauen in das metaphysische Denken gebrochen und der Glaube an eine Übereinstimmung zwischen Vernunft und Offenbarung zerstört. In diesen Kundgebungen tritt uns eine Kritik des Rationalismus entgegen, die für die damalige Zeit fast ebenso kühn erscheint, wie die kantische am Ende des 18. Jahrhunderts. Interessant und bedeutungsvoll ist für die weitere Ausführung unseres Themas die zweifache Erscheinung, daß es selbst im gläubigsten Zeitalter, welches jemals existierte, einen Rationalismus gab, und daß er auch hier wie in der alten und neueren Zeit mit immanenter Notwendigkei zum Skeptizismus führte.

Hiermit wäre die erste Behauptung, daß der moderne Rationalismus aus der Scholastik stammt, hinreichend bewiesen; die andere, wonach das Christentum selbst eine rationalistische Seite an sich trägt, geht schon aus der Existenz der Scholastik, ihrer Art und Tendenz, vor allem aber daraus hervor, daß es sich gleich von Anfang an mit der griechischen Philosophie in Verbindung setzte, deren Hauptvertreter, welche hier in Betracht kommen, PLATO und ARISTOTELES teilweise oder ganz Rationalisten waren. Letzteres bleibt uns noch der Vollständigkeit halber zu erweisen übrig.

Für die Religion scheint ARISTOTELES wenig oder gar kein Verständnis gehabt zu haben. Daß er sich nur gelegentlich darüber äußert, nur in einem negativen Verhältnis zu seiner Volksreligion steht; daß sie gar keinen Gegenstand einer besonderen Untersuchung bildet, wie z. B. die Politik, wozu er die Verfassungen von 148 Staaten miteinander verglich, umd das Allgemeine und Gesetzmäßige daraus zu erkennen: dies und verschiedenes Anderes spricht deutlich genug dafür, wie wenig Verständnis er für diese Seite der menschlichen Natur besaß. Bis nach Indien hat sich, wie man behauptet, sein Forschergeist erstreckt und von Palästina, dem Land des höchsten und reinsten Monotheismus, sollte er keine Kunde erhalten haben? Von Ägypten weiß er zu sagen, daß dort, nachdem die praktischen Bedürfnisse des Lebens geordnet waren, die Wissenschaften zuerst aufgekommen sind (79); aber vom Judentum und seiner Religion, einem der wichtigsten Kulturfaktoren der alten Welt, weiß er nichts. Der Grund liegt wohl darin, daß er nach dieser Reichtung hin kein Bedürnis empfand und vom Denken voraussetzte, daß es die transzendentale Gewißheit in sich selbst trägt. Das Denken bot ihm nicht bloß die Form für die Wahrheit, sondern auch den Inhalt. Für die Erkenntnis des Irdischen muß die Erfahrung dem Denken vorausgehen, für das Transzendente aber genügt das Denken an und für sich.

Was den Aristoteles daran hinderte zu einem höheren Gottesbegriff zu gelangen, war nicht bloß der Mangel an religiösem Sinn, sondern die nationale Schranke überhaupt, wonach es keinen einzeigen Dichter oder Philosophen eingefallen ist, auch nur an die Möglichkeit einer Schöpfung zu denken. Man muß sich wundert, daß dieses geniale Volk, welches fast alle Standpunkte und Formen der Philosophie aus sich entwickelte, die Ewigkeit der Materie, ohne jeglichen Zweifel, wie ein absolut sicheres Dogma, voraussetzte. Ob PLATO dieselbe geleugnet ist sehr unwahrscheinlich (80); jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, daß ARISTOTELES die Ewigkeit der Materie, der Welt und des Menschen angenommen hat. Sind aber Zeit und Welt ohne anfang und Ende, so ist keine fortschreitende Enwicklung, sondern nur ein Kreislauf des Werdens möglich. Nach ARISTOTELES ist jede Kunst und Wissenchaft schon unzählige mal erfunden worden und wieder verloren gegangen. Als dunkle Erinnerung dieser untergegangenen Kulturen sieht er die Mythen an. (81) Wie weit ist der große Denker mit dieser Aufassung von der richtigen Einsicht in das Wesen der Religion entfernt! Statt diese Mythen als poetische Formen, in welche sich das religiöse Gefühl auf einer früheren Kulturstufe kleidete, zu betrachten, sieht er sie als Überreste einer untergegangenen Wissenschaft und Kunst an. Damit hört die Bedeutung der Religion überhaupt auf. Denn diese Mythen sind verkümmerte Reste der Vernunft einer früheren Periode und zugleich die ersten Voraussetzungen und Ansätze einer neue Kultur, aus der Myhologie hat sich die Philosophie entwickelt. Ähnlich wie bei HEGEL hat nach ARISTOTELES das Volk in der Vorstellung das, was der gebildete Denker im Begriff hat. Vorstellung und Begriff sind aber nicht spezifisch voneinender verschieden. Es ist ein und dasselbe logische Vermögen, welches bei hervorbringt, nur ist jener konkreter und dieser abstrakter. Deutlicher könnte der Rationalismu nicht ausgesprochen werdne, als in dieser Allgemeinhei unt Selbstgewißheit des Denkens, die jedes andere Transzendentale Organ überflüssig machen.

Ein weiteres Hindernis, das aber in der Konsequenz seiner ganzen Auffassung lag, bestand im Glauben an die Göttlichkeit der Gestirne. Er betrachtet sie als ewige, selige, über Menschen erhabene Wesen, die auf die Geschichte unseres Geschlechts und ihres Wohnplatzes einen bestimmenden Einflußes ausüben.
    "Die Alten", sagt er, "haben den Späteren in mythischer Gestalt die Überlieferung hinterlassen, daß die Gestirne Götter sind und das Göttliche die ganze Welt umfaßt - und auch wir haben allen Grund, den alten Glauben unseres Volkes für wahr anzuerkennen, daß es unter den Dingen, denen eine Bewegung zukommt, ein Unsterbliches und Göttliches gibt, dessen Bewegung keine Grenze hat, sondern selbst die Grenze des Übrigen ist. Denn die Kreisbewegung des Himmels umschließt, selbst vollkommen und ohne Anfang und Ende zukommt. Deshalb haben die Alten den Himmel den Göttern zugeteilt, weil er allein unsterblich ist." (82)
Zur Anerkennung dieser Götter bedarf es keines transzendentalen Glaubens; es sind ja keine unsichbaren, rein geistigen Wesen, die sich unseren natürlichen Sinnen entzögen. Die Sonne kann empfunden und gesehen werden. Sinnliche Wahrnehmung und Denken reichen vollständig aus für den Volksglauben. Eine besondere religiöse Anlage ist überflüssig. Zur Erkenntnis des einen, höchsten und absoluten Gottes aber gelangen wir auf dem Weg richtiger Schlußfolgerung, und auch schon durch Reflexion auf unseren eigenen Geist. Da wir vernünftige Wesen sind, so muß nach ARISTOTELES aus der Selbstbetrachtung dem Menschen die Idee der göttlichen Vernunft entspringen. Ähnlich wie bei CARTESIUS und LEIBNIZ soll hiernach aus der bloßen Idee und Betätigung der Vernunft das Wesen und die Existenz Gottes erkannt werden können.

Fassen wir die wesentlichen Punkte zusammen, so ergibt sich, daß die Annahme einer ewigen Materie, der Rationalismus und der Glaube an Sinnlichkeit und Verstand, als die beiden Haupterkenntnisquellen, ARISTOTELES im Weg standen, zu einem höheren Gottesbegriff zu gelangen. Vor allem ist es der Mangel an der spezifischen Energie des religiösen Gefühls, was ihn daran hinderte. Oder wie soll man sich den Monotheismus des Judentums erklären, welches ohne Philosophie einen ungleich höheren und reineren Gottesbegriff aus sich erzeugte. Im ganzen alten Testament ist keine Spur von Philosophie zu entdecken und was sich etwa noch darin finden möchte, wie z. B. das Buch der Weisheit und anderes stand schon unter dem Einfluß der griechischen Spekulation. Ein unbeschränkt allmächtiger Gott ist nur denkbar, wenn kein anderes ewiges Wesen neben ihm existiert. Die Welt und ihr Substrat, die Materie, kann deshalb nur geschaffen oder ein Attribut Gottes sein. Religion ist überhaupt erst möglich unter der Voraussetzung eines geistigen Wesens und die vollkommenste Religioin nur unter der eines absolut geistigen und unendlichen Wesens. Eine unbedingte, vertrauensvolle Hingabe an dieses Wesen gibt es nicht, wenn es durch andere geistige oder materielle, gute oder böse Mächte beschränkt wird. Die Annahme einer ewigen Materie führt zum Fatalismus. Wie der absolute Materialismus die Religion im Prinzip vernichtet, so wird in dem Maß, wie die Materie mit und neben Gott existierend gedacht wird, wie dies von PLATO und ARISTOTELES geschieht, die Religion gehemmt und unterdrückt. Sie wird sich nie in ihrer ganzen Kraft offenbaren können, oder wenn sie es tut, so wird sie dieses Hemmnis beseitigen und die Materie entweder als Eigenschaft oder als Schöpfung Gottes betrachten. Bestehen aber noch andere, höhere Wesen, göttliche oder dämonische neben dem Absoluten, die gleichfalls ihre eigene, selbständige Existenz haben, so wird Gott nicht bloß durch sie beschränkt, sondern auch das menschliche Gemüt unsicher und schwankend; es wir die Bösen versöhnen und die Guten zu gewinnen suchen und immer zwischen Furcht und Hoffnung schweben, ob es nicht den einen zuviel, den anderen zu wenig getan hat. PLATO und ARISTOTELES kämpften nicht umsonst gegen die Vorstellung, daß die Götter neidisch sind. Und selbst der jüdische Jehova wird als ein eifersüchtiger Gott hingestellt, der keinen anderen neben sich dulden will. Das hatte im alten Testament beim Streben der Propheten nach dem absoluten Monotheismus seinen guten Sinn. Solange mehrere Götter angenommen wurden, war keine volle Hingabe und Anhänglichkeit, kein unbedingtes Gottvertrauen möglich. Selbst das eminent religiös begabte Volk der Juden fiel von Jehova ab, sobald es sich von einem andern mehr Vorteile versprach. Nur von einem absolut universellen, unendlichen und einzigen Wesen ist kein Abfall mehr denkbar. Es muß somit in der Natur der Religion selbst liegen, sich ein solches Wesen vorzustellen und daran zu glauben. Denn, wie gesagt, ihre Existenz und Vollkommenheit hängt schlechterdings von dieser Vorstellung ab. Alle übrigen Erklärungsversuche, wie Animismus, Rassenhochmut, Unendlichkeit des Himmels usw. sind unzulänglich.

Diese spezifische Energie des religiösen Gefühls fehlte ARISTOTELES und der ganzen griechischen Nation (83). Die poetische und plastische Phantasie, überhaupt das konkretisierende Denken machte sie zu den großen Dichtern und Künstlern, aber es führte selbst einen PLATO und ARISTOTELES nicht vollständig über den Polytheismus hinaus. Die ewigen Gestirne und die ewigen Ideen, neben der sich selbst denkenden Vernunft und der Idee des Guten, sind Götter; sie tragen den Grund ihrer Existenz in sich selbst; es kommt ihnen eine Aseität [das reine aus-sich-selbst-Bestehen - wp] zu. Auch bei den Pythagoreern ist es wiederum die Form, eine bestimmte, begrenzte Gestalt und Kraft, welche als die letzte Ursache der Dinge gedacht wird. Sogar das eleatische Sein ist eine konkrete Abstraktion, mit der diese Denker nichts anzufangen, aus der sie nichts zu erklären vermochten - eine absolute Einheit ohne Vielheit und Mannigfaltigkeit, ohne Leben und Bewegung. So ist auch der nous des ANAXAGORAS eine konkrete Abstraktion, ein Sein für sich neben der Existenz der Welt, das er mit dieser, wie schon PLATO und ARISTOTELES ihm zum Vorwurf machten, in keinen Zusammenhang bringen konnte (84). Die Stoiker strebten zwar nach einem Monismus, indem sie die göttliche Vernunft mit der Materie zu verbinden suchten; allein diese Verbindung und innere Durchdringung ist ihnen nicht gelungen. Ihr System ist ebenso materialistisch wie religiös (85). Erst in PLOTIN erhebt sich die griechische Philosophie zu einem wirklich spiritualistischen Monismus, sofern er die Gesamtheit allen Seins auf einen letzten, geistigen Grund zurückführt. Aber er sucht diesen letzten Grund, obgleich er die Dialektik sehr hoch stellt (86), nicht durch eine vernunftgemäße Vermittlung und auf dem weg des selbstbewußten Denkens zu erreichen, sondern in letzter und höchster Instanz mittels der Askese und Ekstase (87), was bei den späteren Anhängern dieser Richtung zur Theosophie und Theurgie [Fähigkeit und Kraft, durch Zauber Götter zu beschwören - wp] führte (88). Ekstase ist unter keinen Umständen der philosophische Weg zur Erkenntnis und der Mystizismus als innige Vereinigung der Seele mit Gott im Gefühl, ein Vorgang, der nur erlebt und empfunden werden kann - ist keiner Demonstration fähig (89). Der Mystizismus als solcher läßt sich nicht lehren und wissenschaftlich darstellen. Psychologisch und historisch ist es jedoch höchst interessant, daß hier zum erstenmal in der griechischen Philosophie, abgesehen von einzelnen Anläufen und Versuchen in der neupythagoreischen und alexandrinischen Philosophie (90), anstelle des selbstgewissen Denkens, die unmittelbare Gewißheit des transzendentalen Gefühls tritt, ein völlig neues Prinzip, worauf die Neuplatoniker wahrscheinlich erst durch eine Anregung des Christentums gekommen sind (91). Hätten PLOTIN und seine Nachfolger mit diesem Gefühl als Quelle für den Inhalt zugleich den Verstand als wissenschaftliche Form verbunden, so würde ihr System das vollkommenste der gesamten griechischen Spekulation geworden sein. Der plotinische Mystizismus verbunden mit dem aristotelischen Rationalismus und einem weiter ausgebildeten Empirismus wäre das Ideal der Philosophie. Denn Gefühl ohne Verstand führt zur Schwärmerei und zum Aberglauben, Verstand ohne Gefühl zum Skeptizismus und Indifferentismus. Übte der Neuplatonismus in dieser unvollkommenen Gestalt schon einen so mächtigen Einfluß auf AUGUSTIN aus, der dieses System unter allen übrigen am Höchsten schätzte, auf das Mittelalter, auf die meisten arabischen, jüdischen und christlichen Scholastiker, insbesondere auf die Mystiker und durch dieselben indirekt auf die Reformatoren und selbst bis in die neueste Zeit herein auf einen SCHELLING und HEGEL, denen man nicht mit Unrecht Neuplatonismus vorwarf, wsa müßte er erst in aristotelischer Form auf AUGUSTIN und THOMAS, ECKHART und CUSANUS für einen Eindruck gemacht haben! Daß aber dieser Mystizismus neben dem Rationalismus des ARISTOTELES im Mittelalter zu einer solchen Geltung kam, beweist ansich schon, daß beides universelle Prinzipien sind, Grundkräfte des Gemüts, die sich gegenseitig ergänzen und nur zusammen die volle Befriedigung gewähren. Der Parteinahme in der Renaissance bald für PLATO, bald für ARISTOTELES, liegt dasselbe tiefe Bedürfnis zugrunde.

Da nun dieser Mystizismus vor allem eine Erneuerung des PLATO sein will, so ist zu vermuten, daß sich in dessen Philosophie ein Element vorfindet, welches dieser Gefühlsrichtung verwandt war und es fragt sich daher, worin dieses besteht. Das poetische und dialektische ist es jedenfalls nicht. Das Poetische bei PLATO ist freilich vom Mythischen nicht gut zu trennen; es bezieht sich aber doch mehr auf die Form als auf den Inhalt. Die Freiheit, womit er die alte Mythologie behandelt, die Polemik gegen die anthropomorphen Vorstellungen der Dichter, gegen HOMER und HESIOD, "welche den Hellenen ihre Götter gemacht haben", (92) spricht entschieden dafür, daß er dem griechischen Polytheismus nicht zugetan war (93). Denn soll diesen Göttervorstellungen eine allgemeine Wahrheit zugrunde liegen, die er teils in einem Glauben an ein Göttliches überhaupt findet, teils, was die Vielheit von Göttern betrifft, darin, daß es seiner Ansicht nach zwischen der absoluten Gottheit und den Menschen gewisse Mittelwesen geben muß, nämlich die Gestirne. Diese sind die gewordenen Götter und machen die edelsten Bestandteile des einen gewordenen Gottes, der Welt, aus. Alle einzelnen Gestirne sind beseelt, wie es auch die Welt überhaupt ist (94). Die hylozoistischen Vorstellungen der ionischen Naturphilosophen haben die Griechen nie völlig überwunden und es fragt sich, ob man diese Auffassung nicht als die Grundidee aller echten Philosophie, Poesie und Religion zu betrachten hat. Die Gestirne haben Einfluß auf die Erzeugung, Bildung und das Schicksal der Menschheit. Hiernach enthielte die griechische Mythologie, nach Abzug alles Phantastischen der gewöhnlichen Volksanschauung, eine gewisse Wahrheit, jedoch nur insofern, als sich darin der Glaube an das Göttliche im Allgemeinen kundgibt. Wenn nämlich diese göttlichen Wesen geworden sind, so weisen sie auf ein schöpferisches Prinzip, auf eine absolute Vernunft hin und dann kann die wahre Religion nur im Glauben an diese bestehen. Zu dieser Auffassung erhebt sich der Philosoph aber nur mittels des dialektischen Denkens. Existiert nun bezüglich der Intelligenz kein spezifischer, sondern nur ein gradueller Unterschied zwischen dem Philosophen und dem gemeinen Volk, so ist jener Glaube an das Göttliche auch beim Ungebildeten eben nur ein Denken des Göttlichen. Der Glaube entspringt nicht dem religiösen Gefühl, sondern dem Verstand. Das Volk hat genau wie bei ARISTOTELES, HEGEL und sämtlichen Rationalisten in der Vorstellung, was der Denker im Begriff. Um diesen Rationalismus, soweit er sich wirklich bei PLATO vorfindet, zu beweisen, wird es nötig sein, in möglichster Kürze zu zeigen, worin sein Gottesbegriff besteht und wie er dazu kam.

Unter dem Wesen Gottes versteht PLATO die Idee des Guten, welche jedoch nicht als Ursache der übrigen Ideen oder der Materie, sondern nur als Ursache ihrer Verbindung gedacht werden muß. Insofern ist die Gottheit nur ein Weltbildner, aber kein Weltschöpfer. Gott und die Idee des Guten sind identisch. Sie verleiht ebenso dem Erkennenden die Kraft, als dem Erkannten die Wirklichkeit (95).

Ob nun der Philosoph diese Seele persönlich gefaßt hat ist schwer zu sagen. Nach der Konsequenz seines Systems dürfte es kaum der Fall sein. Ist nämlich die Idee überhaupt nur das Allgemeine, so kann auch die absolute Idee nur das absolut Allgemeine sein. Ein persönlicher Gott könnte somit bloß durch die Teilnahme an der Idee des Guten das sein, was er ist; er wäre also von der Idee abhängig, was sich mit dem Begriff von der Gottheit in keiner Weise verträgt (96). Ansich fehlt den Ideen, wie schon ARISTOTELES behauptete, das bewegende Prinzip, welches sie in die Erscheinung führt. Wäre nun die absolute Idee mit demselben behaftet, so gäbe es nach diesem System überhaupt keine Ursache, um daraus die Erscheinungen zu erklären. Da kein höheres Wesen neben dem Absoluten existiert, so ist PLATO genötigt, dem schlechthin Seienden Bewegung, Kraft und Einsicht zuzuschreiben. Sofern jedoch nach unseren Begriffen Vernunft ohne Persönlichkeit wohl nicht denkbar ist, so erhebt sich die Frage, wie sich PLATO diese beiden Momente, absolute Idee und Persönlichkeit in ihrer Verbindung vorgestellt hat. In dieser Beziehung herrschen verschiedene Meinungen und selbst der beste Kenner der griechischen Philosophie, EDUARD ZELLER, will nicht behaupten, "daß Plato eine persönliche Gottheit als oberste Ursache mit ausdrücklichem Bewußtsein verneint und an ihre Stelle die unpersönliche Idee gesetzt hätte"; vielmehr ist er der Ansicht, "daß er die Frage über das Verhältnis der Gottheit zur Idee noch zu keiner klaren Entscheidung gebracht; daß ihm beide immer wieder zusammenflossen; daß er die Vorstellung eines persönlichen Gottes hat und gebraucht, aber den Begriff desselben weder abgeleitet, noch durch sein philosophisches Prinzip möglich gemacht hat, noch auch nur versucht hat (97). Ähnlich wie in der ersten lauten seine Worte auch in der neuesten Auflage. Alles, was PLATO über das Wesen und die Vollkommenheit Gottes sagt, macht den Eindruck,
    "daß er den religiösen Glauben selbst teilt und im Wesentlichen für wohl begründet hält. Aber er versucht es nirgends seine religiösen Vorstellungen mit seinen wissenschaftlichen Begriffen zu vermitteln. Für die wissenschaftliche Untersuchung über die höchsten Gründe beschränkt er sich auf die Ideen und wenn er neben ihnen noch der Gottheit bedarf, führt er diese ohne Beweis und nähere Bestimmung als Glaubensvoraussetzung ein und beruhigt sich bei dem Gedanken, daß beide dasselbe besagen, daß die Ideen das wahrhaft Göttliche sind und die höchste Idee mit der höchsten Gottheit zusammenfällt." (98)
Aus dieser Darstellung geht zunächst hervor, daß ZELLER in der Beurteilung des Verhältnisses der Religion zur Philosophie bei PLATO noch gegenwärtig auf demselben Standpunkt steht wie früher, daß also auch seine eigene Auffassung der Religion dieselbe geblieben ist, was umso bedenklicher erscheint, als sich dabei herausstellt, daß er Religion und Moral mit einander verwechselt oder identifiziert und dadurch weder der Religion noch PLATO hinlänglich gerecht wird. (99)

Schon in der ersten Auflage wird behauptet:
    "Der Platonismus hat allerdings eine Seite, durch die er auch als philosophisches System an die Religion anknüpft, die ethische. Wie es der Religion nicht um theoretisches Wissen als solches, sondern um das Theoretische nur in und mit seiner praktischen Anwendung zu tun ist, so sehen wir auch bei Plato das Wissen und Handeln noch nicht so wie bei ARISTOTELES und anderen getrennt, sondern bei ineinander; das wahre Wissen ist ihm noch unmittelbar ein praktisch lebendiges, das rechte Handeln aufs philosophische Wissen begründet und die Wurzel der Sittlichkeit und Philosophie ein und dieselbe, die Begeisterung für das Schöne und Göttliche, der Eros. - Diese ethische Grundstimmung ist nun vorzugsweise das religiöse in ihm, die einzelnen Vorstellungen dagegen, in denen man seinen religiösen Charakter gesucht hat, sind größtenteils bloßes Außenwerk oder ein inkonsequentes Zurücksinken in die Sprache der Vorstellung." (100)
Demselben Grundgedanken begegnen wir auch in der letzten Auflage. Obgleich zugegeben wird, daß PLATO den wesentlichen Inhalt seiner Philosophie noch in anderen Formen erkennt, z. B. in der Liebe zum Schönen, in der unvollkommeneren Tugend, im religiösen Glauben und daß er sich namentlich an letzteren gehalten hat, "um die Lücken seines Systems auszufüllen und Überzeugungen auszusprechen, für deren Begründung es ihn im Stich ließ, während sie ihm für seine Person doch fest standen", so fügt er doch gleich hinzu: "man darf den Wert solcher Äußerungen nicht überschätzen."
    "Denn die religiöse Bedeutung des Platonismus liegt zunächst in jener Verschmelzung des theoretischen und praktischen Elements, in jener ethischen Stimmung, die ihm der sokratische Unterricht eingepflanzt hat. Dadurch ist die Philosophie nicht auf das Wissen beschränkt geblieben, sondern sofort auf das persönliche Leben des Menschen angewandt worden." (101)
Hier gibt es nun zweierlei zu unterscheiden: einmal, wie ZELLER selbst das Verhältnis der Religion zur Philosophie auffaßt; sodann wie er diese Auffassung auf den Platonismus überträgt.

Schon die Behauptung: daß die einzelnen Vorstellungen, in denen sich PLATO mit der positiven Religion berührt, nur ein "inkonsequentes Zurücksinken in die Sprache der Vorstellung ist"; "Daß er die Vorstellung eines persönlichen Gottes hat und gebraucht, aber den Begriff nicht ableitet usw." verraten deutliche die Schule, aus welcher diese Unterscheidung stammt, und den Standpunkt, welchen ZELLER einnimmt (102). Nach HEGEL nämlich realisiert sich der absolute Geist in der objektiven Form der Anschauung als Kunst, in der subjektiven Form der Vorstellung als Religion, endlich in der subjektiv-objektiven Form des reinen Denkens als Philosophie. Wenn nun ZELLER ausführt, daß für PLATO der Inhalt seiner Philosophie auch in anderer Form vorhanden sein kann, z. B. "in der Liebe zum Schönen", in der "unphilosophischen Tugend" als Vorstufe zur philosophischen, im "religiösen Glauben als Analogon der wissenschaftlichen Einsicht", "wobei aber allerdings vorausgesetzt wird, daß das Leben in seiner höchsten Vollendung durchweg aufs Wissen begründet ist", so stehen wir vor der Alternative, daß PLATO und HEGEL entweder dasselbe gesagt haben, oder aber die HEGEL'sche Auffassung in den Platonismus hineingetragen wurde. Im ersteren Fall hätte der gemeine Mann wohl in der Vorstellung, was der Philosoph im Begriff, jedoch in unvollkommenerer Form. Besteht kein spezifischer Unterschied zwischen Gefühl und Verstand, zwischen einer religiösen und einer logischen Funktion und gehören Vorstellung und Begriff ein und derselben Gattung an, nämlich dem Denken, dann ist der Unterschied zwischen dem Intellekt des Gebildeten und Ungebildeten nur ein gradueller, der durch den Fortschritt der Kultur allmählich aufgehoben werden kann, wodurch selbstverständlich die Religion überflüssig wird; oder wenn dies wegen der angeborenen intellektuellen Schranke der Mehrzahl nicht möglich ist, so wäre die Religion um dieser Schwäche willen zwar berechtigt, müßte aber immerhin als eine Unvollkommenheit angesehen werden, über die sich der Gebildete kraft seiner höheren Einsicht natürlich erhebt. Daraus ergibt sich klar, daß wenigstens der Philosoph der Religion nicht bedarf. Im Prinzip ist sie also überflüssig, sie ist kein wesentlicher Bestandteil in einem konsequent durchgeführten System; wo sie sich dennoch vorfindet, setzt dies einen intellektuellen Mangel im Urheber desselben voraus.

Die Anwendung dieser Sätze auf den Platonismus führt nun zu eigentümlichen Konsequenzen. Niemand kann in Abrede stellen, daß gerade bei diesem Philosophen die Religion eine hervorragende Rolle spielt. Vorstehender Erörterung zufolge, ließe sich also diese Erscheinung nur aus einem Mangel an dialektischer Bildung und logischer Konsequenz erklären. Hätte PLATO beides in höherem Maß besessen, so würde er das religiöse Bedürfnis nach einem persönlichen Gott vollständig überwunden haben. Denn das platonische Prinzip "theoretisch angesehen und in der Strenge seiner wissenschaftlichen Konsequenz ausgeführt", sagt ZELLER,
    "würde die religiöse Anschauung von Grund aus aufheben; nur die Grenze seiner philosophischen Konsequenz ist es, auf der es sich teils in populärer, teils in mythischer und halbmythischer Darstellung mit der religiösen Vorstellung berührt." (103)
So urteilte ZELLER früher und so denkt er noch heute, wenn er sagt: Ist dem PLATO "die Philosophie nicht bloß ein theoretisches, sondern ebensosehr ein praktisches Verhalten - welches besondere Feld bliebe da der Religion noch neben ihr übrig?" (104) Hieraus erhellt sich deutlich, daß ZELLER fast ein halbes Jahrhundert, trotz aller neueren Zugeständnisse an die Religion, bei der Ansicht verharrt, daß es sich in der platonischen, wie in der Philosophie überhaupt, nur um das Verhältnis des Wissens zum Wollen, der Theorie zur Praxis, der Metaphysik zur Ethik handelt. Das religiöse Gefühl ist ihm keine besondere Kraft neben Verstand und Willen, kein konstitutives Moment in einer philosophischen Weltanschauung (105), sondern höchstens eine Vorstufe, die überwunden werden soll; ein "Analogon der wissenschaftlichen Einsicht, welches diese für die Mehrzahl der Menschen ersetzen muß"; (106) selbst bei PLATO hatte sie nur "die Lücken seines Systems, wo es ihn im Stich ließ, auszufüllen." Da aber diese Lücke nicht in der Ethik besteht, weil sich Religion und Moral dann doch wesentlich voneinander unterscheiden, und die Volksmythen ein "bloßes Außenwerk" sind, so fällt die religiöse Bedeutung bei PLATO überhaupt weg und es ist nicht einzusehen, weshalb man seiner Philosophie "mit Recht den religiösen Charakter nachrühmt" (107) und er "eine so wichtige Stelle in der Geschichte der Religion einnahm." (108) Ist es nach ZELLER "die Idee des Guten, aus deren Anwendung sich PLATO jene erhabene Gotteslehre und jene Reinigung des Volksglaubens ergibt" (109), so fragen wir uns, was diese erhabene Lehre für einen Wert hat, wenn nur ein Mangel an "philosophischer Konsequenz" ihn dazu führte, oder nur "ein inkonsequentes Zurücksinken in die Sprache der Vorstellung" darin zu sehen ist? (110) ZELLER kommt fortwährend mit sich in Widerspruch, indem er die religiöse Bedeutung im Platonismus allenthalben zugibt und sie doch überall im Prinzp als etwas Unberechtigtes wieder aufhebt. Nun besteht aber die Religion, wie wir des Weiteren sehen werden, vor allem in der Überzeugung von der Existenz eines göttlichen Wesens. Ließe sich eine solche Gewißheit allein durch das Denken erreichen, dann würde die Religion zur Philosophie erhoben und der Glaube in ein Wissen verwandelt; es gäbe kein Kriterium mehr zhwischen Logik und transzendentalem Gefühl; beide wären identisch, oder aber das eine, die Religion, überflüssig. Das ist echter Rationalismus.

Hören wir nun weiter, worin jene erhabene Gotteslehre PLATOs besteht. "Er rühmt", sagt ZELLER, "die göttliche Vollkommenheit, der keinerlei Schönheit und Trefflichkeit mangelt; die göttliche Macht, welche alles umfaß; die Weisheit, welche alles auf das Zweckmäßigste einrichtet; die Allwissenheit, der nichts entgeht; die Gerechtigkeit, welche kein Vergehen ungestraft und keine Tugend unbelohnt läßt; die Güte, welche für alle auf's Beste sorgt." (111) Alle diese persönlichen Eigenschaften gehören doch nicht in das Gebiet der Ethik, wo es sich nach ZELLERs eigenen Worten nur um "das persönliche Leben" oder um "das, was dem Menschen zuträglich ist" handelt (112), sondern, da es Attribute Gottes sind, selbstverständlich in das Gebiet der Religion. Und selbst wenn man sich das göttliche Ideal zum Vorbild nehmen wollte in seinem sittlichen Tun und Lassen, so müßte man doch dieses Ideal, um richtig danach handeln zu können, mit den erwähnten Eigenschaften voraussetzen; außerdem müßte, was noch wichtiger ist, der Glaube an die objektiv reale Existenz diesem subjektiven Ideal zugrunde liegen.

Gehört also diese "erhabene Gotteslehre" nicht in die Ethik, so gehört sie noch viel weniger in die Mythologie, sondern diese Vorstellungen bei PLATO ein "bloßes Außenwerk" sind. Am allerwenigsten aber darf sie als "ein inkonsequentes Zurücksinken in die Sprache der Vorstellung" gelten, zumal wenn wir nach ZELLER "kein Recht haben, so oft PLATO in persönlicher Weise von der Gottheit redet, darin nur eine bewußte Anbequemung an die religiösen Vorstellungen zu sehen." (113) Ist aber diese Gotteslehre weder aus der Ethik, die es nur mit Handlungen zu tun hat, noch aus der Mythologie, die nur in unzulänglichen Vorstellungen besteht, zu erklären, und führt die Konsequenz der platonischen Dialektik bloß zu einem "unpersönlichen Wesen" (114), so kann die wahre Quelle der platonischen Gotteslehre nur in der Religion gesucht werden; denn nur sie bedarf jener erhabenen Attribute, wie Macht, Weisheit und Güte. Es ist deshalb unmöglich, daß dem PLATO die Religion bloß "wegen der Unbeweglichkeit der Ideen für die Erklärung der Erscheinungen unentbehrlich gewesen ist." (115) Denn darin hätte sich nur ein logisches oder metaphysisches Bedürfnis ausgesprochen, das so leicht zu befriedigen war. Gibt es nämlich außer dem Absoluten nichts, was als Ursache gedacht werden könnte, so kann eben nur diesem Absoluten die Kausalität zugeschrieben werden. Aber um dieser einfachen Konsequenz willen ist es doch nicht nötigt, gleich zu einem persönlichen Gott seine Zuflucht zu nehmen. Die Atomisten kamen zu einer allgemeinen Ursache ohne die Voraussetzung eines geistigen Wesens. Ebenso die Stoiker, deren absolutes Prinzip, die "feurige Vernunft", substanziell mit dem Universum und den allgemeinen Naturgesetzen zusammenfällt. Und selbst ARISTOTELES, bei dem das religiöse Gefühl nur schwach vertreten war, wußte sich dennoch mit seinem "ersten Beweger", als bloß logischem Wesen, noch ziemlich zu helfen. Sollte wirklich sein hauptsächlichstes Verdienst bei der Umbildung der platonischen Lehre darin bestehen, daß er die Transzendenz und Ursachlosigkeit der Ideen aufhob und sie als wirksame Kräfte in den Dingen selbst faßte, so wird doch das Wesen erselben dadurch nicht verändert. Abgesehen davon ist es kaum denkbar, daß sich PLATO seine hypostasierten Gattungsbegriffe ohne alle Kraft und Wirksamkeit vorgestellt, sie gänzlich vom realen Dasein der Dinge getrennt und nur als wesenlose Schemen an irgendeinem übersinnlichen Ort existierend gedacht hat, während doch alles, was ist und geschieht, sein Wesen und seine Beschaffenheit den Ideen verdankt. Mit Recht wurde deshalb schon wiederholt die Behauptung ausgesprochen, daß ARISTOTELES in seiner Polemik gegen PLATO im Grunde nur seine eigene schiefe Auffassung bekämpfte (116). Wie dem nun auch sein mag, jedenfalls hatte PLATO nicht nötig "wegen der Unbeweglichkeit seiner Ideen" einen persönlichen Gott zu postulieren. Doch angenommen, alle Bewegung und Tätigkeit ginge nicht von den Ideen aus, dann müßte man den ganzen Weltprozeß auf den Demiurgen als letzte Ursache zurückführen; und da dieser Prozeß doch nicht außerhalb der realen Welt stattfinden kann, so müßte die Gottheit selbst als die in den Dingen wirkende Kraft gedacht werden, was schlechterdings den Pantheismus zur Folge hätte. Ist dies aber wiederum nicht vereinbar mti dem Begriff eines persönlichen Gottes, so bleibt nur die Annahme, daß die Ideen selbst wirksame Kräfte sind, zumal sie qualitativ von der absoluten Idee, welcher doch Vernunft und Tätigkeit zukommt, nicht verschieden sind.

Wie sehr übrigens das Verhältnis der Ideen zum Weltbildner bei PLATO noch im Dunkeln schwebt, so ist doch zweifellos sicher, daß die Annahme eines persönlichen Gottes nur aus einem religiösen Bedürfnis hervorgehen konnte. Hätte sich der Philosoph bloß auf seine Dialektik gestützt, so würde die absolute Idee eben nur eine gedachte, aber keine lebendig empfundene gewesen sein. Was ihn also vor einem einseitigen Rationalismus und inhaltslosen Ontologismus bewahrte, ist das transzendente Gefühl, auch wenn er sich dessen nicht ganz deutlich bewußt war. In diesem Gefühl hat der Glaube an einen persönlichen Gott seine wahre und ursprüngliche Quelle. Entspränge die unmittelbare Gewißheit von einer geistigen Existenz allein aus dem logischen Denken, dann würden die späteren Häupter der Akademie, bei ihrem hervorragend kritischen Scharfsinn, nicht dem Skeptizismus verfallen sein. Weil sie sich aber nur an das rationalistische Element im Platonismus hielten und nicht zugleich an das religiöse, wie die Neuplatoniker, so führten sie den Niedergang und die Auflösung der Schule herbei, während die anderen ihr einen neuen und fruchtbaren Aufschwung verliehen, dessen wohltätige Wirkungen sich durch das ganze Mittelalter erstreckten. Außerdem spricht auch schon die Idee des Guten ansich deutlich genug für ihren religiösen Ursprung. Ein Wesen, dem nur Macht und Intelligenz zukäme, könnte auch bloß ein Teufel sein; Verehrung, Anbetung, vertrauensvolle Hingabe ist nur möglich, wenn sich mit der höchsten Vernunft zugleich die reinste Güte verbindet. Sei es nun Zufall oder Absicht: jedenfalls ist es sehr auffallend, daß PLATO, wie kein anderer griechischer Philosoph, gerade die Güte und nicht etwa Macht oder Weisheit als das Hauptattribut der Gottheit betrachtete. Eben darum ist es nicht wahrscheinlich, daß ihn ein logischer Grund zu dieser Annahme führte; gerade umgekehrt, wird ihn das religiöse Bedürfnis dahin getrieben haben, der philosophischen Konsequenz seines Systems zum Trotz, die Idee des Guten zugleich auch persönlich zu fassen. Denn Güte hat keinen Sinn, wo absolute Notwendigkeit herrscht; sie setzt also einen freien Willen voraus, der ein bestimmtes Ziel hat, welches Ziel wiederum nicht denkbar ist ohne Vernunft und Kraft, das Beste zu erkennen und zu verwirklichen. Keines dieser drei Attribute: Macht, Weisheit, Güte kann die Religion ihrem innersten Wesen nach entbehren; es sind Grundbedingungen ihrer Existenz. Die Philosophie dagegen, namentlich die materialistische und skeptische, sowie auch die pantheistische bedürfen dieser persönlichen Eigenschaften nicht, und somit ist es klar, daß diese Postulate kein Ausfluß des Verstandes, sondern des Gemütes sind. Indem nun PLATO seine Dialektik durch die Religion ergänzte und dadurch wirklich "eine Lücke in seinem System ausfüllte, wo es ihn im Stich ließ", jedoch in einem ganz anderen Sinn, als ZELLER annimmt, hat er sowohl seinem persönlichen, als auch eine allgemein menschlichen Bedürfnis Rechnung getragen. Wir können darin weniger einen Mangel, als vielmehr einen großen Vorzug erblicken, selbst wenn es richtig ist,
    "daß er seine religiösen Vorstellungen mit seinen wissenschaftlichen Begriffen nicht vermittelt und die Vereinbarkeit beider nicht nachgewiesen hat." (117)
Sicherlich würde er diese welthistorische Bedeutung und den Einfluß auf das Christentum nicht gehabt haben, wenn er sich mit der begrifflichen Allgemeinheit des absoluten Seins begnügt, dafür aber die Religion, diesen größten und wichtigsten Faktor im Leben des Einzhelnen wie der Menschheit, ganz außer Acht gelassen hätte.

Vielleicht läßt sich noch ein anderer Grund anführen, weshalb sich PLATO so innig mit der Religion berührt; denn das Verhältnis des Willens zum Handeln, der Theorie zur Praxis bezieht sich zunächst nur auf das Verhältnis des Menschen zu Gott. In letzterem hat man vorzugsweise immer das Wesen und die Bedeutung der Religion erkannt. Ob man nun auf dem Weg des Denkens oder des Glaubens zu Gott kommt und sich eine Gewißheit von dessen Existenz verschaffen kann, das ist eben die große Frage. PLATO gelangt mittels seiner Dialektik zu einer absoluten Idee, wir wollen sogar annehmen, zu einem persönlichen Gott; aber woraus schöpfte er seine Überzeugung, daß diese Idee objektiv real existiert? Wenn ein Unterschied besteht zwischen Subjekt und Objekt; wenn Denken und Sein nicht identisch sind; wenn aus der subjektiven Notwendigkeit des Einen nicht auch unmittelbar und notwendig die transzendentale Existenz des Anderen folgt, wie KANT in seiner Kritik unwiderleglich bewiesen hat: wie soll ich mich dann durch das Denken allein von der Realität des Gedachten überzeugen? Glaubte PLATO bewußt oder unbewußt an die Transzendenzfähigkeit des Denkens, so war dieser Glaube dem Denken immanent und als solcher eine allgemeine und notwendige Eigenschaft des Denkens, die jeder ohne Ausnahme besitzen müßte. Da dies nicht der Fall ist, so kann der Glaube nur entweder das Denken begleiten oder ihm vorhergehen. Dann aber ist er nicht dasselbe wie das Denken, sondern etwas Anderes, eine besondere Kraft neben dem Denken. PLATO war zweifellos von der objektiv realen Existenz seiner Idee überzeugt. Wenn er dies vermöge des Denkens allein nicht sein konnte, so bleibt nur der transzendentale Sinn übrig zur Erklärung seines Glaubens und seiner Begeisterung. Nicht in der Ethik oder Mythologie oder Dialektik, sondern einzig und allein in einem transzendentalen Sinn ist der religiöse Charakter seiner Philosophie zu suchen. Um dieses Sinnes willen wurde er der "Göttliche" genannt und suchte der Neuplatonismus (118), der von Haus aus religiöser Natur war, an ihn besonders anzuknüpfen. Aus derselben Ursache kamen die alexandrinischen Kirchenväter auf die Idee, daß PLATO aus dem alten Testament geschöpft oder vom Logos erleuchtet worden ist. Und selbst noch in der neuesten Zeit glaubte man von einem "Christlichen Plato" sprechen zu können (119), als ob, wie ZELLER richtig bemerkt, das Christliche die Voraussetzung der platonischen Philosophie wäre und nicht vielmehr umgekehrt diese eine von den Voraussetzungen und Quellen des Christentums (120).

Nicht das Wissen und Handeln, wie ZELLER meint, sondern dieser transzendentale Sinn und das Wissen waren bei ihm noch etwas unmittelbar Lebendiges, ungeteilt und unbewußt Zusammenwirkendes. Er sträubt sich gegen die volkstümliche Auffassung der Vielgötterei, teilt aber nichtsdestoweniger den allgemeinen Glauben an ein Göttliches überhaupt. Das richtige Denken soll zu einer höheren Auffassung führen, zu einem absolut einheitlichen und selbständigen Wesen, dem alle übrigen, auch ungeschaffenen, untergeordnet sein sollen. Die höhere Wahrheit besitzt allerdings nur der Gebildet; allein sofern das Gewordene, die Gestirne, ein Ausfluß der höchsten Ursache sind, besitzt auch das Volk im Glauben an dieselben eine Wahrheit. In der Annahme des Geistigen und Göttlichen besteht ja das Wesen der Religion und somit ist es ein und dieselbe Grundkraft des Gemüts und nicht bloß des Verstandes, welche das Volk wie auch den Philosophen zu einer idealen Weltauffassung führt. Hätte PLATO nicht unter diesem Volk gelebt, so wäre er vielleicht nicht dieser große Denker geworden. Denn sein System setzt die ganze frühere Entwicklung der Philosophie bis auf SOKRATES und die Sophisten einschließlich voraus. Sie setzt noch mehr voraus, nämlich den künstlerischen und poetischen Genius der Nation, die plastische Anschauung und das konkrete Denken, welches weder PLATO noch das ganze Volk zur Idee eines wahrhaft unendlichen und allmächtigen Wesens gelangen ließ. Selbst angenommen, PLATO verstände unter Materie nichts anderes ans den leeren Raum, so blieben immer noch die vielen Ideen übrig, welche durch sich selbst existieren, ewig und ungeworden sind, so daß die absolute Idee an ihnen ihre Grenze und ihre Schranke hätte, folglich nicht unendlich, nicht allmächtig sein könnte. Es läßt sich aber zumindest mit demselben Recht behaupten, daß es nach PLATO neben den Ideen noch eine Materie gibt und durch die Verbindung beider erst der geschaffene Gott, der Kosmos, entstanden ist. Ohne diese Voraussetzung der Materie und deren Verbindung mit den Ideen wäre kein Grund vorhanden, die absolute Idee als Ursache der Weltbildung, als bewegendes Prinzip des ganzen Prozesses anzusehen. Mit der Materie tritt aber der höchsten Idee etwas Neues und Fremdartiges entgegen, womit sie gar keine Verwandtschaft hat, die sie auch nicht beherrschen, nicht innerlich durchdringen oder irgendwie in ihrem Wesen verändern, sondern nur "überreden" kann, sich die Verbindung mit den Ideen gefallen zu lassen. Gott steht der Materie gegenüber wie der Künstler dem Erz oder Marmor. Er kann sie nicht schaffen, sondern nur gestalten, indem er die Ideen in ihr zur Erscheinung bringt. So erstreckt sich der nationale ästhetische Sinn bei PLATO, wie auch in modifizierter Form bei ARISTOTELES bis in die höchsten Spitzen der Metaphysik. Diese ewige Materie steht der platonischen und aristotelischen Gottheit so verhängnisvoll gegenüber wie bei HOMER das Fatum den olympischen Göttern gegenübersteht. In dem letzten großen System der nachsokratischen Philosophie, im Stoizismus, tritt diese Vorstellung noch schroffer als in jedem anderen hervor. Die Griechen sind den Fatalismus von den ersten Anfängen ihrer Kultur bis zu den letzten Ausläufern niemals los geworden.

Wir dürfen wohl, ohne einem großen Widerspruch zu begegnen, annehmen, daß unter allen griechischen Philosophen PLATO der religiöseste war. Hätte er bei dieser natürlichen Anlage durch irgendeinen Zufall den jüdischen Monotheismus kennengelernt, er müßte ihm wie eine Erlösung erschienen sein. Mit einem Schlag wären die Ideen zu Gedanken und die Materie zu einer Schöpfung Gottes geworden. Was geringere Geister in der nacharistotelischen Philosophie und Patristik vermochten, würde ihm sicherlich in noch vollkommenerer Weise gelungen sein. Bei seinem schwungvollen Idealismus und seiner eminent poetischen Begabung würde er Gott "den Vater und Schöpfer des Weltalls" in einer Sprache verherrlicht haben, wie nur irgendein Prophet des Alten Testaments.

Was PLATO und ARISTOTELES hinderten den Rationalismus und mit ihm den Dualismus, Polytheismus und Fatalismus zu überwinden, war sicherlich kein Mangel an Denkvermögen. PLATO ist der genialste, ARISTOTELES der universellste Denker des Altertums. Sie leuchten wie Doppelsterne, untrennbar und sich um sich selber bewegend, durch alle Jahrhunderte. Noch heute sind ihre Werke nicht bloß Gegenstand des Forschens und Nachdenkens, sondern auch der Verehrung und Bewunderung (121). Und doch hatten sie und hatte die ganze griechische Kultur und Philosophie in Bezug auf Religion nicht die Bedeutung, welche dem von Griechen und Römern so sehr gehaßten und verachteten Judentum zukommt. Man kann von Mittelalter und Scholastik, von Rationalismus und Philosophie, von der Erkenntnis einer übersinnlichen Welt, um deren Möglichkeit oder Unmöglichkeit es sich hier vor Allem handelt, nicht sprechen, ohne des großen Faktors zu gedenken, aus dem das Christentum, welches ganz Europa seit fast zweitausend Jahren beherrscht, hervorging. Wir können, so unzeitgemäß es Manchem erscheinen mag, um die Frage nicht herum kommen: weshalb jene mächtige religiöse Bewegung, welche außer der hellenischen Kultur und der Entstehung des römischen Weltreichs wohl als das größte und folgenreichste Ereignis in der Geschichte zu betrachten ist, nicht von den Griechen oder Römern, sondern von den Juden ausging. Welche Werke haben einen tieferen und nachhaltigeren Einfluß auf die Völker im Abendland während des ganzen Mittelalters und bis in die neueste Zeit ausgeübt: die eines PLATO und ARISTOTELES, oder das alte und neue Testament? Gewiß haben mehrere, ja unzählige Faktoren zusammengewirkt, um ein solches Resultat hervorzubringen; aber welches war der wichtigste, gleichsam die treibende Kraft und belebende Seele, die den Organismus schuf und solange erhielt? War es die wissenschaftlich denkende Vernunft oder das religiöse Gefühl? Wäre es die Vernunft gewesen, so hätte der Rationalismus, der schon im klassischen Altertum, wie auch in neuerer Zeit seine höchsten Triumphe feierte, sich als Sieger behaupten und die Religion verdrängen müssen. Beides war nicht der Fall. Seine Siege waren nur scheinbar und stets von kurzer Dauer. Nach jedem Triumph folgte eine Niederlage und zwar nicht durch eine außerhalb von ihm stehende Macht, sondern durch seine eigene Kritik, die ausnahmslos zum Skeptizismus führte. Zweimal hat die griechische Philosophie diesen Rückfall erlebt: am Ende der vorsokratischen und am Schluß der nachsokratischen Periode. Man schrieb diesen Niedergang der Spekulation, namentlich in der letzten Zeit, einer allgemeinen Ermattung im Denken zu, was keineswegs unbedingt notwendig ist (122). ARKESILAOS und KARNEADES waren sehr scharfsinnige Denker, wie es die Skeptiker in der Regel sind; aber es fehlte ihnen die transzendentale Überzeugung. Dieselbe Erscheinung beobachten wir sogar in der Scholastik, nur ließ die allgemeine Gläubigkeit des Zeitalters und die Allgewalt der Kirche sie nicht zur vollen Entwicklung gelangen. Scharf und rückhaltlos tritt sie dagegen in der neueren Philosophie hervor am Ende der dogmatischen Periode von DESCARTES bis WOLFF, und wieder am Ende der von KANT ausgehenden deutschen Spekulation, welche in HEGEL ihren wesentlichen Abschluß fand, in der neuesten Zeit, welche sich bis in die Gegenwart erstreckt. Man wird doch einem HUME oder KANT oder unseren großen Naturforschern und Mathematikern das Denken nicht absprechen oder ein Ermatten desselben bei ihnen finden wollen! Und doch fehlt den meisten der transzendentale Sinn. Diese höchst auffällige Tatsache, die in allen Epochen der Geschichte der Philosophie so bestimmt sich wiederholt, muß auf einem Gesetz der menschlichen Natur beruhen, gegen welches wir vergeblich ankämpfen. Was historisch und kritische, aus äußeren und inneren Gründen, so unwiderleglich feststeht, wie die Wahrheit, daß der Rationalismus naturnotwendig zum Skeptizismus führt, das sollte endlich als allgemeines Axiom anerkannt werden. Beim Studium der Geschichte kann die Hauptsache nicht darin bestehen, zu erfahren, was andere gedacht haben, sondern in der Erkenntnis dessn, was für uns und für alle Zeiten von bleibendem Wert ist. Das lebendig Fortwirkende, Fruchtbare allein verdient gründlich erkannt und im Bewußtsein erhalten zu werden. Die Tatsachen der Geschichte des Skeptizismus, als negativen Resultates des Rationalismus, wie es am durchschlagendsten bei KANT zum Ausdruck kommt, zwingt uns, wenn es überhaupt noch eine transzendentale Weltauffassung geben soll, andere Grundlagen zur Neubildung der Philosophie aufzusuchen. Der Rationalismus war selbst in seinen Glanzepochen nur wie ein prasselndes Feuer, dessen Flamme zum Himmel schlug und alles umher beleuchtete, dann allmählich erlosch und nichts zurückließ, als Finsternis und Asche. Die Religion dagegen ist eine geheimnisvolle Quelle, die zu einem mächtigen Strom anwächst, dessen Wogen ununterbrochen durch die Völker und Jahrhunderte fluten. Während der griechische Rationalismus theoretisch in Skeptizismus und praktisch in einem Materialismus ausartete, ging aus jener Quelle eine Wiederbelebung der alten und die sittlich geistige Umbildung einer neuen Welt hervor. So wenig PLATO und ARISTOTELES einen bedeuenden Einfluß ausübten auf ihre eigene Nation, ebensowenig führt die Scholastik zu der allgemein verlangten "Reform an Haupt und Gliedern". In der gleichen Lage befindet sich der moderne Rationalismus und Empirisums. Sie stehen ohnmächtig der Negation jeder transzendentalen Überzeugung gegenüber. Wie bei der Entstehung des Christentums und der Reformation das treibende Ferment nicht die Philosophie, sondern die Religion war, so dürfte auch in Zukunft eine innere geistige Erhebung über den trostlosen Skeptizismus und den gemeinen praktischen Materialismus nur aus jener Urquelle zu erhoffen sein.
LITERATUR - Gideon Spicker, Die Ursachen des Verfalls der Philosophie in alter und neuer Zeit, Leipzig 1892
    Anmerkungen
    39) Die andere naturalistische, mechanische, mathematische Seite bei SPINOZA seinem Vorgänger und Nachfolger, DESCARTES und LEIBNIZ hat HEUSSLER, Der Rationalismus etc. klar und überzeugend hervorgehoben.
    40) Nouv. Ess. Liv. I, Kapitel I, Seite 206a
    41) Über das Verhältnis dieser beiden Autoren zueinander vgl. LUDWIG STEIN, Leibniz und Spinoza, 1890. LEIBNIZ' Streben ging noch weiter. Er wollte "Plato mit Demokrit, Aristoteles mit Descartes, die Scholastiker mit den Neueren, die Theologie mit der Moral versöhnen." Er wollte "von allen Seiten das Beste nehmen, um so weiter zu kommen, als man jemals gekommen ist." (a. a. O., Seite 205a. Theod. I, § 9. Préface Seite 476a-b.
    42) LEIBNIZ, Theod. Préface, Seite 469a.
    43) LEIBNIZ, Monad. § 43. 41. Syst. nouv. § 5
    44) SPICKER, Lessings Weltanschauung, 1883, Seite 36f.
    45) LEIBNIZ, Monad. § 29-30. Princ. de .a Nat. et. d. l. Gr. § 5. 18
    46) LEIBNIZ, Monad. § 17. Princ. de la Nat. § 2. 3.
    47) LEIBNIZ, Monad. § 7. 8. "Die Monaden haben keine Fenster, durch welche etwas ein- oder ausgehen könnte." Es ist nicht einzusehen, "wie eine Monade in ihrem Innern durch etwas anderes Erschaffenes verändert werden oder einen Wechsel erleiden kann." Die Eigenschaften und Tätigkeiten der Monaden bestehen in nichts anderem als in Vorstellungen, perceptions d. h. représentations und appetitions á l'autre. Princ. de la Nat. § 2. Diese Strebungen nennt Leibniz principes' du changement. Vgl. Monad. § 15. L'action du principe interne, qui fait le changement ou le passage d'une perception á une autre, peut être appellé Appétition. Andererseits kommen ganz entgegengesetzte Äußerungen vor, die den obigen direkt widersprechen. So sollen die perceptions confuses le résultat des impressions sein, que tout l'Univers fait sur nous. Wie reimt sich das zu dem Satz (Monad. § 7), daß nichts Erschaffenes in der Monade eine Veränderung oder einen Wechsel bewirken kann, "weil man nichts in sie hineinbringen, noch eine innere Bewegung vorstellen kann, welche darin erweckt, geleitet, vermehrt oder vermindert werden könnte?" Vgl. Syste. nouv. § 12. 13. 17. ERDMANN, Seite 127a. 128b. Ähnlich widersprechende Behauptungen finden sich bei Leibniz in großer Zahl.
    48) Vgl. DESCARTES, Medit. III. Die sinnliche und astronomische Vorstellung von der Sonne. Medit. II. Das Beispiel vom Wachs.
    49) Vgl. EDMUND PFLEIDERER, Geschichte der Religionsphilosophie, 1883, Seite 63-68.
    50) Wohl spricht Leibniz von actions libres und einer parfaite spontaneité (Theod. préf. Seite 484a). Wie es aber gemeint ist, erhellt sich aus a. a. O., § 45-47, Seite 516a. ... Um keinen Zweifel darüber zu lassen, daß es nach Leibniz überhaupt keinen Willen gibt als besondere Kraft neben dem Verstand oder der Sinnlichkeit, daß die essence de la volonté, nichts anderes ist, als die Kraft zum Handeln gemäß des Urteils, und daß dieses Handeln nichts anderes als "die Tätigkeit ist, welche den Übergang von einer Vorstellung zur anderen bewirkt" (Monad. § 15), so möge hier noch folgende entscheidende Stelle Platz finden (Theod. III, § 288): Die Freiheit besteht 1) in der Einsicht (intelligence), "welche eine bestimmte Kenntnis des Gegenstandes einschließt;" 2) in der Freiwilligkeit (spontaneité), "mit welcher wir uns bestimmen;" 3) in der Zufällikeit (contingence) d. h. "im Ausschluß der logischen Notwendigkeit". Die Intelligenz ist die "Seele der Freiheit", das Übrige gleichsam nur der Körper oder die Grundlage. Die Definition der Freiheit, die toutes les conditions de la liberté befaßt, lautet: "die freie Substanz bestimmt sich durch sich selbst und zwar durch das Motiv des durch den Verstand erkannten Guten, welches sie reizt (incline) ohne sie zu zwingen." Die Intelligenz oder das Wissen besteht in deutlichen oder verworrenen Vorstellungen (distincte ou confuse). Jene stammen aus dem richtigen Gebrauch der Vernunft, diese aus der Sinnlichkeit. Da es nach Leibniz keinen "physischen Einfluß" gibt, so kann unter Sinnlichkeit nur die Summe der dunklen Vorstellungen verstanden werden. Deshalb bilden diese die "Grundlage" und jene, nämlich die deutlichen Vorstellungen, die "Seele" der Freiheit. "Adäquate Vorstellungen" besitzt nur die Gottheit (§ 310); alle anderen vernünftigen Geschöpfe sind den Leidenschaften unterworfen, d. h. dunklen Vorstellungen. "Es sind immer einige verworrene Vorstellungen mit deutlichen Kenntnissen gemischt" - und "jene erweckten Leidenschaften und selbst unmerkliche Neigungen, die wir nicht immer gewahr werden." Unter Freiwilligkeit versteht Leibniz mit Aristoteles die Fähigkeit, eine Handlung durch sich selbst beginnen zu können. Spontaneum est, cujus principium est in agente [Spontaneität ist das Prinzip der Handlung. - wp] (§ 301). Nun denkt sich aber Aristoteles unter Spontaneität den Willen, Leibniz dagegen bloß den Verstand (§ 291). In seinem "System der prästabilierten Harmonie zeigt er, "daß von Natur aus jede einfache Substanz Vorstellungen hat, und daß ihre Besonderheit in einem fortwährenden Gesetz besteht, welches die Folge der ihr zugeteilten Vorstellungen bewirkt, welche Vorstellungen sich naturgemäß auseinander entwickeln" usw. "Hieraus folgt, daß die Seele in sich eine völlige Freiheit hat (parfaite spontaneitè), so daß sie in ihren Handlungen nur von Gott und sich selbst abhängt." (§ 291). Hiernach besteht die Freiheit lediglich in der selbständigen Produktion von Vorstellungen, eine Fähigeit, die auch den "Tieren" zukommt, während sie der Intelligenz entbehren (§ 302). Bei dieser Identifizierung von Denken und Wollen kann natürlich von einer Ethik im christlichen Sinn gar nicht die Rede sein. Diese rationalistische Einseitigkeit ist der größte Manel im Leibnizschen System und zugleich der wichtigste Punkt, aus dem Unvereinbarkeit der Theodicee und der Monadologie mit der stengsten Konsequenz erwiesen werden kann.
    51) Vgl. LEIBNIZ, Theod. I, § 23, 29, 38, 41, 45, 50, 54, 55. Sogar Wunder sind möglich, ohne daß dadurch die Naturgesetze verletzt werden (a. a. O. § 3, Seite 480a.
    52) LEIBNIZ, Princ. de la Nat. § 12. "Aus der Vollkommenheit des höchsten Schöpfers folgt - daß jeder lebendige Spiegel (Monade) seine Vorstellungen und Begehrungen so gut geregelt haben muß, als sich mit allen übrigen Dingen verträgt." § 13. Vgl. Lessings Weltanschauung, 1883, Seite 37, 39-49.
    53) DESCARTES, Medit. III, 23. Vgl. LEIBNIZ, Theod. Préface, Seite 474a.
    54) Vgl. FROHSCHAMMER, Die Philosophie des Thomas von Aquino, 1889. EUCKEN, Die Philosophie des Thomas von Aquin, 1888.
    55) Prantl behauptet in seiner Geschichte der Logik (Bd. II, Seite 107, 327 und 202f), die ganze sogenannte Philosophie des Thomas sei nichts anderes als eine unverständige Verquickung zweier wesentlich disparater Standpunkte. Überhaupt sei Thomas kein "selbständiger Denker", sondern nur eine "höchst sekundäre Natur". Hinter Aureolus und Duns Scotus "ständen ein Albert und ein Thomas unvergleichlich weit zurück". Gegen die "Borniertheit dieser beiden berühre die begriffsmäßige Präzision und Konsequenz des Duns Scotus - jedenfalls den Leser wohltuend. Gegenüber dieser schroffen Verurteilung ist die Kritik Frohschammers oder Euckens ungleich sachlicher und zutreffender. Daß aber dieser "Fürst der Scholastik" allzusehr von Aristoteles abhängt, hat selbst einer der hervorragendsten Thomisten der Gegenwart nicht in Abrede zu stellen versucht. Gloßner, im "Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie", Bd. VI, Heft 3, Seite 357-366.
    56) THOMAS von AQUIN, Sum. theol. I, qu. 32a 1.
    57) Namentlich in Bezug auf die Erkenntnistheorie und Naturphilosophie, Ethik und Politik und soweit es sich um die wissenschaftliche Grundlage handelt, sogar in der Gotteslehre. FROHSCHAMMER, a. a. O. Seite 12f, 104, 148,379, 435, 305.
    58) Quodl. 3. art. 31. Vgl. FROHSCHAMMER, a. a. O., Seite 106, 512f. Über die Ewigkeit der Welt.
    59) Vgl. STÖCKL, a. a. O., Seite 591-655. VINZENZ KNAUER, Grundlinien der aristotelisch-thomistischen Psychologie, 1885. FROHSCHAMMER, a. a. O. Abschnitt III, Seite 161f; V, 349f.
    60) Vgl. den Anhang zum vierten Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus. H. REUTER, a. a. O., Bd. 1, Seite 168-176, 328 Anm. 6. Ex quo liquidum est etc.
    61) Vgl. H. REUTER, a. a. O., Bd. 1, Seite 183f. DEUTSCH, Peter Abälard, 1883, Abschn. Vi, Seite 255-288. STÖLZLE, Abälards tractatus de unitate et trinitate divina, 1891. Dieser Traktat spricht deutlich dafür, daß Abälard die drei Personen nur als Attribute auffaßte.
    62) ÜBERWEG, II, Seite 259
    63) ÜBERWEG II, Seite 210. Anhang zu den Sentenzen des Petrus Lombardus.
    64) SIEBECK, "Die Anfänge der neueren Psychologie in der Scholastik", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 93, Heft 2, Seite 163f) vermutet, daß Leibniz in seiner Lehre von der Seele als einer selbständigen individuellen Kraft direkt von Duns Scotus beeinflußt wurde. Einen solchen nachweislich "unmittelbaren und tiefgehenden Einfluß" auf Leibniz bezüglich der Art, wie Scotus die Unabhängigkeit und Positivität des Besonderen und Individuellen verfocht, behauptet auch Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, Seite 202. Im Übrigen ist Leibniz nicht gut auf Scotus zu sprechen. Wiederholt wirft er ihm "Spitzfindigkeit, Widersinnigkeit, Ungeheuerlichkeit" vor. (Theod. III, § 330, 337, 362)
    65) ÜBERWEG, a. a. O., Seite 262. STÖCKL, a. a. O., Bd. 2, Seite 986-1021.
    66) STÖCKL, a. a. O., Seite 989. Die Intution erstreckt sich auch auf die inneren Zustände der Seele.
    67) Ockham unterscheidet dreierlei Signifikationen: terminus conceptus - quod naturaliter significat (Zeichen der Sache) und term. prolatus et scriptus (Wort und Schrift). STÖCKL, a. a. O., Seite 994. Ähnlich urteilt Hobbes in Bezug auf die Worte als Zeichen für viele einander ähnliche Dinge. ÜBERWEG III, Seite 42. Dabei aber unterscheidet er, wie später Cartesius und Locke, primäre und sekundäre Qualitäten, wovon er jene als Bewegungen außer uns, diese als Zustände in uns betrachtet. Kant, Johannes Müller und Helmholtz vervollständigten und bestätigten diese Auffassung. Unsere Sinnesempfindungen sind nur Zeichen, deren besondere Art ganz von unserer Organisation abhängt, aber keine Abbilder der äußeren Objekte. "Denn vom Bild verlangt man irgendeine Art von Gleichheit mit dem abgebildeten Gegenstand. - Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist." HELMHOLTZ, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Vorträge und Reden, 1884, Bd. II, Seite 226
    68) Über die weitere Ausführung dieser interessanten Argumente vgl. STÖCKL, a. a. O., Seite 1009 und 1020. Man darf diese kühne Skepsis und die - wie soll man sagen - höhnischen und frivolen Paradoxien, wie z. B. daß Gott auch die Natur eines Esels hätte annehmen können, daß der Vater, welcher niemals gestorben ist, gestorben sein und der Sohn, welcher gestorben ist, auch niemals gestorben sein kann; daß aus der communicatio idiomatum in Christo sich mit Wahrscheinlichkeit folgern läßt, daß der Kopf Christi seine Hand und diese sein Auge ist; daß man ferner annehmen kann, Gott der Vater ist der Sohn der hl. Jungfrau oder der hl. Geist ist ein Mensch, welcher der Sohn der Jungfrau ist: diese Skepsis und Paradoxie darf man nur vergleichen mit dem zuversichtlichen Ton in der Beweisführung der Existenz und Beschaffenheit Gottes bei Thomas und dessen ehrfurchtsvoller Behandlung der christlichen Dogmen, dann wird man erst recht den ungeheuren Abstand zwischen dem Höhepunkt und dem Niedergang der Scholastik, der sich in der kurzen Zeit von 1274-1347 gebildet hatte, empfinden.
    69) Von einem Verfall der Scholastik im 14. und 15. Jahrhundert will der Hauptvertreter der Geschichte dieser Epoche, was den Inhalt anbelangt, nichts wissen, einmal weil der Formalismus und Nominalismus, der allerdings in seinen Konsequenzen zu einem "Pantheismus" und "Skeptizismus hätte führen müssen, nur "höchst sporadisch" auftrat und die Vertreter dieser Richtung die Konsequenzen nicht zogen, sodann weil der Realismus "stets als die herrschende Lehre galt." Wolle man dennoch von einem "Verfall" reden, so könne er sich nur auf die "Form" beziehen, auf die Sprache, die immer "roher und barbarischer, steifer und schmuckloser wurde"; ferner auf die "Methode", die bis zum Übermaß und bis zur Ausartung fortgetrieben wurde. Es sind damit die Thesen, Gründe, Gegengründe und Gegen-Gegen-Gründe gemeint. "In dieser Beziehung könne man sagen, daß die Scholastik in ihrem eigenen Fett zu ersticken drohte." (STÖCKL, a. a. O., II, Seite 969-971. Um im Bild zu bleiben, könnte man eher behaupten, sie sei an Krebs oder der Schwindsucht zugrunde gegangen. Daß die Nominalisten vor und nach Thomas nicht die Konsequenzen gezogen hätten, paßt weder auf Roscellin noch auf Ockham und ihre Anhängerschaft. Die abweichenden System blieben freilich der "herrschenden" Lehre, d. h. der Kirche gegenüber "sporadisch", aber sie trugen die Keime der neueren Philosophie in ihrem Schoß und wurden in den folgenden Jahrhunderten die herrschenden. Abgesehen von einem Eckhart und Cusanus, denen es an Mut und Konsequenz gewiß nicht fehlte, wird doch auch "freimütig" zugegeben, daß selbst bei den orthodoxen Scholastikern der späteren Zeit anstelle echter Gründlichkeit, Vorwitz und Spitzfindigkeit, anstelle des wissenschaftlichen Ernstes und Anstandes eitle Ostenation [Zurschaustellung - wp] und leidenschaftliche Zänkerei getreten ist, daß keine rechte Originalität und Fortbildung mehr aufkommen konnte, daß man in den Schriften dieses Zeitraums "fast immer den gleichen Fragen, welche doch schon genügend durchgesprochen waren, begegnet." (a. a. O., Seite 972) Wenn all diese Momente, auch dem Inhalt nach, keinen Verfall bedeuten, so ist hier nicht weiter zu streiten.
    70) ÜBERWEG II, Seite 204.
    71) Falkenberg stellt ihn an die Spitze der Übergangsperiode. Geschichte der neueren Philosophie 1886, Seite 14f. Ebenso ÜBERWEG III, § 5.
    72) OTTO PLÜMACHER, Meister Eckhart, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 20, Heft 2, Seite 208f. Über Eckhart selbst und sein Verhältnis zur neueren Philosophie vgl. LASSONs ausgezeichnetes Werk "Meister Eckhart", 1868, Seite 22, 66, 69, 79, 346, 350-354. Lasson erkennt in Eckhart den "Zentralgeist aller Mystik", "einen der tiefsten Denker aller Zeiten, einen der größten Männer unserer Nation", den "Urheber der philosophischen Prosa in Deutschland" und den Vorläufer der Systeme Fichtes, Schellings und Hegels. "Die neuere deutsche Spekulation ist eine Fortbildung der Lehre des Meisters mit vielseitigerem Interesse, in geläuterter, wissenschaftlicher Form und auf einer reicheren Basis von Anschauungen und Erkenntnissen." Eckharts Größe und Eigenart faßt Lasson in folgende Worte zusammen: "In der Tat erscheinen bei ihm alle Elemente der Mystik in so hoher Vollendung, in so sachgemäßer Entwicklung und Verbindung untereinander, wie bei keinem seiner Vorgänger und Nachfolger. Seine harmonisch abgeschlossene Lehre vereinigt alle einzelnen Momente, welche bei den anderen Mystikern getrennt auftreten. Durch die tiefe prinzipielle Begründung seines Standpunkts nähert er sich den großen wissenschaftlichen Denkern, und doch ist seine ganze Lehre nur die innerlich zusammenhängende Explikation einer einfachen religiösen Grundanschauung. Bei ihm ruht alles theoretische Interesse auf dem Fundament einer hohen religiösen Begeisterung; die dialektische Schärfe der Begriffsbestimmung und die zum Schauen Gottes vordringende Sehnsucht halten sich gegenseitig das Gleichgewicht; alles religiöse Verhalten wird durch die Konsequenz des begriffsmäßigen Erkennens, alles Spekulieren durch die religiöse Grundstimmung bedingt und bestimmt. Die tiefsten Resultate für die Förderung der christlichen Ethik verbinden sich mit den kühnsten Spekulationen über die Gottheit, über die göttlichen Personen, über Wesen und Zusammenhang der Welt und ihr Verhältnis zum Absoluten, über die Seele und ihre hohe Bestimmung."
    73) Über die Gestalt der aristotelischen Philosophie bei Albert dem Großen vgl. HERTLING, Albertus Magnus, 1880, Seite 42-125. STÖCKL, Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. 2, Seite 335f, 361, § 103-119. Über das Verhältnis Alberts zu seinen Vorgängern J. Bach, Des Albertus Magnus Verhältnis zu der Erkenntnislehre der Griechen, Lateiner, Araber und Juden, 1891.
    74) Dieses Vorurteil gegen die Scholastik bekämpft auch B. KNAUER, Geschichte der Philosophie, 1882, Seite 83f. Grundlinien der aristotelisch-thomistischen Psychologie, 1885, Vorrede. Ebenso SIEBECK, a. a. O., Einleitung.
    75) Vgl. DORNER, Geschichte der protestantischen Theologie 1867, Seite 34-37.
    76) Daß Leibniz als Rationalist diese ganze Auffassungsweise nicht billigen konnte, ist klar. [..]
    77) STÖCKL, a. a. O., Seite 988. KARL WERNER, Die Scholastik des späteren Mittelalters, Bd. II, Seite 17f.
    78) Dagegen sagt Stöckl, a. a. O., Seite 1015: "In der Tat, Ockham ist mit den Konsequenzen seiner nominalistischen Theorie nicht zurückhaltend" Er gibt ferner zu, daß in dieser Gotteslehre "die Skepsis schon eine bedeutende Rolle spielte" (Seite 1014, 1010, 1021). Und schließlich kommt er "notwendig zu dem Resultat, daß in der Lehre Ockhams eine völlige Auflösung der spekulativen Wissenschaft angebahnt ist. Denn die natürliche und spekulative Erkenntnis geht hier in der grundlosen Tiefe des Skeptizismus unter.
    79) ARISTOTELES, Metaphysik I, 1. 981b 20.
    80) Vgl. ZELLER, a. a. O, Bd. II, Seite 719-744.
    81) ARISTOTELES, Metaphysik XII, 8. De coelo I, 4. Politeia VII, 10.
    82) ARISTOTELES, Metaphysik XII, 8,1074a, 38. De coelo II, 1, 284, a, 2. ZELLER II, Seite 556 und II, 2, 793, Anm. 3.
    83) Selbst Plotin spricht nicht von einer Energie des Gefühls, sondern des Intellekts (VI, 9, 25; 11, 4, 15). Dort, d. h. in Gott denkt die Seele und ist frei von Affekten. Andererseits wird ihr aber doch wieder eine Liebessehnsucht nach dem höchsten Gut zugeschrieben. Denn da die Seele verschieden ist von Gott, aber doch aus ihm stammt, so muß sie sich notwendig nach ihm sehnen. Nun ist Liebe, auch die "himmlische", von der hier die Rede ist, offenbar ein Gemütszustand, sagen, wir, ein idealer Affekt und etwas anderes als logisches Denken und poetisches Schauen. Allein weder Affekte noch Denkfunktionen führen zur wahren Vereinigung mit Gott, sondern ein Schauen oder, wie er verlegen hinzufügt, vielleicht auch nicht ein Schauen, sondern eine andere Art des Sehens, eine Erhebung, Vereinfachung, Hingabe seiner selbst, Streben nach Berührung, Vereinigung etc. Man sieht aus all dem, daß Plotin das religiöse Gefühl meint, aber weder einen klaren Begriff davon hat, noch den richtigen Ausdruck dafür findet.
    84) Doch auch selbst einem Aristoteles ist dies nicht gelungen. Das Universum ist ihm wohl ein lebendiges Ganzes; aber der göttliche nous ist zu sehr isoliert, als daß man dessen Beziehung zu den Gestirnen und der sublunarischen Welt irgendwie deutlich erkennen könnte.
    85) Vgl. ZELLER, Die Philosophie der Griechen, Bd. III, 1, Seite 117-129, 309-318, 350f, 360-363.
    86) PLOTIN, Enneaden I, 3, 4-6. Die Dialektik hält er für den wertvollsten Teil der Philosophie.
    87) ZELLER, a. a. O. III, 2, Seite 611 und 448: "Der Schlußpunkt des Systems, der seine innerste Eigentümlichkeit ans Licht bringt, die Lehre von der Ekstase, hat außer Philo bei keinem von den früheren Philosophen eine nähere Analogie." PLOTIN, Enneaden VI, 7, 35. V, 3, 8.
    88) ZELLER, a. a. O., Seite 675, 697, 720, 820.
    89) PLOTIN selbst gibt zu, daß die Anschauung Gottes nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden kann. Enn. VI, 4. 9. 26. Dasselbe hatte auch schon Plato eingesehen.
    90) Vgl. ZELLER, a. a. O. III, 2, 110f. WINDELBAND, Geschichte der alten Philosophie, Seite 315.
    91) ZELLER III, 2, 619, 443f. Zeller betrachtet als die wahren Stammväter des Neuplatonismus die griechischen Philosophen, zunächst die Neupythagoreer und die Platoniker der alexandrinischen Schule, weiterhin die Stoiker, Plato, Aristoteles und die Skeptiker. Obwohl dies nicht zu bestreiten ist, so ist es doch höchst unwahrscheinlich, daß eine so mächtig religiöse Bewegung, wie sie das Christentum schon um die Mitte des 3. Jahrhunderts hervorgerufen hatte, nicht einen tiefen Einfluß auf den Begründer des Neuplatonismus ausgeübt haben sollte, wie Zeller behauptet.
    92) HERODOT, lib. II, cap. 52
    93) Phaedrus 246C; Rep. II, 277E; Ges. XII, 941B; Phileb. 33B, Theät. 176A
    94) Ges. X, 893Bf, 898Cf
    95) Rep. VI, 508E. ZELLER, Griechen II, 1, 707, 710.
    96) ZELLER II, 1, 708, 712, 934.
    97) ZELLER II, 1, 314.
    98) ZELLER II, 1, 717.
    99) Sicherlich ist es keine angenehme Aufgabe, einem so hochverdienten Forscher, dem man selbst so viel Anregung und Aufklärung verdankt, zu widersprechen. Allein es handelt sich hier weniger um die Person, als um eine bestimmte Richtung. Außerdem werden wir uns mit dem Gedanken, den schon Aristoteles dem Plato gegenüber geltend machte, trösten dürfen: daß es Pflicht ist, da wo es die Aufrechterhaltung der Wahrheit gilt, unsere persönliche Neigung zum Opfer zu bringen und jener den Vorzug zu geben (Eth. I, 6).
    100) ZELLER II, 315
    101) ZELLER II, 1, 935.
    102) Den Unterschied zwischen Religion und Philosophie drückt Zeller anderswo in folgender Weise aus (III, 2, 713). "Was dem philosophischen Denken ein bloßes Begriffsmoment ist, das ist der religiösen Vorstellung eine konkrete Gestalt; was jenes unter der Form der Allgemeinheit hat, das hat diese unter der sinnlichen Form der Einzelheit." Dies wird allerdings zunächst im Hinblick auf die polytheistische Naturreligion geltend gemacht, deren Eigentümlichkeit darin besteht, "das göttliche Wesen selbst in eine Vielheit von besonderen Wesen zu spalten." So "verdichtet sich dem phantastischen Denken Jamblichs jedes begriffliche Moment zu einer besonderen Hypostase" [Vergegenständlichung - wp], oder "selbständigen Gestalt"; aber auch "die monotheistischen Religionen, welche an der Einheit des göttlichen Wesens festhielten, verlegten die vielen Gestalten der religiösen Anschauung nur in die Geschichte seiner Offenbarung." Der Unterschied zwischen Philosophie und Religion in allen Formen ist also nur ein logischer, kein sachlicher; jene verhält sich zu dieser bloß wie das Allgemeine zum Besonderen, das Abstrakte zum Konkreten, der Begriff zur Vorstellung.
    103) ZELLER II, 315.
    104) ZELLER II, 1, 926.
    105) ZELLER, III, 2, 77: "Wenn das Denken daran verzweifel, die Wahrheit in sich zu finden, so ist es natürlich, daß es sie außerhalb von sich selbst sucht; wenn man das Vertrauen zur Wissenschaft verloren hat, wirft man sich dem Glauben in die Arme."
    106) ZELLER II, 935.
    107) ZELLER II, 934.
    108) ZELLER II, 930.
    109) ZELLER II, 930.
    110) ZELLER II, 935.
    111) ZELLER II, 928
    112) ZELLER II, 934, 714 Anm.
    113) ZELLER II, 716.
    114) ZELLER II, 934.
    115) ZELLER II, 716.
    116) Was allerdings nur zum Teil richtig ist. Auch Zeller gibt zu, daß von den aristotelischen "Einwendungen gegen die platonische Lehre - nicht ganz wenige - unverkennbar auf einem Mißverständnis beruhen." (II, 2, Seite 302
    117) ZELLER, a. a. O., Seite 716
    118) Wie auch der sogenannte Neupythagoreismus. ZELLER III, 2, 110: "Den wichtigsten Beitrag zu dieser Mischung lieferte das platonische System, an welches sich der Neupythagoreismus auf allen Punkten zunächst anschließt."
    119) ACKERMANN, Das Christliche in Plato und der platonischen Philosophie, 1835. BAUR, Drei Abhandlungen zur Geschichte der alten Philosophie, 1876.
    120) ZELLER II, 1, 935, Anm. 1. Übrigens pricht auch Baur (a. a. O. Seite 229, 233, 239f selbst nur von "Voraussetzungen", von einer "unverkennbaren, in manchen Punkten überraschenden Verwandtschaft und Übereinkunft zwischen Platonismus und Christentum".
    121) Vgl. EUCKEN, Über die Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die Gegenwart, 1872, Seite 24, 26-35. ZELLER II, 2, 48f.
    122) Überhaupt scheint mir das Zurücktreten des theoretischen und Hervorhebung des praktischen Moments bei den Stoikern, Epikureern und Neuplatonikern usw. nicht allein aus dem Niedergang der politischen Freiheit und der allgemeinen Ermattung im Denken erklärt werden zu können; vielmehr wird man in der ganzen Richtung zugleich ein Streben nach Betätigung derjenigen Gemütskräfte, welche in der sokratischen und vorsokratischen Periode nicht genügend zur Geltung kamen, erblicken dürfen. Nun wird Niemand bestreiten wollen, daß die ethische und religiöse Seite des Menschen, wie sie einerseits von den Stoikern, andererseits von den Neuplatonikern in den Vordergrund gestellt wurde, in dieser hervorragenden, fast ausschließlichen Weise früher niemals Berücksichtigung fand. Sogar einem Sokrates ware es im Grunde weniger um die Ethik, als um die Theorie, d. h. wissenschaftliche Begriffsbildung auf ethischem Gebiet, das ihm am Nächsten lag, zu tun; so sahen auch Plato und Aristoteles in der theoretischen Erkenntnis das höchste Glück und höchste Ziel. Außerdem haben beide das Ethische und Politische noch zu sehr miteinander vermengt, als daß sie jedem in seiner Eigenart hätten hinlänglich gerecht werden können. Am allerwenigsten aber kam das religiöse Moment in seiner weittragenden Bedeutung zu Bewußtsein. Somit werden wir diese, wenn auch einseitige Hervorhebung der genannten Faktoren von Seiten der nacharistotelischen Philosophen als eine natürliche Ergänzung der ebenso einseitig bevorzugten rationalistischen Richtung zu betrachten haben. Gerade die sittlich-religiösen Momente sind ja die Grundkräfte, aus welchen die neue Weltperiode des Christentums hervorging; folglich wurden in der Epoche des sogenannten Niedergangs die wichtigsten und fruchtbarsten Keime gelegt zu der großen welthistorischen Erscheinung.