ra-1B. RusselF. MauthnerS. I. HayakawaR. LoeningAristoteles    
 
RUDOLF EUCKEN
Über die Bedeutung der
aristotelischen Philosophie für die Gegenwart

[akademische Antrittsrede gehalten am 21. November 1871 in Basel]

"Dürfen wir Plato mit einem für alles Hohe begeisterten und unbekümmert umd die widerstrebende Wirklichkeit mit ganzer Seele sich ihm allein hingebenden Jüngling vergleichen, so ist Aristoteles der ruhige, besonnene Mann, der durch die Kämpfe des Lebens hindurch die Ideale der Jugend bewahrt hat und der nun mit Umsicht und Kraft danach strebt, sie in die Welt des Realen einzubilden."

"Es droht dem Forscher die Unbefangenheit der Untersuchung, der reine lautere Wahrheitssinn verloren zu gehen, die Wissenschaft droht zur Parteisache zu werden und damit ihre sittlich veredelnde und erhebende Kraft einzubüßen."

"Nach seiner metaphysischen Überzeugung kommt nur dem Einzelwesen im strengsten Sinn Realität zu, und so ist die Beobachtung des Einzelnen für ihn der Quell aller Erkenntnis; die Beweisführung aus der besonderen Natur des Gegenstandes hat den unbedingten Vorzug vor der aus allgemeinen Gründen."


Hochverehrte Anwesende!

Wenn ich einem ehrenvollen Ruf der hohen Behörden Folge leistend in eine altberühmte wissenschaftliche Gemeinschaft eintrete, so ist neben dem Dank für das mir dadurch bewiesene große Vertrauen mein erstes Gefühl, wie sehr ich in meiner Wirksamkeit Ihres freundlichen Wohlwollens bedarf; und um diese gütige Gesinnung bitte ich vor Allem heute, wo ich es wage, Sie für eine den ARISTOTELES betreffende Frage um Ihre geneigte Teilnahme zu ersuchen. Freilich möchte ich Sie damit nicht in entlegene Zeiten führen, sondern Sie vielmehr bitten, mit mir die Bedeutung einer Tatsache zu erwägen, die für die Philosophie recht eigentlich eine Tagesfrage ist - die Tatsache des Wiederauflebens des aristotelischen Studiums in der Gegenwart. Während nämlich im vorigen Jahrhundert nur einzelne Schriften des großen Philosophen einen allgemeineren Einfluß behaupteten (1), während selbst ein Mann wie KANT sich von einem Mißverständnis wichtiger Punkte seiner Lehre nicht frei erhielt, ist seit den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunders das Interesse für seine gesamte Weltanschauung neu erwacht, und es hat sich dasselbe seitdem fortdauernd in dem Maße gesteigert, daß das Studium des ARISTOTELES nunmehr in den Vordergrund der philosophischen Bewegung getreten ist. Weit über den geschlossenen Kreis einzelner Schulen hinaus wurden viele bedeutende Männer von durchaus abweichenden Richtungen gleichmäßig von dem alten Denker angezogen und dauernd gefesselt; ja, nachdem die selbständige spekulative Tätigkeit sich in viele einander oft schroff entgegentretende Systeme spaltete und auch die verschiedenen Kulturvölker hier mehr und mehr auseinander gingen, da bot die aristotelische Philosophie ein Feld, auf dem sich die Forscher aller Richtungen und aller Nationalitäten zu gemeinsamer fruchtbringender Tätigkeit vereinigen konnten. So ist die Wiedererweckung und die Blüte der aristotelischen Studien ein charakteristisches Zeichen für die heutige Philosophie; wie wir es aber zu deuten haben, darauf dürfte die Antwort nicht so ganz einfach sein. Scheint es doch für den ersten Blick im höchsten Grad auffallend, daß in einer Zeit, die sonst den Fortschritt auf ihre Fahnen schreibt, die Philosophie den Blick zu einer ihren Anschauungen und Bestrebungen nach uns so entlegenen Vergangenheit zurückwendet. Wir wollen uns doch sicherlich nicht auf den Standpunkt der mittelalterlichen Scholastiker stellen, welche die volle wissenschaftliche Wahrheit schon in ARISTOTELES gefunden glaubten, und ebensowenig werden wir der wohl hie und da auftauchenden Meinung zustimmen, als verzweifle die Philosophie an einer erfolgreichen Weiterführung und endlichen Lösung ihrer Aufgaben und beschränke sich daher, ihre Zukunft preisgebend, auf die Erforschung ihrer Vergangenheit. Es müssen wohl Gründe anderer Art sein, welche die Denker der Neuzeit zu ARISTOTELES zurückführen; dieselben zu erörtern, möge jetzt unsere Aufgabe sein.

Zunächst ist es die allgemeine Richtung unseres Jahrhunderts auf die wissenschaftliche Erforschung der Vergangenheit, welche, auch in der Philosophie Geltung gewinnend, hier in erster Linie dem Studium unseres Philosophen förderlich war. Denn sobald man sich die Aufgabe stellte, den Entwicklungsgang unserer Wissenschaft im Zusammenhang aufzuhellen, mußte man sich überall auf ARISTOTELES hingewiesen sehen, man mußte erkennen, daß ohne gründliches Eindringen in ihn weder ein volles Verständnis der ihm vorangehenden noch der ihm folgenden Denker möglich war, daß ihm überhaupt in der Geschichte der Philosophie eine in ihrer Art einzige Stellung zukommt. Da es ein Grundsatz ist, vor jeder eigenen Untersuchung das vor ihm Geleistete zu prüfen, so sind seine Schriften eine wichtige, ja wir dürfen sagen die wichtigste - weil lauterste - Quelle für die Erkenntnis der vorsokratischen Philosophen, deren Werke uns verloren gegangen sind. Er klärt uns auf über den Gang der älteren griechischen Philosophie und führt uns den reichen Gehalt des geistigen Lebens vor, das in ihr zum Ausdruck gekommen ist. All das aber, was er also vor uns aufrollt, weiß er für seine Weltanschauung zu verwerten, kein nur irgendwie erhebliches Resultat seiner Vorgänger läßt er unbenutzt für die eigene Forschung. Und wenn er so alles vor ihm Geleistete in sich aufnehmen will, so beschränkt er seinen Blick nicht auf den Kreis der Philosophen, er richtet ihn darüber hinaus auf die Tatsachen der gesamten geschichtlichen Erfahrung: sorgfältig betrachtet er die mannigfaltigen Gesetze und Einrichtungen der Staaten und verfolgt sie mit scharfem Blick in ihrer geschichtlichen Entwicklung, er achtet auf die Sentenzen der Dichter und die Aussprüche berühmter Männer, er belauscht das Volk im täglichen Leben, bei seinen Sitten und Gebräuchen, und alles, was ihm irgendwie wertvoll erscheint, wir dürfen sagen, den Inhalt des gesamten griechischen Lebens, verwendet er zu einem großen Bild von der Welt, das er uns entwirft. Daß nun aber diese Fülle des Stoffes unter seinen Händen eine so hervorragende Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft gewann, dazu trug vornehmlich die Form bei, in die er denselben bringt: er hat zuerst die Philosophie und die mit ihr zusammenhängenden Disziplinen streng wissenschaftlich und methodisch behandelt. Dadurch erhält selbst das, was er von anderen aufnimmt, eine andere Gestalt und gewinnt an allgemeingültiger Bedeutung. Dieser wissenschaftlich-exakte Charakter der Forschung tritt uns namentlich dann in seiner ganzen Eigentümlichkeit entgegen, wenn wir ARISTOTELES mit seinem großen Lehrer PLATO vergleichen. PLATO hat mit ursprünglicher Genialität die Grundzüge der Weltanschauung aufgestellt, welche auch die des ARISTOTELES ist, und insofern bleibt er unbedingt Lehrer und Meister; dazu erhebt er uns weit mehr durch den Zauber seiner Darstellung und den idealen Schwung seines Gemüts, die Macht der in reiner Liebe für alles Hohe und Schöne erglühenden Persönlichkeit reißt selbst den Widerstrebenden mit sich fort und stärkt die Macht der sittlichen Vorsätze und Triebe. Wenn wir uns, von solchen Eindrücken ergriffen, nun unmittelbar zu ARISTOTELES wenden, so ist das erste Gefühl, das wir empfinden, unfehlbar das einer gewissen Ernüchterung, und es ist dies gewiß ein Grund, weswegen man ihn nicht immer mit voller Gerechtigkeit behandelt hat: man legte an ihn den Maßstab, den man von PLATO entlehnt hatte, statt den großen Mann, wie es sein sollte, nach sich selbst zu messen. Dürfen wir PLATO mit einem für alles Hohe begeisterten und unbekümmert um die widerstrebende Wirklichkeit mit ganzer Seele sich ihm allein hingebenden Jüngling vergleichen, so ist ARISTOTELES der ruhige, besonnene Mann, der durch die Kämpfe des Lebens hindurch die Ideale der Jugend bewahrt hat und der nun mit Umsicht und Kraft danach strebt, sie in die Welt des Realen einzubilden. Das Ziel ist im Wesentlichen dasselbe geblieben, aber der Weg, auf dem man es zu erreichen sucht, ist ein anderer geworden. In der aristotelischen Philosophie tritt die Persönlichkeit zurück, dafür aber die schlichte, einfache Behandlung der Sache in den Vordergrund; mögen wir aus manchen kleinen Zeichen ersehen, daß doch eine lebhafte Teilnahme des Gemütes die wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet, so sind es eben doch nur kleine Zeichen, gelegentliche, fast unwillkürliche Äußerungen, die, bei allem Wert für die Beurteilung der Persönlichkeit des Denkers, doch auf den Charakter seiner wissenschaftlichen Forschung keinen unmittelbaren Einfluß ausüben. Bei dieser streng sachlichen Behandlung der philosophischen Fragen verliert die Darstellung den Reiz und die künstlerische Vollendung der platonischen, aber sie gewinnt dafür an Schärfe und Deutlichkeit, es setzt sich nicht das Bild der Phantasie an die Stelle des wissenschaftlich-präzisen Ausdrucks und stellt für die Reinheit des Gedankens keine Bedenken dar.

Nun, zuerst werden die einzelnen Disziplinen dem Stoff nach genau gegeneinander abgegrenzt und in einer der Eigentümlichkeit dieses Stoffes entsprechenden Form behandelt, die einzelnen Teile fügen sich zu einer wohl durchdachten Ordnung, alles Nebensächliche wird entfernt, das zur Sache Gehörende aber auch möglichst vollständig gegeben und erschöpfend behandelt. Denn das ist eben die Art unseres Philosophen, nichts zu ergreifen, ohne es mit Konsequenz nach allen Richtungen hin durchzuführen, auf jedwedem Gebiet nicht nur eine Fülle von Material zu bieten, sondern dasselbe auch nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen. Und diese großartig gestaltende und organisierende Kraft, wie sie innerhalb der verschiedenen Gebiete das Einzelne zum festen Bau einer wissenschaftlichen Disziplin zusammenfügt, so verbindet sie auch alle einzelnen Wissenschaften zu einem großen System, in dem alles miteinander zusammenhängt und jedes einzelne den ihm zukommenden Platz erhält. Was ARISTOTELES von der Natur sagt, sie sei nicht episodenhaft, wie eine schlechte Tragödie, das könnte man auch auf seine eigene Philosophie anwenden, die mit ihrer Klarheit und Tiefe in einem ungetrübtem Bild das Universum abspiegelt. Indem also ARISTOTELES zuerst ein philosophisches System auf dem Grund der einzelnen Wissenschaften erbaute und sie alle wieder mit dessen einheitlichen Geist durchdrang, hat er ihnen allen den Stempel seines Geistes aufgeprägt, wie wir dies deutlich daraus ersehen, daß der wesentlichste Bestandteil der philosophischen Terminologie, die wichtigsten allgemein-wissenschaftlichen Ausdrücke auf ihn zurückzuführen sind, und sie also auch nur durch ein Eindringen in seine Weltanschauung uns vollkommen verständlich werden.

Dies alles erklärt die Unermeßliche historische Bedeutung unseres Philosophen, seine Einwirkung auf alle folgenden Jahrhunderte. Die platonische Philosophie hat allerdings - auch schon in ihrer Form wegen - unmittelbar anregender gewirkt, in Zeiten, wo man darum kämpfte, sich von erstarrten, formelhaft gewordenen Anschauungen loszureißen und aus der Tiefe des Gemüts einen neuen Lebensinhalt zu gewinnen, da hat man durch den Anschluß an PLATO - bisweilen wohl im Gegensatz zu ARISTOTELES - die eigene Kraft zu stärken gesucht; aber die Einwirkung des ARISTOTELES war eben wegen des universalen, methodischen und systematischen Charakters seiner Philosophie eine mehr allseitige, ununterbrochene und in die Gestaltung der einzelnen Wissenschaften eingreifende. Während PLATO die Geister mit sich fortriß, unterwarf er sie sich meist langsamer, aber dann auch umso nachhaltiger. Im späteren Altertum trat allerdings seine Philosophie in ihrer Gesamtheit zurück vor Richtungen, die unmittelbar darauf bedacht waren, das praktische Bedürfnis des Lebens und das ethische Verlangen des Gemütes zu befriedigen, welche Motive die Menschen damals mehr als das Streben nach theoretischer Erkenntnis zur Philosophie führten, aber doch wirkt ARISTOTELES nicht nur in hervorragender Weise in manchen einzelnen Disziplinen, sondern auch in der Bildung der ihm folgenden Systeme läßt sich meist ein bedeutender, bisweilen ein bestimmender Einfluß seiner Philosophie nachweisen. Aber den Höhepunkt der Geltung und Einwirkung erreichte er erst im Mittelaltert. Mochten die großen Kirchenväter des Ostens und Westens sich zunächst weit mehr zu PLATO hingezogen fühlen, sobald der wesentliche Inhalt des christlichen Glaubens festgestellt und gesichert war, führte das Verlagen nach einer formalen Durchbildung und systematischen Behandlung zu ARISTOTELES, der nun für lange Zeit in den Vordergrund tritt. Im Morgenland stützt JOHANNES DAMASCENUS seine für die griechische Kirche mustergültige Glaubenslehre auf die logischen und metaphysischen Grundsätze des ARISTOTELES, und als im Abendland die einbrechende Flut der Völkerwanderung mit so vielem Wertvollen auch fast alle Werke des ARISTOTELES auf eine Reihe von Jahrhunderten begrub, so daß bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts überhaupt nur der kleinere Teil der logischen Schriften bekannt war, da übte doch selbst dieser geringe Bruchteil seiner Lehre einen bestimmenden Einfluß auf die Behandlung der Wissenschaften. Allseitiger aber wirkte er in diesen Zeiten in der mohammedanischen Welt, bei den Arabern. Nachdem sie durch die Vermittlung syrischer Christen mit ihm bekannt geworden waren, schlossen sie sich in Naturforschung und Philosophie unbedingt an ihn an und verbreiteten das Studium seiner Werke vom fernen Osten bis zum äußersten Westen in all den Ländern, die ihr Schwert ihnen unterworfen hatte. So kam ARISTOTELES, nach einem merkwürdigen Kreislauf um das Mittelmeer herum, zunächst von Spanien aus und durch die Vermittlung jüdischer Gelehrter in seinen Hauptschriften zur Kenntnis der abendländisch-christlichen Welt, für die damit im 13. Jahrhundert ein neues wissenschaftliches Leben begann. Hatte er bis dahin nur nach der logisch-formalen Seite hin wirken können, so öffnete sich jetzt der gesamte reale Inhalt seiner Philosophie, und da nun die mittelalterliche Wissenschaft zu einer selbständigen Forschung weder das Streben noch die Kraft hatte, so schlossen sich die größten Geister unbedingt an seine Autorität an und steckten sich kein höheres Ziel als seine Gedanken in Verbindung mit der kirchlichen Lehre nach allen Seiten hin durchzuführen. ARISTOTELES beherrschte nun die geistige Welt in der allerumfassendsten Weise, und so kommt es, daß in solchen Kreisen, die vom wissenschaftlichen Aufschwung der letzten Jahrhunderte nicht wesentlich berührt worden sind, sein Einfluß ununterbrochen bis zum heutigen Tag vorwiegend geblieben ist. Selbst wo die scholastische Wissenschaft in ihrer allgemeinen Bedeutung zurückgedrängt, und mit ihr wohl auch der Philosoph, auf den sie sich stützte, angegriffen wurde, da mochte sich wohl die Art ändern, in der man sich mit ihm beschäftigte, aber trotz manchem Schwanken im Einzelnen blieb doch seine Einwirkung eine gewaltige. In den Zeiten der Wiedererweckung des Altertums finden die Ethik und Politik eine allgemeinere Verbreitung als jemals zuvor, und auch in den neuen evangelischen Kirchen blieb sein Ansehen im Großen und Ganzen unerschüttert. Erst im 17. Jahrhundert fing ARISTOTELES an zurückzutreten, als auf der einen Seite in den Naturwissenschaften die Richtung auf selbständige Beobachtung und Forschung die Oberhand gewann, und man sich nun vom Einfluß des alten Philosophen wie von einem unerträglichen Druck befreien wollte, andererseits aber um dieselbe Zeit auch die Philosophie mit ihrer seitherigen Geschichte brach und in DESCARTES eine neue Entwicklungsreihe begann. Hatte man vorher ARISTOTELES als unbedingte Autorität verehrt, so machte die Leidenschaft des Kampfes nun oft parteiisch und ungerecht gegen ihn; nur ein so umfassender Geist wie LEIBNIZ vermochte hier eine unbefangene Stimmung zu bewahren, ohne aber damit einen allgemeinen Einfluß zu gewinnen. Wenn also ein tieferes Eindringen in den ARISTOTELES immer seltener wird, so behaupten wir trotzdem, daß auch ein volles Verständnis der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ohne ihn nicht möglich ist. Zunächst bleibt in einzelnen Disziplinen, wie in der Logik und Poetik, sein Einfluß immer vorwiegend; dann aber wird die gesamte Eigentümlichkeit und das Ziel der neueren Philosophie insofern erst durch ihn klar, als sie vom schroffsten Gegensatz zu dem von ihm beherrschten Mittelalter ausgeht (2); und endlich dürfen wir sagen, daß, wenn auch die neueren Philosophien auf die Grundfragen ihrer Wissenschaft noch so sehr von ARISTOTELES abweichende Antworten geben, so ist doch eben die Form, in der diese Fragen einmal gestellt sind, zum guten Teil durch ARISTOTELES bestimmt, und so erstreckt sich, wenn auch nur mittelbar, sein Einfluß selbst auf seine Gegner, bis man ihn endlich in unserem Jahrhundert unbefangen in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen suchte. So wirkte ARISTOTELES in gewaltiger Weise durch die Zeiten hindurch, über den einzelnen Nationen, ja sogar über den verschiedenen Religionen behauptete er eine allgemeine Bedeutung. Und mag die Art seiner Einwirkung den verschiedenen Zeiten und Völkern nach noch so verschieden sein, so finden wir doch, von welchem Punkt wir auch ausgehen mögen, Beziehungen zu ihm. Wie wir in ihm die Fäden der alten Philosophie sich vereinigen sahen, so gehen von ihm die mannigfaltigsten Anregungen und Einwirkungen aus, so daß die Geschichte des Einflusses des ARISTOTELES einen wichtigen Teil der allgemeinen Geschichte der Wissenschaften bildet. Daher dürfen wir behaupten, daß wir uns nirgends mehr als bei ihm recht eigentlich im Mittelpunkt der gesamten philosophischen Bewegung befinden, und daher auch erst durch ein eingehendes Studium seiner Philosophie instand gesetzt werden, die Geschichte unserer Wissenschaft zu verstehen. Vieles, was sich später als ererbter Besitz und nicht selten mißverstanden von Geschlecht zu Geschlecht überträgt, sehen wir bei ihm in seiner ursprünglichen Gestalt, und können es so erst in seiner wahren Bedeutung erkennen; er prägt als Herrscher im Reich des Geistes die Münzen, deren sich Jahrtausende bedienen.

So verstehen wir den Wert, welchen die Vertiefung in ARISTOTELES vom bloß historischen Standpunt für uns hat. Sie kann uns dazu leiten, die uns vorliegenden Aufgaben in ihrem historischen Zusammenhang zu erfassen und sie nicht als flüchtige Tagesfragen - und als solche dem Einfluß wechselnder Stimmungen ausgesetzt -, sodern als bleibende Aufgaben der Menschheit, um einen Ausdruck SPINOZAs zu gebrauchen, "unter der Form der Ewigkeit" (sub specie aeternitatis) zu behandeln. Schon aus diesem Grund würden wir das Wiederaufblühen der aristotelischen Studien mit Freude begrüßen; aber es frägt sich, ob er zur Erklärung dessen, wonach wir suchen, schon ausreicht. Wenn wir in ARISTOTELES nur eine großartige Kraft bewundern würden, deren Wirkung als eine abgeschlossene hinter uns läge, so würden wir nicht den Eifer verstehen können, mit dem noch immer seine Ansichten von der einen Seite geltend gemacht, von der anderen bekämpft werden, die bisweilen wohl gar zur Leidenschaft gesteigerte Wärme, mit der noch immer über die richtige Auffassung seiner Gedanken und über ihre Bedeutung für die Wissenschaft gestritten wird. Eine Philosophie, die also noch heute die Gemüter zu lebendiger Teilnahme erregt, kann nicht der Vergangenheit allein angehören, und so müssen wir annehmen, daß der Riesenbaum, der durch die Jahrhunderte hindurch so viele Völker unter sich versammelte und sie erquickte, noch immer frische Blüten treibt. Aber, wird man uns einwenden, wie ist es möglich, daß eine einzelne Persönlichkeit, die doch ihren Anschauungen und Bestrebungen nach vom augenblicklichen Stand des Wissens abhängig ist, einen also dauernden Einfluß auch jetzt noch nach dem gewaltigen Aufschwung aller einzelnen Wissenschaften bewahrt? Ein solcher Einwurf würde den Anschauungen einer Zeit entsprechen, die, stolz auf die Ergebnisse ihrer Tätigkeit und im Bewußtsein der erprobten Kraft, überall einen Fortschritt ins Unendliche verlangt, aber er verkennt die Schranken, die einmal unserem Erkennen gesetzt sind, und vergißt, daß es Gebiete gibt, wo nicht Beobachtung und exakte Forschung allein den Ausschlag geben, sondern neben ihnen ganz andere Faktoren in Betracht kommen. Dies ist es nun aber, was wir auch von der Philosophie behaupten. Indem sie die Resultate der Erfahrung aller uns zugänglichen Gebiete zu einer einheitlichen Weltanschauung zu verknüpfen strebt, ist sie allerdings nach der einen Seite hin abhängig von dem Stoff, den ihr die positiven Wissenschaften liefern und so in ihrem Fortschritt durch sie bedingt, aber die Einheit der Weltanschauung selbst und ihre letzten Gründe sind doch eine selbständige Tat des Denkens, dessen frei gestaltendes Wirken der schaffenden Phantasie des Künstlers näher verwandt ist als der exakten Forschung des Gelehrten. Wir befinden uns hier in einem Gebiet, wo mehr als die Tatsachen der äußeren Erfahrung die Persönlichkeit des Denkers entscheidet, wo mehr als bloße Verstandesschärfe und Sorgfalt in der Beobachtung die Energie der intellektuellen Anschauung, die Richtung des Willens, die Stimmung des Gemüts, die persönliche Lebenserfahrung ihren Einfluß geltend machen. Daher reihen sich hier nicht die Leistungen der einzelnen Männer unmittelbar aneinander und bilden eine fortlaufende Kette, eben daher aber auch treten einzelne bedeutende Persönlichkeiten weit mehr hervor als in den anderen Wissenschaften, bei allem Fortschritt im Einzelnen und bei allem Wechsel und Wandel der Zeiten kann die Gesamtheit ihrer Weltanschauung eine bleibende Bedeutung behaupten. Hier, wo es sich um ewige, nie veraltende Probleme handelt, liegt uns nicht eigentlich das am nächsten, was uns Zeit und Raum nach unmittelbar berührt, sondern das, was jene Fragen in einer Weise behandelt, die das Dauernde und Unwandelbare in unserem Wesen trifft, und so bleiben, wie die Kunst aus der Versenkung in die Zeiten der höchsten Blüte Mut und Kraft für die Aufgaben des Tages schöpft, so auch in der Philosophie die Werke der großen Denker ein nie versiegender Quell frischen Lebens. So nun wird die Weltanschauung, die PLATO und ARISTOTELES zuerst wissenschaftlich begründeten und in einfacher, aber großer Weise durchführten, trotz aller wechselnden Strömungen immer ihre Bedeutung bewahren. Sie suchen über der Unbeständigkeit der Erscheinungen das bleibende Wesen der Dinge zu erfassen und nach ihm alles Einzelne zu messen, sie stellen über die Materie als sie bestimmend und gestaltend die Form und den Geist, vor die bewegende Ursache den Zweck, vor die einzelnen Teile die Einheit des Ganzen; von einem Mittelpunkt aus streben sie danach, die verschiedenen Gebiete des Wissens und des Lebens in ihrem Zusammenhang zu erfassen und auch die Gegensätze zur Harmonie zu verbinden. Eine solche organisch-synthetische Weltanschauung hat PLATO in ihren Grundzügen zuerst mit genialer Schöpferkraft aufgestellt, während ARISTOTELES sie mit kritischer Besonnenheit und umfassendster Kenntnis in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft durchführte und ihr dadurch einen festen Grund und Boden sicherte. Weswegen aber das, was sie geleistet haben, eben in dieser Form sich dauernd erhält, weswegen es, um einen Ausdruck des größten alten Historikers zu gebrauchen, ein ktema es aei [Besitz für alle Zeit - wp] bleibt, darauf lassen Sie mich mit einer Stelle aus TRENDELENBURGs "Kleinen Schriften" (Bd. II, Seite 258) antworten. Er sagt daselbst bei einer Besprechung der historischen Motive von RAPHAELs Schule von Athen:
    "Im griechischen Altertum schafft der Geist ursprünglich und daher sind seine Gestalten nicht, wie meistens die Gestalt des modernen Lebens, bunt und künstlich, sondern klar und einfach, nicht abgeschliffen und in sich wechselnd, sondern ruhig und ausgeprägt. - In der Poesie und in der Plastik und in der Architektur bleiben die Schöpfungen der Griechen ewig, und auch in der Philosophie werden ihre Gedanken, wenn sie dürr und alt geworden sind, durch die Gemeinschaft mit den Griechen wiederum frisch und jung. Denn die griechische Zeit uns kein graues Altertum, sondern die Jugend unseres Geistes."
Einer solchen Erfrischung und Verjüngung durch das Altertum scheint aber die Philosophie in ihrem gegenwärtigen Zustand gar sehr zu bedürfen, wie mir dies nur nach einer Richtung hin etwas näher auszuführen vergönnt sein mag. Die neuere Philosophie entwickelte sich ihrem Ursprung nach aus einem schroffen Gegensatz zum Mittelalter, in dem auf wissenschaftlichem Gebiet ein starrgewordenes, auf bloße Autorität sich stützendes Allgemeines die einzelnen Gebiete beherrschte, ohne daß man eine auch nur einigermaßen genügende Würdigung des Besonderen erstrebte und der Individualität freien Spielraum gestattete. Als man nun mit einer solchen Weltanschauung brach, war das erste Gefühl, das die Forscher beseelte, daß man mit dem Zweifel an allem sich der Erkenntnis unmittelbar Darbietenden beginnen muß, um dann durch angestrengte Bemühung und eindringende Prüfung einen sicheren Ausgangspunkt für die Untersuchung zu gewinnen, daß es darauf ankommt, alles Zusammengesetzte und zu einer Einheit Verbundene auf das Sorgfältigste zu zergliedern, um dadurch zu den letzten Gründen zu gelangen. Es trägt so von Anfang an die neuere Philosophie überwiegend einen kritisch-analytischen Charakter, im Gegensatz zur alten Philosophie, die in ihren Hauptvertretern die Einheit und den Zusammenhang der Dinge zu erfassen strebte und mit festem Vertrauen auf die überall siegreiche Macht der Wahrheit ans Werk ging. Die neuere Philosophie ist nun durch die ihr eigentümliche Richtung in wesentlichen Punkten über die alte hinausgegangen und hat zu Resultaten geführt, die für die Menschheit nie verloren gehen werden, aber so sehr wir auch die immense Bedeutung der in ihr hervortretenden geistigen Bewegung anerkennen, so dürfen wir darüber nicht die Gefahren vergessen, welche in dieser, einseitig geltend gemachten, Richtung liegen. Das Streben, alles in seine Elemente zu zerlegen und jedes Einzelne in seiner Eigentümlichkeit zu erfassen, führte oft zu einer Verkennung des natürlichen Zusammenhangs, zu einer Leugnung des Allgemeinen und der Einheit der Dinge; man trennte oft das, was seiner Natur nach organisch verbunden war, und wollte auch das gesondert erkennen, was nur durch den Zusammenhang Licht erhielt. So mochten die einzelnen Wissenschaften auf ihrem besonderen Gebiet allerdings die mannigfachste Bereicherung erhalten, aber die Einheit der Weltanschauung drohte mehr und mehr verloren zu gehen, und diese Gefahr war umso größer, weil unser modernes Kultur- und Geistesleben seinem Ursprung nach nicht wie bei den Griechen ein in Religion, Wissenschaft und Nationalität einheitliches ist, sondern vielmehr aus verschiedenen Elementen besteht. Im Mittelalter waren dieselen, wenn auch in mehr mechanischer Weise und zum Teil in verkümmerter Gestalt, immerhin doch in einer Einheit zusammengehalten, in der neueren Zeit dagegen schien diese mehr und mehr verloren zu gehen. Man wollte das Gebiet des Praktischen von dem des Theoretischen, Staats- und Rechtsleben von der Ethik und diese wiederum von der Religion, man wollte im Erkennen das Denken vom Sein, das Subjekt vom Objekt trennen. Die konsequenteste Durchbildung und eindringendste Vertiefung, und damit ihren Höhepunkt, erreichte diese Richtung in KANT, aber eben darum wurde auch in ihm vornehmlich die Unmöglichkeit klar, auf dem bisher eingeschlagenen Weg weiter zu kommen und zum Ziel zu gelangen. Eben die unerbittliche Schärfe, mit der er die Gegensätze herausgekehrt hatte, rief mit Notwendigkeit das Streben nach einer Versöhnung desselben hervor. So kam es, daß ebensosehr wie die ungeheure Tragweite der kantischen Philosophie allseitig anerkannt wurde, ebensowenig man dabei als dem letzten Ergebnis der Forschung stehen bleiben wollte, sondern daß nunmehr das Streben nach einer synthetisch-organischen Weltanschauung zu der glänzenden Bewegung auf philosophischem Gebiet führte, deren Zeuge unser Jahrhundert war. Aber obwohl sich äußerst bedeutende Männer an der Lösung der Aufgabe beteiligten, so ist darüber doch kein Zweifel, daß eine solche in allgemein befriedigender Weise nicht gelungen ist, ohne daß es uns hier möglich ist, auf die Ursachen des Mißlingens einzugehen. Die Resultate jener Bewegung sind allerdings einzelnen Disziplinen, so z. B. der Rechts- und der Kunstphilosophie, in hohem Grad zugute gekommen, aber im Großen und Ganzen ist es keiner der verschiedenen Richtungen gelungen, sich zur allgemeinen philosophischen Überzeugung zu erheben. Unversöhnt und scheinbar unversöhnlich stehen sie noch heute einander gegenüber, die allgemeine Teilnahme aber hat sich mehr und mehr von der Philosophie abgewandt und so gewinnen selbst wirklich bedeutende Leistungen, an denen die Gegenwart reicher ist, als man oft meint, nicht den allgemeinen Einfluß, den sie verdienen. Wir können es nicht leugnen: auf die Zeit der lebhaftesten Tätigkeit, einer fast fieberhaften Anstrengung aller Kräfte ist ein Zeitpunkt der Abspannung gefolgt, aber wir haben deshalb nicht den mindesten Grund an der Zukunft unserer Wissenschaft zu verzweifeln. Die Stimmung einiger Jahrzehnte, die wir nach dem eben Gesagten durchaus erklärlich finden, ist für den großen Gang der Wissenschaft nicht im Mindesten maßgebend; wenn wir in ihre Geschichte blicken, so stoßen wir öfter auf Klagen über den Verfall der Philosophie und bald darauf sehen wir trotzdem einen neuen Aufschwung, ein frisches, ungeahntes Leben. So glauben wir eine Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der Philosophie zu vernehmen, wenn wir KANT in der Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft klagen hören: "Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der Nacht der Wissenschaften" sowie "Jetzt bringt es der Modeton der Zeit so mit sich, ihr (der Metaphysik) alle Verachtung zu beweisen und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hekuba in OVIDs "Metamorphosen": modo maxims rerum, tot generis natisque potens - nunc trahor exul, inops. [Eben noch die Allerhöchste, mächtig durch so viel Schwierigkeiten und Kinder, werde ich jetzt, verstoßen und hilflos, hinweggeführt. - wp] und doch rief eben das Werk, dem diese Worte entlehnt sind, eine Bewegung in der Philosophie hervor, wie sie seit den Zeiten von PLATO und ARISTOTELES nie gesehen war. So darf der jeweilig unbefriedigende Zustand der Philosophie nicht den Glauben an die Bedeutung der Wissenschaft selbst erschüttern, die ein notwendiges Verlangen des menschlichen Gemüts, das Verlangen nach einer einheitlichen Welt- und Lebensanschauung, zu erfüllen bestrebt ist; ein solches Verlangen kann für einen gewissen Zeitabschnitt zurücktreten, aber es wird sich immer wieder geltend machen, und damit wird auch wieder die Philosophie in den Vordergrund des geistigen Lebens treten. Einstweilen aber kommt es für unsere Wissenschaft darauf an, in ernster Selbstprüfung und Besinnung sich über das Ziel zu orientieren, dem unsere Bemühungen zustreben müssen, und Mut und Kraft für die Lösung der uns gestellten Aufgaben zu sammeln. Dazu nun dürfte, unserer Meinung nach eine wissenschaftliche Vertiefung in die synthetisch-organische Weltanschauung der beiden größten alten Philosophen nicht unerheblich beitragen können, und zwar werden wir hier, insofern es sich in unserer Zeit um einen Aufbau der Philosophie aufgrund der positiven Wissenschaften, um eine gegenseitige Durchdringung des Philosophischen und exakt Wissenschaftlichen handelt, ARISTOTELES seinem großen Lehrer voranstellen. Geist und Methode seiner Forschung können wir noch heute in manchen Beziehungen und auf den verschiedensten Gebieten zum Vorbild nehmen. Möge es mir hier, wo die Kürze der Zeit ein näheres Eingehen auf die Fülle des Stoffes verbietet, zumindest gestattet sein, einen Punkt anzudeuten, in dem er mit der Eigentümlichkeit seiner Geistesrichtung der neueren Wissenschaft ergänzend und fördernd zur Seite treten kann. Der synthetische Charakter seiner Weltanschauung hat zur Grundlage und Voraussetzung eine Universalität des Geistes und der Forschung, die uns an Gegensätze und Kampf gewöhnten Neueren fast unbegreiflich erscheint. Er widmet den verschiedensten Gebieten dieselbe Teilnahme, erfüllt gleichmäßig die verschiedenartigsten Anforderungen der wissenschaftlichen Untersuchung, bevorzugt nicht die Ergebnisse oder die Methode einer bestimmten Diszipline, um sie für das Ganze maßgebend zu machen, sondern ist immer bestrebt, jedem das Seine zu geben und das Besondere als dienendes Glied in den Organismus des Ganzen einzufügen. Daß wir in diesem Punkt weit hinter ihm zurückstehen, wer möchte es leugnen? Die Sonderung der einzelnen Disziplinen und die Ausbildung der Spezialforschung innerhalb streng voneinander abgegrenzter Gebiete hat allerdings erst den Aufschwung des wissenschaftlichen Lebens der Neuzeit ermöglicht, aber es entsteht dabei die Gefahr, daß die besonderen Wege, welche die einzelnen Wissenschaften einschlagen, mehr und mehr auseinander führen, daß sich die verschiedenen Disziplinen gegen andere Zweige der Erkenntnis abschließen, daß sie nur ihre Ergebnisse, nur die von ihnen ausgebildete Methode als berechtigt gelten lassen und also vom beschränkten Kreis eines Gebietes aus das ganze Universum messen wollen. Wenn also, wie es leider noch immer häufig vorkommt, die einzelne Wissenschaft unbekümmert um alles, was draußen liegt, engherzig den eigenen Standpunkt behauptet, so wird der Streit unvermeidlich und mit dem Streit erzeugt sich Haß und Leidenschaft. Damit aber droht dem Forscher die Unbefangenheit der Untersuchung, der reine lautere Wahrheitssinn verloren zu gehen, die Wissenschaft droht zur Parteisache zu werden und damit ihre sittlich veredelnde und erhebende Kraft einzubüßen.

Den in diesen Verhältnissen liegenden ernstlichen Gefahren entgegenzuarbeiten, dazu kann uns nun das Vorbild des ARISTOTELES in hervorragender Weise förderlich sein. Denn je mehr wir uns in ihn vertiefen, desto mehr erkennen wir, wie er in bewunderungswürdiger Weise Richtungen, die wir in hartem Kampf zu sehen gewohnt sind, gleichmäßig anerkennt und in einem höheren Standpunkt zu versöhnen sucht. So vereinigt er in seiner Forschung die Richtung auf das Besondere mit dem Streben nach dem Allgemeinen. Was das Erstere anbetrifft, so haben selbst die entschiedensten Anhänger der rein induktiven Methode ihren Forderungen kaum einen kräftigeren Ausdruck gegeben, als es ARISTOTELES tut. Nach seiner metaphysischen Überzeugung kommt nur dem Einzelwesen im strengsten Sinn Realität zu, und so ist die Beobachtung des Einzelnen für ihn der Quell aller Erkenntnis; die Beweisführung aus der besonderen Natur des Gegenstandes hat den unbedingten Vorzug vor der aus allgemeinen Gründen; jede einzelne Wissenschaft wird als ein geschlossenes Ganzes ihrer eigentümlichen natur gemäß behandelt. Überall zeigt ARISTOTELES diesen Sinn für das Besondere, überall sucht er auch das von der allgemeinen Regel Abweichende näher zu betrachten und zu erörtern - wie sich dies am bewunderungswürdigsten wohl in seiner Tierkunde zeigt -, wiederholt und eindringlich hebt er die Bedeutung des "Kleinen" hervor (3) und weist nach, daß durch die Nichtbeachtung desselben manche Irrtümer auf theoretischem und Mißgriffe auf praktischem Gebiet verursacht werden. Wie er in der Politik die einzelnen Staatsverfassungen in den einer jeden von ihnen eigentümlichen Vorzügen und Gefahren schildert, so untersucht er in den psychologischen Schriften die verschiedenen Tätigkeitsformen der Seele, zerlegt er im Organon das menschliche Denken in seine Elemente und untersucht die Kombinationen derselben einzeln in ihrer Anwendung, erläutert er uns in der Rhetorik die verschiedenen Formen der Rede mit ihren mannigfachen Anforderungen. Ebenso hat er aber auch die verschiedensten Gebiete der Naturwissenschaft als selbstständiger Forscher durchmessen und namentlich auf dem des animalischen Lebens so eingehende und zugleich umfassende Beobachtungen gemacht, daß die Forschung selbst bis zum heutigen Tag denselben noch immer nicht überall nachgekommen ist. Aber so sehr sich auch ARISTOTELES so liebevoll in das Einzelne vertieft, so verliert er sich doch nicht darin, getreu seiner metaphysischen Grundanschauung, daß das Einzelne nur insoweit wesentliche Bedeutung und wissenschaftlichen Wert besitzt, als es ein Allgemeines zum Ausdruck bringt, richtet er seinen Blick doch immer auf das Ganze, den Zusammenhang der Dinge, und ebenso groß wie nun sein Vermögen war, sich fast ins Unendliche auszubreiten, ebenso groß ist seine Kraft, den gewaltigen Stoff zusammenzufassen und zu beherrschen. Überall ist er bestrebt, die einzelnen Erscheinungen zu Gruppen zu vereinigen und für diese durchgehende Kennzeichen und Regeln aufzufinden; er sucht, wo es nur irgendwie möglich ist, Reihen und Ketten zu bilden, in denen jedes Einzelne seine feste Stellung und damit einen bestimmten Wert erhält; er ist eifrig darauf bedacht, Analogien zwischen den verschiedenen Gebieten zu entdecken und so auch das äußerlich Ungleichartige durch ein inneres Band zusammenzuhalten, und so wird er der Schöpfer der vergleichenden Anatomie, die man mit Recht eine philosophische genannt hat. Durch alle einzelnen Wissenschaften aber führt er eine einheitliche Weltanschauung hindurch, deren gewaltigen Einfluß wir verspüren, auf welchem Gebiet wir uns auch befinden mögen; es wird nicht hier etwas aufgestellt, was dort verworfen oder als gleichgültig beiseite gelassen wird, sondern was von dem einen Glied gilt, das gilt für das Ganze und damit auch für alle anderen Glieder. Demnach sehen wir bei ARISTOTELES Philosophie und positive Forschung sich gegenseitig durchdringen und fördern, das Einzelne, rein für sich und ohne allgemeine Beziehung, hat keinen wissenschaftlichen Wert, das Allgemeine aber, das nicht auf dem dem sicheren Fundament der Spezialforschung ruht, ist inhaltsleer und ohne Frucht; erst in der Verbindung beider Elemente gedeiht im die Wissenschaft. Wenn daher BACO die Tätigkeit des bloßen Empirikers mit der der Ameise vergleicht, die den Stoff nur zusammenträgt und ihn dann verwendet, die des einseitig dogmatischen Philosophen aber mit der der Spinne, die ihr Gewebe aus sich selbst hervorbringt, während er ein Bild des wahren Forschers in der Biene erblickt, die den Stoff von außen sammelt, aber ihn dann durch eigene Kraft umbildet und gestaltet, so dürfen wir diesen letzteren Vergleich wohl auf keinen Denker mit besserem Recht anwenden, als auf ARISTOTELES. Auch insofern vereinigt er meist einander entgegenstehende Richtungen, als sein Streben gleichmäßig auf die Erforschung des Wesens der Dinge geht als es sich der Erkenntnis der verschiedenen Erscheinungsformen zuwendet. Er will nicht eher stehen bleiben, als bis er über die Mannigfaltigkeit der Erscheinung hinaus zu einem einheitlichen Kern vorgedrungen ist, und so legt er hervorragenden Wert auf die Begriffsbestimmung, welche jenen Kern uns enthüllen soll; seine Schriften sind daher reich an sachlich und formell bedeutenden Definitionen. Aber die Definitionen dürfen nicht eine bloße allgemeine Erklärung oder wohl gar nur Umschreibung der vorliegenden Sache geben, sie sollen vielmehr die verschiedenen Eigenschaften und Äußerungen derselben aufzuhellen imstande sein. Leisten sie das nicht, so betrachtet ARISTOTELES sie als verfehlt und als hinter einer bloßen Aufzählung des Einzelnen zurückstehend, wer solche inhaltsleere Begriffsbestimmungen aufstellt, meint er, täuscht sich selbst. Nach einer anderen Richtung hin will er ferner eine formelle Reinheit und gesonderte Betrachtung der Wissenschaften mit steter Beachtung des real gegebenen Zusammenhangs der Dinge verbinden. Einseits stellt er die Mathematik als Vorbild der wissenschaftlichen Forschung überhaupt hin, insofern sie das nicht Getrennte als getrennt behandelt; und daß diese Überzeugung von der Vortrefflichkeit der mathematischen Methode bei ihm zur Tat wurde, zeigt nicht nur die von allem besonderen Inhalt absehende spezifisch mathematische Behandlung der Denkformen in der Logik, sondern der ganze Charakter seiner Forschung legt davon Zeugnis ab. Die Trennung und gesonderte Ausbildung der einzelnen Disziplinen, sie war ja nur dadurch möglich, daß die Betrachtung sich zunächst auf eine bestimmte Seite der Dinge beschränkte und eine Richtung zunächst rein für sich verfolgte; ferner zeigt aber die von aller Besonderheit absehende Behandlung der Begriffe von Zeit und Raum, Zweck und Bewegung in der Physik, das Streben in der metaphysischen Forschung das Sein ansich ohne seine vom begrifflichen Standpunkt aus zufälligen Bestimmungen zu erfassen, wie sehr die abstrahierende Richtung des Denkens ARISTOTELES wissenschaftliches Verfahren bestimmt. Aber sie führt ihn nicht zu dem Fehler, das begrifflich Gesonderte nun auch real zu trennen und damit den natürlichen Zusammenhang der Ding zu verkennen. Wie ihm bei der Erläuterung der Denkformen immer die Beziehung auf das Sein vorschwebt, so behandelt er die Redeformen mit steter Rücksicht auf die Logik und Psychologie, so begründet er ferner die Staatslehre auf die Grundsätze der Ethik. Demnach bewahrt ihn bei aller formal reinen Ausbildung der Wissenschaften das Festhalten des realen Zusammenhangs der Dinge vor jedem Schematismus und Formelwesen, den Todfeinden eines gesunden wissenschaftlichen Lebens. Indem also ARISTOTELES verschiedenartige und oft einander entgegentretende Richtungen in seiner Forschung vereinigt, ist er eben dadurch zu einer unbefangenen Auffassung und Wertschätzung der verschiedenen Standpunkte befähigt; weil er für alles ein offenes Auge und ein gleichmäßiges Interesse hat, so kann er die Tatsachen der geschichtlichen Entwicklung objektiv und unparteiisch beurteilen. Denn um unparteiisch zu sein, genügt nicht einfach der gute Wille, es gehört dazu die Kraft, die verschiedenen Standpunkte in sich aufzunehmen und sich dabei über ihre Einseitigkeit zu erheben, erst dann ist es möglich, sine ira et studio [ohne Ärger oder Begeisterung - wp] zu urteilen und die Menschen und Dinge nicht zunächst zu lieben oder zu hassen, sondern sie vor allem zu verstehen. Wenn wir so die wahrhafte Unparteilichkeit als das Zeichen eines umfassenden und gewaltigen Geistes ansehen, so dürfen wir hier ein neues Blatt dem Ruhmeskranz des ARISTOTELES hinzufügen. Er spricht nicht bloß seine Absicht dahin aus, bei der Beurteilung seiner Vorgänger nicht Partei, sondern Schiedsrichter zu sein, sondern er hat diesen Vorsatz auch wirklich durchgeführt, wie er auch, um nur ein Beispiel anzuführen, durch den Anschluß an die ideale dynamische Anschauung PLATOs nicht im mindesten gehindert wird, die positiven Verdienste des Atomistikers DEMOKRIT um die exakten Naturwissenschafen rückhaltlos in ehrenden Ausdrücken anzuerkennen, während sich derselbe bei PLATO auch nicht ein einziges Mal erwähnt findet. Überhaupt aber verhält sich ARISTOTELES nirgends einfach ablehnend oder schroff zurückweisend, es sei denn, daß ihm eine sittlich verwerfliche Gesinnung entgegentritt. Sein Streben ist immer darauf ausgerichtet, jede geschichtliche Erscheinung ihrer Entstehung nach zu verstehen und in ihrem Wert unbefangen zu würdigen; selbst im Irrtum sucht er noch ein wahres Element oder doch ein berechtigtes Streben nachzuweisen. Charakteristisch aber für die Universalität seiner Geistesrichtung ist die Tendenz, den Irrtum auf Einseitigkeit zurückzuführen: zu zeigen, man habe dadurch gefehlt, daß man etwas, was nur innerhalb einer bestimmten Sphäre und unter einschränkenden Bedingungen gilt, absolut genommen hat. Er selbst will dann die in ihrer Einseitigkeit sich gegenseitig aufhebenden Richtungen in einem höheren Standpunkt versöhnen, um also von dem nur relativ Richtungen zur absoluten Wahrheit zu gelangen. Erkannten wir so das durchgehende Streben des ARISTOTELES, sich über die Gegensätze zu erheben, so läßt sich eben dies, wie es zum Schluß anzuführen gestattet sein möge, auch von der Teilnahme seines Gemüts behaupten: sie ist bei aller Wärme doch eine durchaus gleichmäßige. Während er in der Metaphysik diese Wissenschaft als die göttliche preist, die allein ihren Zweck lediglich in sich findet und daher allein frei genannt zu werden verdient, spricht er in der Schrift über die Teile der Tiere in begeisterten Ausdrücken von den unsäglichen Freuden, die das Studium der Naturwissenschaften gewährt, und wendet er auf sie das Wort des HERAKLIT an "Tretet ein - auch hier sind Götter", und andererseits zheigen in der Ethik die mit edler Begeisterung entworfenen und in großen Zügen ausgeführten Idealzeichnungen aus dem Gebiet des sittlichen Lebens, wie lebhaft auch hier das Gemüt beteiligt ist. Diese Allseitigkeit der Teilnahme hält beschränkte subjektive Stimmungen fern, nirgends tritt eine persönliche Vorliebe für die eine oder andere Auffassung hervor und beeinträchtigt die Unbefangenheit der Erörterung. So finden wir dann auch keine extremen Behauptungen, keine paradoxen Theorien, die bei allem äußerlich Blendenden doch gewöhnlich nur die schrankenlos geltend gemachte Subjektivität des Denkers verraten. ARISTOTELES bewahrt stets jenes Maß, das er so oft in seinen Schriften als Norm und Ziel hinstellt, und so köönnten wir auch auf ihn die Worte LESSINGs anwenden: "Es ist das Vorrecht der Alten, keiner Sache weder zu viel noch zu wenig zu tun." Indem also die Persönlichkeit des Denkers durchaus zurücktritt, scheinen die Tatsachen selbst zueinander in Beziehung zu treten, sich zu bekämpfen und zu verbinden; es ist eine Dialektik der Dinge, die uns anzieht und den Gedanken des Philosophen unterwirft. So kommt es (4), daß wenn wir einer Erörterung des ARISTOTELES bis zu Ende gefolgt sind, wir nicht nur überzeugt sind, die Meinung eines bedeutenden Mannes gehört zu haben, sondern uns des Gefühls nicht zu erwehren können, als sei nunmehr die Sache endgültig für immer entschieden. Wenn uns also die aristotelische Philosophie ein Vorbild darin ist, uns von subjektiven Stimmungen und von allem Parteiinteresse möglichst frei zu halten und in reiner Liebe zur Wahrheit nur die Sache selbst zu wollen, so wird sie dadurch einer wahrhaft sittlichen Einwirkung fähig. Denn darin besteht ja eben der läuternde und veredlende Einfluß der theoretischen Forschung, daß sie uns dazu anleitet, unser Streben über die Selbstsucht unseres Wesens, über alle persönlichen Interessen und Wünsche hinaus nur auf die Sache zu richten, daß sie uns somit zu einer durchaus uneigennützigen Teilnahme, zu einem selbstlosen Streben heranbildet.

Diese eine Seite, auf die näher einzugehen uns hier vergönnt war, möge uns zum Beispiel dienen, wie die aristotelische Philosophie noch immer auf die Wissenschaft einen förderlichen Einfluß auszuüben vermag. Dabei ist es natürlich nicht im Mindesten unsere Absicht, in scholastischem Geist bei dem alten Philosophen auf Kosten der selbständigen Forschung zu beharren; wir bleiben uns stets bewußt, wie sich unsere Kenntnis der Welt seitdem unermeßlich erweitert, wie sich unsere ethischen Begriffe geläuterte und vertieft haben, wie verschieden die praktischen Aufgaben der Gegenwart von denen jener Zeit sind; wir wollen auch nicht die wissenschaftliche Methode des ARISTOTELES als unbedingt mustergültig hinstellen: die eigentlich philosophischen Disziplinen verlangen eine schärfere Analyse der Grundbegriffe, namentlich ein Auseinanderhalten der subjektiven und objektiven Elemente unserer Erkenntnis, die Naturwissenschaften haben die Induktion in Theorie und Praxis weit über ARISTOTELES hinaus fortgebildet, aber so sehr wir dies alles zugestehen - und nicht bloß zugestehen -, so bleibt doch das unangetastet, was wir über die bleibende Bedeutung des ARISTOTELES gesagt haben. Die geschichtliche Betrachtung soll uns ja eben lehren, am Wirken der großen Männer das Vergängliche und das Bleibende zu scheiden, dieses vermag in ewigdauernder Gültigkeit immer neue Früchte zu tragen. ARISTOTELES aber bleibt darin auch durch den Wandel der Zeiten hindurch ein unerreichtes Vorbild, daß er eine synthetisch-organische Weltanschauung aufgrund der sorgfältigsten Einzelforschung durch die verschiedenen Wissenschaften durchgeführt hat; die Vertiefung in seine universale, die Gegensätze harmonisch vereinigende Geistesrichtung kann dazu beitragen, unsere Wissenschaft von der Gefahr zu behüten, daß ihre unbestreitbaren Vorzüge zu Einseitigkeiten und damit zu Schwächen werden; die gewaltige philosophische Kraft, die in seiner Persönlichkeit zur Erscheinung gekommen ist, sie kann unsere eigene Kraft stärken und unseren Glauben an die Zukunft unserer Wissenschaft befestigen. So erblicken wir in der jetzigen Blüte des aristotelischen Studium eine durchaus erfreuliche Erscheinung und wünschen demselben namentlich auf den Universitäten, die zunächst zur Wahrung der wissenschaftlichen Tradition berufen sind, ein weiteres erfreuliches Gedeihen.
LITERATUR - Rudolf Eucken, Über die Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die Gegenwart, Berlin 1872
    Anmerkungen
    1) So sagt Lessing in der Rezension von Curtius' Ausgabe der "Poetik" (Berliner Zeitung 1753): "Unter allen Schriften des Aristoteles sind seine Dichtkunst und Redekunst beinahe die einzigen, welche bis auf unsere Zeiten ihr Ansehen nicht nur behalten haben, sondern noch fast täglich einen neuen Anwachs desselben gewinnen."
    2) siehe Aristot. Rhetor. 1418 b 4
    3) Die Belege hierzu wie zum Folgenden wolle man suchen in meinem demnächst erscheinenden Werk über die wissenschaftliche Methode des Aristoteles.
    4) siehe "Über die Bedeutung und Grundlagen der aristotelischen Ethik", Seite 15